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Die Geliebte des Verdammten

von

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Kapitel 3

Als Jessica am nächsten Morgen aufstand, war es bereits spät. Für gewöhnlich stand die junge Frau früh auf, zwischen sechs und sieben Uhr, aber heute hatte sie fast bis zur Mittagszeit geschlafen. Denn sie war in der vorigen Nacht bis drei Uhr aufgeblieben, um auf eine Antwort von Marius zu warten. Erst als ihre Augen so müde waren, dass die Buchstaben ihres Buches vor ihren Augen verschwammen, war sie ins Bett gegangen.
 

Jesse gähnte kurz auf und streckte sich dann, bevor sie in ihr kleines Bad ging, um sich die Zähne zu putzen und zu duschen. Nach dem sie mit ihrer Routine fertig war, lief sie in die Küche, um sich ein Frühstück zu zubereiten. Sie entschied sich für eine Schale Cornflakes mit frischen Früchten. Während sie aß und einen starken Kaffee trank, las sie die Sonntagszeitung. Aber sie überflog die Artikel nur, denn sie war in Gedanken immer noch nicht ganz bei der Sache. Schließlich erfuhr man nicht jeden Tag, dass die eigene Tante eigentlich ein Vampir war.
 

Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, stellte sie die Schüssel in die Spülmaschine, wusch sich die Hände und ging in ihr Arbeitszimmer, um den Computer anzuwerfen. Während der PC hochfuhr, zog sie sich frische Kleidung an. Sie wählte eine schwarze, enge Jeans und ein grünes Top, das gut mit ihren Haaren kontrastierte. Nachdem sie sich angezogen hatte verließ sie das Schlafzimmer, ging in ihr Arbeitszimmer und loggte sich in ihren E-Mail-Account ein. Der Atem stockte ihr, als sie sah, dass Marius ihr geantwortet hatte. Zögernd klickte sie auf die neue Nachricht und öffnete damit die E-Mail.
 

„Meine liebe Jesse,
 

es freut mich sehr, von dir zu hören – auch wenn ich nicht damit gerechnet habe. Ich muss zugeben, dass deine Nachricht mich überrascht hat. Und das, so muss ich sagen, kommt mehr als selten vor.
 

Natürlich erinnere ich mich an dich, wie könnte ich diesen wunderbaren Sommer vergessen. Es kommt selten vor, das Vampire so viel Zeit mit Sterblichen verbringen, und es war für uns alle eine ganz besondere Erfahrung. Aber das lag nicht nur daran, dass du sterblich bist, sondern vor allem daran, wie klug und liebenswert du bist. Selbst im Alter von zehn Jahren war jedem klar, dass du einmal eine ganz besondere Frau werden würdest.
 

Santinos Attacke auf dich hat uns alle nervös gemacht und uns gezeigt, wie verletzbar du bist. Deshalb haben wir uns damals entschlossen, den persönlichen Kontakt abzubrechen. Auch wenn ich nicht widerstehen konnte und dir das Armband geschenkt habe – es freut mich übrigens sehr, dass es dir gefällt.
 

Mir geht es gut, und ich hoffe das gleiche gilt auch für dich. Im Moment lebe ich alleine, aber ich habe ein großes Atelier, in dem ich die meiste meiner Zeit verbringe. Die Kunst, die Malerei ist nach all den Jahrhunderten immer noch meine große Leidenschaft. Im Laufe der Jahre habe ich auch einige Bilder von dir gemalt – ich werde sie dir zeigen, wenn du hier in Venedig bist.
 

Es ist schön, dass Maharet endlich ehrlich zu dir sein konnte. Ich weiß, wie schwer es ihr gefallen ist, dir unser Geheimnis vorzuenthalten, aber es ging damals einfach nicht anders. Ich bin mir sicher, du kannst es verstehen. Es war zu deinem besten.
 

Die Talamasca, ja, die sind mir tatsächlich ein Begriff. Im Laufe der Jahrhunderte bin ich das ein oder andere Mal einem Mitglied dieser Organisation begegnet. Ich muss zugeben, dass ich laut auflachen musste, als ich gelesen habe, was dein Auftrag ist. Ich weiß zwar nicht, warum die Talamasca gerade an mir so interessiert sind – es gibt viel interessantere Unsterbliche – aber so ist es nun einmal. Ich wusste übrigens gar nicht, dass einige meiner älteren Gemälde im Ordenshaus der Talamasca zu finden sind. Ich hoffe nur, dass sie nicht in irgendeinem staubigen Keller Schimmel ansetzen. Schön, dass sie dir gefallen haben.
 

Zu deinem Anliegen: Es wäre mir eine Freude, dich in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Wir können uns also gerne in Venedig treffen. Wenn du magst kannst du während deiner Zeit in der Stadt auch bei mir wohnen – so spart sich die Talamasca die Hotelkosten.
 

Wie wäre es, wenn wir uns in fünf Tagen, am Freitag abend um 22 Uhr am Markusplatz treffen würden? Das gibt dir genug Zeit für die Reisevorbereitungen und mir genug Zeit, die Küche so herzurichten, dass auch ein Mensch bei mir wohnen kann. Ich verspreche dir, in meiner Gegenwart wird dir nichts passieren – du wirst absolut sicher sein.
 

Lass mich bitte wissen, ob dir der Termin passt. Wenn nicht, können wir gerne einen anderen ausmachen.
 

In Liebe,
 

Marius“
 

Jessica brauchte weniger als fünf Minuten, um eine Antwort zu formulieren. Sie schrieb ihm rasch, dass der Termin ihr gut passe und wünschte ihm eine gute Woche. Dann rief sie David Talbot an, um ihm die Neuigkeiten mitzuteilen.
 

Talbot war begeistert und sagte ihr knapp, was die Talamasca am meisten interessieren würde. Wie viele Vampire gab es? Wie alt war Marius? Wie hatte sein Leben als Sterblicher ausgesehen? Wie viele Vampire hatte er erschaffen? War es Vampiren möglich, Freundschaften mit Sterblichen einzugehen? Wie oft musste ein Vampir trinken, um bei Kräften zu bleiben? Wie gelang es den Vampiren, als Sterbliche zu posieren?
 

Als das Gespräch vorbei war und Jessica aufgelegt hatte, rauchte ihr der Kopf. Sie wusste noch nicht, ob sie Marius überhaupt all diese Fragen stellen sollte – vielleicht würde er dann denken, sie wolle ihn nur für die Talamasca aushorchen? Dabei könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Denn in Wirklichkeit wollte sie ihn einfach nur wiedersehen. Wollte erneut in seine unglaublich blauen Augen blicken und sich von ihm beschützen lassen.
 

Der Rest der Woche verging für Jesse wie im Flug. Sie schrieb einen Brief an Tante Maharet, in der sie ihr vom Treffen mit Marius berichtete, und ließ sich von den Talamasca über Vampire aufklären. Sie wurde in Vorsichtsmaßnahmen eingeweiht, die man beim Umgang mit diesen übernatürlichen Wesen beachten musste – nicht, dass sie sie brauchen würde, denn bei Marius war sie vollkommen sicher. Dennoch schienen diese Vorsichtsmaßnahmen zum Protokoll zu gehören und so musste Jessica endlose Warnungen über sich ergehen lassen, während sie lieber ein gutes Buch gelesen hätte. David Talbot war dieser Tage beinahe ekstatisch über die Chance, die sich aus einem direkten Kontakt zwischen Marius und Jesse für die Talamasca ergeben würde. „So nah waren wir einem Vampir noch nie“, hatte er ihr anvertraut. „In den Jahrhunderten unseres Bestehens konnten wir sie immer nur aus der Ferne beobachten. Das wird sich jetzt ändern. Wir sind alle gespannt auf die Resultate.“
 

Jesses Flugzeug landete um 21 Uhr in Venedig. Damit blieb ihr noch eine Stunde, um vom Flughafen bis hin zum Markusplatz zu kommen. Sie wartete ungeduldig an der Gepäckausgabe auf ihre zwei großen Koffer – sie hatte vorsichtshalter einmal für zwei Wochen gepackt. Nachdem sie ihr Gepäck endlich entgegen nehmen konnte, machte sie sich auf den Weg zum Ausgang. Dort angekommen stieg sie in ein Taxi und ließ sich zum Markusplatz chauffieren. Als sie ankam, blickte sie auf ihre Uhr. Es war 21.45, sie hatte also noch eine knappe Viertelstunde Zeit, bevor Marius kam. Sie bezahlte den Fahrer, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, und stieg dann hinaus in die dunkle Nacht.
 

Venedig, beschloss sie sofort, war auch in der Dunkelheit eine der schönsten Städte der Welt. Sie stellte ihre Koffer neben einem Brunnen ab und ließ sich auf der Steinmauer des Brunnes nieder, während sie auf den blonden Vampir wartete. Doch lange musste sie nicht warten. Noch bevor drei Minuten vergangen waren, setzte sich ein Mann neben sie, der in roten Samt gehüllt war. Als Jesse sich zu ihm umdrehte, stockte ihr der Atem. Neben ihr saß Marius, ätherisch schön wie in ihren Erinnerungen, und lächelte sie an. Sein blondes, langes Haar wehte sanft in der Frühlingsbrise.
 

„Hallo, Jessica.“, begrüßte er sie mit samtiger Stimme. „Du siehst wunderschön aus. Ich freue mich, dass du gekommen bist.“ Er griff nach ihrer Hand, hob sie an seine Lippen und küsste sanft ihre Fingerknöchel.
 

Jesses Herz pochte so stark, dass sie beinahe das Gefühl hatte, ihre Brust würde explodieren. „Marius“, flüsterte sie, von seiner Schönheit völlig umfangen. „Mein Marius.“ Ihre Hand lag noch immer in der seinen. Sie hob ihre andere Hand und strich ihm sanft durch die Haare.
 

Marius lächelte sie erneut an und bedeutete ihr dann, aufzustehen. „Komm, meine Jessica. Lass uns zu mir nach Hause gehen. Ich verspreche dir, es ist nicht weit.“ Er stand auf, immer noch ihre Hand haltend, und zog sie sanft auf ihre Beine. Dann ließ er ihre Hand los und griff sich die beiden Koffer. Er hob sie hoch, als würden sie nichts wiegen. Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln und setzte sich dann in Bewegung.
 

Jessica folgte ihm obwohl ihr schwindelte. Ihre Erinnerungen hatten sie nicht auf den Moment vorbereitet, ihn wieder zu sehen. Sie wusste schon vorher, dass er schön war, aber es war etwas anderes, dieser Schönheit als zehnjähriges Mädchen zu begegnen, als ihr als erwachsene Frau gewahr zu werden. Ihre Beine fühlte sich wie Gummi an, als er sie durch die dunklen Gassen der Stadt führte. Kurz darauf blieb Marius vor einem großen Herrenhaus stehen und schloss die Tür auf. Er betrat den Eingangsbereich und Jesse folgte ihm.
 

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, wurde Jessica eines mit einem Mal bewusst: Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie, ganz bewusst, allein mit einem Vampir.



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