Zum Inhalt der Seite

Ein Bild, tausend Worte

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Anziehungskraft

„Wo willst du schon wieder hin?“,mit erzürnter Miene sah die Mutter auf ihre junge Tochter hinab, die gerade in ihre Schuhe schlüpfte und einen verdutzten Blick zurück warf.

Langsam wanderten ihre Augen zu der kleinen Plastiktüte, in der sich eine eckige Lunchbox befand. Sicher, eigentlich sollte ihre Mutter bereits wissen, wo sie um diese Uhrzeit immer hinverschwand, doch Kirie wurde auch nicht müde, es immer zu wiederholen.
 

„Ich bringe Shuichi sein Essen“, blitzschnell verband sie die Schnürsenkel, schnappte sich die Tüte und riss die Haustür auf.

„Bleib aber nicht zu lange weg, ja?“, normalerweise machte sich Frau Goshima nicht so viele Sorgen, wenn ihre Tochter ihren Freund besuchte, doch in letzter Zeit passierten immer wieder seltsame Sachen.
 

„Natürlich“, ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als Kirie die Tür hinter sich zuzog und sich langsam auf den Weg machte.
 

Das Wetter war herrlich, ein milder Herbsttag. Bis jetzt war auch nichts ungewöhnliches zu sehen. Keine Moskitoschwärme oder Hurrikans. Ein ganz normaler Tag.

So normal, dass sie dachte, sie würde so etwas eigentlich nie mehr erleben.
 

Wobei...

Vielleicht war es nur die Ruhe vor dem Sturm, denn wenn sie genau hinsah, konnte sie noch immer die Wirbel in den kleinen Bächen erkennen, Blätter, die in immer währenden Spiralen durch die Luft gewirbelt wurden.
 

Kurôzu-Cho war wie verhext und sie alle konnten sich keine Erklärung darauf geben.
 

Kirie verzog den Mund und stieß schlussendlich doch nur einen leisen Seufzer aus. Immerhin war sie nun am Haus der Saitos angekommen. Bis jetzt lebte Shuichi hier alleine und sie fragte sich Tag für Tag wie lange noch.

Er verließ das Haus nicht mehr. Zumindest so gut wie gar nicht. Er ging nicht zur Schule, ging nicht arbeiten, einkaufen oder einfach nur aus.
 

Alleine deswegen kam sie jeden Tag mit dem Essen zu ihm.

Um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten.
 

Vielleicht, aber auch wirklich nur vielleicht, hätte sie seinen Ratschlag annehmen sollen und mit ihm verschwinden.
 

Kurz zögerte sie, hing an diesem Gedanken fest, doch genauso schnell, wie dieser gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden.

Entschlossen klopfte sie an und strich ihre braunen Haare glatt. Dann wartete sie.
 

Er brauchte immer ein wenig länger, doch alsbald konnte sie das leise Schlurfen hinter der Tür vernehmen und schließlich die grobe Frage: „Wer ist da?“

„Ich bin es. Kirie“, früher wäre es unnötig gewesen ihren Namen auch noch zu nennen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Shuichi war misstrauischer geworden.
 

Die Tür öffnete sich einen Spalt und sie konnte vernehmen, wie das Schlurfen sich langsam wieder von ihr entfernte.

Kirie verkniff sich jegliche Regung und öffnete die Tür soweit, dass sie eintreten konnte. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür wieder ins Schloss. Sie zog sich ihre Schuhe aus und ging in die Richtung, in die ihr Freund verschwunden war.
 

Es war warm in dem Haus der Saitos und es roch ein wenig muffig. Würde sie nicht ab und an vorbeikommen, würde das Haus vermutlich genauso enden, wie Shuichi selbst.

Eben jener hockte in seinem Zimmer auf dem Boden und starrte Löcher in die Luft.

Sein Rücken war gebeugt, krumm, als würde er wirklich eine schwere Last tragen.
 

„Ich habe dir dein Essen gebracht“

Keine Antwort. Wie immer.

Schweigend holte sie die Tüte mit der Box voll Essen aus ihrer Tasche und packte es sorgfältig aus. Schließlich setzte sie sich neben Shuichi auf den Boden und reichte die Box an ihn weiter.
 

Er brachte nicht ein mal ein Danke über die brüchigen Lippen, doch das brauchte sie auch nicht. Für sie war es Dank genug, zu zusehen, wie Shuichi sich die Essstäbchen zwischen die Finger klemmte und die selbst gemachten Nudeln beinahe mit nur einem Bissen hinunter schlang.
 

Sauce lief ihm den Mundwinkel hinunter und sie griff schon nach einer Serviette, als er endlich endete und sich jene schnappte, um seinen Mund zu säubern.
 

Lange schwiegen sie und Kirie schielte aus dem Augenwinkel immer wieder zu ihm herüber. Er war ungewöhnlich blass, blasser als sonst und sein rabenschwarzes Haar wucherte, stand in alle Richtungen ab, als kümmere er sich gar nicht mehr darum.
 

Natürlich tat er das nicht mehr.

Bei dem, was er gerade durchmachte.
 

Und es zeigte sich nicht nur an seinem Schopf.
 

Das junge Mädchen brachte ihm so gut wie jeden Tag Essen vorbei und trotzdem verlor er immer weiter an Gewicht. Er war so dünn, richtig ausgemergelt. Man konnte es an den locker sitzenden Klamotten sehen und der Art und Weise, wie seine Wangen eingefallen waren.
 

Eines Tages hatte eine Klassenkameradin sie gefragt, warum sie Shuichi nicht verlassen würde? Für einen Moment hatte sie sprachlos dagestanden und wusste nicht ein mal, was sie sagen sollte.

Sie konnte ihn in dieser schwierigen Zeit doch nicht einfach verlassen.

Außerdem kannten sie sich schon seid sie klein waren.
 

Und sie liebte ihn doch.
 

Ihre braunen Augen richteten sich auf die des Schwarzhaarigen. Er sagte noch immer kein Wort, hatte aber wieder seine abwehrende Haltung angenommen, die Knie dicht an seine Brust gezogen. Irgendetwas, sie versuchte irgendetwas in seinen Augen zu erkennen, irgendeine Gefühlsregung, doch sie waren vollkommen ausdruckslos.

Und so düster.
 

Er war damals schon ruhig gewesen, eher reserviert.

Und sie hatte ihn geliebt.

Sie liebte ihn immer noch.
 

Sie würde mit ihm davonlaufen, wenn er sie noch ein mal fragen würde.

Auf der Stelle, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.

Sie wollte bei ihm bleiben, für immer.

Sie liebte ihn.
 

Der Sog den er auf sie ausübte.

Ohne auch nur irgendein Zutun seinerseits.

Sie wollte, ja sie hatte sogar manchmal das Gefühl, sie musste.

Es war so unvorstellbar.
 

Diese Anziehungskraft.
 

Es war, als würde sie in eine Spirale blicken.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück