Während der ganzen Rede, welche aus dem Radio erklang, breitete sich im Raum eine bedrückende Stille aus.
„Österreicher und Österreicherinnen!“
Roderich stand als nächstes beim Radio, welches sich auf einem brusthohen Schubladenkasten befand. Das Gesicht auf die Kante des Kasten gerichtet und den Kopf von den Armen gestützt, lauschte er teilnahmslos der letzte Rede seines Bosses. Seine Hände verkrampften sich in seinen Haaren.
„Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volke über die Ereignisse des Tages zu berichten:“
Adelheid saß mit zusammengezogenen Knien auf dem alten Sofa und hielt ein Buch, aufgeschlagen, in der Hand. Doch die Augen der Vorarlbergerin bewegten sich keine Zeile weiter.
„Die Deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nachdem der Herr Bundespräsident einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen und die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich für diese Stunde in Aussicht genommen wurde.“
Hedwig saß ihr gegenüber im Fauteuil und hielt das junge Burgenland in den Armen. Sanft wiegte Steiermark das junge Geschöpf hin und her und summte leise ein altes Kinderlied, welches jedoch vom knarzenden Radio übertönt wurde. Franziska, auf ihrem Schoß, kuschelte sich in der Zwischenzeit immer mehr an ihre Brust und hielt sich die Tränen zurück. Sie verstand einfach nicht, weshalb ihre älteren Geschwister so angespannt waren. Von der Straße hatte sie immer wieder nur gehört das jetzt endlich der Zeitpunkt gekommen war, dass Österreich zurück nach Deutschland käme. Zurück ins Reich hieß es immer wieder. Warum freuten sich dann ihre ältere Schwester und ihr älterer Bruder nicht?
„Ich stelle fest, vor der Welt, dass die Nachrichten, die in Österreich verbreitet wurden, dass Arbeiterunruhen gewesen seien, dass Ströme von Blut geflossen seien, dass die Regierung nicht Herrin der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind.“
Agnes stand am Fenster und beobachtete die leere Straße unter ihnen. Dass die Tirolerin mit ihrer kleinen Schwester Vorarlberg überhaupt gekommen war, konnte als Beweis gelten, dass sie sich Sorgen um ihren Bruder machte. Sie war nie sehr rücksichtsvoll zu Roderich gewesen. Doch die momentanen politischen Umstände, beunruhigten sie. Insbesondere, dass sich der Zustand ihres Bruders, seit Ende des Krieges, kaum verbessert hatte. Ja, sie gab zu, sie wollte ihn damals um jeden Preis verlassen. Eine der wenigen Augenblicke ihres Lebens, bei der sie einer Meinung war mit ihrer Zwangsschwester Salzburg. Sie strich sich kurz geistesabwesend auf den Bauch. Der Verlust ihrer südlichen Lande schmerzte sie immer noch, doch würde sich das in der Zukunft ändern?
„Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volke mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in diesen ernsten Stunden nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten.“
Salzburg, mit der sich Agnes persöhnlich nie gut verstanden hatte, saß in ihrer Nähe am Klavier. Doch hatte Salvatria nur den Deckel zurückgeschlagen. Die weißen und schwarzen Tasten lagen unberührt vor ihr. Sie hatte aufgehört zum spielen, als Roderich das Radio aufgedreht hatte. Nun lauschte sie den Abschiedsworten Kurt Schuschniggs mit unbewegter Miene.
„Der Herr Bundespräsident hat den General der Infanterie Schilhawsky, Generaltruppeninspektor, mit der Führung der Wehrmacht betraut. Durch ihn werden die weiteren Weisungen für die Wehrmacht ergehen.“
Katharina, die älteste der Geschwister, hatte sich vor den kleinen Tisch an der Wand gesetzt. Mit langsamen Bewegungen bürstete die Personifizierung von Kärnten sich das lange braune Haar, welches ihr über die Brust fiel.
„So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich“
Mit einer sanften Bewegung legte die Kärntnerin die Bürste auf den Tisch und faltete die Hände im Schoß. Nacheinander ließ sie ihren Blick zu jedem Familienmitglied schweifen. Mit leiser, dennoch fester Stimme sprach sie den Satz aus, vor dem sich alle fürchteten.
„Und jetzt kommt der Krieg.“