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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Hoffnung

Alles ist vorüber. Vor dem Zugfenster draußen ziehen immer schneller die Gebäude des Kapitols vorbei. Bald legt sich der Zug in eine Kurve und mit einem letzten Ausblick auf das prächtige Panorama verschwindet die Hauptstadt in der Ferne. Jetzt trägt uns der Zug immer schneller in Richtung von Distrikt vier. Den Kopf gegen die kalte Scheibe gelehnt blicke ich hinaus auf die Landschaft. Es kommt mir vor als wäre es erst gestern gewesen, dass ich in diesem Zug Richtung Kapitol gefahren bin – aber gleichzeitig fühlt es sich auch an als würden Jahre dazwischen liegen. Dieses Mal bin ich alleine, wenn man einmal von meinen Mentoren absieht. Doch wo das letzte Mal Gelächter in der Luft lag und ein fröhliches Abendessen stattfand herrscht nun eine gedrückte Stimmung. Amber sitzt in einer Ecke auf einem weichen Sofa und liest in einem Magazin. Trexler und Floogs unterhalten sich fast schon im Flüsterton auf der anderen Seite des Abteils an einem Tisch. Mags ist in einem großen Ohrensessel eingeschlafen kurz nachdem wir im Kapitol in den Zug gestiegen sind. Bleibt nur noch Finnick, der stumm mir gegenüber sitzt und ein Türmchen aus Zuckerwürfeln baut. Cecilia hat sich in ihr eigenes Abteil begeben, beleidigt da niemand ihre ausgelassene Stimmung zu schätzen wusste.

Sie scheint die Einzige zu sein, die über den Sieg von Distrikt vier wirklich aufgeregt und stolz ist. Selbst nach dem gestrigen Fiasko auf der offenen Bühne scheint sie in Höchststimmung zu sein. Amber hat düster gescherzt, dass sie jetzt bestimmt eine Gehaltserhöhung bekommt, die sie sodann in neue Schönheitsoperationen investieren kann. Dank meines Zusammenbruchs gestern musste die Übertragung der Siegesfeier gestern schlagartig abgebrochen werden. Natürlich brach Tumult im Publikum los nachdem Finnick mich von der Bühne gezerrt hatte während ein hilfloser Caesar Flickerman zusah. Doch so wie die Anderen es mir geschildert haben wurde kurz daraufhin ein Beitrag mit Tia, meiner ‚emotionalen Beraterin‘ im Fernsehen gesendet, die sagte meine Gesundheit würde lediglich noch schwächeln, aber ich würde beste Grüße ausrichten lassen und wäre untröstlich über das abrupte Ende der Feierlichkeiten. Die entscheidenden paar Sekunden wurden natürlich nicht an alle Distrikte und das Kapitol übertragen. Von Präsident Snow höchstpersönlich wurde dem Publikum angeordnet Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren.

Insgeheim fragte ich mich, wie viele Tribute wohl schon derartiges durchlebt hatten. Das Kapitol schien jedenfalls öfter zu lügen und die Tatsachen zu beschönigen, als man in den Distrikten mitbekommen würde. Nach einer ordentlichen Dosis Morfix und einer unruhigen Nacht die ich um mich schlagend in Finnicks Armen verbrachte, an die ich mich aber kaum bewusst erinnern kann, bin ich nun wieder einigermaßen bei klarem Bewusstsein. Zumindest vermag ich es wieder meine Gedanken zu ordnen und Wirklichkeit von Albtraum zu unterscheiden. Allerdings zittern meine Hände so stark, dass ich sie unter meinen Oberschenkeln verstecke. Laut Mags sind das die ersten Entzugserscheinungen des Morfix. Umso mehr will ich nicht mehr auf die Droge angewiesen sein. Dennoch vermisse ich das beruhigende Gefühl mit dem mich das Morfix erfüllt. Mein Hals schmerzt unerträglich von den vielen Angstschreien und meine Stimme hört sich nicht mehr wie dieselbe an. Doch Mags hat die Ärzte mit den Morfixspritzen ohnehin verscheucht, unterstützt von Finnick. Wenn sie sagen, dass es nur zu meinem besten Wohl sei, dann glaube ich es ihnen auch. Selbst wenn das bedeutet, dass ich mit den Panikattacken leben muss.

Ich bin froh wenigstens das Kapitol hinter mir lassen zu können. Bis nächstes Jahr muss ich die Menschen dort, die die Spiele als eine spaßige Freizeitaktivität betrachten nicht mehr sehen und vor allem auch Präsident Snow nicht mehr begegnen. Nach seiner Drohung weiß ich bereits was passiert ist. Floogs hat gestern meine Ängste bestätigt. Mein Vater hat seinen Hochseeunfall nicht überlebt. Doch nicht nur das ist in der Zwischenzeit in Distrikt vier passiert. Bei einem Unfall auf den Fischfarmen ist ein Feuer ausgebrochen und mehrere Menschen, darunter auch David, sind ums Leben gekommen. Seitdem sind die Sicherheitsvorkehrungen noch härter geworden und verstärkte Patrouillen von Friedenswächtern kontrollieren die Arbeit. Diese lassen aber zumeist eher Willkür denn Gerechtigkeit walten und nutzen ihre Position aus. Immerhin hat Floogs mich vorsichtig zur Seite genommen um mir von dem Tod meines Vaters kurz nach Maylins Tod in den Spielen zu erzählen, sowie das Schicksal Davids. Auch Floogs tat es scheinbar weh mir dies mitzuteilen, denn seine Stimme war leise und brüchig. Aber er wollte es mir lieber erzählen bevor wir nach Distrikt vier zurückkehren würden, damit ich dort nicht noch einmal vom Schock überwältigt werden würde, gleich zwei geliebte Menschen verloren zu haben. Einen Schock habe ich so oder so durchlebt, denn alleine schon die Spiele gestern wieder ansehen zu müssen war schon zu viel. Ich fühle mich schuldig, so unglaublich schuldig. In mir ist nur noch eine seltsame Leere in meinem Herzen. So viele Menschen in kurzer Zeit habe ich verloren, dass ich mich frage warum ich überhaupt noch am Leben bin. Doch hier bin ich umgeben von Menschen die genauso wie ich gelitten haben. Amber, Mags, Floogs, Trexler und auch Finnick haben das unvorstellbare in der Arena durchlitten. Und manch einem von ihnen hat das Kapitol auch einen geliebten Menschen genommen. Die meisten sind ganz alleine zurückgeblieben. Ein lebendes Mahnmal für alle anderen sich nicht mit dem Kapitol anzulegen. Insbesondere Amber, deren Familie für ihre öffentlich geäußerte Abneigung gegenüber Snow zahlen musste. Wie es ihre Art ist hat sie mir recht ruppig davon erzählt, dass auch ihrer Familie ein Unfall passiert ist, nachdem sie im Fernsehen Snow als widerwärtig betitelt hatte. Aber für sie sei das noch lange kein Grund gewesen klein beizugeben. ‚Jetzt werde ich erst recht kämpfen bis der Schweinehund für das bezahlt was er uns antut‘, hatte sie wütend gezischt. Denn nicht wir, die Figuren in seinem Spiel sind schuldig. Die Strippenzieher aus dem Kapitol, allen voran Präsident Snow sind diejenigen an deren Händen Blut klebt. So wie sie das sagt klingt sie gefährlich rebellisch. Doch auch wenn Amber nicht die beste mit gefühlvollen Äußerungen ist und nach wie vor eine harte Schale zeigt, so gibt sie – und alle anderen – mir dennoch Hoffnung. Es ist nur so wenig was wir tun können und mitunter droht es einen zu überwältigen. Aber wenn wir auch nur immer wieder aufstehen und nicht klein beigeben besteht noch eine Chance. Ich wage nicht davon zu träumen, dass wir das Kapitol eines Tages stürzen werden. Dafür müsste es eine Rebellion geben, etwas das so viel größer wäre als nur wir paar gebrochene Sieger. Jedoch können wir danach streben jeden Tag für uns wieder besser zu machen.

Als wir gestern bis spät in die Nacht beieinander saßen in unserem Appartement im Trainingscenter und Finnick mich in Decken gehüllt in seinen Armen hielt, haben alle von den schönen Erlebnissen erzählt, die sie auch nach ihrem Sieg noch erlebt haben. So ist es für Trexler einer seiner schönsten Tage, als er seine Frau heiraten konnte in einer klassischen Zeremonie unseres Distrikts. Auch wenn man es dem breiten Schrank von Mann nicht ansieht, so ist er doch ein echter Familienmensch. Eigene Kinder hat er zwar nicht, doch er und Isla, seine Frau, kümmern sich rührend um die Waisenkinder des Distrikts. Floogs hingegen macht es stolz zu sehen wie seine Schwester einen Schulabschluss gemacht hat und eine Arbeitsstelle als Lehrerin angeboten bekommen hat. Amber hat etwas widerwillig zugegeben, dass es ihr eine große Freude bereitet in ihrem Garten zu arbeiten und die Insekten zu beobachten. Mags liebt die großen Feste in Distrikt vier zum Ende des Sommers in denen alle für wenige Stunden komplett ausgelassen sind und die Sorgen des Alltags für einen Moment vergessen. Für Finnick sind es die stillen Stunden am Meer, bevor die Sonne aufgeht. All diese Erinnerungen an warme und glückliche Momente erleichtern mich ein wenig. Niemand ist mehr dieselbe Person die sie früher war. Doch irgendwo hinter dem dunklen Nebel warten die schönen Tage auch wieder.

Im Dunkel des Schlafzimmers hat Finnick schließlich leise zu mir geflüstert:

„Niemand erwartet, dass du dich jemals von diesen Erlebnissen erholst. Aber verstehe, dass jetzt aufzugeben alles Leid vergebens machen würde. Nur du alleine kannst dich heilen. Weine wenn dir danach ist. Schreie wenn du musst. Laufe wenn es dich danach verlangt. Und wenn es bis an dein Lebensende dauert, das wird es wert sein wenn du auch nur einmal wieder lächeln kannst.“

Mit Tränen in den Augen schlief ich so an seiner Brust ein. Zwischen all der Kälte in mir und der Anspannung verspüre ich bei der Erinnerung doch ein kleines warmes Flämmchen in meiner Brust aufzüngeln. Noch schlägt mein Herz und noch gibt es Liebe in mir. Draußen senkt sich derweil die Sonne immer weiter hinab und taucht die flacher werdende Landschaft in goldenes Licht. Nicht mehr lange und wir sind wieder in Distrikt vier – zuhause. Bei dem Gedanken erweckt sich in mir eine Sehnsucht. Endlich werde ich das echte Meer wieder sehen können.

Eine halbe Stunde bevor wir in den Bahnhof erreichen bricht Geschäftigkeit aus. Cecilia kommt zurück und scheucht uns herum. Wir sollen die von Roan bereitgestellten Kleider anziehen und unser weniges Hab und Gut zusammen sammeln ehe wir da sind. Amber hilft mir freundlicherweise in das zartrosa Kleid mit einem kurzen Glockenrock und Puffärmeln das für mich geschneidert wurde. Diesmal muss ich zum Glück keine hohen Schuhe mehr tragen, sondern darf flache Schuhe anziehen. Wenigstens kann ich so nicht stolpern wenn ich in Panik gerate und mir den Fuß verletzen. Das Medaillon meines Vaters zusammen mit Finnicks Anhänger, mein Talisman, verstecke ich unter dem Kleid um ihn nicht ablegen zu müssen. Zum Schluss muss ich noch die verhasste Krone wieder aufsetzen. Wenigstens ist es diesmal nicht Snow der mir die Krone auflegt. Nervös verkrampfen sich meine Finger als wir schließlich langsam in den Bahnhof einfahren. Eine große Menschentraube steht bereits versammelt am Gleis, allen voran die wichtigen Persönlichkeiten des Distrikts. Es versetzt mir einen Stich in die Brust dort nicht auch meinen Vater zu sehen, oder David. Auch wenn wir vielleicht nicht im Besten auseinander gegangen sind, so hat er doch einen leeren Platz in meinem Herzen hinterlassen. Stattdessen steht der Bürgermeister mitsamt seiner Familie neben den obersten Friedenswächtern in ihren glänzenden weißen Rüstungen. Fast augenblicklich wallen Erinnerungen an meinen zwanghaften Besuch bei Präsident Snow hoch. Wie mich die Friedenswächter durch das Labyrinth unterirdischer Gänge zu ihm führen um mich vor ein Ultimatum zu stellen. Die Luft zum Atmen wird mir knapp. Unterbewusst fährt meine Hand zur Kehle und ich schnappe nach Luft. Mags, die jetzt wieder erwacht ist, legt mir mitfühlend die Hand auf den Arm.

„Wir sind bei dir“, sagt sie ernst.

Ich nicke, noch nicht ganz überzeugt. Mit einem kleinen Ruck kommt der Zug zum Stehen. Zischend öffnen sich die Türen. Warme Abendluft dringt herein, zusammen mit dem süßlichen Duft von Blumen und dahinter kaum merklich der Geruch von Salz und Fisch. Alles ist festlich dekoriert mit Blumenkränzen und Fernsehkameras halten alles fest. Vor mir steigen Cecilia und die Mentoren aus, erst dann steige ich, noch immer begleitet von Mags, auch aus. Höflicher Applaus erschallt. Steif stehe ich da und spüre die warme Luft meine Haut kitzeln. Innerlich ist mir noch immer kalt, doch die warme Brise entspannt mich einigermaßen. So fühlt sich zuhause an. Der Bürgermeister gratuliert mir und ich schüttle seine Hand ohne ihn kaum richtig wahrzunehmen. Wir werden in einer kleinen Prozession zur Eröffnung des üblichen Festmahls geleitet. Auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus sind bereits lange Tische und Bänke aufgebaut. Auch hier ist alles mit frischen Blumen dekoriert. Distrikt vier ist so schön wie schon lange nicht mehr. Überall drängen sich aufgeregt Leute. Cecilia hält noch kurz eine Rede, die ich jedoch nur am Rande mitbekomme, denn von lauter dezent gekleideten Avoxen werden bereits riesige Platten an feinsten Speisen herbei getragen. Zum ersten Mal seit Wochen spüre ich wie mein Magen deutlich knurrt. Zu meiner Erleichterung wird von mir auch nicht weiter verlangt auch eine Rede zu halten und so lassen wir uns nieder und können direkt anfangen zu speisen. Ich bin unglaublich schnell satt, doch das stört mich nicht.

Je weiter der Abend fortschreitet, desto mehr löst sich die Gesellschaft auf. Menschen fangen an in der Mitte des Platzes ausgelassen zu tanzen. Für sie ist es eine willkommene Ablenkung des Alltags und ein wahres Festmahl gegenüber den kargen Rationen die uns sonst täglich zustehen. Kaum jemand achtet noch auf mich oder die Anderen. Unauffällig erhebe ich mich und schlüpfe zwischen den Feiernden hindurch. Rasch gelange ich in die weniger belebten Gassen und ehe ich mich versehe fange ich an zu laufen, dann zu rennen. Jeder meiner Schritte trägt mich näher dem Meer entgegen. Immer stärker werden die Gerüche und das entfernte Rauschen des Ozeans. Die Geräusche der Siegesfeier sind hier unten nur noch weit entfernt. Und dann endlich eröffnet sich vor mir der Blick auf das nächtliche Meer. Einen Moment muss ich innehalten um den Anblick in mich aufzunehmen. Ich hatte gedacht nie wieder hier her zurückzukehren und doch stehe ich jetzt hier. Die verhasste Krone fliegt von meinem Kopf in die Dünen und auch die lästigen Schuhe folgen ihr. Meine Hand um das Medaillon und den kleinen Fischanhänger geschlungen gehe ich langsam die letzten Meter hinab.

Sanft schlagen die Wellen an den Strand. Eine leichte Brise weht und trägt den starken salzigen Geruch vom offenen Meer heran. Unter meinen nackten Füßen spüre ich feine Sandkörner. In der Ferne geht der Mond auf und spiegelt sich silbrig in den seichten Wellen. Am Himmel über mir funkeln die Sterne, tausende und abertausende, so viele wie nirgends sonst auf der Welt. Die Salzblumen in den Dünen rascheln leicht in der Nachtluft. Ich atme tief ein. Schließe die Augen und genieße einfach nur für einen Moment. Ein tiefes Gefühl von Frieden ergreift mich. Hinter mir spüre ich schwere Schritte zögerlich näher kommen. Finnick kommt durch den Sand auf mich zu, auch er ohne Schuhe an den Füßen. Keiner von uns sagt etwas. Wir stehen einfach so da und nehmen das Gefühl des Meeres in uns auf. Zaghaft gleitet seine Hand um meine Taille. Die Augen wieder geschlossen lehne ich mich gegen ihn. Zu dem Geruch des Meeres mischt sich dieser einzigartige Duft den nur Finnick hat. Für mich riecht er nach Geborgenheit.

Langsam öffne ich die Augen und blicke ihn an. Seine meergrünen Augen glitzern im Sternenlicht und sagen mir in diesem Moment mehr als Worte es je könnten. Ich halte mich stark an ihm fest, als hätte ich Angst, dass er vom Wasser davon gerissen werden könnte. Unsere Lippen berühren sich zärtlich.

Ich weiß nicht ob alles wieder gut werden kann. Aber ich höre das hoffnungsvolle Flüstern des Meeres. Noch ist es nicht vorbei.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das ist es also, das Ende dieser Geschichte. Aber wie jeder weiß, ist das Ende der einen Geschichte nur der Anfang einer Neuen...
Ich danke jedem Leser von Herzen der bei dieser Achterbahnfahrt dabei war. Ich hoffe es hat euch gefallen und wir lesen uns bald einmal wieder!

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