Zum Inhalt der Seite

der Gedanke

~ Wichtel-OS für Levet
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

der Gedanke

Ein Gedanke.

Da beginnt es. Es beginnt immer da. Unvorhergesehen. Fast wie Magie.

Und in den Augen mancher ist es Magie. Was es für mich ist versuche ich noch herauszufinden. Wobei… ich das vielleicht gar nicht will. Aber das spielt jetzt keine Rolle.

Der Gedanke ist der Ausgangspunkt, der Queue, der die Billardkugeln zum Tanzen und manchmal auch die Karte, die im falschen Winkel gelegt, das gesamte filigrane Konstrukt des Kartenhauses zum Einsturz bringt. Was von beiden es ist, weiß ich leider immer erst als Letzte.

Jedenfalls verursacht dieser Gedanke, was sie meistens verursachen und löst meine Hand aus ihrer starren Umklammerung mit der anderen auf meinem Schoß. Genau in dem Moment hält der Bus mit einem Ruck, der jeden stehenden Fahrgast, ohne Zugang zu einer der Stangen, umgeworfen hätte, und eine Flut von Menschen strömt herein. Der Geruch von nassem Polyester, Nacht und Zigarettenqualm dringt an meine Nase, die ich unwillkürlich rümpfe und damit eine Sekunde zu spät die Finger um meine Tasche schließe, die noch halb auf dem freien Platz neben mir lag. Schon quetscht sich ein Mann in Jack-Wolfskin-Jacke, von der die Tropfen purzeln, auf die Stelle und genau darauf. Und somit auch auf meine Hand.

„Oh, Entschuldigung!“, beeilt er sich zu sagen. Ich mache nur eine knappe Geste mit der Hand, hieve mir die Tasche auf den Schoß und versuche mich zu erinnern, was ich vorhatte.

Richtig. Der Gedanke.

Der Typ wuchtet sich erneut hin: Also, eine Grazie ist das nicht.

Lass dich nicht ablenken, denke ich streng, schlage die Taschenklappe zurück und schiebe die Hand, die nicht von dem triefendem Mann neben mir zermalmt wurde, zwischen Sportklamotten, längst verfallene Fahrkarten und irgendwann hineingeworfenes Kleingeld.

Mist. Ich hab das Buch vergessen. Typisch.

Jack-Wolfskin zu meiner Linken kramt in seiner Hosentasche nach irgendwas und sein Bein berührt dabei meins. Ich presse mich so weit es geht an die Fensterscheibe. Ich hasse es, von Fremden berührt oder auch nur gestreift zu werden. Was sind das für Leute, dass sie den persönlichen Schutzring eines anderen Menschen so unverblümt ignorieren? Er fischt ein Smartphone hervor, dem ein Paar Kopfhörer folgen.

Wollte ich nicht etwas tun?

Ach ja. Der Gedanke. Meine Finger schließen sich um einen dünnen, stabförmigen Gegenstand mit geriffelten Prägungen. Der Fineliner. Na wenigstens das.

Ich ziehe ihn hervor und lasse die Klappe wieder zurückfallen, darauf bedacht, meinen Nachbarn nicht zu streifen, der inzwischen in eine andere Welt verschwunden scheint. Zu dumm nur, dass er mich und andere näher stehende Leute offenbar daran Teil haben lassen möchte, denn der Lautstärkeregler ist voll aufgedreht.

Ich unterdrücke ein Stöhnen, als er zusätzlich anfängt, im Rhythmus mit der flachen Hand auf seinem Rucksack herumzutrommeln. Noch einmal hebe ich die Klappe an und wühle einen Moment, bis ich den kleinen, zerkratzen Kasten meines prähistorischen MP3-Players zu fassen bekomme. Musik an, Welt aus. So heißt es doch.

Leider ist das nur die halbe Wahrheit. Denn gegen den House-Mix, der aus den High-Tech-Ohrstöpseln von Jack-Wolfskin dringt, kommt der sanfte Blues auf meiner Playlist nicht an…

Unbewusst wende ich den Blick zum Fenster. Die Stadt hinter der Scheibe wird von Regentropfen verschleiert. Aufgeschwollene Pünktchen, die fleckige Mauern, blinkenden Laternenköpfen oder vorbeitrottenden Menschen Kontur und Härte nehmen.

Aber Moment mal. Da war doch noch etwas.

Meine Finger fahren das abgenutzte Plastik des Fineliners nach, als wollten sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

Verdammt, ja. Der Gedanke.

Da Jack-Wolfskin immer noch passioniert wie eine Mücke auf Beutezug, seinen Rucksack in rhythmischer Weise bearbeitet und damit mehr Platz einnimmt, als mir lieb ist, drehe ich mich zum Fenster und drücke einen Arm gegen die kühle, feuchte Scheibe. Aber gerade, als ich den Stift auf die Haut des Unterarms setze, legt der verfluchte Fahrer wieder einen halsbrecherischen Stopp hin und die Spitze schrammt unangenehm fest eine krakelige Linie quer über die Pulsadern. Ich beiße mir auf die Unterlippe und kämpfe mit dem Drang, zu schreien. Manchmal wünsche ich mir, den Mut zu haben, es einfach zu tun. Etwas, was niemand erwartet. Etwas Kontroverses. Etwas, was sich eben nie jemand traut.

Ha… um dann für verrückt erklärt zu werden. Gib es auf, Mädchen!

Mit einem beherrschten Seufzer streiche ich die Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben, zurück und setze den Stift etwas weiter unten wieder an. Der Bus setzt sich in Bewegung, aber ich kenne das Muster des Fahrers relativ gut – seine brachialen Bremsungen eigentlich auch, aber in dem Moment war es mir entfallen.

Die Musik meines Nachbarn macht mich wahnsinnig. So sehr, dass mir auch meine eigene auf den Geist zu gehen beginnt. Ich reiße die Stöpsel aus den Ohren und lasse sie, ohne den Player auszuschalten, auf meinen Schoß fallen. Das ist jetzt egal. Ich muss nur schnell den Gedanken aufschreiben, bevor ich ihn wieder vergesse, nur schnell…

Genau in dem Augenblick wird über die Lautsprechanlage meine Haltestelle angesagt. Seit wann fährt dieser Bus denn so schnell?!

Verärgert strecke ich den Arm aus, um den Halteknopf zu betätigen und breche mir fast das Handgelenk, weil Jack-Wolfskin sich soweit vorgelehnt hat, dass ich nur schwer rankomme, ohne ihn zu berühren.

Er hat mir nichts getan, aber ich hasse ihn. Was eigentlich furchtbar ist. Warum bringen wildfremde Menschen mich dazu, sie zu hassen? Wer hat gesagt, dass ich das will? Na du, du Schlaubirne, denke ich zerknirscht, drücke die Kappe auf den Stift und stopfe ihn zusammen mit dem MP3-Player wieder zwischen schwarze Nylon-Stulpen und eine leere Wasserflasche.

Der Fahrer macht erneut eine Vollbremsung, als würde ein Reh vor ihm auf die Straße springen, aber mein Nachbar macht keine Anstalten, mich durchzulassen. Da ich ob der lauten Bässe, die sein Trommelfell umnebeln, nicht glaube, dass er mich hören kann, zwinge ich mich dazu, ihn an der Schulter zu berühren.

„Oh, Entschuldigung!“, sagt er, ähnlich bedeppert wie schon vorhin, und macht den Weg frei. So wenig Zeit habe ich sicher noch nie verbraucht, um aus dem Bus zu steigen.

Kaum bin ich draußen, klatschen kieselsteingroße Regentropfen auf meine Wangen und erinnern mich wieder an Grund, der mich mein Skizzenbuch zuhause hat liegen lassen.

Na ja, es sind zehn Minuten Fußweg – das geht schnell, oder nicht?

Besagte zehn Minuten – oder in Anbetracht des Wettereinflusses eher zwanzig Minuten – später möchte ich meinem anfänglichen Optimismus am liebsten in den Arsch treten.

Den ganzen Weg über habe ich den Gedanken gehütet, um ihn jetzt – endlich – niederschreiben zu können. Himmel!

Ich schließe die Tür hinter mir, löse die Knöpfe meines Mantels, während ich den Lichtschalter betätige, schleudere die Tasche aufs Bett, schlüpfe eilig aus den Stiefeln und fliege dann förmlich zum Schreibtisch.

Zwischen einer leeren Pizzaschachtel und einem faustgroßen Amethyst liegen noch mehr alte Fahrkarten, ich schnappe mir eine davon und streiche sie sorgsam glatt. Aber als ich nach dem Kugelschreiber neben einem Kaffeepappbecher taste und aufs Papier lege, fällt mir auf, dass er keine Farbe mehr hat. Wütend pfeffere ich das Ding, das noch die Aufschrift der Firma trägt, von der ich es einst mitgehen ließ, in den übervollen Mülleimer und wische diverse Tassen, Teller, Zeitschriften, Bücher und ausgeleierte Zopfgummis beiseite, aber nirgends lässt sich ein Schreibwerkzeug blicken.

Diesmal erlaube ich mir einen Schrei, einen kleinen, den die Nachbarn wahrscheinlich nicht mal gehört haben, stapfe zum Bett hinüber, öffne die Tasche und halte sie verkehrt herum, sodass sich der Inhalt auf die Decke ergießt. Dabei fällt mir der leuchtende Display meines MP3-Players auf.

Ich Idiotin hab ihn angelassen, obwohl die Batterien schon so weit runter sind! Hektisch greife ich danach und erlöse ihn von seiner Arbeit. Dann fege ich die Klamotten beiseite und der Stift kommt zum Vorschein.

Na bitte. Alles in Ordnung.

Mit einem tiefen Ausatmen löse ich den Zopf und verfrachte mein nasses Haar auf die rechte Schulter, bevor ich mich im Schneidersitz auf den Stuhl sinken lasse, die Kappe des Fineliners abnehme und die blaue Spitze auf das dünne Papier setze.

Ein Gedanke.

Ein genialer Gedanke.

Nur leider… ist er mir entfallen.
 

~



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück