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Filiale Zero

von

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XI

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug Baldors Heimdall direkt vor den Füßen ihrer Zielperson ein. Das Geräusch hallte über den Platz und war vermutlich sogar bis auf die Straße außerhalb des Parks zu vernehmen. Sein Heimdall hinterließ einen kreisrunden Abdruck im Asphalt, als Baldor ihn zurückzog und mit einer Hand auffing.

Anstatt jedoch die dargebotene Chance zu ergreifen und einen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen, blieb ihr Gegenüber stehen. Scheinbar war er des Weglaufens müde, schoss es Baldor in den Kopf. Gleichzeitig flutete Adrenalin seine Venen; das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz hämmerte in Ekstase. Noch schneller, als der Junge vor ihnen Zwillingsäxte aus seinem Rucksack zog. Gegen seinen Heimdall wirkten sie nur wie billige Spielzeuge, doch wenn es etwas gab, das Baldor mehr liebte als den bloßen Kampf, dann waren es falsche Hoffnungen und einen Lebenswillen gnadenlos zerquetschen zu können.

Als der braunhaarige Fremde sich jedoch zu ihnen herumdrehte, blickte Baldor nicht in das Gesicht eines eiskalten Mörders, sondern viel eher... in das eines verstörten Jungen?

Baldors Augenbraue zuckte in die Höhe, als er ihn mit einem Kaugummi im Mund unter intensiven Blick beäugte. Was zum Teufel...?

„Der Knirps soll für das Massaker in Filiale Zero verantwortlich sein?“, fragte Baldor mit Irritation in der Stimme. Zwar hatte er schon schmächtigere Kerle gesehen, die plötzlich übergeschnappt waren und wild um sich geschlagen hatten, aber es war schwer vorstellbar, dass dieser Typ alle Anwärter Chronos’ einfach ausgeschaltet haben sollte.

Im Grunde machte es aber keinen Unterschied, Baldor würde ihn unter allen Umständen den Gar ausmachen. Jemand, der Chronos den Rücken kehrte, gehörte exekutiert.

„I-Ihr habt sie getötet!“, entrann es seiner Zielperson. „Einfach so. Dabei hat sie nie jemandem etwas getan! Ihr habt versprochen, auf sie aufzupassen!“ Das zuvor ausdruckslose Gesicht war plötzlich wutverzerrt, doch in Baldor ließ es nur Belustigung aufkommen.

„Ich glaube, er ist durchgeknallt, Kranz.“

Sein Partner, der neben ihm zum Stehen gekommen war, schwieg jedoch.

Stille hatte sich im Park ausgebreitet, doch lange würde sie nicht anhalten. Hier draußen im Freien konnte Baldor sich wenigstens austoben, im Gegensatz zu der kleinen Organisation, die sie heute Nachmittag dem Erdboden gleich gemacht hatten.

„Egal, er gehört mir!“, fügte Baldor hinzu. Er wollte gar nichts anderes in diesem Moment, als diesem mickrigen Wurm persönlich zu zeigen, dass man sich nicht mit Chronos anlegte.

„Du solltest dir lieber Sorgen um dich selbst machen, Kiddo. Wenn ich erst mal mit dir fertig bin, wird es dir auch nicht viel besser ergehen“, richtete er schließlich das Wort an den Jungen.

Dieser sah aus, als würde er Baldor jeden Moment an die Kehle springen wollen und eben jener fragte sich, worauf er noch wartete. Hatten sie nicht schon genug Zeit mit ihrer Verfolgungsjagd vergeudet? Brauchte es jetzt noch eine Extraeinladung?

Baldor grinste schief. „Aber wenn du nicht den ersten Schritt machen willst, dann mache ich ihn eben!“ Damit ließ er den Heimdall mit Hilfe der Fernbedienung aus seiner Hand fliegen. Die vier Antriebe ließen ihn direkt auf den Jungen zu donnern, zu Baldors Erstaunen wich dieser aus. Verglichen zu Kranz waren seine Bewegungen langsam genug, um sie mit dem bloßen Auge verfolgen zu können, sprachen aber trotzdem für einen gewissen Stil.

Ein Lachen entwich Baldor, als er seinen Heimdall eine Kurve fliegen ließ. Der Orichalcumball jagte hinter seinem Feind her, zickzack über den Gehweg und über den Rasen des Parks hinweg.

„Du entkommst mir nicht!“, rief Baldor aus und erhöhte die Fluggeschwindigkeit seines Heimdalls. Abrupt düste er auf sein Ziel zu, das den Angriff mit gekreuzten Zwillingsäxten abwehrte. Doch niemand bremste Baldors Attacken ab. Niemand!

Mit grimmiger Zufriedenheit sah Baldor zu, wie sein Heimdall den Jungen von den Beinen holte. Er landete im Gras, eine der Äxte wurde ihm aus der Hand gerissen und fiel einige Meter entfernt von ihm zu Boden.

Gehetzt sah sein Besitzer zu Baldor auf, der seinen Heimdall mit Leichtigkeit auffing. Mit hocherhobener Waffe trat er auf den Jungen zu, der plötzlich nicht mehr so selbstbewusst aussah. Aber hatte er wirklich geglaubt, er könnte Baldorias S. Fanghini entkommen? Das war doch lächerlich!

„Hab’ dich“, flüsterte Baldor amüsiert, als er über ihm stand. Er labte sich an der Panik seines Gegenübers wie der große, böse Wolf, wenn er seine Beute endlich in die Ecke getrieben hatte. Baldor kannte dieses Gefühl. Neil Donovan war sein Wolf gewesen, bis Baldor selbst zu einem mutiert war. Von Instinkt gesteuert war er die Nahrungskette empor geklettert. Höher und immer höher, bis er alle Anwärter und Ausbilder in Filiale Zero hinter sich zurückgelassen hatte, um zusammen mit der Chronos-Elite über dem armseligen Rest dieser Welt zu thronen. Nun war er der große, böse Wolf, vor dem alle kuschten.

„Aber weißt du was...“, begann Baldor, als ihm ein glorreicher Einfall kam. Er ließ seinen Heimdall sinken und blickte den Jungen nachdenklich an. „Ich gebe dir noch eine Chance. Steh auf und lauf.“ Er nickte, um seine Worte zu unterstreichen, als der Bengel ihn verwirrt ansah.

„W-Wie bitte?“

„Mach’, dass du wegkommst, bevor ich es mir anders überlege. Ich zähle bis drei. Eins...“

Und tatsächlich kehrte wieder Leben in den Körper vor ihm ein. Muskel zuckten. Der Blick wanderte umher, suchte nach einem Fluchtweg.

„Zwei...“

Mit einem Ruck kam der Junge schließlich auf die Beine. Die Axt, die ihm zuvor aus der Hand gefallen war, lag vergessen im Gras, die andere so fest umschlossen, dass seine Knöchel weiß herausstanden. Aber wie das dumme Häschen, das glaubte, der Wolf hatte die Jagd aufgegeben, stürmte er davon.

Derweil kehrte das Grinsen auf Baldors Züge zurück, die Hand mit dem Heimdall erhob sich inzwischen erneut. „Drei!“ Der Ball schoss von seiner Hand und hetzte dem strauchelnden Jungen hinterher.

Ein Lachen wollte den Weg über Baldors Lippen finden, doch er hielt es zurück, hielt stattdessen gänzlich den Atem an. Der frontale Zusammenstoß, das Knacken der Rippen und der Wirbelsäule stellten das große Finale dar.

Keine drei Meter trennten seinen Heimdall von seiner Zielperson, als ein Schatten in Baldors Augenwinkeln auftauchte. Es geschah so schnell, dass es genauso gut Einbildung hätte sein können.

„Baldor!“, rief Kranz hinter ihm aus, seine Stimme angespannt.

Gleichzeitig bemerkte Baldor den Umriss seiner Kommandantin. Wie aus dem Nichts stand sie auf der Wiese und schirmte den Feind von seinem tödlichen Angriff ab. Die Hand, die ihr Schwert trug, hing locker an ihrer Seite, während sie ihn anstarrte.

Genervt stieß Baldor den Atem aus und ließ seinen Heimdall eine scharfe Kurve schneiden. Der verursachte Wind ließ Sephirias Haar flattern, als Baldor seine Waffe zu sich zurückholte.
 


 

XII

„Ich übernehme von hier“, waren die einzigen Worte, die Sephiria an Baldor und Kranz richtete. Anschließend wandte sie sich auf dem Absatz ihrer Schuhe um. Zunächst lag ihr Blick auf einer Gestalt, die am Ausgang des Parks hinter einem Baum versteckt stand, ehe ihre blauen Augen das geschockte Gesicht Marakion Shiroyamas fanden.

Dieser war einige Meter hinter ihr in das Gras gesunken, wo er noch immer kniete. Seine Finger umklammerten die Axt wie ein Ertrinkender einen Rettungsring.

Sephirias Augen verloren augenblicklich ihre Härte. Das vor ihr war nur ein Kind. Eines, das in dem Körper eines jungen Mannes steckte, der gezwungenermaßen viel zu schnell erwachsen geworden war.

„Du bist... Sephiria Arks“, stammelte er, seine Stimme genauso zerbrochen wie sein Inneres. „Die Anführerin der Chronos Numbers.“ Doch die Erfurcht, die Sephiria heraushören konnte, war noch mit etwas anderem vermischt. War es Zorn?

Ein Klicken unterbrach seine Konzentration und Marakion warf einen Blick über seine Schulter. Dort schaute er direkt in den Lauf von Naizers Pistole. Dieser hatte Sephiria inzwischen eingeholt und war lautlos zu ihnen herübergetreten.

Hinter Sephiria ertönte unterdessen ein Schnauben. „Warum können wir den Knirps nicht einfach erledigen?“, fragte Baldor. „Er hat Chronos verraten und Verrat wird mit dem Tod bestraft.“

„Das mag sein, aber-“

„Ihr habt mich zuerst verraten!“, fuhr Marakion Sephiria über den Mund. Zur selben Zeit kämpfte er sich auf die Beine, während die Pistole mitwanderte und weiterhin auf seinen Hinterkopf zielte. Erst auf einen Blick von Sephiria hin, ließ Naizer sie unzufrieden sinken und trat einige Schritte zurück.

„Du bist für die Morde in Filiale Zero verantwortlich, aber... nicht an den deiner Schwester, habe ich recht?“, fragte Sephiria, nachdem sie den jungen Mann vor sich eine ganze Weile angesehen hatte. Die Nacht war noch immer finster und nur die nahestehenden Laternen ließen zu, dass sie die Tränen erkennen konnte, die sich in Marakions Augen sammelten.

Er schluchzte, während sein Blick zum Southern Tip Tower hinaufwanderte. Scheinwerfer erleuchteten ihn selbst in der Dunkelheit im vollem Glanz. Sephiria folgte seinem Blick in dem Verdacht, dass das nicht nur einen Turm für Marakion darstellte. Wenn sie sich den Jungen so anschaute, konnte sie deutlich sehen, dass er Erinnerungen mit diesem Ort verband. Der Thematik entnehmend war es nicht schwer vorstellbar, dass er in jüngeren Jahren mit seiner Schwester hier gewesen war. Das würde auch erklären, warum er von Rockmat City überhaupt hierher geflüchtet war.

„Nein, i-ich nicht...“, entrann es ihm leise. „Mister Arks hat versprochen, dass es ihr gut gehen wird. Und jetzt ist sie tot!“

Er starrte Sephiria an, als wollte er sie mit seinen dunklen Augen durchbohren, doch sie ließ seinen Blick an ihrem ausdruckslos gewordenen Gesichtsausdruck abprallen. Diese aufgesetzte Maske war das Andenken an Filiale Zero und Neil Donovan.

Nachdem man Sephiria eingeredet hatte, dass Gefühle - die Gabe, die man bei der Geburt mit in die Wiege hineingelegt bekam - Schwäche bedeuteten. Die Wahrheit sah jedoch gänzlich anders aus: Gefühle machten nicht schwach, sondern wurden nur von Feinden ruchlos ausgenutzt, wenn man den Fehler beging, sie ihnen offen dazulegen. Neil hatte ihre Emotionen nicht abtöten können, sondern nur eine eiserne Maske geschaffen, die sie in Zeiten wie diesen verbarg.

Obwohl Sephirias Sinne noch immer auf Marakion Shiroyama geschärft waren, senkte sie kurzzeitig ihre Lider. „Wir haben deine Schwester bereits abgeholt. Morgen wird sie auf dem örtlichen Friedhof von Rockmat City beerdigt.“ Anschließend öffnete sie ihre Augen wieder und fixierte den Jungen vor sich. „Aber was du getan hast ist unverzeihlich. Als Anführerin der Chronos-Numbers kann ich das nicht unbestraft lassen.“

Die drei anderen Numbers schwiegen, während Marakion sie mit großen Augen ansah. Tränen schwammen noch immer in ihnen, verwandelten sich jedoch in dem Bruchteil einer Sekunde zu Haien, die unter der Oberfläche blieben und ihr Opfer umkreisten, enger und immer enger.

Sephiria erkannte diese Mordlust. Sie hatte sie schon so oft in ihrem Leben gesehen, obwohl sie sich selbst niemals damit hatte identifizieren können. Wenn sie tötete, dann geschah es im Namen von Chronos, weil sie nicht zulassen konnte, dass Chronos fiel und die Welt in Chaos stürzte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was geschah, wenn eine Organisation wie Chronos, die dreiviertel der Wirtschaft kontrollierte, plötzlich alles verlor.

Im selben Moment, wie ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, holte Marakion mit der Axt aus. Seine Bewegung war schnell, präzise. Ein Klirren hallte in der Nacht wieder, als die Klinge gegen den Handschutz von Sephirias Schwert schlug.

Christ lag noch immer in seiner Scheide und auch der schwarzgoldene Griff hatte keinen Kratzer davongetragen. Dennoch warnte sie Naizer mit einem knappen Seitenblick vor dem Einschreiten und seine Finger lockerten sich etwas um seine Pistole.

Von Baldor sowie Kranz war kein Geräusch zu vernehmen, doch die beiden hielten sich stets zurück, sobald es Sephiria ernst wurde. Trotz ihrer ungestümen Leidenschaft für den Kampf waren auch sie zwei von Sephirias stillen Wächtern.

„Chronos wäre stolz gewesen, einen Kämpfer deines Kalibers in seinen Rängen zu wissen“, wandte sich Sephiria anschließend wieder Marakion zu. Dieser Zusammenprall ihrer Klingen schien ihm kurzzeitig den Wind aus den Segeln genommen zu haben. „Allerdings wärst du niemals zu einer Number aufgestiegen. Wir ziehen unsere Waffen aus einem noblen Grund, den du niemals verinnerlicht hättest.“

Der fassungslose Gesichtsausdruck vor ihr sagte Sephiria, dass Marakion nicht verstand. Er war eben doch nur ein Junge, der irgendwo den falschen Weg eingeschlagen hatte. Wahrscheinlich an dem schicksalhaften Tag, an dem er Zandine Arks begegnet war.

„Deine Hände zittern nicht“, begann sie zu erklären und der junge Mann vor ihr blickte auf die Hand herab, welche die Axt hielt. „Obwohl du so jung bist und dir so viel an Erfahrung fehlt, haben deine Hände das Zittern längst verlernt. Auch in deinen Augen ist nichts mehr von dem Gefühl zu entdecken, das als Konsequenz entsteht, wenn man ein Leben nimmt. Kannst du dich daran erinnern? Daran, wie du dich das erste Mal gefühlt hast, als du jemanden umgebracht hast?“

Doch das Gesicht vor ihr zeigte keinen Schmerz, sondern viel eher Verwirrung. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und sein Mund war geöffnet.

„Wenn man vergisst, wie sich das anfühlt, ist man mehr Maschine als Mensch.“ Sephiria zog Christ aus seiner Scheide und das Licht der nahestehenden Laterne brach sich auf der schwarzen Klinge. „Numbers kämpfen in erster Linie nicht aus Lust oder Hass. Wir kämpfen, weil es unsere Pflicht ist. Wir kämpfen für Chronos, nicht für uns selbst.“

Und als wüsste Marakion genau, was jetzt geschehen würde, hob er abermals seine Axt. Mit angsterfüllten Augen hackte er auf Sephiria los, wild, manisch fast.

Sephiria parierte die Angriffe, sah sie so klar, als wäre es helllichter Tage und entdeckte die ungeschützte Stelle, das Loch in dem gesponnen Muster. Mit einer Hand packte Sephiria die Schlaghand Marakions, während Christ die Defensive durchbrach und sich tief in das Fleisch vor ihr bohrte. Sie hielt Marakions Blick, als die Axt aus seinen Fingern rutschte. Ein Röcheln entrann seiner Kehle, ehe er Blut hustete.

„Es gab keinen anderen Weg“, sagte sie, als sie das Schwert mit einem Ruck aus seiner Brust zog.

Marakions Körper sank augenblicklich in sich zusammen, doch Sephirias Arme hielten ihn, als er starb. Mit Naizers Hilfe legte sie ihn im Gras ab.

Diesmal waren es Sephirias Augen, in denen sich Tränen bildeten. Sie hinterließen nasse Streifen auf ihren Wangen, als sie neben ihm kniete.

Hinter ihr vernahm sie derweil Schritte, doch auch jetzt erhoben weder Baldor noch Kranz das Wort. Dafür war sie dankbar, als sie Marakions Lider schloss.
 


 

XIII

Baldor brauchte keinen Blick aus dem Seitenfenster des Hubschraubers zu tätigen, um zu bemerken, dass sich die Schrauben über ihren Köpfen zu drehen begonnen hatten. Nein, die Geräusche waren ihm genauso vertraut wie das seines Heimdalls, wenn er irgendwo einschlug.

Dieser lag nun unbenutzt neben Baldor auf der Sitzbank. So hatte er sich das Ganze beim besten Willen nicht vorgestellt gehabt. Sephirias Auftauchen hatte einen bitteren Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterlassen, den kein Kaugummi dieser Welt überdecken konnte. Wäre seine Kommandantin nur einige Sekunden später erschienen, hätte er diese kleine Made selbst in den Boden stampfen können. So aber war der gesamte Trip nach Rozan umsonst gewesen. Reine Zeitverschwendung sogar!

Als Baldor zu Sephiria herüberschielte, erwiderte sie seinen Blick aus klaren Augen, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Sie saß ihm direkt gegenüber und hatte ihre Hände in ihrem Schoß gebettet. „Neil ist übrigens ebenfalls Marakion Shiroyama zum Opfer gefallen“, sagte sie ohne mit einem Muskel zu zucken.

„Mh...“, machte Baldor missmutig und ließ seine Augen wieder aus dem Fenster des Hubschraubers wandern. Draußen lag der Flugplatz in Dunkelheit gehüllt, der sich nun jedoch gänzlich unter ihnen verlor. In der Ferne hatte es dagegen bereits zu dämmern begonnen. Aber das bemerkte Baldor nicht mal. Vor seinem inneren Auge tauchte stattdessen unwillkürlich das Gesicht von Neil Donovon auf. Mitsamt seines provokanten Grinsens, bei welchen sich seine Grübchen jedes Mal tief in die Haut gegraben hatten.

Genauso wie an jenem Tag, an dem Baldor auf dem Trainingsplatz gestanden und sein Gegner vor ihm am Boden gelegen hatte.

Der Schweiß floss in Strömen Baldors Schläfen herunter, als er auf dem Jungen vor sich herunterstarrte. Dieser hatte Angst, das konnte Baldor ganz genau erkennen. Kein Wunder, jeder hier kannte die Regeln. Jeder hier wusste, was geschah, wenn man verlor. Bei Trainingsstunden kam man noch mit Schlafentziehung oder ohne Abendessen davon, doch bei Tests stand viel mehr auf dem Spiel. In solchen Momenten ging es um alles und nichts.

„Bring’ es zu Ende, Baldorias!“, ertönte Neils Stimme von der Seitenlinie. Baldor konnte ihn aus den Augenwinkeln sehen, konnte sehen, wie er in seinem Stuhl saß und die Sonnenbrille von seiner Nase genommen hatte, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. „Mach’ schon! Du kennst die Regeln. Oder will unser kleiner Baldorias jetzt doch noch den Schwanz einziehen?“ Er lachte und ein Beben fuhr durch Baldors Körper. Am liebsten hätte er das Katana, in dessen Umgang sie dieses Semester geschult wurden, genommen und wäre damit auf Neil Donovan losgestürzt. Stattdessen holte er aus und starrte auf den Jungen herab, der nicht viel älter als er selbst war.

Baldor blinzelte ein, zweimal, als der Hubschrauber immer weiter an Höhe gewann und der Horizont sich von Neils Gesicht wieder zu einem richtigen Horizont verwandelte. In den letzten Stunden hatte er mehr über Filiale Zero nachgedacht, als in all den Monaten, die seit dem Angriff auf Creed Diskenth vergangen waren. Dabei waren das keine Erinnerungen, die ihm in irgendeiner Weise am Herzen lagen. Ganz im Gegenteil, sie fühlten sich genauso wie das Aufstoßen von Magensäure an.

„Aber das ist nicht das Ende von Filiale Zero?“, erhob Baldor schließlich doch das Wort und blickte zu seiner Kommandantin herüber. Ihr Schwert lehnte neben ihr am Sitz und Kranz hatte daneben Platz genommen, gab jedoch keinen Ton von sich.

„Das lässt sich leider nicht vermeiden. Chronos braucht diese Filiale. Das Auswahlverfahren für Neils Ersatz ist wahrscheinlich bereits am Laufen. Darum dürfte sich Belze in unserer Abwesenheit gekümmert haben“, erwiderte Sephiria. „Aber anstatt Filiale Zero den Rücken zu kehren, sollten wir die Gelegenheit mit offenen Armen empfangen.“ Dem Lächeln auf Sephirias Lippen konnte Baldor entnehmen, dass man ihm seine Skepsis ansehen musste. Allerdings wusste er beim besten Willen nicht, was es dort mit offenen Armen zu empfangen gab.

„Viele Leben wurden ausgelöscht. Der beste Weg diese Leben zu ehren, ist Filiale Zero ein neues – und hoffentlich besseres - Fundament zu geben.“

Baldor konnte sich ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen, obwohl er wusste, dass wenn es jemand fertig brachte, Filiale Zero zu ändern, es Sephiria Arks sein würde.

Diese schaute inzwischen ebenfalls aus dem Fenster. „Ich glaube daran, dass Enden für neue Anfänge gemacht wurden.“
 


 

XIV

Die Halle war dunkel. Das einzige Licht stammte von den drei glimmenden Bildschirmen, die an riesigen Säulen angebracht waren und somit über den Marmorboden schwebten. Jeder von ihnen zeigte das Gesicht eines Mitglieds des Ältestenrates. Zu den Vollbärten trugen sie ebenso wie Sephiria eintätowierte Symbole auf der Stirn.

„Was hast du uns neues mitzuteilen, Sephiria?“, fragte einer von ihnen, die Stimme elektronisch verzerrt.

Die Number I der Chronos Numbers kniete auch weiterhin bewegungslos vor den Bildschirmen, die blauen Augen gen Boden gerichtet. „Marakion Shiroyama ist eliminiert. Das Auswahlverfahren für den zukünftigen Leiter von Filiale Zero ist ebenfalls zu Ende gegangen und hat einen vielversprechenden Kandidaten hervorgebracht. Zudem ist die Suche nach neuen Anwärtern ebenfalls begonnen worden.“

„Gute Arbeit, Sephiria. Wir wollen über jeden Fortschritt sofort informiert werden.“

Sephiria nickte. „Sehr wohl, Wilzark.“

„Du kannst gehen.“

Schweigend erhob sich Sephiria und wandte sich zum Gehen, ohne die Augen vom Boden zu nehmen. Erst als sie die Halle verlassen hatte, hob sie den Blick und begegnete somit dem von Belze, der im Gang auf sie wartete. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und reihte sich neben ihr ein, als sie an ihm vorbeischritt.

„Jetzt gibt es nur noch eines zu erledigen“, entrann es ihr ohne Belze anzusehen. Ihr Gesicht war ernst, die Maske für eine Weile abgelegt und vergessen. In den Augenwinkeln bemerkte sie wie ihr Vize-Kommandant stehen blieb. Sie hielt instinktiv inne und drehte sich zu ihm um.

Nachdenklichkeit zeichnete sich auf Belzes Zügen ab. „Hältst du das für eine gute Idee?“

„Eine Menge unschuldiger Menschen sind gestorben, weil mein Vater wieder eines seiner Spielchen gespielt hat“, erklärte sie. Ihre rechte Hand wollte sich fest um ihr Schwert schließen, doch ballte sich stattdessen zu einer Faust. Christ lag in ihrer Suite und wartete darauf, von ihr gereinigt zu werden, denn es hatte seine Pflicht für heute längst erfüllt.

„Das ist nichts, was ich tun möchte, sondern etwas, was ich tun muss.“ Das war sie Marakion Shiroyama und seiner Schwester schuldig. Das war sie all diesen Jungen und Mädchen schuldig, die brutal umgekommen waren. Das alles hatte sie zu verantworten. Anfangs hatte sie nicht gewusst, was genau ihr Vater mit seinem Handeln bezwecken wollte, doch während der Geschehnisse der letzten Stunden hatte sich eine vage Ahnung in ihr manifestiert, die sie nicht mehr losließ. Dieser musste sie nun nachgehen, weil sie in der Zukunft ansonsten kein Auge mehr zu tun würde.

„Dann halte ich hier währenddessen die Stellung“, riss Belze sie aus ihren Gedanken und Sephirias Hand entkrampfte sich augenblicklich, „und reserviere uns einen Tisch im Shiroaki für heute Abend.“

Ein Lächeln tat sich auf Sephirias Gesicht auf. „Dann hoffe ich, dass uns nichts dazwischen kommen wird.“
 


 

XV

„Sie können da jetzt nicht rein, Miss Arks!“, stieß die Sekretärin aus, als Sephiria auf die Tür zuschritt. „Ihr Vater ist mit einer wichtigen Person am Telefon!“ Auf ihren Stöckelschuhen schnitt sie Sephiria den Weg ab.

Diese hielt inne. „Entweder Sie bitten ihn das Telefonat auf einen anderen Zeitpunkt zu verlegen oder ich werde es tun.“ Die Zeit für Spielchen war vorbei. Wenn Zandine wirklich geglaubt hatte, dass sie nicht in der Lage sein würde, eins und eins zusammenzuzählen, dann kannte er seine Tochter noch schlechter, als Sephiria angenommen hatte. Nein, im Grunde war sie sich vollkommen sicher, dass ihr Vater damit gerechnet hatte, dass sie hinter das alles kam. Wahrscheinlich erwartete er sie sogar bereits.

„Aber ich kann nun wirklich nicht...“, begann die Sekretärin und rückte nervös ihre Brille zurecht.

Dieser Ausspruch genügte Sephiria und sie schob sich elegant an der jungen Frau vorbei. Ihre Geduld mit ihrem Erzeuger hatte allmählich ein Ende, aber das überraschte Sephiria nicht. Obwohl sie sich geschworen hatte, dass es in der Zukunft nicht mehr geschehen würde, war Zandine noch immer der einzige Mensch, der ihr unter die Haut ging und ihr Innerstes aufwühlte wie der Wind das Meer.

Sephiria öffnete lautlos die Tür zum Büro ihres Vaters, während die Sekretärin hinter ihr empört nach Luft schnappte.

„...dasselbe haben wir-“, sagte ihr Vater, verstummte jedoch, als er Sephiria bemerkte. Er nahm die Beine vom Schreibtisch und richtete sich in seinem Stuhl auf, um wenigstens den Schein einer Autoritätsperson zu wahren.

„Entschuldigen Sie“, entwich es ihm und winkte Sephiria gleichzeitig näher heran. „Ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück.“

Ohne die blauen Augen von seiner Tochter zu nehmen, legte er den Hörer zurück auf die Gabel. „Sephiria! Zwei Besuche innerhalb von vierundzwanzig Stunden, ich sollte mich wohl glücklich schätzen.“

„Wenn ich dich nicht kennen würde, würde ich dich fragen, ob du kein Gewissen besitzt“, erwiderte Sephiria in einem ebenmäßigen Ton. Sie war nicht hergekommen, um um den heißen Brei herumzureden. Für Diplomatie war es ebenfalls zu spät. Dafür hatten bereits zu viele ihr Leben lassen müssen. „Diesmal hast du dich wirklich selbst übertroffen, Vater.“

Dieser legte den Kopf schief, während er Sephiria erwartungsvoll ansah. „Sollte ich wissen, wovon du redest?“

Von diesen Worten ließ sich Sephiria jedoch nicht beirren. Dieses aufgesetzte Lächeln hatte sie zu oft gesehen, um noch darauf hereinzufallen. „Ich weiß, dass Marakion nur eine Marionette für dich war. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass du jeden einzelnen Schritt geplant hast. Von dem Massaker in Filiale Zero bis hin zu der Begegnung am Southern Tip Tower.“

„Jetzt übertreibst du aber, Sephiria.“ Ein leises Lachen entrann Zandines Lippen. Er lehnte sich nach vorne und stützte die Arme auf dem Schreibtisch ab. „Du kannst mir glauben, wenn ich sage, dass ich nur das Beste für Chronos im Sinn hatte, als ich den Jungen rekrutiert habe.“

Sephiria starrte ihren Vater unbewegt an. „Der Verlust hat Chronos geschwächt. Das wissen wir beide.“

„Manchmal muss man seine Soldaten an einer Front abziehen, um eine andere zu stärken. Das solltest du als Kommandantin eigentlich wissen. Aber vielleicht war das hier ja eine Lektion, die du verinnerlicht hast. Wer weiß?“

Nun weiteten sich Sephirias Augen doch, obwohl sie bemüht war, an ihrer aufgesetzten Maske festzuhalten. „War das der Grund für das Ganze? Um mir eine Lektion zu erteilen?“

„Sephiria, ich weiß wirklich nicht wovon du-“, begann ihr Vater, brach jedoch ab, als Sephiria sich erhob.

Mit den Händen stemmte sie sich auf dem Schreibtisch ab und lehnte sich ihm entgegen. Ihre blauen Augen waren kalt, aber es gab kein anderes Gefühl, das sie für ihren Vater noch übrig hatte. „Hast du dafür das Leben eines jungen Mannes und seiner Schwester ruiniert? Ihnen eine Rettungsleine zugeworfen und wieder entrissen?“, fragte sie und überging ihren Vater somit. „Dabei wusstest du ganz genau, dass Marakion niemals zu einer hohen Position aufsteigen würde. Doch seine Frustration darüber, der Beste zu sein und doch nie weiterzukommen, hast du einkalkuliert, nicht wahr? Du hast Marakion zukommen lassen, dass seine Schwester ermordet wurde, obwohl sie zu der Zeit laut Autopsiebericht noch am Leben gewesen ist. Du wusstest, dass Marakion labil war und hast fest damit gerechnet, dass er bei dieser Nachricht etwas Dummes unternimmt. Anschließend brauchtest du nur seine Schwester umbringen und es wie Marakions Tat aussehen lassen, weil du wusstest, dass er zu ihr gehen würde. Damit war auch für die nötigen Fingerabdrücke gesorgt und du konntest dich entspannt zurücklehnen und darauf warten, dass ich auftauche und dich nach der Adresse bitte. Und obwohl du dank des Beschatters, den du auf Marakion die ganze Zeit über angesetzt hattest, genau wusstest, wo sich der Junge aufhält, hast du mir eine falsche Auskunft gegeben. Nur, um die richtige Number IV und VIII zuzuspielen, um... was? Die Einsätze zu erhöhen? Es spannender zu gestalten?“

Sephiria sah ihn an, doch ihr Vater schwieg. Er hatte lediglich die Finger ineinander verhakt und stützte nun sein Kinn darauf, als wartete er geduldig, wie die Geschichte zu Ende ging.

„Du hast damit gerechnet, dass ich dort auftauche und es beende. Meiner Pflicht als Anführerin der Numbers gerecht werde“, wurde Sephiria bewusst, als sie in das schalkhafte Gesicht ihres Vater schaute. In einer ruhigen Geste nahm sie die Hände vom Tisch und trat einige Schritte zurück. Ihre Augen lieferten sich auch weiterhin einen stummen Kampf mit denen ihres Vaters, der in einer anderen Dimension als ihr einseitiges Wortgefecht stattfand. Dort ging es um Schuld. Ihr Vater, der ihr noch immer vorhielt, dass Sephiria ihre Mutter umgebracht hatte, und Sephiria, die es besser wusste und doch die Zweifel niemals ganz abschütteln konnte.

„Du bist ein Monster“, entrann es ihr. „Anstelle Marakion Shiroyamas hättest du wegen Hochverrats exekutiert werden müssen.“ Doch Sephiria wusste es besser, als zu versuchen, die Schuld ihres Vaters vor dem Ältestenrat zu beweisen. Er hatte seine Spuren zu gut verwischt. Das, was ihn unverwundbar machte, waren allerdings die Dienste für Chronos, die er all die Jahrzehnte absolviert hatte. Er war nicht nur ein führender Kopf der Organisation, er war auch eine unantastbare Legende.

„Wenn ich es gewesen wäre“, räumte ihr Vater schließlich unbeeindruckt ein, „dann hätte ich mir dieses überragende – wenn ich so sagen darf – Szenario einfallen lassen, um dich als Kommandantin zu stärken, Sephiria. Du weißt selbst, wie die Ältesten auf deine Entscheidungen reagiert haben, die Sicherheit dieses Apostel-Mädchens zu garantieren und Creed gehen zu lassen. Das hätte dich buchstäblich deine Stellung kosten können.“

„Sollte es ein nächstes Mal geben“, erklärte Sephiria, ohne auf die gefallenen Worte einzugehen, „werde ich dich persönlich zur Rechenschaft ziehen.“ Sephiria wandte sich daraufhin ab und verließ das Büro ihres Vaters. Den stechenden Blick in ihrem Rücken ignorierte sie, genauso wie die Sekretärin, die wieder an ihrem Schreibtisch saß.

Ihr Körper entspannte sich jedoch erst wieder, als sie in der Limousine saß, die vor dem Rathaus auf sie gewartet hatte. Getönte Scheiben sperrten die Welt mit ihrem grellen Tageslicht aus und hüllten sie in Schatten. Ihr Blick klebte jedoch an dem Fenster des Rathauses, an dem sie den vagen Umriss ihres Vaters entdecken konnte.

Ihre Entscheidungen in der Vergangenheit hatten tatsächlich zu Fragen geführt, dessen war sich Sephiria durchaus bewusst. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie keine von ihnen in irgendeiner Weise bereute. Kyoko Kirisaki war genauso wie Marakion Shiroyama nichts weiter als ein Kind gewesen, das den falschen Weg eingeschlagen hatte. Beide hatten ihr richtiges Ich noch nicht gefunden gehabt, sondern waren zwischen Recht und Unrecht hin und her geschwankt wie ein kaputter Kompass. Creed Diskenth stellte dagegen ein vollkommen anderes Thema dar. Er hatte seinen Weg gewählt und eine Gefahr dargestellt gehabt, die es zu eliminieren gegolten hatte. Allerdings war Sephiria nicht stark genug gewesen und somit war die Entscheidung zu Train gefallen, der ihn geschlagen und gehen gelassen hatte. Beides hatte sie damals dem Ältestenrat geschildert, mehr hatte sie nicht tun können. Und wenn ihr Vater glaubte, dass eine gefestigte Moral und ein starker Wille, den sie vertrat, Schwäche bedeuteten, dann sollte er das mit ihr persönlich klären, anstatt unschuldige Menschen mit hineinzuziehen. Eines stand nämlich fest, das, was sie in seinem Büro ausgesprochen hatte, war keine Drohung, sondern ein Versprechen gewesen. Eines, das sie halten würde, selbst wenn es sie alles kosten würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Raishyra
2012-03-22T14:20:40+00:00 22.03.2012 15:20
Zandine ist ein dämlicher Idiot. -.-
Aber es war wieder ein echt klasse Kapitel und das Ende ist auch super geworden.^^


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