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Das Panopticon

von

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Teil I

People simply disappeared, always during the night. Your name was removed from the registers, every record of everything you had ever done was wiped out, your one-time existence was denied and then forgotten. You were abolished, annihilated: vaporized was the usual word.

George Orwell: 1984
 

Die Glastür öffnete sich mit einem Zischen, als Rose ihre Karte in den Leser hineinsteckte. Mit einer routinierten Bewegung zog sie sie wieder heraus und trat durch die Tür in einen kurzen, grauen Flur. Die Wände waren hell-, der Gummiboden dunkelgrau. An der Decke befanden sich weiße Neonröhren, die ein kaltes Licht verströmten. Rose hätte sich daran stören können, doch sie tat es nicht. Sie arbeitete jetzt seit vier Jahren bei Pantop Innovation Technology und sie kannte das Gebäude - oder zumindest die Teile, die sie betreten durfte - inzwischen so gut, dass ihr seine Kälte gar nicht mehr auffiel. Sie kannte die Überwachungskameras, die in regelmäßigen Abständen zwischen zwei Lampen angebracht waren und mit roten Lämpchen ihre Anwesenheit kundtaten. Sie kannte die langen Flure und sie kannte den Sicherheitsraum, der direkt an den Flur angrenzte, durch den sie gerade ging. Alle Wege in das Firmengebäude hinein führten durch diesen Sicherheitsraum. Erst wenn man ihn passiert hatte, konnte man sich im Inneren des Gebäudes bewegen.

Rose war früh dran und im Sicherheitsraum befanden sich außer ihr nur zwei weitere Angestellte: Karla und eine andere Arbeiterin, deren Namen Rose nicht kannte, da sie erst seit kurzem hier arbeitete. Wenn sie sich recht erinnerte war sie der Ersatz für den Computertechniker. Christian hatte er geheißen... Aber sie wollte jetzt nicht an Christian denken und darum vertrieb sie den Gedanken aus ihrem Kopf und stellte ihren Koffer auf das Fließband. Der Sicherheitsraum war aufgebaut wie eine Flughafenkontrolle. Es gab ein schwarzes Band, das die Koffer zu einem Scanner transportierte, der diese dann durchleuchtete. Waffen, elektronische Geräte, bestimmte Stoffe und Flüssigkeiten, sowie andere, auf ihrem Arbeitsvertrag vermerkte Utensilien, die kein normaler Mensch mit zur Arbeit bringen würde, waren streng verboten. Rose nahm sowieso immer nur ein paar Wechselkleider und Hygieneartikel mit, den Rest ließ sie in ihrem Spind oder hatte sie bereits auf ihrem Zimmer, deshalb machte sie sich um das Scannen keinerlei Sorgen. Alle Mitarbeiter wohnten von Montag bis Freitag in der Firma, da dies die Arbeitswilligkeit fördern sollte und man so auch besser kontrollieren konnte, dass kein Wissen an unbefugte Ohren drang.

Nachdem sie ihren Koffer auf die andere Seite der Absperrung gebracht hatte, holte sie ihr Handy, ihren Geldbeutel und ihre Haustürschlüssel aus ihrer Handtasche, und legte sie in ihren Spind. Indem sie ihren Finger auf das kleine Lesepad neben dem Schloss legte, konnte sie den Schlüssel, eine unauffällige weiße Plastikkarte mit Magnetstreifen, abziehen und in ihre Tasche stecken.

Karla und ihre Begleiterin hatten den Raum bereits verlassen, als Rose in eine der Scankabinen trat. Der einzige Weg für einen Menschen auf die andere Seite des Raumes führte durch eine solche. Ähnlich wie der Koffer, wurde dort die Person untersucht. Wie gewöhnlich fand der Computer jedoch nichts an ihr, und Rose verließ die Kabine auf der anderen Seite, nahm ihren Koffer, der dort bereits auf sie wartete, und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.

Es war Montagmorgen und die Gänge waren noch leer, die Zimmer noch nicht bewohnt. Rose’ Zimmer lag im zweiten Geschoss von fünf insgesamt und hatte die Nummer B2-17. Ihr Zimmerschlüssel, der gleichzeitig auch ihr Spindschlüssel war, öffnete mit einem Klicken das Schloss und sie trat ein. Alles war genau so, wie sie es am Freitag zurückgelassen hatte. Die meisten Kleider, die sie brauchte, waren in ihrem Schrank deponiert, ein paar Bücher lagen auf dem kleinen Schreibtisch. Zur Rechten stand das Bett, während zur linken eine schmale Tür in ein enges Badezimmer mit Dusche und Toilette führte. Der Raum war, wie alle Räume im Firmengebäude, fensterlos und wurde nur über eine Klimaanlage belüftet.

Sie sah auf die Digitaluhr, die über ihrem Bett hing. Über den roten Leuchtziffern der Anzeige war das Lämpchen der Kamera fast nicht zu sehen, aber Rose wusste trotzdem, dass es da war, so wie alle Mitarbeiter mit dem ständigen Wissen über die Kameras lebten.

Es war 7:42. Sie hatte noch genau 18 Minuten, bevor sie in ihrem Büro sitzen musste. Sie überlegte kurz das Buch zu lesen, das sie von ihrer anderen Wohnung (es war schwer daran als ‘zuhause’ zu denken) mitgebracht hatte, entschied sich dann aber dagegen. Während der Arbeitszeit kam sie nur selten zum Lesen. Stattdessen beschloss sie, ein wenig früher anzufangen und in ihr Büro zu gehen.

Die Büros lagen auf der anderen Seite des kreisförmig angelegten Firmengebäudes. Hätte es Fenster gegeben, so hätte man von den Büros zu den Wohnungen hinüberschauen können. Allerdings würde der Turm, der in der Mitte des Gebäudekomplexes platziert war, die Sicht vermutlich erheblich einschränken. Keiner der Mitarbeiter war je in diesem Turm gewesen, aber jeder wusste, dass dort das Kontrollzentrum von Pantop war. Es gab für jeden Arbeiter ein Büro, da das Arbeiten in den Zimmern streng verboten war. Keine der Materialien und Unterlagen durften die Arbeitsräume verlassen.

Als sie sich auf den Weg machte, begegneten ihr sehr viel mehr Leute, als zuvor. Einige Kollegen grüßten sie mit einem Nicken, andere ignorierten sie und liefen mit gesenktem Kopf vorbei. Dass man nicht anhielt, um miteinander zu reden, konnte man nicht nur auf die morgendliche Müdigkeit oder Hektik schieben. Es war hier normal ohne große Worte aneinander vorbeizugehen. Rose störte das nicht besonders, obwohl sie sich manchmal wünschte, ein wenig mehr über ihre Kollegen erfahren zu können.

„Entschuldigung, wo ist denn B1-31?“, fragte plötzlich jemand. Die Stimme durchbrach das beruhigende Rauschen der Füße, Kleider und Atemgeräusche, und ließ mehrere Umstehende zusammenzucken. Auch Rose hob den Kopf und schaute direkt in das freundliche Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte dunkelblonde Haare, grüne Augen und ein breites Lächeln, das Rose schon lange nicht mehr bei jemandem gesehen hatte.

Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu fangen und zu antworten. „Meinen Sie mich?“

Er nickte, fuhr sich durch die abstehenden Haare und sagte unverfroren: „Sonst sehe ich hier niemanden.“

„Naja, es laufen hier ja noch genug andere Leute herum“, wollte Rose kontern, aber dann kam ihr in den Sinn, dass es wahrscheinlich nicht besonders freundlich war, einen offensichtlich neuen Kollegen so zu begrüßen. „B1-31 ist dahinten.“ Und sie zeigte mit dem Finger in die Richtung aus der sie gerade gekommen war. Damit war die Sache für sie erledigt und sie wollte gerade weitergehen, als ein weiterer Satz von ihm sie zurückhielt: „Sie arbeiten hier schon länger, oder?“

„Eine Weile.“ Über die Arbeit zu sprechen war verboten, und obwohl diese Frage in einem Grenzbereich lag, wollte Rose lieber kein Risiko eingehen.

„Nun, ich bin neu hier, wie Sie sich vermutlich denken können.“

„Ja, das ... sehe ich.“

„Mein Name ist Carter Roberts. Darf ich fragen wie Sie heißen?“ Er hatte immer noch dieses irritierende Lächeln. Rose fragte sich, ob er sie aus der Fassung bringen wollte mit seiner seltsamen Offenheit und seinen scheinbar freundlichen Fragen.

„Ich bin Rose Meininger.“

„Sehr erfreut.“

Eine kurze Stille entstand, in der Rose sich zum zweiten Mal umwenden und gehen wollte. Zuvor erinnerte sie sich aber noch an das gute Benehmen, das sie in der Schule beigebracht bekommen hatte und sie verabschiedete sich mit den Worten: „Ich denke ich gehe dann mal in mein Büro.“

„Eine Frage noch, wo ich Sie gerade zur Verfügung habe.“

Was für ein komischer Ausdruck, dachte Rose, blieb aber stehen.

„Ich bin mir nämlich ganz sicher, dass ich mich nachher wieder verlaufen werde: Wo ist denn D3-42? Das ist nämlich mein Büro.“

„Das ist ein Stockwerk über uns“, erklärte Rose. „Aber ich arbeite nicht in diesem Bereich, also kenne ich mich dort auch nicht so gut aus. Sie sollten am besten jemanden fragen, der dort sein Büro hat.“

„Vielen Dank“, sagte er. „Sie sind mich jetzt los.“

Rose nickte, brachte zum Schluss dann doch noch ein halbes Lächeln zustande und ging.

Ihr Büro lag auf der dritten Ebene, weshalb sie den Aufzug nach oben nahm. Um überhaupt Zugang zum dritten Stockwerk zu bekommen, musste sie ihre Karte durch den Leser an der Glastür ziehen, die die Ebene von den Zwischenräumen abgrenzte. Derselbe Schlüssel war auch für die Tür ihres Büros vonnöten. Als sie aufgesperrt hatte ging das Licht durch den automatischen Bewegungsmelder an. Anders als im Gang, waren in den Büros etwas wärmere, hellere Neonröhren verwendet worden, damit man sich beim Arbeiten wohler fühlte. Rose hatte jedoch früh erkannt, dass es Pflanzen relativ egal war, ob sie unter warmem oder kaltem Licht standen: sie gingen bei beidem ein. Auf dem Schreibtisch standen die kümmerlichen Überreste einer Miniatur-Bergpalme, die über das Wochenende jegliche Blätter abgeworfen hatte und jetzt nur noch aus zwei braunen, verkümmerten Stängeln bestand. Während Rose die Überreste der Pflanze in den Zimmermülleimer entsorgte, vermied sie es bewusst, in den großen Spiegel zu sehen, der die gesamte ihrem Schreibtisch gegenüberliegende Wand einnahm. Der Spiegel hatte sie in den ersten Wochen bei dieser Firma derartig verwirrt, dass sie sogar in Betracht gezogen hatte, Stuhl und Schreibtisch umzudrehen und mit dem Gesicht zur Tür zu arbeiten. Allerdings war sie sich - obwohl sie nichts Derartiges im ausführlichen Regelverzeichnis gelesen hatte - nicht sicher, ob das erlaubt war. Rose hatte furchtbare Angst davor, etwas falsch zu machen.

Glücklicherweise gewöhnte man sich mit der Zeit an den Spiegel, so wie man sich an alles andere hier gewöhnte. Sie schaute beim Arbeiten nicht mehr auf, um nicht ihr bleiches, angestrengtes Gesicht sehen zu müssen, genauso wenig wie sie auf den Gängen, in der Kantine oder in ihrem Zimmer aufsah, um nicht von den Kameras erfasst zu werden. Es war ein Rhythmus, den beinahe jeder, der hier anfing, instinktiv begriff und befolgte.

Auf einmal kehrten ihre Gedanken zu dem jungen Mann mit den hellen Haaren zurück. Er war zweifelsohne eine Ausnahme, hatte er sich doch verhalten, als würden derartige ungeschriebene Regeln nicht existieren. Wie war sein Name noch einmal gewesen? Irgendwas mit K ... Karsten? Frustriert rieb sie sich die Stirn. So gut ihr Gedächtnis auch war was mathematische Formeln und Gleichungen, was komplexe chemischer Reaktionssysteme betraf, so nutzlos war es doch im normalen Gebrauch. Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal ohne Zettel zum Einkaufen gegangen war.

Der Gong, der alle zur Arbeit rief, erklang und unterbrach sie in ihren Überlegungen. Schnell setzte sie sich an ihren Schreibtisch und wartete darauf, dass sich ihr Computer hochfuhr.
 

Als Joseph Liebermann am Montagmorgen seinen Computer einschaltete um seine Mails abzurufen, wusste er sofort, dass sich jemand über das Wochenende an dem Gerät zu schaffen gemacht haben musste. Wer auch immer es gewesen war, hatte sich keine große Mühe gegeben, seine Tat zu verschleiern. Mit schreiender Offensichtlichkeit sprang einem sofort der Desktophintergrund entgegen, der früher aus einer simplen blauen Farbfläche bestanden, jetzt aber von einem großen, weißen Logo auf grauem Grund geziert wurde. Hauptsächlich setzte es sich aus den stilisierten Buchstaben BID zusammen.

Liebermann war von dieser Veränderung derartig überrascht, dass er den Computer betrachtete, in der vagen Hoffnung es sei nicht sein eigener. Doch das war völlig unmöglich, denn er hatte ja beim Einloggen sein fünfzehnstelliges Passwort eingegeben. Und dass jemand zufällig dasselbe Passwort wie er hatte, hielt er für recht unwahrscheinlich.

In der Mitte der oberen Bildschirmeinfassung war eine kleine Linse angebracht, die zur integrierten Webcam gehörte. Diese Linse war schon immer dort gewesen, sie fiel Liebermann jetzt nur deshalb ins Auge, weil neben ihr ein kleines rotes Licht leuchtete.

Vielleicht erlaubten sich seine Kollegen einen Scherz mit ihm und waren irgendwie, vielleicht über den Direktor, an sein Passwort gekommen, hatten sich in seinen Computer eingehackt und auf der Festplatte irgendwelchen Unsinn angerichtet, nur um seine verstörte Reaktion im Nebenraum zu beobachten. Nun, wenn dem so war, dann würde er mitspielen. Zu schade, dass sie sich durch die Kamera selber verraten hatten.

Zuerst musste er aber überprüfen, was genau mit seinem Computer angestellt worden war. Er setzte eine indifferente Miene auf und begann sich durch seine Dateien und Ordner zu klicken. Zu seinem Erstaunen fand er jedoch keine auffälligen Veränderungen. Lediglich seine persönlichen Bilder waren allesamt gelöscht worden (was kein großer Verlust war, denn sie bestanden hauptsächlich aus Fotos vom letzten Besuch bei seiner krebskranken Mutter vor drei Jahren). Als er das Fehlen der Fotos bemerkte, fiel ihm ein, dass er sie zu lange nicht mehr besucht oder angerufen hatte, und ein Hauch von Schuldgefühl kroch ihm über den Rücken.

Er schloss den Ordner mit den Bildern und starrte einen Moment ratlos auf den Bildschirm. Wenn das ein Scherz war, dann war es entweder ein sehr guter, oder ein sehr schlechter. Bis jetzt war noch absolut nichts passiert, das eine interessante Reaktion von ihm hätte provozieren können, von der Überraschung über den Desktophintergrund einmal abgesehen.

Vielleicht war es am besten, wenn er zu seiner täglichen Routine überging und darauf wartete, dass sich etwas Bemerkenswertes tat. Er öffnete sein Emailpostfach um nach neuen Nachrichten zu sehen. Seine Augen weiteten sich. Sein Postfach war leer, nicht nur keine neuen Nachrichten, sondern keine einzige Mail. Ebenso der Ausgang, der Papierkorb und der Spamordner. Er klickte auf das Adressbuch. Die einzige Mailadresse, die noch gespeichert war lautete mail@BID.de. Er öffnete den Browser. Wie zu erwarten gewesen war, waren seine gesamten Favoriten gelöscht. Er öffnete Google und tippte die drei Buchstaben BID in das Suchfeld. Es gab zu viele Treffer, um eindeutig herausfinden zu können, worum es sich bei BID handelte. Von Bibliotheken über Unternehmensgruppen bis hin zu Firmen und Einzelhandelsgeschäften war alles zu finden. Er fand sogar einen „Bund Internationaler Detektive e.V“. Er schloss Google wieder. Auf diesem Wege würde er nicht weiterkommen.

Nervös rieb er sich den Kopf. Was zum Teufel ging hier vor? Seine gesamten Kontaktdaten zu löschen war nicht lustig. Das ganze einer Firma oder einer ähnlichen Organisation mit den Initialen BID, die es vermutlich gar nicht gab, in die Schuhe zu schieben war es noch weniger. Wenn das seine Kollegen gewesen waren – und er glaubte langsam nicht mehr, dass sie dahinterstecken – dann war ihnen dieser Scherz absolut nicht gelungen. Er begann in seiner Tasche nach dem kleinen, in schwarzes Leder gebundenen Notizbuch zu suchen, das er immer bei sich trug. Er war sich ziemlich sicher, dass er die wichtigsten Daten darin notiert hatte. Vermutlich würde er das meiste rekonstruieren können.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Fanny, die 23-jährige Praktikantin, trat ein. Als sie sah, dass er in seiner Tasche herumkramte, blieb sie in der offenen Tür stehen.

„Guten Morgen, Herr Liebermann. Störe ich Sie?“

„Nein, nein, kommen Sie ruhig herein, Fanny.“ Er winkte sie zu seinem Schreibtisch.

„Ist alles in Ordnung? Sie sehen so blass aus.“

„Ja, alles okay. Ich bin nur noch nicht ganz ausgeschlafen. Legen Sie die Post hierhin.“

Sie platzierte den Stapel in einem Plastikfach auf seinem Schreibtisch und wollte wieder gehen, als er sie zurückrief.

„Kennen Sie zufällig irgendetwas, eine Firma zum Beispiel, unter dem Namen ‚BID’?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Davon habe ich noch nicht gehört. Gibt es einen bestimmten Grund, dass Sie fragen?“

Er erwägte einen Moment, ihr von dem Wallpaper, dem Emailpostfach und der Webcam zu erzählen, doch dann gewann seine Vernunft wieder die Oberhand. Je weniger von diesem peinlichen Vorfall wussten, desto besser. Er würde sich irgendwie selber helfen können. „Nein“, antwortete er, „reine Neugier. Einen schönen Tag noch.“

„Ihnen auch.“

Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss.

Er starrte die Tür an und tippte sich gedankenverloren mit dem Finger ans Kinn. Seine Kollegen steckten nicht hinter dieser Sache. Er versuchte herauszufinden, wer sonst davon profitieren könnte, seinen Computer zu durchsuchen, aber ihm fiel niemand ein. Eher schien es, als wollte jemand auf sich aufmerksam machen. Diese Firma ... aber welche Firma hat heutzutage denn keine Website? Seine Gedanken verloren sich und schweiften ab.

Schließlich fing er sich; er musste sich an die Arbeit machen. Er griff nach der Post, die Fanny hereingebracht hatte und sortierte sie. Es waren zwei mittelgroße Kataloge (für eine Max Ernst- und eine Medici-Ausstellung), sowie mehrere Einladungen zu verschiedenen Ausstellungseröffnungen dabei, außerdem noch vier Briefe. Einer der Umschläge stach ihm sofort ins Auge. An der rechten oberen Seite war das Logo abgedruckt, das neuerdings auch seinen Desktophintergrund zierte. Ohne zu zögern riss er den Brief auf. Im Umschlag befand sich ein bedruckter Brief, sowie ein mehrseitiger Bogen aus festem, grünen Papier. Hastig faltete er den Brief auseinander.
 

Einberufungsbescheid
 

Sehr geehrter Herr Liebermann,
 

Sie werden mittels dieses Schreibens mit sofortiger Wirkung als Beamter für die Verwaltung der Behörde für Innovation und Datenübermittlung eingezogen. Diesem Schreiben wird ein Informationsgespräch folgen, dessen genaues Datum wir Ihnen noch mitteilen werden.

Zunächst haben Sie die Pflicht, sich ein ärztliches Attest über Ihre Eignung zum Dienst einzuholen. Anbei das Formular hierfür. Das Attest ist so schnell wie möglich zu beschaffen.
 

Mit freundlichen Grüßen
 

Kein Name, keine Unterschrift, nichts. Das einzige, was auf die Herkunft des Briefes hinwies, war ein Briefkopf, der das altbekannte BID-Logo zeigte. Liebermann nahm den vorgedruckten grünen Bogen und blätterte ihn durch. Jemand hatte seinen Namen bereits an der dafür vorgesehenen Stelle eingetragen. Es wurde nach persönlichen Details aus dem Privatleben des Patienten gefragt, sowie nach chronischen Erkrankungen und Basisinformationen wie Blutgruppe, Größe und äußere Erscheinung. Auf der letzten Seite befand sich ein Satz:
 

Der Patient ist körperlich und geistig fähig, den Dienst bei der Behörde für Innovation und Datenübermittlung anzutreten.
 

Darunter war ein Strich abgedruckt, auf dem der Arzt zu unterschreiben hatte.

Liebermann hatte noch nie von der Behörde für Innovation und Datenübermittlung gehört, war sich aber ziemlich sicher, die Erklärung für BID gefunden zu haben. Behörde für Innovation und Datenübermittlung. Es handelte sich also um eine obskure Behörde, die niemand kannte, denn wenn es eine seriöse Behörde gewesen wäre, wäre ihm ja zumindest der Name bekannt. Er dachte nicht im Traum daran, dort als Beamter zu arbeiten, schließlich war er mit seinem jetzigen Beruf sehr zufrieden. Einberufungsbescheid... Liebermann fühlte sich an seine Zeit beim Bund erinnert. Er zweifelte stark an der Legitimität dieser Behörde und dieses Einberufungsbescheids. Am besten wäre es, wenn er sich gleich am nächsten Tag einen Termin bei seinem langjährigen Hausarzt geben ließe, der würde ihm seine Vermutungen schon bestätigen.

Sofort griff er zum Hörer und rief in der Praxis an.
 

Wie jeden Montag brauchte sie eine Weile, um wieder in ihren Arbeitsrhythmus zu finden. Sie kontrollierte erst ihr firmeninternes Postfach nach Rundschreiben oder anderweitigen Informationen, doch außer dem Speiseplan von dieser Woche, fand sie nichts. Danach öffnete sie die Berechnungstabelle, die sie letzte Woche begonnen, aber nicht fertiggestellt hatte. Es war das einzige, was ihr noch zu Beendung ihres derzeitigen Auftrags fehlte. Wenn sie es schaffte, die Tabelle heute Morgen zu vervollständigen, konnte sie sie noch vor dem Mittagessen ins Kontrollzentrum schicken, und später vielleicht schon mit etwas Neuem anfangen. Sie war immer aufgeregt, wenn sie einen neuen Auftrag bekam, denn jeder neue Auftrag stellte sie vor neue Herausforderungen. Im Denken, Austüfteln und Knobeln war sie schon immer sehr gut gewesen und nichts machte ihr mehr Freude, als darin ihre Grenzen auszutesten. Aber jetzt wartete ersteinmal diese Tabelle auf sie. Seufzend machte sie sich an die Arbeit.

Als der Gong ertönte, der die Mittagspause einläutete, war sie gerade eben fertig geworden. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihr Werk sofort abzuschicken, doch es war noch nicht überarbeitet worden, und das letzte was sie wollte war, dass ihre Arbeit zur Verbesserung zurückgeschickt wurde. Deshalb ließ sie die Sachen widerwillig liegen und ging zum Mittagessen.

Die Kantine lag zwischen dem Arbeits- und dem Wohnflügel und war mit beiden durch zwei Türen verbunden. Die Tür, die zum Wohnflügel führte, war rund um die Uhr geöffnet, doch die andere war nur zu den Arbeitszeiten zugänglich.

Die Kantine war groß und weitläufig, mit mehreren langen, und vielen kleinen Tischen. Nach dem Scannen seiner Identifikationskarte konnte man an einem Bildschirm wählen was man essen wollte. Das gewünschte Mahl wurde dann auf einem Tablett an einem Ende des Saals auf einem Fließband aus der Küche gefahren. Rose hatte keinen der Küchenarbeiter je gesehen oder gehört, aber was sie an Gerichten fabrizierten war gut.

Sie wählte ihr Gericht (Penne mit Tomatensoße) und bewegte sich auf eine der langen Tafeln zu. Sie setzte sich immer dorthin, da die Tische meist voll wurden und sie so unter Leuten war. Auch wenn sie nicht viel mit ihnen sprach – denn dazu war sie viel zu schüchtern – genoss sie es doch, den Gesprächen der anderen zu lauschen und so zu tun, als gehöre sie dazu. Sie hatte schon einen Platz, relativ mittig, neben Benni, dem Ingenieur, ins Auge gefasst, als sie plötzlich ihren Namen hörte.

Verwirrt sah sie um sich, um herauszufinden, woher die Stimme kam. Sie sah den Typ, den sie am Morgen getroffen hatte, an einem der kleineren Tische sitzen und ihr zuwinken. Ohne es zu wollen, fühlte sie sich geschmeichelt. Noch nie hatte sie jemand gebeten, sich neben sie zu setzen, schon gar nicht jemand, den sie kaum kannte. Trotzdem zögerte sie, von einer plötzlichen Furcht ergriffen, seinen Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Vielleicht wäre es einfacher wenn sie sich einfach zu den anderen setzte, das würde ihr auf jeden Fall keine Schwierigkeiten bringen.

Er stand auf und kam zu ihr herüber. Sie erstarrte.

„Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie sich zu mir setzen würden“, sagte er, und in diesem Moment fiel Rose auch wieder sein Name ein: Carter. Er hieß Carter.

„Ja, gerne, ich war nur gerade ...“ Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte und schwieg. Er schien sich daran nicht zu stören, rückte ihr nur höflich den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber.

„Schön, dass wir uns wiedersehen.“

„Alle Mitarbeiter treffen sich in der Kantine“, sagte Rose ohne nachzudenken. Gleich darauf schämte sie sich dafür. Es war keine besonders nette Antwort gewesen.

„Ja, aber es sind ja sehr viele Mitarbeiter. Vielleicht können Sie mir ein paar vorstellen, die Sie mögen.“

„Ach, eigentlich mag ich alle hier“, platzte sie heraus. Besser er erfuhr nicht sofort, dass ihr Freundeskreis nicht besonders groß war.

Sie schwiegen. Rose überlegte angespannt, was sie ihn fragen könnte, aber ihr fiel nichts ein.

„In welcher Abteilung arbeiten Sie?“, fragte er plötzlich.

„Das ... ich bin Technikerin.“ Nervös schielte sie zu den Kameras, die auch hier unter jedem der Lüftungsschächte in der Decke angebracht waren und stumm vor sich hin leuchteten. Carter war ihrem Blick gefolgt.

„Hier herrscht wohl ständige Überwachung, oder?“

„Das Projekt an dem wir arbeiten ist geheim, es darf keine Information nach außen gelangen.“

Rose selber hatte nur eine sehr vage Ahnung von dem, was sie eigentlich konstruierten, da sie selber ja nur ein winziges Teilstück des ganzen bearbeitete.

„Wissen Sie eigentlich, wer genau uns überwacht?“

„Die Firmenleitung, nehme ich an. Die, mit denen wir das Vorstellungsgespräch geführt haben. Sie müssten das ja gerade hinter sich haben.“

„Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Da könnten Sie recht haben. Aber die sind doch bestimmt nicht die ganze Zeit damit beschäftigt, ihre Arbeiter zu überwachen.“

Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Rose gar nicht. Zwar hielt sie sich nicht für übervorsichtig, aber trotzdem war sie innerhalb des Firmengebäudes immer auf der Hut, was sie sagte. Sie wusste, dass es schwere Bestrafungen gab, wenn man sich nicht an die Regeln hielt. Mehr als nur ein paar Personen war während ihrer Beschäftigung gekündigt worden. Diese Kündigungen waren fristlos, zumindest ging Rose davon aus, denn nach der Besprechung mit der Verwaltung der Firma, sah man die Angestellten nicht wieder.

„Wo kommen Sie denn her?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

Carter setzte zu einer Antwort an, als plötzlich Karla in den Saal gestürmt kam, dich gefolgt von einer jungen Frau mit braunen Locken. Erst jetzt fiel Rose auf, dass Karla nicht in der Kantine gewesen war. Seltsam, dachte sie, sonst fällt sie einem doch immer sofort auf.

„Es ist etwas Furchtbares passiert!“, rief Karla in das Stimmengewirr hinein. Sofort verstummten alle. Jeder verstummte wenn Karla etwas sagen wollte.

„Wir – wir haben ...“, sie brach auf einem Stuhl zusammen, den ihr einer ihrer zahlreichen Anhänger hingeschoben hatte.

Stühle fuhren rumpelnd über den Boden, Tische wurden zurückgeschoben. Einige standen auf, um besser sehen zu können. Rose sah das Mädchen, das sie begleitet hatte, in Tränen ausbrechen. Sie warf Carter einen Blick zu.

„Was ist passiert?“, fragte sie leise.

Ratlos zuckte er die Schultern.

„RUHE!“, schrie auf einmal jemand, eine männliche Stimme. „Seid doch mal leise!“

Der Lärmpegel nahm ab, wenn auch nur wenig. Immer noch tuschelten einzelne miteinander, immer noch wurden unruhig Stühle hin- und hergerückt. Der Mann sagte irgendetwas, das Rose nicht verstehen konnte, obwohl sie sich anstrengte, alles mitzukriegen. Er hatte vielleicht eine halbe Minute gesprochen, als auf einmal ein Aufschrei durch die weiter vorne stehenden Leute ging.

„Was? Was ist passiert?“, rief eine etwa 40-jährige Frau, die neben Carters Stuhl stand.

Ein Mann weiter vorne drehte sich um und sagte: „Karla und Jane haben die Leiche von Alexander Roseville gefunden.“
 

„Joseph Liebermann, Sie können jetzt kommen.“

Er stand auf und folgte der Sprechstundenhilfe in das Behandlungszimmer von Doktor Breugen, seinem langjährigen Hausarzt.

„Hier entlang bitte.“

Die blonde, korpulente Dame öffnete ihm die Tür. Als er eingetreten war, schloss sie sie wieder hinter ihm. Er ließ sich auf einem der beiden Stühle gegenüber vom Schreibtisch des Doktors nieder.

„Guten Tag, Herr Liebermann. Schön Sie wiederzusehen.“

Doktor Breugen war um die sechzig, mit einer runden Brille und einem buschigen Bart, der die gesamte untere Gesichtshälfte verdeckte. Von Zeit zu Zeit griff er mit einer seiner stark behaarten Hände in den Bart und drehte eine einzelne Strähne zwischen den Fingern.

„Was kann ich diesmal für Sie tun?“

Liebermann hatte der Sprechstundenhilfe am Telefon nicht von dem Attest und dem Einberufungsbescheid erzählen wollen, aus Angst sie könne ihn auslachen. Auch jetzt war er sich nicht sicher, ob er dem hünenhaften, alten Arzt den Bogen und das Schreiben vorlegen sollte.

Doktor Breugen schaute ihn auffordernd an, anscheinend war seine Antwort zu lange ausgeblieben. Also griff Liebermann zögerlich in seine Tasche und holte den Umschlag, den er am Vortag erhalten hatte, mitsamt Inhalt heraus. Er schob seinem Gegenüber die Papiere über den Schreibtisch hin.

„Dies habe ich gestern bekommen. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht ganz sicher...“ Er brach ab und beobachtete schweigend, wie Breugen seine Brille zurechtrückte, zunächst kurz den Brief überflog, und sich dann dem Fragebogen zuwandte. Während er las, zog er immer wieder an seinem Bart und brummelte ab und zu, als wolle er irgendetwas bestätigen. Schließlich legte er die Blätter ab und schaute Liebermann streng an.

„So eine Einberufung ist natürlich eine ernste Sache“, sagte er gewichtig. „Sie hätten mich wirklich darüber informieren können, dann hätte ich mehr Zeit für Sie eingeplant.“

Liebermann schaute ihn fassungslos an. „Ich dachte nicht ... ich wusste nicht ... ich habe noch nie von einer solchen Einberufung gehört.“

„Nun, es passiert natürlich nicht häufig, aber von Zeit zu Zeit schon einmal“, bestätigte der Arzt, bevor er aufstand und einige Unterlagen und Instrumente aus einem Regal, das hinter ihm stand, zu nehmen. „Ich persönlich habe ein solches Attest erst fünf Mal ausgefüllt. Meine Kandidaten sind bisher immer bestens geeignet gewesen“, fügte er in einem beinahe stolzen Ton hinzu, als ob das allein sein Verdienst wäre.

„Das heißt das ist völlig ... normal?“, fragte Liebermann zaghaft.

„Als ‚normal’ würde ich das wohl wirklich nicht bezeichnen, es ist eine Ehre von der Behörde erwählt zu werden.“

Liebermann war sich nicht sicher, ob er überhaupt für diese Behörde arbeiten wollte. Er war mit seinem bisherigen Leben eigentlich sehr zufrieden gewesen. An der Legitimität des Schreibens konnte aber jedenfalls nicht mehr gezweifelt werden, schließlich war Doktor Breugen ein vernünftiger Mann. Fast schämte er sich dafür, nichts über die Behörde und deren Angestellte gewusst zu haben.

Doktor Breugen begann, indem er den Vordruck zu Hilfe nahm, Liebermann einige Fragen zu stellen. Er hatte das Formular vor sich auf den Tisch gelegt und kreuzte mit einem Kugelschreiber die entsprechenden Felder an. Immer wenn Liebermann eine scheinbar seltsame Antwort gab, rückte er seine Brille auf der Nase zurecht oder hob seine buschigen Augenbrauen. Obwohl Liebermann versuchte herauszufinden, bei welcher Art von Antwort dies geschah, konnte er sich keinen Reim auf ein mögliches Muster machen. Die Befragung war lang und ausführlich und er ertappte sich immer wieder dabei, wie er auf die Uhr sah. Breugen schien sich daran jedoch nicht im Geringsten zu stören und stellte mit stoischer Ruhe weitere Fragen. Nach einer Weile begann er nicht nur nach Liebermanns Gesundheit, sondern auch nach seinem Familienstand, seiner sozialen Situation und seinem Freundeskreis zu fragen.

„Ich wüsste nicht, warum das eine Relevanz für meine Befähigung zu dieser Tätigkeit haben sollte“, bemerkte Liebermann, als Breugen ihn nach dem Beziehungsstand seiner Eltern fragte.

„Natürlich hat es das“, erwiderte der Doktor unbewegt. „Die Behörde will wissen, ob Sie ein glücklicher Mensch sind, denn glückliche Menschen arbeiten besser.“

„Aber diese Informationen sind persönlich“, gab Liebermann zu bedenken. „Ich müsste Sie der Behörde eigentlich gar nicht mitteilen.“

„Nun, das ist Ihre Entscheidung. Aber wenn Sie die Fragen nicht beantworten, dann kann ich Ihnen kein Attest ausstellen und die Chance, die Ihnen mit diesem Angebot gegeben wurde, geht Ihnen verloren.“

Liebermann zögerte. Breugen sprach von einer Chance, ihm aber war nicht wirklich klar, worum es sich dabei handelte. Er hatte doch einen guten Job in dem er einigermaßen glücklich war. Was konnte ihm diese Behörde schon bieten?

„Ich hatte Ihnen doch bereits gesagt, dass ich diese ‘Chance’ nicht unbedingt nötig habe.“

„Und ich sagte Ihnen bereits, dass diese Entscheidung ganz allein bei Ihnen liegt. Aber viele Leute würden sich nach einer solchen Gelegenheit die Finger lecken.“

„Naja, es kann ja wirklich nicht schaden“, stimmt Liebermann ihm etwas unwillig zu. „Und vermutlich bin ich ja noch nicht einmal geeignet.“

„Das werden wir sehen.“ Wieder zupfte sich Breugen an einer Bartsträhne und nahm seine Frage wieder auf. „Also, wie ist nun das Verhältnis Ihrer Eltern?“
 

Als die Befragung beendet war, fühlte Liebermann sich matt und ausgelaugt. Er hatte so viel von sich preisgegeben, wie schon lange nicht mehr. Er hatte keine Freunde, denen er Details aus seinem Privatleben erzählt hätte. Sein Vater war tot und seine Mutter besuchte er selten, da sie zu weit weg wohnte. Geschwister hatte er keine. Er fuhr sich über das Kinn, als erwarte er dort Bartstoppeln zu fühlen, wie es der Fall war, wenn er morgens aus dem Bett stieg, aber natürlich war da nichts. Er richtete seinen Blick auf die Tür, durch die Doktor Breugen bald mit seinen Ergebnissen treten würde. Offenbar dauerte der Prozess der Auswertung sehr lange, schließlich war der Informationsgehalt sehr hoch. Deshalb hatte es ihn gewundert, dass der Arzt ihm diese noch am selben Abend mitteilen wollte.

Die Tür öffnete sich und Breugen trat ein. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand, auf dem er im Gehen noch etwas notierte. Seine Brille war ihm bis nach vorne auf die Nasenspitze gerutscht, was ihn seltsam und alt aussehen lies. Anstatt sich hinzusetzen, blieb er vor Liebermanns Stuhl stehen und sah ernst auf ihn herunter. Liebermann wäre gerne ebenfalls aufgestanden, um mit dem Doktor auf Augenhöhe zu sein, aber da dieser so dicht vor ihm stand wäre dies vermutlich unangenehm geworden.

„Nun, Herr Liebermann“, erklärte Breugen und zupfte sich mit der rechten Hand, die den Stift hielt, am Bart. „Ich habe gute Nachrichten für Sie. Sie sind perfekt dafür geeignet, bei der Behörde zu arbeiten. Herzlichen Glückwunsch.“ Er streckte ihm die Hand entgegen.

Liebermann, der nun doch aufstand, da er sich verpflichtet fühlte die Hand des Doktors zu schütteln, legte die Stirn in Falten. „Das heißt ich kann dort arbeiten?“, fragte er, etwas verunsichert.

„Sie müssen“, erklärte Breugen in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. „Hier, das ist Ihre Bescheinigung.“ Damit drückte er ihm einen rot eingefärbten Zettel in die Hand. Lediglich seine Unterschrift war handschriftlich, der Rest war bereits vorgedruckt. Sogar Liebermanns Name.

„Aber wie ...?“

„Freuen Sie sich und schicken Sie die Bescheinigung so schnell wie möglich ab“, erklärte Breugen und schob Liebermann in Richtung der Tür. „Ich werde jetzt jedenfalls Feierabend machen. Herzlichen Glückwunsch nocheinmal.“

Liebermann wurde in einer unergründlichen Eile durch den Gang in den Eingangsbereich geschoben, wo bereits die Sprechstundenhilfe - eine andere als zuvor - mit seinem Mantel wartete.

„Vielen Dank für Ihren Besuch, Herr Liebermann“, zwitscherte sie, drückte ihm einige Papiere - vermutlich die Rechnung - in die Hand; dann fiel die Tür hinter ihm zu.

Verwundert schaute Liebermann auf den Zettel, den er in der Hand hielt und auf dem seine Befähigung zum Beamten der Behörde für Innovation und Datenübermittlung vermerkt war. In seiner anderen Hand hielt er einen Umschlag, auf dem die Behörde als Empfänger, und eine Adresse darunter stand. Er war frankiert und hatte exakt dieselbe Größe, wie die Bescheinigung. Dazu hatte ihm die Sekretärin, wie vermutet, die Rechnung zukommen lassen. Der Betrag war überraschend niedrig.

„Ich könnte beides gleich einwerfen“, stellte Liebermann fest und überlegte, ob er auf dem Weg nach Hause an einem Briefkasten vorbeikommen würde. Doch dann steckte er den Umschlag in die Tasche und marschierte nach Hause. Morgen war immer noch Zeit das zu entscheiden. Man durfte nichts überstürzen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: Futuhiro
2012-06-17T14:31:26+00:00 17.06.2012 16:31
Wouw ... der Wahnsinn.
Ich weis schon nach dem ersten Kapitel, warum das YUAL geworden ist. Eigentlich hasse ich so endlose Kapitel mit mehr als 10 Seiten, die erschlagen einen immer so. Aber die 21 Seiten von diesem hier haben sich wirklich sehr schön und flüssig weggelesen. Der Schreibstil ist genial. Es passt alles so gut zusammen, daß man es sich bildlich vorstellen kann. Ich kam mir vor, als würde ich selber durch diese Hochsicherheitstrakt-Firma laufen und mir alles angucken. Und es kommt einem alles so logisch und selbstverständlich vor, als würde es solche Firmen tatsächlich geben.
Dieser Carter ist mir (so vor dem Hintergrund der Geschichte) ziemlich suspekt. Der ist so anders als die anderen, der kann doch nichts Gutes im Schilde führen.

Du hast es auch geschafft, daß man diese doch recht große Menge an neuen Charakteren auf Anhieb gut auseinander halten kann, das hat man selten.

Ich bin ja gespannt, wie das weitergeht. (Und die nächsten Kapitel sind ja kürzer, wie ich schon erleichtert festgestellt hab ^^)
Von:  Haleine
2012-02-07T12:59:42+00:00 07.02.2012 13:59
Der erste Teil! Yay!

Du hast vermutlich auch einen kleinen Namen-Tick wie ich, oder? Die bewusste Abgrenzung zwischen den amerikanischen Namen der Angestellten (Rose, Carter, Batty) und den typischen tschechisch-deutschen (Liebermann, Fanny) hat mir sehr gut gefallen.

Die Eingangsszene, in der der Sicherheitsraum beschrieben wird, ist wirklich sehr düster und gibt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch folgt ("Chirstian hatte er geheißen...")

Rose ist wirklich putzig und so hilflos, wenn sie auf Unbekannte losgelassen wird, nicht wahr?

>>Vielleicht wäre es einfacher wenn sie sich einfach zu den anderen setzte, das würde ihr auf jeden Fall keine Schwierigkeiten bringen.

Er stand auf und kam zu ihr herüber. Sie erstarrte.<<

Köstlich. :)

Auch die Geschichte um Joseph Liebermann fand ich super interessant und neugiererweckend, vor allem mit dieser geheimnisvollen BID, die alle seine Daten gelöscht hat. Auch dieser subtile Hinweis auf den ersten Satz von Proceß ist sehr gelungen :)
>>Als Joseph Liebermann am Montagmorgen seinen Computer einschaltete um seine Mails abzurufen, wusste er sofort, dass sich jemand über das Wochenende an dem Gerät zu schaffen gemacht haben musste.<<

Im Gegensatz zu K. zeigt Liebermann dann doch ein bisschen mehr Emotionen, man konnte sich also gut in ihn reinfühlen. Er ist fähig zu erstaunen, ratlos zu sein und auch nervös.

So, bevor das ganze zu sehr Deutsch-Interpretationsaufsatz wird XD: Was mir persönlich beim Lesen gefallen hat, ist dieser langsame Spannungsaufbau. Einerseits durch die parallelen Geschichten, zwischen denen man einfach noch keinen Zusammenhang erkennen kann und deswegen ungeduldig darauf wartet und nach kleinen Hinweisen sucht. Andererseits natürlich durch die dunkle und gefährliche Atmosphäre, die beide Welten ausstrahlen. Uaaaah... ich bekomme schon wieder eine Gänsehaut :p

Und ich wusste von Anfang an, dass dieser Carter nicht ganz koscher ist XD


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