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Komm in meinen Schlaf

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Realität und Traum (Pauline)

Komm in meinen Schlaf
 

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Komm in meinen Schlaf

Komm in meinen Schlaf

Trockne meine Tränen

Komm in meinen Schlaf
 

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Die Nacht ist längst über das Land hereingebrochen. Ein kalter Wind umweht Häuser und Bäume, streift durch weite Felder, lässt die trockenen Herbstblätter an den Büschen rascheln. Bald ist es Winter, die Natur vergisst den langen, heißen Sommer, bis nichts übrig bleibt, außer einem schwachen Nachhall in den Herzen derer, die ein besonderes Gespür für die wechselnden Jahreszeiten besitzen.

Zeit verstreicht, die Erde dreht sich weiter, Jahr für Jahr derselbe Zyklus, den die ganze Welt wieder und wieder durchlebt. Wir können dem Ganzen nicht entfliehen, wie auch? Mit festen und doch unsichtbaren Stricken hält das Leben uns fest an dieselben Abfolgen gebunden. An Flucht ist dabei gar nicht zu denken, so fest verwachsen sind wir mit dem, was wir Realität nennen. Für Abweichungen und Spielereien bleibt dabei kaum Platz.

Mein Blick schweift ab, hinaus in die Dunkelheit. Ich kann nur vage Umrisse erkennen, drei Bäume, die in einiger Entfernung links von meinem Fenster stehen und gerade eifrig ihre Blätter abwerfen, zwei Weitere auf der rechten Seite, kleiner als ihre Nachbarn. Das Haus, in dem ich wohne, steht auf einem schmalen Grundstück, mitten in einer ganz gewöhnlichen Siedlung. Spießbürgertum, vielleicht. Langweilig? Nun, meistens schon. Trotzdem habe ich Glück gehabt, denn vielen Menschen geht es deutlich schlechter.

Auch an mir selbst ist im Prinzip nichts Besonderes. Wer mir auf der Straße begegnet, vergisst mich meistens wieder, sobald ich aus seinem Blickfeld trete. Das ist normal, so sieht mein Leben seit jeher aus. Nächstes Jahr werde ich mein Abitur machen, nach einer Ehrenrunde, die einzig und alleine meiner eigenen Faulheit zuzuschreiben ist. Das sind Fakten, das allgegenwärtige so-soll-es-sein. War es auch. Jedenfalls bis sich eine entscheidende Kleinigkeit veränderte.

Wie es sich für ein anständiges, durch und durch normales Mädchen gehört, waren selbst die wenigen Träume, an die ich mich nach dem Aufwachen noch erinnern konnte, nie besonders aufregend. Abgesehen von dem einen Mal, wo ich träumte, auf einem Esel, der ein blau geblümtes Kopftuch trägt, in den Kunstunterricht zu reiten, in dem gerade jeder Schüler damit beschäftigt war, seine eigene Flasche Vodka zu leeren. Das war wirklich lustig.

So sollte es sein. Doch wie schon erwähnt, ist dies nicht mehr der Fall. Neuerdings fürchte ich mich davor, einzuschlafen. Gleichzeitig kann ich den Moment, an dem mir jegliche wachen Gedanken entfliehen, kaum erwarten. Ein innerer Kampf entbrennt, sowohl Vernunft als auch Wahnsinn versuchen, Oberhand zu gewinnen.

Ich würde niemals so weit gehen, mich als emotionalen Menschen zu beschreiben – Freude, Trauer, in einem Leben, in dem ich stets nur einen Abklatsch dieser tiefgehenden Gefühle verspürte, ohne es auch nur zu ahnen, wie sollte ich da verstehen, was es heißt, mit echtem Verlust und harten Rückschlägen umzugehen?

Diese jüngsten Veränderungen haben mir eine ganz andere Perspektive eröffnet. Alles, was ich glaubte zu wissen, muss nun in Frage gestellt werden. Sobald ich die Augen schließe und mein Körper sich entspannt, fällt das, was ich naiverweise als „Realität“ bezeichnet habe, vor meinen Augen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Plötzlich höre ich fremde Stimmen, eigenartige Geräusche umgeben mich, Dinge, die ich niemals erlebt habe, wiederholen sich vor meinen Augen und ich weiß, dass sie real sind, auch wenn sie nicht meiner eigenen Erinnerung entspringen.

Es heißt ja, dass Träume dazu dienen, vergangene Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Verschiedene unverarbeitete Probleme tauchen aus dem Unterbewusstsein auf, verschlüsselte Symbole, die den wahren Hintergrund tiefliegender seelischen Schwierigkeiten aufzeigen. Wenn das stimmt, dann habe ich ziemlich gravierendere psychische Schäden davon getragen.

Denn in meinen Träumen herrscht Krieg.

Ich rede hier nicht von der niedlichen, leicht schrägen Variante, in der man als Superheldenverschnitt oder epischer Fantasy-Krieger Dämonenhorden niederschnetzelt, Feuerbälle auf untote Nekromanten schleudert und am Ende den großen, bösen Eisdrachen bezwingt. Was ich meine, ist echter Krieg, in dem eine Fraktion Menschen gegen eine Zweite kämpft, was überhaupt nicht episch ist, sondern blutig und ziemlich ekelig. Jede Nacht sehe ich, wie neue Grausamkeiten geschehen, sehe das volle Ausmaß dessen, was Menschen einander antun können. Ich weiß nicht, aus welchem Grund diese Auseinandersetzungen stattfinden, weiß noch nicht einmal, an welchem Ort. Nach den ersten Nächten haben diese Fragen auch aufgehört, mich zu interessieren. In dieser anderen, leidvollen Realität sehe ich die Opfer des Krieges, unschuldige, ärmliche Landbevölkerung, die sinnlos getötet wird, verbrannte Felder, erbärmliche Erdlöcher, in denen sich die wenigen Überlebenden eines Angriffs verkriechen. Die Luft stinkt nach Angstschweiß und die Furcht, entdeckt zu werden, überlagert jeden rationalen Gedanken.

Heftige Emotionen, die Gewissheit, dass jeder Atemzug der Letzte sein kann, ein ständiges Leben mit dem Tod im Nacken. Das erklärt meine Panik davor, schlafen zu gehen. Der Grund für die gleichzeitige Aufregung, die freudige Erwartung, ist ein anderer, eine Neuerung in der Szenerie aus endlosem nächtlichen Leid. Von Zeit zu Zeit schleicht sich nämlich noch ein anderer Traum in meine Nachtruhe. Zuerst sehe ich wieder die Kriegszenen, doch dann verschwimmen sie vor meinen Augen und ich finde mich in meinem persönlichen Paradies wieder – zusammen mit einer ganz besonderen Person.

Ich seufze leise, spüre, wie mein Herz leichter wird bei dem Gedanke. Das helle Licht des Vollmonds bricht zwischen der dichten Wolkendecke hervor, scheint auf mich herab, ein Hoffnungsschimmer am Horizont. Sollte das etwa ein Zeichen sein? Darf ich heute wieder mein Paradies vesuchen, fernab von allem Unheil? Nichts wünsche ich mir mehr, doch dieser besondere Traum erreicht mich nur in unregelmäßigen Abständen, sodass ich mich nie darauf einstellen kann, was mich als nächstes erwartet.

Ein Blick auf die Digitalanzeige meines Radioweckers verrät, dass ich den Moment nicht länger herauszögern darf. Irgendwann muss ich schlafen gehen, sonst bin ich am nächsten Morgen zu nichts zu gebrauchen. Halb zwölf – soll ich mich jetzt für sechs Stunden unzensierten Horror bereit machen oder mich auf entspannende Zweisamkeit freuen? Ein Glücksspiel, wie jede Nacht.

Mit leisem Bedauern wende ich den Blick von dem friedlichen Bild draußen ab und durchquere meine düstere Dachkammer mit vorsichtigen Schritten. Das Zimmer ist nicht sehr groß und hat zusätzlich schräge Wände, dafür ist es gemütlich und liegt etwas abseits von meiner lauten, ausgedehnten Verwandtschaft. Wir leben in einem Mehrgenerationenhaushalt, komplett mit Groß- und Urgroßeltern, Kindern, Enkeln, zu denne ich auch gehöre. Ein Urenkelchen ist zur Zeit dank meines großen Bruders unterwegs, was für riesige Freude und gewaltiges Chaos sorgt. Der neuste Zuwachs wird vielleicht einmal diesen Raum erben, wenn ich ausziehe. Wenn sich Träume auch so einfach abstreifen ließen... aber wie entzieht man sich seinem eigenen Unterbewusstsein?

Die weiche Matratze des schmalen Bettes gibt unter dem Gewicht meines Körpers nach, heißt mich willkommen in seiner warmen Umarmung. Fast gegen meinen Willen spüre ich, wie müde ich in diesem Moment tatsächlich bin. Nachdenken kann den Geist ganz schön erschöpfen, sodass der Körper, auch wenn er nicht voll ausgelastet ist, keine andere Möglichkeit sieht als mitzuziehen. Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, spüre ich, wie meine Glieder schwer werden und mein Verstand sich ausschaltet. Dann umfängt mich Dunkelheit und ich falle hinab in den Abgrund...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Schmunzeln
2012-01-16T18:51:43+00:00 16.01.2012 19:51
Ich bin nur durch puren Zufall über diese FF gestolpert und bin echt froh, sie gelesen zu haben.

Die Idee zu dieser Geschichte, habe ich erst letzten hier bei nem FF Wettbewerb gelesen (gehört die Story zufällig dazu?)

Du hast mich auf jeden Fall total gefesselt! Du hast einen sehr schönen schreibstil und beschreibst die aktuelle lebensituation des Mädchen sehr gut. die Gedanken und wie sie ihre eigene Welt sieht kommen sehr gut rüber. Und ich bin sehr neugierig, wies weiter geht. Von wem träumt sie da, in ihren alpträumen, was ist der hintergrund dieser träume. aber mich interssiert natürlich auch, was die schönen träume für eine bedeutung haben.

Bitte schreibe schnell weiter, ich würde genre weiter lesen!

glg
das schmunzeln


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