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Harmonie

von

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Halloween

Kapitel 12: Halloween
 

Der Morgen des 31. Oktobers war einfach ein Herbsttraum. Kühl, zweifellos, doch sobald sich die Nebel, die in der Nacht über dem Tal lagen, verzogen hatten, war die Luft frisch, würzig, und die Sonne schien strahlend über der Landschaft, die nie mehr an einen goldenen Oktober erinnert hatte als heute.
 

Hogsmeade war nicht mehr das, was es einmal für die Schüler gewesen war. Die Geschäfte wurden bewacht, Auroren patrouillierten durch die Straßen und alleine die Tatsache, dass die Dementoren im Stillen zu Voldemort gewechselt waren, hatte verhindert, dass diese ebenfalls hinzugezogen worden waren. Dennoch ging es endlich mal wieder raus. Raus aus dem Schloss, weg vom Alltag und einfach mal wieder entspannt etwas anderes sehen als Bücher und Schulbänke.
 

Für Hermine und Ginny zumindest, denn die Jungs hatten bereits verlauten lassen, dass sie sich zur Mittagszeit vorübergehend verabschieden würden. Da Hermine gar nicht wissen wollte, was sie vorhatten, da sie sich einen schönen Tag nicht mit Gedanken über Streichhölzchenspiele verderben wollte, beließ sie es dabei.
 

Harry und Ginny gingen voran, Ron und Hermine folgten ihnen in die große Halle. Heiteres Geschwätz hallte von den Wänden wider, der Geruch nach Marmelade, Honig, gebratenen Eiern, Speck und Porridgem vermischte sich mit dem Duft nach getoastetem Weißbrot, Tee, heißer Milch und Kuchen.
 

Alles in allem versprach es ein wundervoller Tag zu werden.
 

Bis auf das. Igitt! Hermine stoppte, da unangenehm dicht vor ihr Pansy Parkinson auftauchte, die anscheinend gerade dabei war, ihr Gegenüber aufzufressen. Widerliche Schmatzgeräusche gingen von dem Paar aus.
 

Hermine meinte sich übergeben zu müssen bei dem Gedanken daran, dass Pansy und Malfoy gemeinsam Petting in der großen Halle betrieben.

Vor allem, nachdem sie ihn gestern so hatte hängen lassen. Hermine verdrehte die Augen und entschloss sich, nicht für Malfoys Probleme zu interessieren. Pansy umklammerte Draco inniger und taumelte, in einen tiefen Kuss versunken, ein paar Schritte nach hinten bis sie - „Au!“ - auf Hermines Fuß trat.
 

„Ups… Entschu…“ Pansy kicherte und drehte sich um, doch ihr Lächeln verblasste. Zuerst glaubte Hermine, dass es nur darum ginge, dass sie sich nicht bei einem „Schlammblut“ entschuldigen wollte, doch dann sah sie, dass Pansy gar nicht sie anstarrte, sondern vollkommen entsetzt auf einen Punkt neben Hermine.
 

Etwas verwirrt drehte sich Hermine zur Seite und sah… Malfoy. Sein sonst blasses Gesicht war rot vor Wut und Schmerz. Erst jetzt bemerkte Hermine, dass das hinter Pansy gar nicht Draco, sondern Blaise Zabini war, der betreten zu Boden sah und die sprachlose Pansy verlegen zur Seite zog. „‘tschuldigung, wir haben nicht daran gedacht, dass…“
 

„Was?“ Draco rümpfte angeekelt die Nase und schnarrte bitter: „Vergessen, das ich auch auf diese Schule gehe?“
 

Pansy sah verlegen zu Boden und stammelte: „Nein, aber… du musst doch nachher sicher wieder nachsitzen und…“
 

„Darf ich deswegen nichts mehr essen?“ Er wartete nicht auf eine Antwort. Eben noch traurig, wirkte er nunmehr nur noch wütend. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und wollte die Halle verlassen. Ein letzter wütender Blick auf Pansy, dann stolperte er über Hermine und Harry, der neben ihr stand.

Draco fiel auf Harry, der fiel auf Hermine und die schrie vor Schmerz auf, als das Gewicht der beiden jungen Männer sie zu Boden quetschte. Es ging schnell, jemand rammte ihr ein Knie gegen den Oberschenkel, ein Fuß trat auf ihre Hand und bevor Ron Harry von ihr herunterziehen konnte, hatte sich Malfoy schon seine heruntergefallene Tasche geschnappt und war aus dem Saal gestürmt.
 

Hermine rannte ihm nach, sobald sie wieder stehen konnte.
 

Draco stand einige Meter neben der Tür gegen die Wand gelehnt, eine Hand auf die leicht gebeugten Knie gepresst, die andere Hand an die Brust gelegt und atmete so heftig, als hätte er einen Hundertmeterlauf hinter sich.

Er schnappte hart nach Luft als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Bei genauerer Betrachtung war das nicht auszuschließen. Die Haut war mittlerweile leicht ins Bläuliche verfärbt, Schweißperlen glänzten auf der Stirn, die Augen zusammengepresst. Sein Gesicht war eine Maske des Schmerzes.

Seine Hand krampfte sich immer wieder in seinen Umhang, ließ locker und verkrampfte erneut.
 

„Ähm… Malfoy, du…“ Hermine kam zögerlich näher. Eventuell sollte sie wirklich Madam Pomfrey rufen.
 

Sie streckte vorsichtig ihre Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren, da sie nicht sicher war, ob er sie gehört hatte. Doch kaum hatten ihre Fingerkuppe seine Schulter berührt, riss er die Augen auf, schlug ihre Hand kräftig von sich weg und funkelte sie hasserfüllt an. „Was willst du denn hier?“
 

Hermines Hand sank augenblicklich nach unten. Sie wich wieder einen Schritt zurück und beobachtete, wie er zwar endgültig auf den Boden sank, doch wieder etwas ruhiger atmete und von blassblauer Haut zu dem in letzter Zeit üblichen Grau wechselte.
 

„Was?“ Er schlang die Arme um die Knie und presste seine Stirn dagegen, hob den Kopf und schnarrte, jetzt, da er sich zusammenriss, mit der üblichen kalten, trägen Stimme. „Was stehst du da immer noch rum? Was willst du von mir? Ich habe wirklich keine Lust mit dir über das zu reden, was da drin war.“
 

„Nein, nein.“ Hermine hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. „Ähm, nein, es ist nur“, sie deutete mit einem Finger neben ihn, „du… du hast meine Tasche.“
 

Dracos Augen weiteten sich, er öffnete den Mund und setzte zu einer Erwiderung an, verstummte aber, als er eine hellbraune Ledertasche neben sich bemerkte. Etwas irritiert griff er nach der Tasche, drehte sie vor seinem Gesicht hin und her und schob sie dann etwas beschämt wirkend zur Seite. „Oh, also. Nimm!“ Die Tasche wurde auf den Boden gestellt und bekam einen Fußtritt, dass sie zu ihr herüber schlitterte.
 

Hermine hob eine schwarze Ledertasche in die Höhe, schwenkte sie kurz hin und her und warf sie zu Draco, der sie überraschend geschickt auffing.
 

Er sah zuerst die Tasche in seinen Händen, dann Hermine, dann wieder die Tasche an. Schließlich stellte er sie auf den Boden, öffnete sie und begann ohne weiteren Kommentar darin herumzuwühlen.
 

„Ja, ich gehe dann mal. Also…“, sie hob die Hand und wollte sich schon umdrehen.
 

„Moment! Warte noch!“
 

„Ja?“
 

„Potter hat die gleiche Tasche wie ich.“ Er durchsuchte die Tasche eifrig mit beiden Händen, stoppte, als habe er etwas besonders Interessantes gefunden, doch Hermine war abgelenkt, da Dean und Seamus sie irritiert bei ihrem Gespräch mit Draco beobachteten. Hermine winkte ihnen genervt zu weiterzugehen, dann drehte sie sich wieder zu Malfoy zurück, dessen Augen einen beunruhigend glücklichen Glanz angenommen hatten. Er lächelte versonnen, ja regelrecht erleichtert und eigentlich sah er nicht so aus, als ob ihm daran gelegen wäre, schnell von hier wegzukommen.
 

Hermine wusste nicht so recht was sie machen sollte. Einerseits fand sie es beinahe unhöflich nichts zu sagen, nachdem sie, nun ja, sich zwar nicht gerade näher gekommen waren, aber dennoch ein wenig von den Problemen des jeweils anderen wussten. Vielleicht war sie auch einfach nur neugierig.
 

„Wusstest du“, begann sie zögerlich. „Ich meine, Pansy und Blaise…“
 

„Ja, gestern Abend hat sie es mir gesagt. Bevor ich zum Nachsitzen musste. Wahrscheinlich damit sie freie Bahn hat, wenn…“ Er brach ab und biss sich auf die Lippen, verzog griesgrämig sein Gesicht und ärgerte sich wohl darüber, dass er schon wieder zu viel von sich selbst preisgegeben hatte.
 

Hermine betrachtete ihn einen Moment nachdenklich und bevor sie sich selbst stoppen konnte, brach die Vermutung auch schon aus ihr heraus: „Es ist nicht wegen Blaise Schluss, oder?“ Beschämt über sich selbst biss sie sich auf die Lippen, verfluchte sich für ihre hartnäckige Neigung, alles und jedem klar machen zu müssen, dass sie mindestens so sozial kompetent war wie die beliebten Mädchen und wich einige Schritte vor Malfoy zurück.

Sie war sicher zu weit gegangen. Auch wenn es offensichtlich war, zumindest für jemanden wie Hermine, es war einfach ein Schlag unter die Gürtellinie.
 

Malfoy wurde blass, seine Augen verengten sich und sein ganzes Gesicht wirkte versteinert. „Nein!“, erwiderte er kühl und beugte sich wieder über die Tasche, als sei er immer noch nicht sicher, dass sie tatsächlich ihm gehörte. Eigentlich hätte sie vermutet, dass er sie anschreien würde, stattdessen setzte er sich die Tasche auf den Schoß und betrachtete diese betrübt. „Nein. Sie hat es nicht gesagt, aber…“, er zuckte die Achseln und seufzte. „Im Moment bin ich ihr wohl…“, er schüttelte den Kopf, drehte sich mit verdutzter Miene zu Hermine um und blaffte sie scharf an: „Das geht dich gar nichts an!“
 

„Naja, stimmt.“ Sie wollte schon gehen und trotzdem… „Ich weiß, das geht mich eigentlich auch nichts an, es ist ja nur… nachdem ich es weiß… hatten deine Eltern denn einen Platz, wohin sie gehen konnten?“
 

Er biss sich auf die Lippen, strich nachdenklich über das schwarze Leder und nickte. „Ja, sie…sie leben im Moment bei einem Bekannten. Du weißt sicher, welche Schwierigkeiten sie dabei hatten, Geld für ein neues Anwesen aufzutreiben?“ Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu und wirkte Sekunden später bestürzt. „Wenn du“, er griff in seinen Umhang und zog den Zauberstab, „wenn du...“
 

„Nein.“ Sie winkte besänftigend ab. „Nein, entschuldige. Ich hätte das nicht fragen sollen. Ich will ganz bestimmt nichts den anderen erzählen. Sie wissen ja nicht und… es wäre ja auch nicht gut, wenn sie mitbekämen, dass ich...“
 

Er winkte gelangweilt ab. „Granger, hör mal zu.“ Er schulterte seine Tasche und stand auf. „Ich merke, dass du versuchst, so etwas wie eine hilfreiche Unterhaltung zu führen. Aber falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, das Thema ist mir unangenehm. Ich will nicht darüber reden und schon gar nicht mit dir, also könntest du bitte so tun, als ob du dir rein gar nichts bei dem denken würdest, was ich in den letzten fünf Minuten gesagt habe, und einfach so unauffällig wie möglich das Thema wechseln.“
 

Er wirkte verblüfft, zog die Augenbrauen überrascht hoch und stammelte: „Äh… verschwinden. Könntest du so unauffällig wie möglich verschwinden.“
 

„Ich… natürlich, ich wollte nicht, entschuldige also…“ Hermine war in ihren therapeutischen Bemühungen langsam warm gelaufen und wollte so schnell nicht damit aufhören, Malfoy Gutes zu tun, zumal es auch ein eigenartiges Gefühl war, mit Malfoy nicht nur per „Schlammblut – Arschloch“ zu kommunizieren.
 

Eigentlich, so dachte sie und legte den Kopf schief, sah er auch anders aus, wenn er sein Gesicht mal nicht vor Häme verzog oder bei ihrem Anblick so tat, als ob ihr Popel aus der Nase rieseln würden, sondern… sie wie ein normaler Mensch behandelte.
 

„Tja also… hast du schon von diesem neuen Pub gehört, das in Hogsmeade aufgemacht hat? Es soll ja speziell für Slytherins hergerichtet sein. Wirst du es dir ansehen?“
 

Draco verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Ja, ich habe davon gehört. Nein, ich werde sicher nicht hingehen, falls du das meinst, da ich bis zum Jahresende Strafarbeiten für Filch und Hagrid verrichten muss.“ Er zuckte die Achseln und wandte den Blick von ihr ab, um stattdessen seine Füße zu begutachten. „Um mich besser beaufsichtigen zu können. Ich gelte wohl als Gefahr.“
 

„Oh!“ Hermine biss sich auf die Lippen. „Wegen der Stunde bei Flitwick, als du….“
 

„Themenwechsel, Granger!“
 

Hermine errötete und nickte. Seltsamerweise, so fand sie, wirkte er zwar etwas misslaunig über diese Bemerkung, doch nicht wütend. Wenn sie so darüber nachdachte, wenn sie sich diesen dünnen, blassen Jungen so ansah… wie verzweifelt musste er sein, dass er mit ihr redete?
 

„Ich… tut mir leid. Ja, also, wir wollten eigentlich mal hingehen und es uns ansehen, aber…. Naja, Slytherin eben. Also gehen wir wohl doch eher in die Drei Besen.“
 

Malfoys graue Augen weiteten sich alarmiert, sein Mund wurde schmal und er starrte sie an, als ob ihm eben klar geworden sei, dass er etwas sehr Wichtiges, Gefährliches, aber auch vor allem Dringendes vergessen hätte.
 

Er sah weiterhin in ihre Richtung, doch er sah sie nicht an. Fieberhaft flackerten seine Augen hin und her während er angespannt auf seiner blutleeren Unterlippe kaute.
 

„Tja, also…“, Hermine sah auf ihre Uhr. Wenn sie noch frühstücken wollte, dann musste sie jetzt gehen. Zudem wollte sie eigentlich auch von keinem weiteren Hauskameraden bei einem Vier-Augen-Gespräch mit Malfoy erwischt werden. „Ich habe Hunger. Ich gehe jetzt wieder rein.“
 

„Granger!“
 

Hermine hatte schon die Hand zur Türklinke ausgestreckt, als sie Draco ihren Namen rufen hörte. Sie drehte sich überrascht um. Was immer er auch eben überlegt hatte, jetzt musste es ihm eingefallen sein.
 

Irgendetwas veränderte sich in Dracos Gesicht. Er sah sich nach allen Seiten um, vermutlich um sicherzugehen, dass ihn niemand bei der Unterhaltung mit einem Schlammblut erwischen würde, dann kam er langsam auf sie zu. Er stoppte erst dann, als sie noch wenige Handbreit trennten. Seine Augen waren es, die anders waren.

Weder kalt und verächtlich, wie gewohnt, weder erschüttert, wie Hermine es in der letzten Zeit öfter gesehen hatte, sondern… entschlossen? Das Lächeln, das seine Lippen umspielte, ließ Hermine erschaudern, da sie sich sicher war, dass es nicht ihr galt, sondern einer Idee, die sich gerade in seinem Geist formte.
 

„Weißt du, dass ich noch immer das dreckige Handtuch habe, mit dem ich mein Klo ausgewischt habe? Du weißt schon, Grangy, das, das du danach angezogen hast.“
 

Hermine zog die Stirn in Falten. Das ging zu schnell um ehrlich gemeint zu sein. Vermutlich. „Was… was soll das?“
 

Etwas Gehetztes lag in seinen Augen, oder auch Begieriges… ein Gedanke stand ihm ins Gesicht geschrieben, der wie Lava aus einem Vulkan aus ihm herausbrach. Seine Wangen verfärbten sich von Gelblich-grau zu Rot und ein fiebriges Glühen flackerte in seinen Augen. Die Stimme war erregt, schnell und sie spürte, wie viel Mühe er sich gab, all die Gedanken, die so schnell seine Lippen verließen, halbwegs verständlich zu artikulieren, so dass ihre Wirkung nicht geschmälert wurde.
 

„Wobei du damals immer noch besser gerochen hast als jetzt. Du stinkst, Schlammblut.“ Er verzog sein Gesicht und wedelte sich mit der Hand Luft zu. „Sag mal, hat sich Weasley nicht gewaschen, bevor er heute Morgen über dich drüber gerutscht ist?“
 

Kalte, graue Augen durchbohrten sie herausfordernd. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Er kam näher, noch einen Schritt näher, bis Hermine vor ihm ausweichen musste, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. „Wie ist er denn so? Bei so vielen Kindern wie die Weasleys haben sollte man doch meinen, dass in jedem Sprichwort ein wahrer Kern steckt.“
 

Hermines Atmung wurde flach, als er noch einen Schritt näher kam. So nahe, dass eine blonde Haarsträhne, die ihm locker über die Wange fiel, ihre Stirn streifte, als er ihr zuraunte. „Dumm fickt gut, oder? Weasley muss ein wahrer Gott sein.“ Sein Grinsen wurde breiter und Hermine spürte seinen Bauch, der sich langsam an ihren anlehnte. „Was hat du denn, Schlammblut?“
 

„Du… du… das ist... zu nah.“ Tränen sammelten sich in Hermines Augen, ihre Atmung war nun so flach und Draco so nah, dass ihre Brust im Sekundenabstand seine berührte. Hermine fuchtelte mit den Armen. Wild, unkoordiniert und panisch. Sie zitterte am ganzen Leib und als sie Hände fühlte, die sich um ihre Taille legten und sie näher heran zogen, begann sie zu schluchzen.
 

„Was ist los, sag schon, ich glaube nämlich, so gut ist Weasley gar nicht. So unbefriedigt wie du immer herumläufst kann er nicht mal das. Na, komm schon, sag’s mir!“ Draco ließ sich nach vorne fallen und presste sich selbst und Hermine gegen die Tür der großen Halle hinter ihr. „Ich hab dich schon mal nackt gesehen, vergessen?“
 

Hermine ruderte hektisch mit den Armen. Immer kurz davor, ihn wegzustoßen, konnte sie sich doch nicht dazu überwinden, ihn anzufassen. Eher unabsichtlich traf sie dabei die Türklinke hinter sich, erkannte jedoch sofort, was es war. Ihre Rettung, ihr Weg zur Flucht.

Die Türklinke gab nach, Hermine ging in die Knie, packte ihre Tasche und stürmte tränenüberströmt in die große Halle hinein.
 

Halb blind stolperte sie panisch zwischen den Menschen, die dort standen und sich fröhlich schwatzend unterhielten, hindurch, bis sie Ron, der gerade aufstand, um sie zu suchen, weinend in die Arme fiel. Sie schaffte es nicht zu sagen, was passiert war und konnte nur stammeln. Ron schien jedoch zu begreifen, als er sah, wie die heftig schluchzende Hermine vor Angst zusammenfuhr, als Malfoy breit grinsend hinter ihr auftauchte. Ein Grinsen im Gesicht, das offenbarte, dass er die tiefsten Tiefen der untersten Schublade noch längst nicht erreicht hatte.
 

Malfoy betrachtete sein Werk mit einem Ausdruck des Triumphes, schlenderte gelassen näher und warf Harry die schwarze Tasche vor die Füße. „Das ist meine!“, sagte er, während er mit dem Finger in die Lücke zwischen Hermine und Harrys Tasche am Boden deutete, so dass nicht ganz deutlich wurde, was gemeint war.
 

„Malfoy, du Psychopath. Was hast du mit ihr gemacht?“ Ron hatte den Zauberstab schon gezogen, doch Harry und Ginny hielten ihn zurück. „McGonagall sieht her. Pass auf“, raunte Ginny und zog den unwillig folgenden Ron ein wenig von Malfoy weg, der sich genüsslich streckte. „Nichts, sie kam raus und hat mir gesagt, dass ich die Taschen verwechselt hab. Wir haben uns nur etwas unterhalten, das Schlammblut und ich.“ Er schenkte Hermine ein süffisantes Grinsen, und zwinkerte vielsagend, als er mit der Zungenspitze seine Oberlippe berührte.
 

Draco lachte, als er die vier Zauberstäbe sah, die auf ihn gerichtet waren. Er schüttelte den blonden Schopf, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, feixte. „Als ob, als ob ihr euch trauen würdet, solange die da“, er streckte die Hand aus, mit der er sich eben durch die Haare gefahren war und deutete hoch zum Lehrerpult, „zusehen“.
 

„Sie sind nicht immer dabei, Malfoy!“ Ginny umklammerte Rons Arm, der gefährlich zitterte und zischte so leise, dass es außer der Fünfergruppe keiner hören konnte. „Wir wissen, was du bist, Malfoy. Glaube ja nicht, dass du ungeschoren davon kommst.“
 

Das Feixen verblasste. „Gleichfalls. Vergeltung ist näher als ihr glaubt.“ Er hob eine Augenbraue und drehte sich zum Gehen um, doch überlegte er es sich anders. Ein kurzer, etwas nachdenklicher Blick fiel auf Hermine, dann, schneller als irgendjemand reagieren konnte, packte er sie und zog sie an sich heran. Etwas Wildes, Entschlossenes lag in seinen Augen. Nicht Verlangen, Bosheit oder Wut. Eher die unumstößliche Entschlossenheit hier, vor aller Augen, tiefer zu sinken, als jemals zuvor. „Sei ehrlich, Granger“, raunte er, bevor Ron ihm Hermine entreißen konnte. „Dir ist das alles nicht hart genug. Du willst keine Jungs in dir haben, nicht? Was du brauchst, ist ein echtes Biest.“ Er senkte die Stimme zu einem Wispern und hauchte mit rauchiger Stimme. „Ich hab dich gesehen in der Winkelgasse. Ich hab dich unter ihm schreien gehört. Gib es zu, so gut wie Greyback war Weasley noch nie.“
 

Die nächsten Minuten waren für Hermine etwas dunkel. Sie erinnerte sich nicht daran, den Zauberstab gezogen zu haben und sie erinnerte sich nur schwach an den roten Blitz, der daraus hervor brach, als sie Malfoy mit dem Cruciatusfluch folterte.

Das erste, was sie bewusst wahrnahm, war McGonagalls Ruf: „Expelliarmus!“, und gleich darauf ein geschocktes „Nachsitzen! Hogsmeade ist für Sie heute gestrichen.“
 

Xxx
 

Das Problem war, dass er Potter nicht leiden konnte. Er hatte ihn noch nie leiden können, er war ihm während der ganzen zurückliegenden Schuljahre nicht sympathischer geworden und genau genommen hasste er ihn auch jetzt, als er ihn gemeinsam mit Weasley auf die Drei Besen zusteuern sah.

Trotzdem überlegte er einen Moment, ob er nicht vielleicht zu den Beiden hinübergehen und… nein, unmöglich. Sie würden Draco nicht erkennen, da dieser im Moment nicht wie er selbst, sondern wie einer der Gefangenen im Manor aussah, dessen Haare in seinen Vielsafttrank gemischt waren. Doch unerheblich, ob Potter oder sonst irgendeiner seiner Schulkameraden ihn erkennen würde oder nicht, die Personen, die mit ihm vor den Drei Besen warteten, würden es wissen, wenn er jetzt zu Potter ginge…
 

Draco seufzte und schüttelte mutlos den Kopf. Eine Weile noch sah er zu der Tür, durch die Potter und Co. das Pub betreten hatten, dann drehte er sich um und begann mit seiner ihm zugewiesenen Arbeit.
 

Draco schlenderte die Straße entlang und tat sein Bestes, nur auf die Steine zu achten, die hier und da vor seinen Füßen lagen. Er wusste nicht genau, wie lange es dauern würde, vielleicht eine halbe Stunde oder auch nur ein paar Minuten. Er wollte jedenfalls nicht dabei sein, solange alle noch wach waren. Ein paar Minuten gab er sich noch, dann würde er ebenfalls in die Drei Besen gehen.
 

Einige Schritte vom Pub entfernt, so, dass er nichts mehr von den Geräuschen, die herausdrangen, hören konnte, wagte er wieder aufzublicken. Eine fast mittelalterlich anmutende, idyllische Straße breitete sich vor ihm aus.
 

Die Bäume, die an freien Plätzen zwischen den kleinen Häuschen aufragten, hatten zwar noch ihre meisten Blätter, doch der kühle Herbstwind ließ sie im Licht der Dämmerung rot, orange und gelb gefärbte Laub wie in Flammen stehend aufflackern.
 

Wie zu erwarten, war heute ein recht milder Tag gewesen. Die Sonne hatte all ihre letzte Kraft aufgebracht, um diesen Halloweentag noch einmal richtig schön werden zu lassen. Draco kam an einem Dorfbrunnen vorbei, der, wie er wusste, ein Wunschbrunnen sein sollte. Angeblich sollte der Brunnen außerdem Geheimnisse verraten und Fragen beantworten, wenn man nur genug Gold hineinwarf.
 

Der Brunnen war vermutlich recht gierig, denn kaum jemals schien er genug Geld zu bekommen, so dass er eigentlich nur pausenlos dreckige Witze und Limericks von sich gab. Dracos Mund verzog sich zu einem schwachen Grinsen, als er Luna Lovegood mit weiten Augen davor stehen sah, offenbar in eine erregte Diskussion über Erdgeister mit dem Brunnen verwickelt, der ihr wohl irgendetwas klarmachen wollte.
 

Draco blieb einen Moment stehen, doch als er Luna träumerisch sagen hörte: „Weißt du, im Grunde genommen bist du kein Brunnen. Wenn man es genau bedenkt, bist du eher ein senkrechter Tunnel mit Wasser unten drin“, beschloss er, dass es wichtigere Dinge zu tun gab, als hier weiter zu verweilen.
 

Dort hinten, in den Drei Besen, wurde gerade ein Schlafzauber über alle Gäste gelegt. Danach würde eine Eule mit den Forderungen in die Schule geschickt werden. Sobald man sicher war, dass die verwandelten Todesser, die hier auf den Straßen unterwegs waren, alles geräumt hatten, würden Voldemort und die anderen Todesser ebenfalls in die Hütte kommen.

Immerhin hatten sie sich heute in Zauberer verwandeln dürfen. Immerhin mussten sie nichts Schlimmeres tun, als von jetzt ab jeder Person, die sich den Drei Besen näherte, einen Verwirrungszauber aufzulegen, der sie auf der Stelle glauben machte, dass sie noch dringend in den umliegenden Läden etwas einkaufen mussten.

Allerdings, sollte er sich nicht irren, war zumindest Rowle und McNair aufgetragen worden, zwei bis drei der umherstreifenden Auroren nicht zu verwirren, sondern sie in die Drei Besen zu schicken, um sie… es hatte etwas mit Nagini zu tun und deshalb beschloss Draco, dass er darüber nun nicht weiter nachdenken würde.
 

Hogsmeade war nicht groß. Er und die weiteren Todesser, die durch die Straßen patrouillierten, hatten einen guten Überblick über alle, die hier unterwegs waren. Draco kickte hin und wieder kleine Steine weg, die ihm vor die Füße kamen, lächelte matt, wenn er andere Schüler traf, die nicht in den Drei Besen waren, murmelte leise den Verwirrungszauber und erlaubte sich ein erleichtertes Aufseufzen, wenn die Getroffenen daraufhin verwirrt stehen blieben und ihren Weg in die umgekehrte Richtung fortsetzten.
 

Draco sah ihnen nach, dann drehte er sich um und beschleunigte seine Schritte, da er sein Ziel entdeckt hatte. Einige Meter entfernt, im Schatten einer großen Eiche, stand der Eberkopf. Draco stellte anerkennend fest, dass sich der einst verkommene Laden sehr zu seinem Vorteil verändert hatte. Die Wände waren frisch, in einem sauberen, makellosen Weiß gestrichen. Das Dach war mit glänzenden, smaragdgrünen Ziegeln bedeckt, die jedoch jetzt, da die letzten Strahlen der roten Sonne darauf schienen, eher in dunklerem Tannengrün schimmerten.

Die Holzbalken des Fachwerkhauses waren ebenfalls in einem sattem Grün getüncht. Fensterrahmen und Tür waren, im Gegensatz zu den weißen Wänden, in einem hellen Grau gehalten, da Silber zu auffällig gewesen wäre.

Auch das Schild war neu. Immer noch hieß der Laden Eberkopf, doch der Eber, der gehangen hatte, solange Draco diese Bruchbude kannte, war ausgewechselt worden. Eine große Schlange wölbte sich aus dem Dachfirst heraus, die in ihrem aufgerissenen Maul den Kopf des Ebers auf ihren Zähnen aufgespießte.

Draco trat etwas näher und sah durch die makellos geputzten Scheiben in den tadellos sauberen Schankraum hinein.
 

Er wusste nicht, wer Terence Higgs das Angebot gemacht hatte, diesen Laden nach Aberforth zu kaufen, doch zweifellos war die Rechnung aufgegangen, eine Art Stammkneipe für Slytherins einzurichten. Er sah den breiten Rücken von Crabbe vor dem Fenster. Er prüfte, nein, Goyle war nicht hier. Der musste ja an seiner Statt oben im Schloss mit Granger nachsitzen.

Er ging einen Schritt weiter, um durch das nächste Fenster sehen zu können. Mit Erleichterung stellte er fest, dass er dort drinnen viele bekannte Gesichter sah. Pansy turtelte, ein Butterbier in der Hand, mit Blaise. Draco sah rasch zur anderen Seite, wo er Flint, Montague und Millicent Bullstrode an einem Tisch sitzen und Karten spielen sah. Er zuckte zusammen, als er meinte, Notts Hinterkopf zwischen einigen anderen zu sehen, doch drehte sich der Junge, den Draco für seinen toten Freund gehalten hatte, Sekunden später um und Draco erkannte seinen Irrtum. Komisch, er sah ihm nicht mal ähnlich. Draco seufzte schwer und versuchte, das schmerzende Gefühl im Hals loszuwerden, das er immer spürte, wenn ihm einfiel, dass Nott erst wenige Tage vor dem Angriff auf den Fuchsbau zum Todesser geworden war, um mit Draco gleichzuziehen.
 

Jemand räusperte sich neben ihm. Draco fuhr herum und erstarrte. Kaum zwei Meter vor ihm stand Aberforth Dumbledore. Dichte, graue Haare, ein ungepflegter Bart, der aussah und roch, als habe sich der ehemalige Wirt des Eberkopfs einen toten Hund ins Gesicht gehängt. Schmuddelige Kleidung und die unverkennbare Duftnote nach Ziegendreck umgaben ihn.
 

„Warum?“
 

Dracos Beine gaben nach, er brach gegen die Wand gelehnt in die Knie und starrte auf das Messer, das noch immer in Aberforths grauem, linken Auge steckte. Dort, wo Draco es nach der Flucht vom Astronomieturm hineingestoßen hatte.
 

Feuchtes, hellrotes Blut rann Aberforth über das Gesicht, durchnässte seine dreckige Schürze und tropfte vor ihm auf den Boden.
 

Er war nicht der Erste. Die erste war Tonks gewesen, die ihn am See sitzend mit einem Buch in der Hand beobachtet hatte. Er hatte sie schon öfter gesehen. Nicht nur Tonks, sondern auch Travers, Savage, und viele andere, deren Namen er nicht kannte.
 

Meist standen sie in einiger Entfernung und sahen ihn einfach an. Manche folgten ihm, wenn er in ein anderes Zimmer ging. Pansy hatte ihm oft genug wütende Blicke zugeworfen, hatte mit ihm geschimpft, ob er sich nicht einmal normal benehmen könnte, wenn sie merkte, wie bleich er wurde, wenn er die Gestalten verstohlen beobachtete.

Aber noch nie war jemand so nah gewesen, noch nie hatte eine dieser Personen gewagt ihn anzusprechen.
 

Aberforth streckte seine Arme nach ihm aus und wimmerte. „Es tut so weh, Junge. So weh… was hab ich denn falsch gemacht? Ich wollte dir doch nur helfen. Warum hast du das gemacht?“
 

Draco kippte rückwärts auf seinen Hintern und starrte weiter zu Aberforth hinauf. Als der einen Schritt näher kam, krabbelte Draco wie ein Skorpion auf Hände und Füße gestützt, Aberforth noch immer anstarrend, nach hinten, bis er genau unter dem Eberkopf im Schlangenmaul zusammensackte.
 

„Warum, Junge? Warum?“ Aberforth verzog das Gesicht, er hob eine blutüberströmte Hand und ergriff das Messer. Er umklammerte den Messergriff und bohrte die Klinge mit einem ekelhaft schmatzendem Geräusch im Auge herum. „Ich… ich kann es nicht rausziehen. Du musst es machen! Immerhin hast du…“
 

„Das war keine Absicht!“, brüllte Draco panisch und robbte, so gut es ging, weiter von dem näher kommenden Aberforth weg. „Sie standen auf einmal hinter mir und ich dachte…“
 

Draco biss sich auf die Lippen und spürte, wie ihm schwindelig wurde. Der Boden unter ihm begann auf und ab zu wogen. Aberforth und der Baum, neben dem er jetzt stand, begannen sich um ihn zu drehen. Bilder kamen hoch, überfluteten und überwältigten ihn.

Bilder von der Nacht, in der… er immerhin einen Dumbledore tötete. Aber es war doch keine Absicht gewesen. Snape hatte ihn gepackt und war mit ihm nach Hogsmeade appariert, wo sie in den mit Sicherheit am wenigsten besuchten Laden, nämlich in den Eberkopf, stürmten. Er müsse unbedingt beratschlagen, was zu tun sei. Wo sie hingehen sollten und was mit Draco geschehen würde.

Snape sah grimmig aus, bitter und doch schien er etwas Angst zu haben, als er Draco vor sich in den Eberkopf schubste.
 

Niemand war da, wie zu erwarten. Selbst Aberforth schlief. Während Snape am Kamin Kontakt zu wem-auch-immer aufnahm, beschloss Draco, dass er auf den Schock hin etwas zu trinken brauchte. Mehrere Flaschen Spirituosen standen, von einer fettigen Staubschicht bedeckt, neben dem Tresen. Alles klebte hier und war dreckig. Draco angelte eine Flasche von einem Regal herunter, die er zwar nicht kannte, deren giftgrüne Flüssigkeit jedoch besonders hochprozentig aussah. In pechschwarzen Lettern stand auf einem vergilbten Schild „Teufels-Absinth“ zu lesen. Wunderbar, das klang gut. Doch die Flasche war so verklebt, dass er den Korken nicht herausziehen konnte.
 

Er versuchte es mit einem Zauberspruch, doch nichts von alledem, was er versuchte, klappte. So beschloss er, es von Hand zu versuchen.

Ein langes, sehr langes scharfes Messer lag neben der geschlossenen Kasse. Draco griff es, um damit den Korken herauszuziehen. Noch bevor er die Flasche erneut gepackt hatte, hörte er hinter sich die Stimme eines alten, verschlafenen Mannes. „Was geht denn hier… was haben sie denn mit dir gemacht, Junge?“
 

Draco konnte nicht denken, es war einfach nur… der Schock, der Schreck, dass sich ohne Vorwarnung eine Hand von hinten auf seine Schulter legte. Er wirbelte herum und stach zu.
 

Wie betäubt konnte er nichts anderes tun als dazustehen und den zusammenbrechenden Aberforth anzustarren, dann ließ er sich auf die Knie fallen, packte das Messer und wollte es herausziehen, doch seine zittrigen Finger schafften es nicht.
 

Als Snape ihn einige Minuten später fand, war Aberforth unwiederbringlich tot, Draco hatte sich in die Hosen gemacht und Snape, der gar nicht erst den Versuch machte, Draco zu säubern, kommentierte trocken, dass Draco sich damit eventuell das Leben gerettet hatte.
 

Draco wurde übel, Aberforth lag vor ihm, rührte sich nicht mehr und blutete. Eine blutende Gestalt, die sich in rasender Geschwindigkeit um Draco drehte, bis der Brechreiz überwältigend wurde und Draco die Augen zusammenkniff, als er sich übergeben musste.
 

Als er fertig war, war Aberforth weg, es war immer noch später Nachmittag und nicht Nacht und so stand er auf und ging in die umgekehrte Richtung zurück. Umschauen würde er sich nicht mehr, er hatte einen Auftrag und wollte weder von Aberforth noch von irgendeiner anderen… Wahnvorstellung aufgehalten werden.
 

Als er die Drei Besen erreichte spürte er, wie sein Körper zu brennen begann. Vermutlich lag es daran, dass er erbrochen hatte. Wenn man sich übergab, ließ die Wirkung des Vielsafttrankes schneller nach. Das war jetzt aber nicht so schlimm, da es zumindest im Pub drinnen egal war, ob ihn jemand erkennen würde oder nicht. Keiner der Gäste dort drin würde ihn verraten können.
 

Außer Potter, aber um den würde sich Snape kümmern.
 

Die Tür zu den Drei Besen war nicht verschlossen. Die Banne, die es jedem außer einem Todesser unmöglich machten, sich dem Pub zu nähern, hatten solche Vorsichtsmaßnahmen überflüssig gemacht. Da Draco auf seinem Weg zurück niemanden in den Straßen gesehen hatte ging er davon aus, dass alle Todesser, die mit ihm in Hogsmeade waren, bereits drinnen auf die Nachricht aus Hogwarts warteten.
 

Der Schankraum war von zahlreichen Kerzen, die an der Wand entzündet waren, in ein gemütliches, gelbes Licht getaucht. Im Kamin prasselte ein Feuer und ein angenehmer Geruch nach gebratenem Essen und Butterbier stieg Draco in die Nase.
 

Man hätte meinen können, dass hier gerade ein Gelage stattgefunden hatte. Auf dem Boden, über den Tischen und auf Stühlen zusammengesackt saßen und lagen überall Gäste, die teilweise noch ihre Kelche, Löffel und Servietten in den Händen hielten. Manche sabberten, manche schnarchten, aber alle schliefen.

Madam Rosmerta lag mit gespreizten Beinen auf einem Tisch, zu dessen Füßen sich der Halbriese Hagrid wie ein gigantischer Hund zusammengerollt hatte. Ihr Rock war bis über die Hüften hochgeschoben. Keiner der Männer hier im Raum war unbekleidet, doch vermutlich hatte Draco um einiges länger beim Eberkopf verweilt, als er vorgehabt hatte.
 

Unwillkürlich drehte er den Kopf nach rechts und links um nachzuforschen, ob auf den anderen Tischen noch weitere Mädchen oder Jungen lagen. Er hätte es nicht tun sollen, er biss sich auf die Lippen und hob die Augen wieder. Je weniger er von diesen Leuten hier erkannte, desto besser. Je weniger er darüber nachdachte, wen er wie gut kannte, desto besser.
 

Draco sah Männer mit Gewehren zwischen den Schläfern umhergehen. Bereit für den Fall, dass jemand trotz des Zaubers aufwachen sollte oder dass, wie jetzt, unerwartet doch noch Leute das Pub betraten.
 

Es klickte und zehn geladene Waffen richteten sich auf Draco.
 

Draco hob seine Hände über den Kopf. „Ich bin’s, Draco.“
 

„Wieso bist du nicht mehr verwandelt?“, schnarrte ein blonder Mann, den Draco noch nie gesehen hatte.
 

„Ich hab gekotzt.“ Er zuckte die Achseln. „Weiß nicht, die Wirkung lässt wohl schneller nach.“
 

Der, der Draco angesprochen hatte, tauschte ratsuchende Blicke mit einigen anderen Männern. Irgendjemand drückte Draco von hinten eine Waffe in den Nacken.

Er sog scharf die Luft ein, doch widerstand der Versuchung, in die Knie zu gehen oder sich umzudrehen, um die Waffe wegzuschlagen, sondern versuchte, obwohl er zu zittern begann, die Hände weiter oben zu behalten.
 

„Das kann vorkommen“, schnarrte eine andere, tröstlich vertraute Stimme durch den Raum. Snape hatte die Tür hinter der Theke geöffnet, die zu dem Hinterzimmer führte und streckte sein fahles Gesicht in den Raum. „Schickt ihn her.“
 

Der Gewehrlauf wurde ihm gegen die Schulterblätter gestoßen. „Vorwärts!“
 

Draco wollte die Arme herunternehmen, da sie langsam taub wurden, doch als er die Hände nur um Zentimeter senkte, richteten sich sofort wieder alle Gewehrläufe auf ihn und Snape hob drohend den Zauberstab und zielte auf sein Gesicht. „Oben lassen!“ zischte er.
 

Man stieß ihn durch die Reihen am Boden liegender Körper hindurch, bis ihn nur noch der Tresen von Snape trennte, der sich auf die Theke gestützt weit nach vorn beugte, so dass Draco jede Falte des zu früh gealterten, fahlen Gesichtes sehen konnte. Schwarze Opale, Snapes Augen, brannten sich in sein Gehirn.

Für Momente überkam Draco eine schwere, bleierne Müdigkeit. Er fühlte sich wie in Watte gepackt und alles um ihn herum wurde schön, sanft und leicht. Sein Körper entspannte sich und seine Arme sanken herab. Am Rande seines Bewusstseins nahm er war, wie sich Szenen seiner Schulzeit vor ihm abspielten. Szenen, in denen Snape ihn gemeinsam mit Pansy in einem Korridor erwischte, wie er ihn fand, als Potter ihn auf der Mädchentoilette aufgeschlitzt hatte und die Nacht auf dem Astronomieturm. Die Flucht und … Draco würgte, als er wieder der schmatzende Geräusch hörte, als er Aberforths Messer in seinem Auge herumdrehte.
 

„Er ist es!“ Snape wandte sich von ihm ab und Draco kippte hustend nach vorne. Ein Gefühl, als ob eine sehr starke Hand seinen Kopf zusammenpresste, fiel von ihm ab.
 

„Komm rein, es gibt Arbeit für dich!“
 

„Aber ich dachte“, Draco wich überrascht einen Schritt zurück, schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich dachte, ich sollte nur hier draußen…“ Er deutete mit der Hand, die den Zauberstab hielt, in einer ausladenden Bewegung um sich herum, woraufhin sich alle Todesser im Raum erschrocken duckten.
 

„Nein, du sollst reinkommen.“ Snape packte ihn am Ärmel, klappte eine Holzplatte hoch, die zwei Tresenteile miteinander verband und zog Draco zu sich.

Unangenehm nahe. Unwillkürlich zog er die Schultern hoch, als sich ihm Snapes Hakennase ins Ohr bohrte. „Du wirst du zu allem „Ja“ sagen, was er dir sagt. Verstanden?“
 

Draco nickte schwach und ließ sich von Snape in den anderen Raum hineinziehen. Snape blieb gleich neben der Tür stehen. Faltete die Hände vor dem Körper und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
 

Auch dieser Raum war von einigen, bereits halb abgebrannten Kerzen an den etwas verfallen wirkenden Holzwänden erleuchtet. Eher ein Lagerraum als ein Ort zum Ausruhen. Hier standen zahlreiche Weinfässer an den Wänden, dicht gedrängt neben Kisten voll Feuerwhisky, Goldlackwasser, Holunderblütenwein und natürlich Kürbissaft.
 

Dieser Raum schien als Durchgangsraum genutzt zu werden, denn am hinteren Ende, dort, wo Draco nun geradeaus hinsah, war eine weitere Tür. Vermutlich waren alle Dinge nur hier hochgeschleppt worden, damit Rosmerta nicht jeden Abend zehn Mal in den Keller gehen musste.
 

Regale zogen sich quer über die linke Wand, die voll mit Lebensmitteln, Zetteln und Gegenständen waren, die Gäste wohl irgendwann einmal vergessen hatten. Hüte, Geldbörsen, Einkäufe aus den Läden und sogar Zauberstäbe, lagen dicht an dicht.
 

Draco trat einen Schritt zur Seite von der Tür weg, und stieß mit dem Fuß gegen einen Zinneimer. Unwillkürlich sah er hinab, richtete den Blick aber gleich wieder nach oben, denn der Eimer samt den Lappen darin verbreiteten einen entsetzlichen Gestank nach Erbrochenem. Er spürte, wie das flaue Gefühl in seinen Magen zurückkehrte.
 

Voldemort war bereits anwesend. Auch andere Todesser warteten hier auf eine Nachricht aus der Schule. So nahm Draco zumindest an. Alle miteinander waren sie jedoch nicht verwandelt. Wie auch immer und wann auch immer sie hierher gekommen waren, sie mussten schon ziemlich sicher gewesen sein, dass man sie nicht stören würde.
 

Zudem konnte sich Draco auch denken, was hier drinnen, im Hinterzimmer, passieren sollte. Niemand von den Personen, die aus dem Schankraum hierher gebracht werden sollten, würden wieder herauskommen und irgendetwas erzählen können.
 

Außer Potter natürlich, der, wie geplant, von einer Ganzkörperklammer gelähmt am hinteren Ende des Raumes, Snape also frontal gegenüber, auf einen Stuhl gesetzt worden war.

Bellatrix und Lucius standen vor ihm, gut gelaunt wie lange nicht mehr machten sie so einträchtig zusammen auf Potters Kosten Scherze, wie Draco es noch nie erlebt hatte. Man hätte sie fast für Freunde halten können. Lucius lachte schallend und winkte Draco, eine Flasche Elfenwein in der Hand schwenkend, fröhlich zu. Bellatrix, heiter wie selten, giggelte, stieß seinen Vater in die Seite und nahm ihm die Flasche ab, um einen tiefen Zug daraus zu nehmen.
 

Es war wohl nicht mehr viel darin gewesen, denn gleich darauf warf sie die leere Flasche von sich, wo sie über den Boden rollte, bis sie von Rodolphus' Fuß gestoppt wurde, der mit ähnlich perversem Grinsen, wie es auch bei Lucius und Bellatrix zu sehen war, zu den beiden hinüber schlenderte. In jeder Hand eine neue Flasche, die bereits geöffnet waren.
 

„Durst, Potter?“ Lucius giggelte und riss ihm den Kopf an den Haaren in den Nacken. Bellatrix streckte sich, nahm ihrem Mann eine Flasche ab und kippte Potter einen Schluck des schweren, roten Weines in den Mund.
 

„Das solltest du lassen!“ Draco drehte sich zu Snape um, der ruhig, doch mit leicht genervtem Unterton erklärte. „Er kann nicht schlucken. Ihr werdet ihn ersticken.“
 

„Dann hört auf. Wir brauchen ihn noch!“
 

Voldemort selbst stand mit verschränkten Armen neben ein Fenster gelehnt, den katzbuckelnden Wurmschwanz an seiner Seite. Dann und wann warf er Lucius und Bellatrix ein Wort zu, die sich darauf stürzten wie Raubtiere auf die Beute. Sie brüllten vor Lachen, johlten gut gelaunt grausame Dinge als Antwort zurück, schlugen Potter mit dem Kopf nach hinten gegen die Wand oder zerrten seinen Kopf in Voldemorts Richtung, der sich dann ebenfalls dazu herabließ, etwas Gemeines zu Potter zu sagen.
 

Sie wirkten wie Kinder. Vater, Rodolphus und Bellatrix wirkten wie Kinder auf einem Kindergeburtstag. Die Absurdität der Situation hätte nur noch dadurch gesteigert werden können, dass sich alle Beteiligten Papphütchen aufsetzten und irgendjemand Stimmungsmusik auflegte.

Die Stimmung selbst hätte dadurch aber auch nicht ausgelassener werden können.
 

„Hast du dabei, was ich haben wollte?“ Voldemort hatte sich zum Fenster hin umgedreht und sah in den dunkelblauen, von schwarzen Streifen durchzogenen Himmel des frühen Abends hinauf.
 

Draco nickte, warf Potter einen verschämten Blick zu, der sich zwar nicht rühren konnte, doch sicher merken würde, was er unter seinem Umhang hervorzog und auch, woher er es hatte.

Noch ein skeptischer Blick zu Potter, der wieder von Lucius verdeckt wurde, der ihm den Wein statt in den Mund nun über die Haare kippte, um ihm gemeinsam mit Bellatrix die Frisur zu zerstrubbeln, dann seufzte er und überreichte die Rolle Wurmschwanz, der dienstbeflissen von seinem Herren zu ihm gewuselt war, um das Gewünschte in Empfang zu nehmen.
 

Eine Falltür im Boden wurde wie von Geisterhand geöffnet und Nagini, die Schlange, glitt von ihrem Streifzug aus dem Keller zu ihrem Herrn zurück. Voldemort öffnete den Mund und für einen Moment erstarb die fröhliche Stimmung im Raum, als Voldemort Nagini Anweisungen auf Parsel gab, die diese mit hervorschnellender, gespaltener Zunge zischend beantwortete.
 

„Severus, wie spät ist es?“ fragte Voldemort, der gerade das Fenster geöffnet hatte und sich auf den Rahmen gestützt nach draußen beugte, um den Himmel nach irgendetwas, worauf er wohl wartete, abzusuchen.
 

„Es ist genau“, Snape sah auf die Uhr, die in seinem Umhang war, hinab. „Genau fünf Uhr, Mylord.“
 

„Gut, gut“, murmelte Voldemort nachdenklich, lehnte sich wieder zurück und klappte das Fenster zu. „Dann beginnen wir. Sie haben nicht geantwortet, die Zeit ist um.“
 

Er lächelte böse und drehte sich zu den Anwesenden um. „Sie wussten zwar nicht, was nach Ablauf der Zeit passieren würde, doch sie hatten ihre Chance, nicht wahr?“
 

Bellatrix lachte schallend, taumelte mit der Flasche ein paar Schritte zur Seite, strauchelte und stolperte fast, als Nagini zwischen ihren Beinen hindurch zu ihrem Meister glitt.
 

„Lucius!“
 

Lucius fuhr herum und seine ausgelassene Miene versteinerte innerhalb von Sekunden. „Ja, Mylord?“
 

Voldemort sah kurz zu Draco, schien über etwas nachzudenken, dann zu Snape und drehte sich wieder zu Lucius um. „Ich nehme an, dass du deinen Sohn in den dunklen Künsten unterwiesen hast?“
 

„Nun ja“, er räusperte sich verlegen und hob die Hand vor den Mund. „Ja, einige Dinge… Flüche. Bellatrix und ich haben ihm in den Sommerferien einige Flüche gezeigt.“
 

„So, so… nun.. wir werden sehen, ob das reicht. Er soll sie mir zeigen.“
 

Er streckte die Hand aus, um der erneut aufgeregt zischenden Schlange besänftigend den Kopf zu streicheln. „Ruhig, Nagini, du wirst nicht leer ausgehen. Später erwartet dich ein Festmahl. Doch nun…“
 

Voldemort lächelte selbstgefällig. Lautlos wie eine Schlange glitt er hinüber zu Harry, der wie aus Stein gemeißelt auf seinem Stuhl saß. Bellatrix, Lucius und Rodolphus traten respektvoll zur Seite, um einige Schritte zwischen sich und ihren Meister zu bringen, der nun direkt vor Potter stand und ihm sanft über die Wangen strich. „Du willst doch sicher nicht länger ohne deine Freunde sein, Potter. Nicht wahr? Du musst es nicht, wir bringen sie zu dir.“
 

„Draco!“
 

„Ja, Mylord?“
 

„Du gehst jetzt mit Snape nach draußen und holst uns die zehn Personen herein, die ihr am wenigsten leiden könnt.“
 

Seine Hand glitt von Potters Wange herunter, über dessen Hals, unter dem Kinn durch und an der anderen Wange wieder nach oben. „Zehn reichen für den Anfang, nicht? Vielleicht sterben ja gar nicht alle deine Freunde, wir werden sehen. Nein, ich denke nicht… wir heben uns noch ein paar für unser nächstes Treffen auf, Junge.“
 

Draco drückte sich wie erstarrt gegen die Wand, doch Snape, der nur gelassen genickt hatte, drehte sich um und zog ihn mit sich, durch die sich öffnende Tür hindurch. „Das ist ein Loyalitätstest. Er verdächtigt uns. Tu was er sagt, oder er verfüttert dich an die Schlange.“
 

Wie Eis rollten Snapes leise gezischte Worte über Dracos Nacken. Wie Eis, das ihm an einem heißen Tag über die Haut glitt. Er erschauderte.
 

Er warf seinem ehemaligen Lehrer einen fragenden Blick zu. „Aber wen sollen wir… wen?“
 

Snape seufzte, zuckte mit den Schultern und sah sich im Raum um. „Entscheide du. Entscheide, wen du am wenigsten vermissen wirst.“
 

Die Tür schloss sich hinter ihnen und Draco starrte wie betäubt in Rosmertas Schankraum hinein. Snape schob ihn zur Seite, ging am Tresen vorbei und blieb vor einem Tisch stehen, an dem, wie betrunken, einige Erstklässler die Köpfe auf den Tisch gelegt hatten und schliefen.
 

„Wir sollen zehn Gefangene mitnehmen. Den Rest können wir liegen lassen. Sie werden in einigen Stunden von alleine wieder aufwachen.“ Er vergrub seine Hand in Lee Jordans Rastalocken und zog das entspannte Gesicht des Jungen nach oben. Immer noch hielt er die Hand einer Siebtklässlerin aus Ravenclaw. Snape sah zu Lee, zu dem Mädchen und verharrte einen Moment bei dem Anblick der ineinander verschlungenen Hände, dann legte er Lees Kopf wieder zurück und ging weiter um stattdessen Professor Sinister zu packen, die am Nachbartisch neben Flitwick schlief.
 

Er richtete den Zauberstab zuerst auf sie und dann auf die Tür, die sich daraufhin von selbst öffnete. Der Körper der Professorin wurde wie von unsichtbaren Fäden gehalten und schwebte davon.
 

Draco sah ihr einen Moment fasziniert nach, bis ihn Snapes kalte Stimme zurück zur Pflicht rief. „Du bist dran. Ich kann nicht alle auswählen, er will, dass wir es beide tun.“ Snape hob die Augenbrauen und ruckte mit dem Kopf kurz in Richtung Tür, durch die gerade Professor Sinistra wie ein Gespenst verschwunden war.

Auch wenn er es nicht sagte, wusste Draco doch, was er meinte. Sie wurden beobachtet. Beide.
 

Draco drehte sich wieder um und ließ seine Augen über die Tische wandern, die an den Wänden standen. Im ersten Moment überlegte er einfach die fünf Menschen zu wählen, die ihm am nächsten waren.
 

Er hatte sie nur aus den Augenwinkeln gesehen, ein paar Mädchen, besser er würde sie kein zweites Mal ansehen, bevor…
 

„Au!“ Draco zuckte entsetzt zusammen und fuhr herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf einen schwarzen Mann mit grau meliertem Haar, der sich schimpfend und fluchend die Knöchel rieb. Draco bemerkte das Gewehr in seiner Hand. Er hatte es nicht poltern gehört, als der Mann gestürzt war, da es auf den Grund des Sturzes, das verantwortliche Hindernis sozusagen, gefallen war.
 

Ron Weasley.
 

Draco sah den am Boden liegenden Jungen prüfend an, als er näher kam. Rote Haare, blass, Sommersprossen, ebenso groß wie er, aber nicht ganz so dünn, sondern sportlicher. Ja, Weasley. Seine rechte Hand blutete, weil die Butterbierflasche, die er gehalten hatte, bevor der Schlafzauber gesprochen wurde, beim Sturz zu Bruch gegangen war.
 

Der verwandelte Todesser, seiner Sprechweise nach glaubte Draco ihn als Rowle identifizieren zu können, rappelte sich auf, nahm sein Gewehr, versetzte Weasley einen Tritt und ging weiter zur Bar.

Es war ein eigenartiges Gefühl. Bilder flammten in Draco auf. Stimmen. Bilder von Weasley und Potter, die sich über seine Familie lustig gemacht hatten. Weasley, der eine Narbe an der Nase gehabt hatte, nachdem Lucius einem der Angreifer des Manors ins Gesicht getreten hatte.

Weasley, der ihn heute Morgen vor Granger als Psychopath beschimpft hatte. Weasley, der ihn für einen Irren hielt und seinen Vater als Säufer bezeichnet hatte.
 

Übelkeit stieg in ihm auf, doch auch ein erregendes Gefühl des Triumphes.
 

„Weasley?“, schnarrte Snape hinter ihm.
 

Draco drehte sich um und sah ihm in die Augen, während sein Gegenüber zuerst ihn und dann Weasley mit unergründlicher Miene ansah. Draco drehte sich etwas zur Seite, um Snape, an den fettigen Haaren vorbei, über die Schulter sehen zu können. Er sah den Todesser, den er für Rowle hielt, der gerade aus einer Flasche Kürbissaft trank und einen Schritt zur Seite ging, um einen knochenlos wirkenden Marcus Belby hineinschweben zu lassen.
 

Er zögerte, doch dann nickte er und richtete seinen Zauberstab auf Weasley. „Levicorpus.“ Die Marionette erhob sich und schwebte, unter Snapes Anleitung, ins Hinterzimmer zu den anderen Marionetten.
 

Draco sah, dass neben dem Platz, an dem Weasley gestanden, oder viel eher gelegen hatte, ein leerer Krug stand. Wahrscheinlich hatte dort Potter gesessen. Gemeinsam mit ihnen am Tisch saß die Weaselette, sonst niemand.
 

„Ich glaube nicht, dass sie sich hier treffen wollten, um irgendetwas zu besprechen. Es fehlen zu viele“, kommentierte er seine Beobachtung nachdenklich. Snape schnaubte, drehte sich im Raum und nickte. „Im Eberkopf werden sie auch nicht gewesen sein. Finde raus, wo sie sich ansonsten treffen könnten. Aber nicht heute. Ziel einfach auf irgendjemand. Ich habe meine Leute zusammen und dir fehlen noch vier.“
 

Er nickte und überlegte, die Wieselin ebenfalls auszuwählen. Stattdessen wählte er Anthony Goldstein, weil der ihn einmal während einer Gruppenarbeit genervt hatte. Megan Jones, weil die es gewagt hatte, Crabbe einen Korb zu geben. Dennis Creevey, weil es Draco peinlich war, jedes Mal in Panik auszubrechen, sobald Dennis die von seinem Bruder geerbte Kamera auspackte und Eloise Midgen, weil er erstens ihre Pickel nicht mochte und man auf Hufflepuffs sowieso verzichten konnte.
 

Zurück im Hinterzimmer sah er alle zehn Personen, die immer noch schlafend, in einer langen Reihe vor Potters Stuhl auf den Boden gelegt wurden. Snape hatte zusätzlich zu Marcus Belby und Professor Sinister noch Professor Trewlany, Owen Cauldwell und Zacharias Smith ausgewählt.
 

Voldemort nickte ihnen bestätigend zu und schloss die Tür hinter ihnen mit einem Wink seines Zauberstabes. Bellatrix, Rodolphus und Dracos Vater hatten zwar mittlerweile die Weinflaschen beiseite gestellt, beschäftigten ihre Hände jedoch stattdessen damit, Potter zu schlagen.
 

Als die Tür zufiel, stoppten sie und drehten sich um. Lucius, der Potter mit einer Hand am Kinn gepackt hatte, drehte sich zu den beiden um und lächelte. „Da seid ihr ja. Severus, wenn du so nett wärest und ihm jetzt seine Medizin geben würdest.“
 

Severus warf Voldemort einen fragenden Blick zu, doch der schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Erst danach. Wir wollen doch nicht, dass er uns während der folgenden Unterrichtsstunde einschläft.“ Er wandte sich zu den drei um Potter herumstehenden Personen um. „Kommt zu einem Ende. Wir wollen beginnen.“
 

„Einen Moment noch, Mylord.“ Lucius drehte sich zu Draco und grinste boshaft. „Potter und ich haben uns gerade über meine Pfauen unterhalten.“
 

Er drehte sich wieder um und ging vor Potter in die Knie, zog sein Kinn etwas nach unten, so dass er dem vor ihm knienden Lucius in die Augen sehen konnte. „Die waren verdammt teuer, weißt du? Selten und schwer zu kriegen.“ Er lächelte zuckersüß und nickte Bellatrix und Rodolphus zu, die ihm daraufhin mit voller Wucht in den Nacken schlugen.
 

„Willst du ihm auch noch etwas sagen, Draco?“
 

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, presste die Lippen zusammen und wich nach hinten zur Wand zurück. Es fiel ihm schwer zu atmen, wirklich schwer, als ob man ihm die Lungen mit einem sehr starren Korsett zusammengepresst hätte. Sein Magen schien zu fliegen und hätte er sich nicht abgestützt, wäre er vielleicht wegen seiner zitternden Beine eingeknickt.
 

Er hörte das Rascheln von Stoff und sah kurz darauf den unteren Teil von Voldemorts Robe, der sich von der Wand gelöst hatte und nun die am Boden liegenden Opfer umkreiste. Nacheinander blieb er vor jedem stehen, verharrte einen Moment und ging weiter, bis er beim ersten, Weasley, den man direkt vor Potters Füße gelegt hatte, stehen blieb.
 

„War irgendeine dieser Personen bei dem Angriff auf euer Haus beteiligt?“
 

Rodolphus, Bellatrix und Lucius tauschten fragende Blicke, sahen hinüber zu Snape, der sich zum Fenster hin weggedreht hatte und ebenfalls die Achseln zuckte.
 

„Ich weiß nicht genau, Vater“, begann Draco zögerlich. „Du weißt doch, als wir vom Manor aus nach Spinners End apparierten. Der, der sich für dich ausgegeben hat und den du ins Gesicht getreten hast. Weasley hatte am nächsten Tag etwas an der Nase.“
 

„So?“ Lucius stand wieder auf, schob sich an Bellatrix vorbei, genau genommen musste er sie zur Seite drängeln, und stellte sich neben Voldemort, der mit leicht gelangweilter Miene den am Boden liegenden Rothaarigen offenbar nach Anzeichen von Verletzungen begutachtete. „Ich sehe etwas“, kommentierte er kalt. „Ich sehe einen Kratzer an seiner Nase. Nun denn, Lucius…“
 

Er lächelte und trat beiseite, zurück zum Fenster, um Bellatrix und Rodolphus Platz zu machen, die neben Weasley in die Hocke gegangen waren und sein Gesicht, vor allem seine Narbe, von allen Seiten begutachteten. „Nun ich sehe auch etwas…Argh!“
 

Bellatrix warf sich zur Seite, als Lucius Fuß dicht an ihr vorbei auf Rons Nase herunter stieß. Etwas krachte und Draco kippte nach vorne, da ihm saure Magensäure den Hals hoch schwappte und zum Würgen brachte.
 

„Verdammt, Lucius. Meine Schuhe!“
 

Dracos Gesicht berührte fast den Boden. Er vermochte kaum, sich mit seinen Armen, die sich wie Pudding anfühlten, aus dem Erbrochenen herauszuheben. Er würgte immer noch, als er eine starke Hand an seinem Kragen fühlte, die ihn nach oben zog.

Eine andere, weiche Hand drückte sein Kinn nach oben und als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass Bellatrix ihn an sich presste und ihn anstrahlte, als ob heute Weihnachten wäre und sie gerade die Glocke zur Bescherung gehört hätte. „Ist er nicht überwältigend?“, flüsterte sie Draco mit atemloser Stimme zu und nickte in Richtung des dunklen Lords. „Das alles hier, tut er für uns. Sei dankbar, Draco.“
 

Hilfe suchend sah er sich zu seinem Vater um, der ihn jedoch nicht beachtete, sondern albern mit Rodolphus scherzte, während er sich Blutspritzer von seinen Schuhen mit Potters Hemd abwischte.
 

„Du siehst nicht glücklich aus, Severus!“, stellte Voldemort fest, der zu Snapes Fenster weitergegangen war und den ehemaligen Lehrer fest im Nacken gepackt hatte, um ihn zu zwingen, seinem Blick standzuhalten.
 

Eigenartig war die Ruhe, die Snape trotz allem immer noch ausstrahlte. Und der Mut. „Nun, Mylord, sie waren jahrelang meine Kollegen. Meine Schüler. Ich gestehe, ich bin nicht froh darüber, sie umzubringen.“
 

„Aber du wirst es tun?“
 

„Natürlich!“ Snape, der wegen Voldemorts Nackengriff leicht gebeugt stand, richtete sich wieder auf, nachdem die weiße Hand losgelassen hatte. „Der eure, bis in den Tod.“
 

Voldemorts Lächeln verblasste, stattdessen beugte er sich ein wenig weiter nach vorne und immer noch schien er Snape an Ort und Stelle festzubannen, obwohl er ihn gar nicht mehr berührte. „Bis in den Tod… bis in den Tod…“, wiederholte er nachdenklich. Dann kräuselten sich seine dünnen Lippen. „Ich sehe, wir verstehen uns. Fang an! Es soll mir egal sein, ob du es genießt oder nicht, solang du tust, was ich sage und mich nicht hintergehst.“
 

Snape, immer noch ruhig und beherrscht, hob seinen Zauberstab und folgte seinem Herrn.
 

Andererseits, so dachte Draco, ist er vielleicht auch nur so ruhig, weil es im Leben nichts mehr gibt, das er verlieren könnte. Nichts, das er fürchtete zu verlieren.

Draco verstand ihn ein wenig. Was immer Voldemort ihm auch androhen mochte, wie konnte es schlimmer sein als das, was jetzt aus Weasley wurde?
 

Snape weidete Weasley, Jones, Professor Sinister, Professor Trewlany und Owen Cauldwell aus. Dracos Aufgabe war es daraufhin, all die von Snape vorgeführten Flüche an Zacharias Smith, Antony Goldstein, Eloise Midgon, Marcus Belby und Dennis Creevey nachzumachen.
 

Das schlimmste war nicht der Tod der Personen an sich, sondern dass er die Personen, die im Raum lagen, nicht zufällig oder gegen seinen Willen ausgewählt hatte. Dass er das getan hatte, was Voldemort ihm befohlen hatte. Menschen auszusuchen, auf die er in einem dummen, panischen Moment dachte verzichten zu können.
 

Andererseits wuchs sein Verständnis für Snape mit jedem weiteren Schnitt, jedem weiteren gebrochenen Knochen und jedem weiteren Blutschwall, für den er verantwortlich war.
 

Irgendwann würde alles hier vorbei sein. Er diente seinem Herren und sein Vater verbesserte seine Position ebenfalls. Er musste nur noch etwas aushalten, dann würde er gehen dürfen. Nein, er verstand, warum Snape nicht um sein Leben fürchtete.
 

Nott hatte Glück gehabt.
 

So dachte er weiter an die Blumenwiese, die sein Haus eines Tages vielleicht umgeben würde, und gehorchte.
 

Man verwendete einen Reinigungszauber für die Leichen und Voldemort gelang es, sie äußerlich soweit wieder herzurichten, dass die vorher geprobten Flüche nicht mehr zu erkennen waren. Danach wurde Bellatrix erlaubt, allen, die dort lagen, in den Kopf zu schießen.
 

Man schickte eine Eule in die Schule, um sie vom Verbleib der Schüler zu unterrichten und begab sich nach Hause.
 

Xxx
 

Hermine rieb sich ihre schmerzenden Handgelenke und schloss die Augen. Ihre Augen brannten und sie hatte Kopfschmerzen. Sie legte den Kopf in den Nacken, gähnte und rutschte etwas tiefer in ihrem Sessel nach hinten. Die Beine hatte sie vor sich auf einem gepolsterten, mit rotem Samt bezogenen Hocker ausgestreckt.
 

Das Buch in ihren Händen klappte zu. Durch die geschlossenen Lider hindurch konnte sie die dumpf, rot glimmenden Punkte des Kronleuchters über ihrem Kopf ausmachen. Sie rieb sich ihre Arme und erwog aufzustehen, um eine der Decken zu holen, die in einem der Sessel gegenüber lagen, doch verwarf diese Idee wieder.
 

Ganz so kalt war ihr nicht und zudem war sie viel zu müde, um aufzustehen. Harry und Ron würden sowieso bald kommen. Sie drehte sich im Sessel und spähte über ihre Schulter zu der großen Standuhr, die hinten neben einem Tisch stand. Bald sieben. Hermine streckte ihren Arm aus um nach der Tasse zu greifen, die sie neben sich auf dem Boden abgestellt hatte. Im ersten Moment verbrannte sie sich die Finger, als sie die dampfende Schokolade darin berührte. Sie beugte sich über den Sesselrand, zog ihren Umhang über ihre Finger und griff nun, geschützt, erneut nach der Tasse, während sie die andere Hand zu einer Faust ballte und versuchte, das Brennen durch einen Heilspruch abklingen zu lassen.
 

Spätestens sieben, so hatten ihr die Jungs und Ginny versprochen, wollten sie zurück sein. Hermine lächelte und legte ihre Hände vor die Augen, da das prasselnde Feuer etwas rauchte und ihr dies in den Augen brannte. Oh ja, jetzt war es wirklich Zeit. Sie hatte Hunger und bald würde das große Festbankett beginnen.

Hermine streckte sich erneut und überlegte, was sie wohl am liebsten essen würde. Steak, Bratkartoffeln… das klang gut. Torte, ganz viel Torte… ja sicher. Sie nahm einen genüsslichen Schluck heißer Schokolade und seufzte wohlig.
 

Und dieses andere Ärgernis… nun ja, während ihrer „intimen“, gemeinsamen Stunden, als sie unter Kingsleys Aufsicht sechs Stunden, abzüglich Mittagessen, gemeinsam mit Draco nachsitzen durfte, hatte Draco es nicht ein einziges Mal gewagt sie anzusehen.

Er hatte sich langsam, schleppend und leise für seine „Belästigung“ im entschuldigt, Hermine hatte es sogar fertiggebracht, sich ebenfalls für den Crutiatusfluch zu entschuldigen. Das war aber auch alles, was sie miteinander gesprochen hatten.
 

Vielleicht, so dachte sie, ging es einfach nur darum, ihr zu zeigen, dass er sie noch genauso hasste wie eh und je. Dass sie nicht denken sollte, dass sich die Dinge geändert hätten oder dass er ihr gegenüber weich werden würde, nur weil sie ihn so verletzbar erlebt hatte.

Hermine wurde bei dem Wort „verletzbar“ übel, denn eigentlich war doch klar geworden, wer in diesem Moment der Verletzlichere von ihnen war, als er sich mit heiserer Stimme an ihr gerieben hatte.
 

Und doch, warum hatte er das getan? Vor allem, so schnell? Wie hatte er so schnell, nachdem sie sich Sekunden vorher annähernd freundschaftlich unterhalten hatten, umschalten können?

Sie würde jetzt nicht so weit gehen zu sagen, dass sie sich in der letzten Zeit gut verstanden hatten, aber immerhin war sein Verhalten ihr gegenüber das ganze Schuljahr bis jetzt eher distanziert gewesen. Eine echte Verbesserung im Vergleich zu vorher.
 

Er war sogar vorsichtiger gegenüber ihren Freunden gewesen, zweifellos aus Angst. Und seit dem Überfall auf das Manor, als sie ihn wie ein Häuflein Elend ins Schloss zurückschleichen gesehen hatte… seitdem war er… nun, ab und zu, wenn er sich vergewissert hatte, dass niemand zusah, hatte er sie angelächelt. Vielleicht nur, weil es sonst niemanden gab, der diese Dinge wusste. Möglich. Sicher nicht, weil er seine Meinung über sie geändert hatte.
 

Andererseits hatte Ron recht. Malfoy war ein Psychopath. Das war noch nicht einmal eine Beleidigung, es war eine Tatsache. Malfoy war so offensichtlich am Durchdrehen, wie es nur überhaupt möglich war. Also warum sollte er nicht in der einen Sekunde freundlich zu ihr sein und in der nächsten Versuchen sie zu…
 

Doch egal ob er nur mit ihr geredet hatte, weil sie seiner Meinung nach auf einer sozialen Stufe mit der maulenden Myrte stand, er war ehrlich gewesen. Ehrlicher, so kam es ihr vor, als bei den Provokationen am Morgen. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, gemütlich neben einem prasselnden Feuer zusammengekauert und mit einer Tasse heißer Schokolade in der Hand, dann konnte sie über darüber doch nur noch den Kopf schütteln. Er hatte ja regelrecht darum gebettelt, gefoltert zu werden. Warum? Man könnte glauben, dass er es darauf angelegt hatte, ihr den Ausflug nach Hogsmeade zu vereiteln.
 

Warum? Hermine kratzte durch den buschigen Haarschopf ihren Hinterkopf, streckte sich, und nahm einen weiteren Schluck Schokolade. Bestimmt nicht, weil er mit ihr alleine sein wollte. Er hatte heute knapp sechs Stunden neben ihr gesessen und sie nicht ein einziges Mal angesehen. Stattdessen hatte er geseufzt, gestöhnt und mit seiner Strafarbeit, einem Aufsatz zum Thema sexuelle Belästigung in der Schule, komplett überfordert gewirkt.
 

Sexuelle Belästigung. Der Becher in ihrer Hand wackelte gefährlich, sie schloss die Augen und versuchte, die in ihr aufsteigenden Bilder zu unterdrücken. Beinahe… beinahe…
 

„AU!“ Sie fuhr zusammen, krümmte sich und zog das von heißem Kakao durchweichte, dampfende Shirt von ihrer Brust weg. Der Schmerz, der auf ihrer Haut brannte, half dabei, den muffigen Geruch Greybacks, der ihr eben in die Nase gestiegen war, zu ignorieren. Zitternd, doch wieder fähig, sich zu bewegen, stand sie auf und ging zur Treppe, die zu den Mädchenschlafsälen führte.
 

Es war ja nicht so, dass sie darüber nicht nachgedacht hatte. Es war nicht schwer zu erraten, wer hinter dem Angriff auf die Winkelgasse steckte und da recht viele Todesser dort gewesen waren, erschien es schlicht logisch anzunehmen, dass Draco ebenfalls dabei gewesen war. Aber dass er sie gesehen hatte… dass er sie gesehen hatte und es wagte, ihr das zu sagen. Hermine schluckte und konnte kein Wort für das Gefühl finden, das sie bei diesem Gedanken empfand. Scham, sicherlich… Wut, ebenso. Doch tiefer, viel tiefer. Nicht einmal Harry, nicht einmal Ron hatten es gewagt, sie auf diesen Vorfall anzusprechen.
 

War das sein Plan gewesen? Ihr „näher“ zu kommen, um die Klinge umso tiefer in die taube, doch immer noch offene Wunde stoßen zu können? Nein. Hermine presste die Fäuste gegen die Augen und schüttelte den Kopf. Nicht nachdenken, alles, nur nicht nachdenken.
 

Es gab keinen Grund, Draco jemals wieder auch nur anzusehen. Die Schule würde irgendwann vorbei sein und dann, dann war das alles Geschichte. Wenn sie nicht daran dachte, wenn sie sich von ihm fern hielt, dass er sie nie wieder darauf ansprechen konnte, dann war es nicht wahr.
 

Wenn sie nicht darüber nachdachte, wenn sie nicht darüber sprach, dann musste es nicht wahr sein.
 

Ron verstand das. Ron… wie spät war es? Sicher bald sechs. Vorhin waren es noch zehn Minuten gewesen, sie musste wieder nach unten gehen.
 

Frisch umgezogen machte sie sich auf den Weg nach unten. Ein wenig böse war sie auf Ron schon. Harry und Ron wollten sich zur Mittagszeit dort mit anderen Personen treffen. Wo, hatten die Jungs weder ihr noch Ginny gesagt. Sie hatten gefragt, ob sie danach gleich zurück kommen sollten, um Hermine Gesellschaft zu leisten. Die hatte dankend abgelehnt und erwidert, dass sie so wenigstens noch ein paar entspannte Stunden zum Lernen hätte.
 

Trotzdem… warum musste Ron auf sie hören? Er hätte doch trotzdem um drei oder vier bereits zurückkommen können. Musste man diesem Jungen denn wirklich alles sagen? Wusste er denn nicht auch so, wie sehr sie ihn an ihrer Seite brauchte?
 

„Hermine…“
 

Hermine blieb stehen und sah zu dem Fuß der Wendeltreppe, wo Neville sie mit erstarrter Miene erwartete. Sie spähte über seine Schulter hinweg, denn sie wusste, dass er bei dem mittäglichen Treffen dabei gewesen war. Eventuell waren sie ja für den Rest des Tages zusammen geblieben?
 

Neville schwitzte, sie roch es. Er war blass und wirkte aufgekratzt. Aber nicht fröhlich aufgekratzt, sondern... irgendwie angespannt und betrübt.
 

„Sind Ron und die anderen auch zurück? Ich hab Hunger, gehen wir essen.“
 

Neville schluckte und schlang seine Arme um seine Schultern. „Es… es gibt heute Abend kein Festessen. Es fällt aus.“
 

Etwas sehr Kaltes, Schweres, Schmerzendes bohrte sich in Hermines Eingeweide. Nevilles Augen, als er wieder aufblickte. Es waren seine Augen…

„Es ist etwas passiert…“, begann er und schluckte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Hermine, die nun direkt vor ihm stand, konnte es sehen. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle schmerzte und sie sah eine Wimper in Nevilles Augen, die ihn sicher furchtbar störte, doch er wischte sie nicht weg.
 

„Ron…“
 

Er wollte noch etwas sagen, Hermine wusste es, doch sie hörte nicht mehr, was es war, denn kaum dass er den Namen ausgesprochen hatte, wurde er von der zur Tür stürmenden Hermine zur Seite gestoßen.
 

xxx
 

Hermine rannte so schnell sie konnte, sie stolperte, stieß an Wände, fiel Treppen herunter und doch spürte sie die Beulen, die blauen Flecken nicht, die sie sich dabei zuzog. Eiskalte Angst in ihr lähmte alles, was sie war.

Sie war in diesem Moment nichts, außer einer grauenhaften Ahnung. Ihre Schritte hallten durch die Korridore, doch sie hörte sie nicht, da all die Leute, die ihr in den Fluren den Weg versperrten, so laut redeten. Sie boxte, trat und schob sich durch Schülertrauben, rempelte Professor Flitwick um, sprang drei Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinunter und eilte, so schnell sie konnte, zur Krankenstation.
 

Sie hatte es ja gewusst. Sie hatte es in dem Moment gewusst, als sie Nevilles betretenes Gesicht gesehen hatte. Die Tür zur Krankenstation war nur angelehnt. Hermine rannte zur Tür, packte die Klinke und… blieb stehen.
 

Einen Moment noch gab sie sich. Einen Moment lang wollte sie glauben, dass alles gut war. Dass sie sich geirrt hatte, dass hinter dieser Tür nicht das Ende der Welt warten würde.
 

Sie zitterte, die Türklinke knarrte unter ihrem verkrampften Griff. Ihr war kalt, entsetzlich kalt und sie zitterte. Eiskaltes Blut wurde von ihrem Herzen zu ihrem Gehirn gepumpt, worauf die Botschaft an all ihre Glieder weitergeleitet wurde, gefühllos zu werden. Nicht gefühllos, wie unter einer Betäubung, eher so, als würde sie verschwinden. Als würde ihr ganzer Körper in diesem Moment zu Nichts werden.
 

Doch der Moment war vorbei. Sie hörte Madam Pomfreys aufgeregte Stimme die im schnellen Tempo irgendetwas von St. Mungo, Eltern und Kollegium faselte. Sie hörte, wenn sie sich nicht irrte, McGonagall weinen, Moody – wo kam der denn auf einmal her? - fluchen und Kingsley beruhigende Worte murmeln, die immer wieder von schrillem Geschrei unterbrochen wurden.
 

Sie öffnete die Tür und trat ein. In dem Bett neben der Tür lag jemand. Ein Mann in limonengrünem Umhang wuselte um ihn herum. Da die dort liegende Person sich aber heftig protestierend unter dem Griff des Heilers wand, beachtete Hermine sie nicht weiter, sondern starrte stur geradeaus, zum hinteren Teil des Raumes. Das, was vor ihr lag, unbewegt und still, forderte ihre ganze Aufmerksamkeit und nahm bereits all ihr Denken in Beschlag.
 

Sie hörte Menschen weinen. Sie hörte Menschen schreien und sie hörte aufgeregte Stimmen, die vor der Tür lärmten. Irgendetwas passierte um sie herum. Irgendjemand bewegte sich, rannte herum oder tat sonst etwas, doch sie merkte es nicht, denn all ihre im Moment zur Verfügung stehende Aufmerksamkeit wurde von den zehn Betten, jeweils fünf auf jeder Seite am Ende des Saals, in Anspruch genommen.
 

Zehn Betten, in denen Personen lagen, die nicht schrien, die sich nicht wehrten, die nicht wegrannten und für Hektik sorgten. Zehn Personen, die mit langen, weißen Leintüchern bedeckt waren. Tüchern, um ihre Gesichter zu verbergen.

Wie eine Schlafwandlerin ging Hermine durch den Mittelgang. Wie magisch angezogen konnte sie nicht anhalten. Sie sah nicht, was rechts und links passierte, sondern führte sich im Geiste wieder Nevilles Gesicht vor Augen und ging weiter.
 

Jemand packte sie, hielt ihr Handgelenk fest und wollte sie wegziehen. Hermine reagierte nicht, weil Schlafwandler die Welt um sich herum nun mal nicht so wahrnehmen, wie man es unter normalen Umständen würde. Alles, was sie wusste war, dass sie weitergehen musste.
 

Eulen flatterten um sie herum, über sie hinweg, streiften sie und der Griff um ihr Handgelenk wurde fester. Doch wie hätte sie das wahrnehmen können, wie hätte sie es hören, fühlen oder spüren können, jetzt, wo sie sah, dass rote Haare unter dem Laken der Person im ersten Bett durchschimmerten.
 

Die Welt endete.
 

Ron war tot.
 

„Nein!“
 

Das letzte, was sie sah, bevor sie endgültig zusammenbrach, war das bleiche, spitze Gesicht eines Jungen, der ihr gefolgt sein musste und sie von der Tür aus erleichtert anlächelte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Omama63
2012-06-23T11:36:42+00:00 23.06.2012 13:36
Ich weiß garnicht was ich schreiben soll.
Das ende fand ich so traurig.


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