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Nix Rubra

- Roter Schnee -
von

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Tiefe

A/N: Frohe Weihnachten nachträglich euch allen! Ich hoffe, ihr habt alle erfreuliche Feiertage hinter euch. Mit diesem Kapitel sind wir nun auch schon am Ende von ‚Nix Rubra‘ angekommen, und ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei allen Lesern, sowohl den schwarzen als auch den bunten, Favo-Listlern und Kommentatoren bedanken – vielen Dank! Ihr macht eine glückliche Dame alt. Oder so ähnlich. Nicht zu vergessen noch einen lieben Gruß an Hyoura, ich hoffe, dass dir dein Weihnachtsgeschenk gefällt, jetzt wo es in Gesamtheit fertig ist.

Sincerely, genek.
 

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Shirō klopfte zum zweiten Male behutsam mit den Fingerknöcheln gegen die Holztür und lauschte. Abgesehen vom stetigen Gluckern des Flusses, dem leisen Pritscheln von Schmelzwassertropfen, die vom Dach fielen und dem Gezwitscher einiger Vögel im Wald hörte er rein gar nichts. Er versuchte es erneut, diesmal deutlich energischer. Als fast eine Minute verstrichen war, überlegte er bereits, ob er die Tür einfach eintreten sollte, als er plötzlich von innen leise Fußtappser vernahm, dann, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, und schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit, gerade weit genug, um ein dunkles Auge in einem blassen Gesicht zu offenbaren, das nun durch den Spalt lugte.

Ja?“ fragte eine leise Frauenstimme auf Russisch.

Shirō zog mit einer fließenden Bewegung seinen True Cross Ausweis aus der Brusttasche seines Mantels und hielt ihm der Frau hin, ehe er seine rudimentären Russischkenntnisse zusammenkratzte und sagte: „Ich bin Exorzist vom Vatikan.

Eine blasse, schmale Hand schob sich durch den Türspalt, nahm den Ausweis vorsichtig entgegen und Shirō sah das dunkle Auge die Beschriftung eingehend mustern, ehe ihm das Dokument zurückgereicht wurde. Die Frau trat zurück und öffnete die Tür nun gänzlich.

Vor Shirō stand eine zierliche Person, die gute zwei Köpfe kleiner war als er selbst und dabei wohl erschreckend dünn, wenn man das eingefallene Gesicht so ansah. Von ihrem Körper konnte man nicht viel erkennen, da sie in eine übergroße graue Wolldecke eingewickelt war, die von ihren Schultern bis auf den Fußboden reichte und außer den Armen und dem Kopf nichts freigab. Ihre langen, weißblonden Haare wirkten dünn und drahtig, ihre Augen waren fast schon schwarz und unter ihnen lagen dunkle Schatten, die in der Blässe ihres Gesichts stark herausstanden.

„Kommen Sie doch herein“, jetzt auf Englisch, immer noch leise, immer noch abweisend.

Shirō trat an der Frau vorbei ins Haus.
 

Drinnen war es düster, durch die drei Fenster drang nur wenig Licht des schönen Tages draußen, das zusätzlich abnahm, als sich mit einem Klicken die Tür hinter ihm erneut schloss. Der Raum in dem sie standen hatte eine niedrige Decke, an der man noch die Holzbalken sehen konnte, die sie trugen, der Fußboden bestand aus unlasierten Bodendielen. Außer einem kleinen gusseisernen Ofen, in dem leise die brennenden Holzscheite knackten, stand noch ein Küchentisch mit vier Stühlen im Zimmer, an einer Wand zog sich eine Küchenzeile mit Schränken und einem altersschwach wirkendem , brummenden Kühlschrank, zu ihrer linken zweigten zwei geschlossene Türen ab, vermutlich zu Bade- und Schlafzimmer. Die Frau bedeutete Shirō, Platz zu nehmen. Er kam der Aufforderung nach und ließ sich auf einem der Stühle nieder, sie selbst blieb mitten im Raum stehen, bewusst Distanz zu ihm haltend.

„Was führt einen Exorzisten hierher?“ fragte sie schließlich und musterte Shirō abwartend.

„Ermittlungen, so zu sagen. Gestern gerieten meine Kameraden und ich nicht unweit von hier in einen Hinterhalt von Dämonen, und da dachte ich, ich sollte bei den Anwohnern nach dem Rechten sehen.“

„Hier ist alles in Ordnung, Danke für ihre Sorge und Bemühungen.“

Shirō nickte und ließ den Blick über das Interieur schweifen. Er blieb an der Garderobe links neben der Tür hängen.

„Sie leben hier mit ihrem Mann?“

Die Frau nickte.

„Könnte ich ihn sprechen?“

„Warum? Ich sagte doch bereits, dass bei uns alles in Ordnung ist.“

Shirō zuckte bemüht lässig mit den Schultern.

„Ich dachte nur, vielleicht hat er etwas mitbekommen, das uns weiterhelfen kann. Zwei meiner Kollegen sind bei diesem Einsatz schon ums Leben gekommen, es handelt sich also um eine ernste Angelegenheit.“

Einen Moment lang herrschte Stille, dann: „Das tut mir Leid für Sie.“

„Mir auch“, antwortete Shirō bitter. Ihm war, als würde er mit jedem Atemzug das zusätzliche Gewicht in seiner Brusttasche spüren.

„Antosha ist im Wald, Holz holen, er müsste aber bald wieder da sein“, antwortete die Frau und trat näher an den Tisch heran.

„Antosha“, wiederholte Shirō tonlos.
 

„Sag das nochmal.“

„Wieso, bist du neuerdings schwerhörig?“

„Wer, Raum?! Wer war es, der dich beschworen hat wenn nicht Gavril Sidorov?!“

Mephisto ließ alle Vorsicht außer Acht und überschritt die Bannkreislinie um Raum am Kragen zu packen.

Darauf hatte sein Gegenüber nur gewartet. Raums Bewegungen waren geschickt und präzise und mit einer einzigen schnellen Drehung hatte er sich aus Mephistos Griff gewunden und war einem Wirbel aus schwarzen Federn verschwunden. Mephisto fuhr fluchend herum, doch er konnte seinen vermaledeiten Bruder nicht entdecken. Schnelle Abgänge waren von jeher eine seiner Spezialitäten gewesen, dachte Mephisto grimmig. Er hätte nicht so dämlich sein dürfen, den Bannkreis zu durchbrechen. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Sidorov war also nicht der Beschwörer gewesen, er hatte ihnen nicht über Raum die Ghouls und den Naberius auf den Hals gehetzt. Und dennoch war Langley in seinem Haus gestorben und es war definitiv Langleys Schwert gewesen, das Sidorov den Tod gebracht hatte. Außerdem hatte Shirō ihm das Blatt Papier gezeigt, dass er in Sidorovs Hand gefunden hatte; es war eindeutig mit Beschwörungsriten für Dämonen beschrieben gewesen. Das wiederum ließ nur einen einzigen Schluss zu: Jemand hatte ganz bewusst allen Verdacht auf Sidorov lenken wollen und hatte dafür große Umstände auf sich genommen. Die Spur, der sie einmal nahezu im Kreis herum gefolgt waren, der Hinterhalt von Dämonen, die dort gar nicht sein durften – plötzlich machte es Sinn. Chekovs Bericht war nicht falsch gewesen, nur nicht mehr aktuell. Jemand hatte ganz speziell auf ihr Eintreffen in der Stadt reagiert und Raum zur Hilfe gerufen. Jemand, der bereit war, unschuldige Menschen zu töten, um die Schuld auf andere zu schieben. Jemand, der in der Lage war und das nötige Wissen besaß, einen Dämon wie Raum herbeizurufen. Jemand, der gefährlich war. Jemand, der immer noch frei herum lief.
 

„Shirō“, entfuhr es Mephisto. Er musste seinen Freund sofort finden, bevor dieser nichtsahnend in eine weitere Falle lief. Er war bereits im Begriff, aufs Geratewohl zurück in die Stadt zurückzukehren, als er hinter sich unerwartet eine vertraute, spöttische Stimme vernahm.

Den Teufel halte, wer ihn hält! Er wird ihn nicht so bald zum zweiten Male fangen.“ [1]

Mephisto drehte sich um und starrte finster in Richtung der Stimme. Raum saß betont lässig mit überschlagenen Beinen und auf die Hand gestütztem Kopf auf einem der unteren Äste einer kahlen Fichte und musterte ihn amüsiert.

„Du wirst auf deine alten Tage ja richtig unvorsichtig, Mephisto. Und das alles nur aus Sorge um einen Menschen?“

„Du solltest mich jetzt wirklich nicht reizen, Raum. Oder ich schwöre dir, dass ich dir bei unserer nächsten Begegnung jede verdammte Feder einzeln ausreiße“, knurrte Mephisto, ernsthaft verstimmt.

Raum hob beide Hände in einer demonstrativen Friedensgeste.

„Aber, aber nicht doch, wo denkst du hin? Ich und dich reizen? So etwas Dämliches käme mir niemals in den Sinn“, verkündete er, immer noch spöttisch. Und dann, plötzlich mit ernsthafter Stimme: „Ich sag dir, wer mich gerufen hat.“

Mephisto hob überrascht die Augenbrauen.

„Tatsächlich?“

„Ist immerhin auch in meinem Interesse. Sorge dafür, dass der Beschwörer über den Jordan geht und ich habe wieder meine Ruhe.“

Er beugte sich etwas vor, in seinen schwarzen Augen glomm ein undefinierbarer Schimmer.

„Geh und bestell‘ Antosha Morozov einen schönen Gruß von mir.“
 

„Dann ist Ihr Name Ilya, richtig?“

Die Frau erstarrte und blickte Shirō aus großen Augen an.

„Woher-“

„Ich habe Antosha in Mihailovs Wirtschaft getroffen als er gestern Vorräte abgeholt hat“, antwortete Shirō ruhig. Er sah, dass Ilya unbehaglich von einem Bein aufs andere trat, die Dielen knirschten.

„Verstehe.“

Shirō erhob sich und schritt gemächlich mit in den Manteltaschen versenkten Händen auf Ilya zu.

„Jaah, Mihailov hat uns erzählt, dass Sie schon seit Monaten krank wären und er sich Sorgen um Sie machen würde“, erklärte er gedehnt. Er stand nunmehr nur noch eine Armlänge von ihr entfernt. Er konnte sehen, wie sich unter der unförmigen Wolldecke jeder Muskel in ihrem Körper anspannte.

„Wissen Sie, ich bin Arzt, vielleicht kann ich ja helfen?“ bot er dann mit einem schiefen Lächeln an.

Etwas in ihren dunklen Augen verhärtete sich, sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern.

In diesem Moment hörten sie von draußen Schritte auf dem harschen Schnee. Ilya fuhr herum. Shirō blieb mitten im Raum stehen und fixierte seinen Blick auf die Tür.

Als Antosha eintrat und ihn erblickte, konnte Shirō sehen, wie sämtliche Farbe fluchtartig sein Gesicht verließ.

Guten Tag“, sagte Shirō höflich ehe er mit einer einzigen flüssigen Bewegung die Waffe zog und abdrückte.
 

Antosha reagierte eine Millisekunde zu langsam, die Kugel ging glatt durch seine rechte Schulter. Der Knall hallte im kleinen Zimmer wieder, gemischt mit Antoshas ersticktem Aufschrei. Ilya war mit einem Satz bei ihrem Mann und zog ihn an sich, redete schnell auf ihn ein in einer Sprache, die Shirō nicht beherrschte. Er senkte die Waffe keinen Millimeter, als ihm Antosha einen schmerz- und hasserfüllten Blick zu warf.

„Verdammter Exorzistenbastard, willst du mich umbringen?“ keuchte er.

Denn der HERR wird durchs Feuer richten und durch sein Schwert alles Fleisch; und der Getöteten des HERRN wird viel sein. [2] Amen“, gab Shirō nur trocken zur Antwort. Ilya war mittlerweile verstummt und beäugte ihn nur mehr mordlüstern, während aus Antoshas Wunde weiter Blut auf den Boden troff und dort eine kleine Lache bildete.

Shirō griff mit der linken Hand in die Brusttasche seines Mantels, zog ein goldglänzendes Abzeichen des True Cross Ordens identisch dem seinigen heraus und hielt es deutlich sichtbar hoch.

„Ihr habt zwei meiner Kameraden getötet und wärt beinahe damit durchgekommen“, sagte er kalt. „Ihr hättet aber dafür sorgen müssen, dass wirklich alle Spuren verschwinden und nicht etwas direkt vor eurer Haustür liegen bleibt.“

Er warf Antosha das Abzeichen vor die Füße. Dieser fluchte und richtete sich mühsam auf, wobei ihn Ilya stützen musste.

„Du hast doch überhaupt keine Ahnung von gar nichts!“ fauchte er, angestrengt den Schmerz unterdrückend, die linke Hand auf die rechte Schulter gepresst.

„Erleuchtet mich“, knurrte Shirō, provokativ.

„Ich habe nur versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen! Ich habe nur versucht, sie zu schützen! Wäre dieser verdammte Chekov nicht aufgetaucht, hätte all das nicht passieren müssen!“

„Sie beschützen?“ Shirō lachte heiser. „Das ist nicht mehr deine Frau, verdammt noch mal!“
 

Einen Moment lang folgte Stille, dann begann Ilya leise und haltlos zu kichern, ehe sie den Kopf schief legte und Shirō ein strahlendes Lächeln schenkte, das in dem eingefallenen Gesicht merkwürdig fehl am Platze wirkte.

„Bist du dir da sicher, Herr Exorzist?“

Ihre Stimme ließ Shirō einen Schauer über den Rücken laufen, doch er rührte sich kein Stück.

„Ich weiß, was du bist.“

„Dummer Junge, dann solltest du auch wissen, dass du nicht gewinnen kannst.“

Der Schlag traf ihn unerwartet hart und ließ ihn einige Meter durch die Luft fliegen, Shirō spürte die Wand schmerzhaft mit seinem vorgeschädigten Rücken kollidieren und zum zweiten Male innerhalb vierundzwanzig Stunden hatte er das Gefühl, als würde alle Luft aus seinen Lungen weichen. Viel Zeit sich zu sammeln blieb ihm nicht, denn Ilya, oder viel mehr das, was irgendwann einmal Ilya Morozov gewesen war, stand mit einem Male über ihm und trat ihm mit einer einzigen Bewegung die Waffe aus der Hand, ehe sie ihn ohne jegliche Mühe am Kragen auf Augenhöhe zog. Die Wolldecke war von ihren Schultern gerutscht und gab nun die Sicht auf einen ausgemergelten Körper frei, Shirō hätte jede Rippe und jeden Wirbel einzeln zählen können. Er fühlte ihren Atem auf seinem Gesicht, als sie ihm mit einem grauenvollen Grinsen zuflüsterte: „Weißt du, es war so eine furchtbare Verschwendung von Antosha, diese zwei Männer gestern einfach so da liegen zu lassen. Fleisch wird nicht besser, wenn es lange herumliegt, am besten schmeckt es immer noch frisch.“

Shirō wartete nicht auf weitere Kochtipps sondern zog mit Schwung sein Knie hoch und ließ es in ihren Bauch krachen. Der Griff um seine Schultern lockerte sich abrupt und er sprang auf. Er hörte das leise, vertraute Klicken und regierte mit langerprobten Reflexen. Die Kugel verfehlte seinen Kopf um Zentimeter und ließ stattdessen eins der Fenster unter ohrenbetäubendem Splittern zerbersten.

Shirō verlor keine Sekunde und sprang vorwärts, Antosha entgegen, der immer noch Shirōs Beretta in den leicht zitternden Händen hielt. Ein gezielter Schlag auf die rechte Schulter trieb ihm alle Farbe aus dem Gesicht und ließ ihn stöhnend zu Boden gehen. Shirō entwand ihm ohne viel Mühe seine Waffe und rannte zur Tür, ohne sich umzusehen.
 

Die klirrende Kälte traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als er den Pfad, den er gekommen war, wieder hinaufrannte. Er fühlte mit jedem Schritt seine zweifach in so kurzer Zeit misshandelten Knochen protestieren. Schließlich blieb er nach einigen Metern nach Luft schnappend stehen und warf einen Blick zurück. Es war ihm keiner der beiden gefolgt. Antosha würde mit dieser Verletzung erst mal genug zu tun haben, und Shirō hatte gesehen, was Ilya im Haus hielt. Klein und versteckt, aber für ein suchendes Auge sichtbar waren die Bannpentagramme in den Dachbalken und am Türstock gewesen, die garantieren sollten, dass der Dämon, der sich Ilyas Körpers bemächtigt hatte, nicht erneut ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichten konnte. Mit einem Male machte zumindest ein Teil der Geschichte Sinn. Die unregelmäßigen Abstände, das heterogene Opferprofil - Ilya hatte schlicht aus Hunger getötet, wer das unglaubliche Pech hatte, ihr zu begegnen, wenn sie sich befreit hatte. Spaziergänger wie Vadim Sidorov zum Beispiel. Und seinen Hund, fügte Shirō in Gedanken automatisch hinzu. Die Ziegen waren wohl ein Versuch Antoshas gewesen, den Hunger seiner Frau anders zu stillen.

Shirō seufzte und zog eine Zigarette aus der Packung in seiner Manteltasche. Er musste überlegen, wie er jetzt am besten vorgehen sollte. Auch wenn die Beiden im Moment nicht entkommen konnten, er sollte sie keineswegs aus den Augen lassen. Allerdings hatte hier mitten im Nirgendwo keine Möglichkeit, Verstärkung zu rufen. Er verfluchte die Tatsache, dass es keine handlichen portablen Mobilfunkgeräte gab und dass er Mephisto nicht gesagt hatte, wo er hingehen würde. So würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als entweder hier darauf zu warten, dass Mephisto ihn von selber fand oder aber zurück ins Haus zu gehen und zu versuchen, das, was in Ilya steckte, zu exorzieren. Für Antosha würde er sich schon was einfallen lassen.
 

Als er sich zum zweiten Male der nun offenstehenden Haustür näherte, diesmal die Waffe im Anschlag und auf alles vorbereitet, reichte ihm bereits ein Blick, dass irgendetwas nicht stimmte. Antosha lag reglos auf dem Boden vor den Fenstern auf der anderen Seite des Raumes, in seiner rechten Hand hielt er ein Messer. Shirōs Augen wanderten automatisch zum Fensterrahmen mit dem kleinen Pentagramm in der Ecke. Die Erkenntnis traf ihn im selben Moment wie der Schlag in die Nieren.

Shirō ging mit einem Japsen zu Boden, sein Gesicht versank im kalten Weiß, er fühlte seine Brille wegrutschen und schmeckte Blut. Der folgende heftige Tritt ließ ihn den leichten Abhang hinunterrollen, ohne dass er sich irgendwie zur Wehr hätte setzen können. Schmerz pulsierte durch seinen Körper in heißen, roten Wellen, und er hatte Mühe, seinen Blick zu fokussieren, als er schließlich zum Halt kam.

Ilya stand neben ihm, doch sie hatte sich verändert, nicht länger auch nur im Geringsten darauf angewiesen, den menschlichen Schein aufrecht zu erhalten. Über ihren hageren Körper zog sich weiß-graues, glänzendes kurzes Fell, von der Hüfte abwärts verformtem sich ihre Beine zu langen, grazilen Läufen, die in dunklen Hufen endeten. Das lange, raue weiße Haar fiel ihr ins Gesicht, vermochte aber nicht, die manisch glühenden schwarzen Augen völlig zu verdecken.

„Kelpie“, brachte Shirō hustend hervor.

Sein Gegenüber grinste triumphierend.

„Willkommen in meiner Welt, Pater.“

Dann trat sie erneut zu.
 

Im ersten Moment war ihm, als würde er von einer Billion spitzer Nadeln am gesamten Körper durchstochen. Die eisige Kälte des Wassers betäubte seine Sinne, raubte ihm den Atem, ließ jeden Gedanken im Keim ersticken. Nichts umgab ihn außer Eisigkeit und Schwärze, als der Kelpie ihn tiefer auf den Grund des Flusses zog. Shirō spürte den unglaublichen Druck des Wassers, wollte schreien, sich wehren, zurück zur hellen Oberfläche, die sich immer nur noch weiter entfernte, verschwamm vor seinen Augen.

Es hieß, dass das gesamte Leben wie ein Film vor einem ablief, wenn man starb. Shirō hatte sich schon oft genug am Rand des Todes befunden um dieses Gerücht widerlegen zu können. Er fühlte in diesen Momenten nur eines, Weigerung. Nein. Er wollte nicht sterben, er würde Langley und Chekov nicht ungerächt lassen, er würde diese Ausgeburt der Hölle nicht davon kommen lassen. Seine gefühlslosen Finger streiften glattes Fell, als er an der Hand, die ihn an der Kehle weiter nach unten drückte, vorbei griff. Er spürte hartes Metall, hatte kein Gefühl mehr für die elaborierten Verzierungen des Abzeichen, doch er wusste, es war da, umschloss es verzweifelt und stach blindlinks zu, bis er einen Widerstand spürte. Er riss den Dolch mit aller ihm gebliebener Kraft zur Seite. Ein plötzlicher Schwall von Wärme umgab ihn, ein ersticktes Gurgeln, dann wieder Stille.

Das Wasser würde den Schnee rot färben, war Shirōs letzter Gedanke, ehe ihn die Schwärze vollends verschluckte und er auf den Grund sank.
 

Es war unmöglich zu sagen, was er als erstes wahrnahm, als er langsam wieder zur Besinnung kam. Eine Flut von Eindrücken und Empfindung strömte auf sein noch schlafvernebeltes Hirn ein, die im starken Widerspruch zu den fragmentarischen Erinnerungen standen, die sich in seinem Bewusstsein regten. Ohne die Augen zu öffnen versuchte Shirō, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Er lag weich und warm. Seine gesamte linke Seite schmerzte und er spürte die Einengung von mehreren Schichten Verband auf seiner Haut. Seine Lunge fühlte sich rau an mit jedem Atemzug, als hätte man sie mit Sandpapier ausgerieben. An seinem linken Handrücken fühlte er das wohlbekannte leicht Unangenehme Ziepen eines Infusionseingangs. In seine Nase drang der ebenso wohlvertraute scharfe chemische Geruch von Desinfektionsmitteln. Außer einem konstanten leisen Gluckern und Summen hörte er nichts. Krankenhaus. Kein Wasser mehr, keine Kälte, kein Kelpie, der versuchte ihn auf den Grund des Flusses zu schleppen.

Shirō öffnete die Augen und starrte an eine schmucklose weiße Decke, leicht verschwommen ohne seine Brille. Er wendete vorsichtig den Kopf etwas, er befand sich in einem Einzelzimmer, zu seiner Linken war ein Fenster mit zugezogenen weißen Vorhängen, ihm gegenüber ein kleiner Schrank und eine Tür, die wahrscheinlich zum Badezimmer führte, zu seiner Rechten ein Nachtkästchen und weiter entfernt eine Tür zum Gang hinaus. Direkt über dem Türstock hin ein geschnitztes Holzkreuz, der Doppelbalken machte es leicht zu erkennen, wo er sich befand.

Shirō richtete sich vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter auf. Wie er gedacht hatte war fast sein gesamter Oberkörper dick bandagiert, ebenso wie die rechte Hand. Er hatte sich wohl an seinem eigenen Dolch geschnitten, als er den Kelpie verletzt hatte. Und genau dort setzte seine Erinnerung völlig aus. Er hatte den Widerstand gespürt, als die Waffe in den Hals des Wesens eingedrungen war, hatte gespürt, wie der Griff um seinen Hals sich gelockert hatte, aber danach? Shirō schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, wie um alles in der Welt er vom Grund des Flusses hierhergekommen war.
 

In diesem Moment wurde mit Schwung die Tür aufgerissen und Shirō fühlte sich mit einem Male in eine knochenbrecherische Umarmung gezogen.

„Sie leben noch! Himmel, ich bin ja so froh, Sie zu sehen!“

„Nicht– meine– Rippen–“ brachte Shirō mühsam hervor und sah bereits Punkte vor seinen Augen tanzen, schon wieder.

„Ah, entschuldigen Sie vielmals!“ Beljajew ließ ihn sofort los und trat einen Schritt zurück, immer noch strahlend.

Shirō hustete etwas und besah sich sein Gegenüber eingehend. Dieser trug einen dunkelgrauen Jogginganzug, bei dem der linke Ärmel abgetrennt war, denn sein Arm war bis zur Schulter hoch bandagiert.

„Oh, das, das ist nur ein Kratzer, machen Sie sich mal keine Gedanken.“

Beljajew war seinem Blick gefolgt und bewegte zum Beweis die ebenfalls verbundenen Finger.

„Viel wichtiger ist, wie geht es Ihnen?“

„Habe mich nie besser gefühlt“, antwortete Shirō amüsiert und rieb sich die schmerzende Seite. Wenn der verdammte Kelpie ihm nicht die Rippen gebrochen hatte, dann hatte das mit Sicherheit Beljajew soeben erledigt. Und dennoch fühlte er das warme Gefühl von Erleichterung seinen Körper durchfluten.

„Sag mal, wie bin ich überhaupt hierhergekommen?“ fragte er dann.

Beljajew setzte zu einer Antwort an, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte und offensichtlich fester zudrückte als nötig.

„Der Arzt meinte, der Patient braucht Ruhe, Beljajew. Nichts gegen dich persönlich, aber du bist so ziemlich das genaue Gegenteil von Ruhe.“

Beljajew lachte nur, offenkundig an solche Äußerungen bereits gewohnt, verabschiedete sich mit einem „Naja, dann bis später!“ und einem spöttischen Salut und verließ das Zimmer. Mephisto schloss mit einem enervierten Seufzen die Tür hinter ihm.

„Mit Nikita Beljajew im Wartezimmer auf die Untersuchungsergebnisse warten, das waren mit Abstand die längsten und nervigsten zweieinhalb Stunden meines Lebens“, verkündete er dann.

„Quark.“
 

Mephisto strich sorgfältig sein karmesinrotes Cape glatt und ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder.

„Du kannst einem wirklich ganz schön Sorgen machen, Shirō, weißt du das?“

„Dann habe ich mein Nicht-Ertrinken wohl dir zu verdanken?“

„Absolut und natürlich, und lass dir versichert sein, dass ich eigentlich kein Freund von Wasser bin, das ist mehr so Egyns Fall. Und für diese großherzige Tat meinerseits wirst du bis an dein Lebensende in meiner Schuld stehen und diese bei mir abarbeiten“, versicherte Mephisto ihm ernsthaft.

„Danke.“

„Gerne und jederzeit wieder.“

Für einen kurzen Moment schwiegen sie beide einvernehmlich.

„Woher wusstest du, wo ich war?“ fragte Shirō dann.

Mephisto verzog das Gesicht.

„Raum hat es mir gesagt. Jetzt stehe ich pro forma auch noch bei ihm in der Kreide, und glaub mir, jemand wie er vergisst das nicht.“

„Raum?“ fragte Shirō irritiert. „Wie Dämonenfürst Raum, König der Krähen Raum?“

„Genau der. Und wenn du seinen Namen fünfmal wiederholst wird’s auch nicht besser“, gab Mephisto verstimmt zur Antwort. „Offenbar hat Antosha ihn beschworen, um uns Ghouls und Naberius auf den Hals zu hetzen. Oh, und um sein Dach neu eindecken zu lassen. Ich glaube, ihm war gar nicht ganz klar, wen er da eigentlich gerufen hat.“

Shirō nickte, damit war ihm das letzte Puzzleteil klar geworden. Wie er bereits vermutet hatte war alles nur Ablenkungstaktik gewesen. Eine Ablenkungstaktik mit hoher Opferzahl allerdings.

„Ich fasse es immer noch nicht so ganz, dass es nur ein einzelner Kelpie und ein Mensch waren, die uns so zum Narren gehalten haben“, schnaubte Mephisto und lehnte sich auf aufgestützten Ellbogen zurück.

„Antosha war wohl überzeugt, dass seine Frau immer noch am Leben war, besessen oder nicht, und hat einfach alles getan, um sie zu beschützen. Liebe kann merkwürdige Wege gehen“, antworte Shirō nachdenklich, ehe er die entscheidende Frage stellte: „Was ist mit den Beiden?“

„Beim Kelpie hast du ganze Arbeit geleistet, Shirō, meine Hochachtung. Ich dachte ja immer, du trägst das Teil aus Zierde, ich hätte nicht gedacht, dass du damit Leute umbringen kannst“, Shirō zuckte bei dieser Bemerkung unwillkürlich zusammen, „und was Antosha angeht – nachdem er das Bannpentagramm gelockert hat, hat sie ihn offenbar getötet. Gab keinen Grund mehr für sie, sich von ihm bevormunden zu lassen.“

Shirō schwieg daraufhin einige Sekunden, ehe er sagte: „Eine traurige Geschichte.“ Er meinte es ehrlich.

Mephisto zuckte mit den Achseln.

„Sind sie das nicht immer?“
 

Shirō seufzte.

„Ich bräuchte jetzt wirklich dringend ‘ne Zigarette. Aber ich wette, die liegen noch am Grund des Flusses, huh?“

„Hier drin ist eh Rauchverbot, Shirō.“

„Als ob du dich auch nur einen Deut um Regeln scheren würdest, Mephisto.“

Angesprochener grinste nur süffisant. Shirō musterte seinen Freund, und plötzlich fiel ihm etwas ein, das Mephisto sehr viel früher an diesem Tag gesagt hatte, was aber aufgrund seiner düsteren Gemütsverfassung zu diesem Zeitpunkt nicht zu ihm durchgedrungen war.

„Sag mal, was waren das eigentlich für ominöse Umstände wegen denen du erst heute in die Stadt zurückgekommen bist?“

Mephistos Grinsen gefror und er schien mehr als unwillig, die Frage zu beantworten. Umso mehr Grund für Shirō, vehement nachzubohren.

„Also?“

Mephisto seufzte, dann: „Paladin.“

„Geht das auch noch etwas ausführlicher?“

„Der hochverehrte und über alle Maßen erhabene und exquisite Herr Paladin des ruhmreichen und hochheiligen, gottbefohlenen True-“

Shirō verpasste ihm einen Tritt vors Schienbein. Mephisto schnaubte gelinde amüsiert.

„Unser werter Herr Paladin hat die Akademie inspiziert, das ist los.“

Shirō war verwirrt.

„Wie, heute?“

„Nein, schon seit vorgestern.“

„Vorge-“, Shirō stockte. „Moment mal, du bis vorgestern zu mir gekommen und hast gemeint, du hättest sowieso nichts zu tun!“

Mephisto verzog das Gesicht.

„Ich kann den Kerl nicht ab, Shirō, und war um jede Ausrede froh, ihm aus dem Weg zu gehen. Hätte auch prima geklappt, hätten sie mich nicht bei Beljajews Einlieferung erkannt. Er war nicht unbedingt erfreut.“

Shirō blieb einen Moment lang völlig perplex sitzen. Dann brach er lauthals in Gelächter aus, dass ihm die Rippen nur so schmerzten.

„Du bist absolut und völlig unmöglich, Mephisto.“

„Gerne und jederzeit wieder.“
 

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- FINIS -
 

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[1] Johann Wolfgang von Goethe – Faust I. Jaah, ich weiß. Jaah, es ist mir egal.

[2] Jesaja 66,16



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Vanilla_Coffee
2011-12-28T09:24:07+00:00 28.12.2011 10:24
*das letzte Kappi verschlungen hat*
Hui alles sehr schön aufgeklärt am Ende^^ Ich bin echt total begeistert von dieser FF und dein Schreibstil gefällt mir sau gut^^
Also zuerst hab ich ja echt mitgelitten mit Shiro, aber am Ende kann er einem echt nur noch leid tun XD Was er manchmal alles durchmachen muss wegen Mephisto XD
Aber schade, dass schon Ende ist :(
Hätte mir noch mehr davon gewünscht von dir^^

LG
Amalia
Von:  Raishyra
2011-12-28T08:59:10+00:00 28.12.2011 09:59
Ein super Ende.^^


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