Der Wald
Schon immer hatte sie den Umweg durch den Wald der viel befahrenen Hauptstraße vorgezogen.
Sie mochte die Luft. Den Geruch von Geborgenheit, den Wilder Holunder und Kiefernzapfen verströmten.
Im Vorbeigehen streiften ihre Finger über Baumstämme. Manchmal würden sie ein Rindenstück abbrechen und es zerbröseln. Es war faszinierend, wie etwas Kantiges in so feines Pulver zerfiel.
Es knackte im Gebüsch zur linken. Sie blieb stehen. Ein Reh brach zwischen den Zweigen hervor und setzte in einem Sprung über den Weg hinweg. Es beachtete sie nicht; ihr kam vor, als hätte das Tier sie nicht einmal bemerkt.
Der Weg stieg an und wand sich eine Kuppe hinauf. Zwischen den Stämmen sickerte erstes Morgenlicht hindurch. Sie hielt ihr Gesicht ins Gold, aber es wärmte nicht. Das Jahr war schon zu weit fortgeschritten und der Sonne fehlte die Kraft.
Die Kiefern wichen zurück und sie trat zwischen silbernen Stämmen hindurch. Lauschte dem Rascheln der Blätter, die sich unter ihren Tritten Geschichten erzählten, von Zeiten, in denen sie noch auf den höchsten Zweigen wuchsen.
Sie vergrub die Hände fröstelnd in den Jackentaschen. Vielleicht sollte sie sich beeilen. Sie spähte auf die Uhr. Nein, wozu – der Bus würde auch nicht früher kommen.
Ein merkwürdiger Geruch stieg in ihre Nase. Moder, faule Eier und doch zu süß, zu harzig, zu sehr Wald.
Ihre Schritte beschleunigten sich. Ein Kribbeln glitt von ihrem Nacken die Wirbelsäule hinab in die Fingerspitzen und wärmte sie. Sie schloss die Augen und folgte blind dem Duft. Nur die Hände hielt sie nach vorn gestreckt, um nicht unversehens gegen einen Baum zu stoßen. Sie war wieder acht und auf der Suche nach dem Abenteuer, das doch hier irgendwo auf sie warten musste. Sie hatte es nie gefunden, aber vielleicht heute.
Ein bisschen außer Atem hielt sie inne, strich eine Strähne hinters Ohr und blickte sich um.
Ein gelbschwarz geflecktes Heer hatte die Laubschicht durchstoßen und reckte triumphierend die Kappen ins Morgenlicht.
Pilze.
Sie musste lächeln.