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Stray

von

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Dunkle Gassen voller Sterne

Vorwort: Vor 6 Jahren entstand mein Original „I Stray“, dem ich ganze zwei Jahre widmete, und 7 Kapitel á 30 Seiten, von denen ich leider nur 6 veröffentlichte, da ich kurz vor Beendigung des siebten massive Umwälzungen in meinem Privatleben erfuhr, die mich davon abhielten, weiterzuschreiben; und so geriet das ganze in Vergessenheit, wenn ich auch brav die Dateien vom alten auf den neuen PC rettete. Mein Animexx-Account verfiel, und von meinem eine-Person-Fanclub hörte ich nie wieder, was mir bis heute sehr leid tut. Falls du noch hier angemeldet bist und dies lesen solltest: Verzeih! Dies alles hier widme ich auch dir.

Jetzt, nach mehr als drei Jahren, ist es, als wäre ich aus einem langen Schlaf erwacht; ich hatte mich verloren, und beginne gerade, mich langsam zurückzugewinnen. Mehr aus einer Laune heraus hatte ich die alten Dateien wieder geöffnet, und seitdem ist es mir, als sei etwas zu mir zurückgekehrt, was ich verloren hatte – mehr noch als diese Geschichte; alles, was ich damals war, und alles, was ich damals sein wollte, steht mir auf einmal wieder offen.

Nun, endlich, möchte ich diese Geschichte fortsetzen, weil sie mir sehr am Herzen liegt – nicht nur für mich, auch für andere, in der Hoffnung, dass ich ihnen etwas von dem Licht geben kann, das in mir neuentzündet wurde...sei es auch nur für einen kurzen Moment.

Einige Passagen wurden von mir überarbeitet; Formulierungen, die mir unbeholfen erschienen, geändert; einige Namen und Nationalitäten wurden angepasst, und es wird einige wenige zusätzliche Szenen geben.

Außerdem werden ab Kapitel 8 auch andere Charaktere als die Brüder die Position des Erzählers einnehmen; zunächst Protagonisten wie Fuchs; dies ist der wachsenden Komplexität der Handlung geschuldet. Für Nebenhandlungen bleiben Zwischenspiele vorbehalten. Und ja, es wird endlich zu lemon kommen! ;)

Da die ersten 7 Kapitel jedoch großer Teil meines Lebens sind, sind die Veränderungen in diesen minimal.
 

Ich danke meiner Muse (meinem Mus?) Chrissi – ohne dich wäre dies wahrscheinlich nie zu neuem Leben erwacht :) Du beflügelst mich zu Dingen, die ich seit Jahren in mir verloren glaubte. Das ist ein Talent, bewahr es dir! <3
 

Für Chrissi und Lia.
 

Stray
 

Vol. 1: Dunkle Gassen voller Sterne
 

Ich, in die Schönheit dieser Welt verliebt,

Beschenke sie mit meiner eignen Schöne.

Die Welt ist ohne Abgrund. Strömend gibt

Mein Herz sich aus. Ich bin nur Lied: Ich töne.

- aus: Josef Weinheber: Kammermusik
 

Ich hatte nicht wirklich ein Ziel. Ich ging nur so durch die Straßen; allein, vom Licht der Straßenlaternen immer mal wieder in Helligkeit getaucht.

Manche mochten sagen, das sei schiere Verrücktheit von mir, aber ich hatte keine Angst - wovor auch? Der größte Teil der Innenstadt war verlassen; selbst der Teil, der dicht am Hafen lag und durch den ich jetzt schlenderte, auf dem löchrigen Asphalt, war nicht mehr gefährlich seit all die Menschen in besser erhaltene Gegenden gezogen waren. Ich machte mir nichts vor: Diese Stadt starb. Es würde nicht lange dauern, bis auch wir gehen würden; mein Bruder und ich. Er hatte schon seit längerem diesen Plan.

Wir wollten zu Freunden außerhalb ziehen, in einer anderen Stadt, in der wir bessere Chancen hatten; ich hatte sie noch nie getroffen. Es musste etwas zwischen ihnen vorgefallen sein, ehe mein Bruder und ich uns vor zwei, bald drei Monaten hier getroffen hatten, ehe ich von seiner Existenz gewusst hatte.

Er war nicht mein richtiger Bruder; nun ja, wir hatten die gleiche Mutter. Er war, nachdem er seine Freunde verlassen hatte, zu seinem Paten gegangen, einem alten Freund unserer Mutter, im Norden des Landes - in der Stadt, in der unsere Mutter begraben war. Dort erst hatte er, nach mehr als zwanzig Jahren, von dem verbitterten alten Mann erfahren, dass sein Vater unsere Mutter verlassen und meinen Bruder alleine aufgezogen hatte, als er erfahren hatte, dass sie ihn mit einem anderen Mann betrog – das war mein Vater.

Nachdem mein Bruder also gehört hatte, dass meine Mutter - unsere Mutter - einen zweiten Sohn geboren hatte, hatte er sich sofort mit den Informationen, die er hatte, auf die Suche nach mir gemacht; und mich schließlich gefunden – wie ein Raubtier die Beute hatte er mich aufgespürt, und ich war so unendlich dankbar, denn wenn er mich nicht aufgegriffen hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier, um meine Geschichte zu erzählen.

Es war nirgends sicher für mich, auf mich alleine gestellt. Aber was machte das hier schon? Hier würde mir gewiss niemand etwas tun, weil in dieser Gegend fast nichts lebte außer den Ratten.

Ich war nicht etwa nachts unterwegs, weil ich meinem großen Bruder aus dem Weg gehen wollte; ich mochte ihn, sogar sehr, aber manchmal musste ich einfach alleine sein. Ich hatte das Gefühl, als suchte ich nach etwas, das ich noch nie besessen hatte. Irgendwo musste es schließlich sein. Ich konnte dieses Drängen in mir nicht beschreiben.

Mein Bruder - Sakuya - , er ließ mir meine Freiheit, auch wenn er sich Sorgen um mich machte, ich konnte es in seinen tiefen grauen Augen sehen, mit denen er mich manchmal auf eine so vertraute Art ansah, als blicke ich in einen Spiegel, auch wenn er mir kaum ähnlich sah, so fand ich. Wir beide hatten das blasse, aristokratische Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den gleichen schlanken Körperbau, der bei Sakuya allerdings viel muskulöser war, geschmeidiger. Wir hatten die großen Augen mit den dichten Wimpern sowie das fein geschnittene Gesicht von unserer Mutter geerbt; so sagte er.

Allerdings während er, schwarzhaarig und mit stechendem Blick, schnell war, sich und mich durchaus zu verteidigen wusste - woher er so erfahren war, das wollte er mir nicht sagen - und trotz seines katzenhaft anmutigen Äußeren innerlich hart wie Stahl sein konnte, war ich...Nun.

Ich war schmal für mein Alter; wo Sakuya sein rabenschwarzes, glattes Haar am Hinterkopf zusammengebunden hatte, fiel mir meins rötlichbraun ins Gesicht, und mein Blick war nicht wie seiner durchdringend-grau, sondern braun, tief, und immer fragend, was ich hasste. Neben meinem Bruder sah ich noch jünger aus, als ich es schon war.

Mein Name ist Jamie, und in dieser Nacht wanderte ich allein durch die schneelosen Straßen meiner verlassenen Heimatstadt. Das Haar fiel mir wirr ins Gesicht, und meine Fingerspitzen froren in den schwarzen Halbhandschuhen. Meine abgetragene Lederjacke, die mir fast zu groß war, schützte mich zuverlässig vor dem Märzwind.

Ich spürte, wie die kalte Luft in meine Lungen strömte; es gibt für mich keinen schöneren Duft als den der Luft in einer kalten Nacht oder nach einem schweren Sommergewitter. Vielleicht hatte ich mich deshalb bei Sakuya gleich so geborgen gefühlt. Sakuya roch nach Regen und nassem Laub.

Wir wollten also die Stadt verlassen; vielleicht noch in dieser Woche. Ich wusste nicht, ob mich das traurig stimmte. Immerhin war das hier meine Heimat; aber überall war es besser als hier.

Es musste Saku wirklich wichtig sein, wenn er zu seinen Freunden zurückkehren wollte. Vielleicht sehnte er sich auch nach ihnen zurück. Ich wusste, dass er sehr eng mit ihnen verbunden gewesen war und es immer noch war. Aber es musste irgend etwas passiert sein; ein Streit, ich wusste es nicht. Er wollte nicht darüber reden, und ich sprach ihn nicht darauf an. Jedenfalls war er fortgegangen.

Er vermisste sie, selbst ein Blinder würde das sehen. Wie fühlt sich das an, sich selbst aus der Mitte derer zu reißen, die man liebt?

Möglicherweise hatte er deshalb diesen starken Beschützerinstinkt mir gegenüber entwickelt. Ich war das einzige lebende Familienmitglied, von dem wir wussten; und der einzige, den er im Moment hatte.

Er hatte sicher Heimweh. Jeder verlor sich an diesem grauen, kalten Ort. Es war besser, wenn wir zurückgingen.

Dennoch hatte ich eine kranke Faszination für diese Stadt entwickelt, nachdem ich meine Angst vor ihr überwunden hatte. In den hohen, leeren Häuserschluchten umherzustreifen, die jetzt nur in das graue Zwielicht der wenigen flackernden Laternen und hier und da das Glühen eines Fernsehers getaucht waren, wie die einzige Figur auf der Leinwand eines suizidgefährdeten Malers - wie eine schwarze Katze schlich ich durch die Gassen; wie ein streunender Kater in den Eingeweiden der komatösen City.

Hier am Hafen gab es viele solcher Tiere; ich liebte sie. Oft wünschte ich, ich hätte ein Stück Fleisch oder Fisch für sie dabei, aber das hatte ich nie; und ich wäre ohnehin nicht in den Genuss gekommen, sie zu mir heranlocken zu können, denn sie flohen jedes Mal auf ihren sehnigen Beinen vor mir, wenn ich wie ein bleicher Geist aus einer Gasse auftauchte, so dass ich meistens nur noch ihre zerrupften, ausgemergelten Körper im Dunkel verschwinden sah.

Ich sollte vielleicht wirklich zurückkehren, dachte ich mir, während ich unter einer der funktionierenden Laternen stehen blieb. Ich fror langsam wirklich, denn unter meiner Jacke trug ich nur ein dünnes T-Shirt, und das war zu wenig für eine normale Märznacht.

Ja, ich sollte umdrehen, damit Sakuya nicht anfing, durch die Straßen zu streunen wie ein verlassener Wolf - denn etwas Wolfsgleiches hatte er manchmal an sich; seine Bewegungen, seine Blicke - und mich zu suchen. Er konnte sehr stur sein, und in Sachen vernünftiger Argumentation war er mir haushoch überlegen mit seinem kühlen Verstand.

Und ich wollte auch nicht mehr weiter herumlaufen in dieser Nacht. Obwohl die Wohnung, die wir uns teilten, nur aus zwei Zimmern bestand, und wir uns jede Nacht damit abwechselten, wer im Bett schlief und wer auf der rohen Matratze - oft nicht einmal das, weil es nachts mitunter so kalt wurde, dass wir uns so eng wie möglich aneinanderdrängen musste, um uns warmzuhalten - , gefiel es mir doch dort; eben weil Sakuya da war. Ich liebte ihn über alles, nicht nur weil er mein einziger überlebender Verwandter war - obwohl wir uns unser Leben lang nie gesehen hatten, fühlte ich mich so vertraut mit ihm. Saku konnte sich nicht an mich erinnern, aber er war bei meiner Geburt schließlich auch erst ein Kind gewesen, und hatte mich wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen; fraglich, ob sein Vater überhaupt vom zweiten Kind seiner Exfrau gewusst hatte. Unsere Eltern waren jetzt lange schon tot; sein Vater war gestorben, als Sakuya neun gewesen war, und unsere Mutter kurz nach meiner Geburt, so hatte man es mir erzählt. Meinen Vater hatte ich nicht mehr kennengelernt.

Soweit ich wusste, hatte Sakuya seitdem alleine gelebt, bis auf die letzten Jahre mit seinen Freunden, über die er mir noch nichts erzählt hatte.

Ich wollte zurück. Mir war kalt, und ich wollte wieder zu Saku; ich wollte, dass er mich mit seinem ruhigen Blick ansah, dass er mich in den Arm nahm und mir versprach, dass er mich beschützen werde. Er war ja der einzige, den ich hatte, und ich wollte nicht, dass er je wieder ging. Er war der einzige Mensch, der mich jemals wirklich verstanden hatte.

Ich wollte mich schon wieder umwenden, als ich auf einmal außerhalb meiner kleinen lichten Kuppel, auf der anderen Seite der Straße, eine Gestalt sitzen sah.

Auf der anderen Straßenseite, so wusste ich, war das Hafenbecken; jetzt verlassen, trübe und schwarz schwappte das eisige Wasser gegen den zerbröckelnden Kai und beklagte dumpf in der Nacht gluckernd sein Elend.

Wer immer das war; er musste auf der Kaimauer sitzen. Ich weiß nicht, warum er mir ins Auge fiel; vielleicht einfach wegen der Tatsache, dass er in meinem ruhelosen Blick aussah wie ein gefallener Engel, ein Wesen, das wie ich die Einsamkeit der Nacht suchte und in seinen Gedanken gefangen war wie in einem kalten, klebrigen Spinnennetz. Ich wusste, wie es sich anfühlte, allein zu sein. Mir schien, als könne ich die Kälte aus diesem Herzen bis hierher spüren, wo ich mit schräggelegtem Kopf stand.

Ich trat aus dem Lichtkreis, und nachdem sich meine Augen angepasst hatten, konnte ich ihn besser erkennen.
 

Er saß mit dem Rücken zu mir; die Arme um die Knie geschlungen; rechts neben einem verrosteten Poller. Seine Haare waren hellblond, fast weiß, und als ich leise näher trat, schloss ich, dass er nicht viel älter sein konnte als ich. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit Kapuze, seine weichen Haare waren feiner als meine und fielen ihm fedrig auf die Schultern. Das Licht brach sich samtig schimmernd darauf wie auf dem daunenweichen Fell von jungen Tieren.

Er bemerkte mich nicht, aber eine schwarze Straßenkatze rieb sich an seiner Seite. Ihr räudiges Fell zuckte; doch sie schnurrte, obwohl sie angespannt blieb; bereit, jeden Moment zu fliehen. Aber sie mochte seine Nähe. Vielleicht hatte sie früher einmal Menschen gehabt, die sich um sie gekümmert haben.

Er bemerkte mich gar nicht; er schien geradeaus in das schwarze Wasser zu starren. Irgendwie sah er so unglaublich allein aus.

Ich kam näher, vorsichtig und leise. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn stören durfte. Aber ich wollte ihn nicht so verlassen am Hafenbecken sitzen bleiben sehen. Als die Katze mich bemerkte, starrte sie mich aus reflektierenden Augen an und verschwand dann mit einem Satz in der Nacht.

Der Junge rührte sich nicht, aber ich wusste, dass er mich spätestens jetzt bemerkt hatte.

“Hallo...” Ich ließ mich schüchtern etwa einen halben Meter neben ihm nieder.

“Hallo.” Er antwortete leise, ohne aufzusehen; er starrte nur weiter in das tiefe schwarze Wasser.

Ich sah ihn eine Weile von der Seite an. Sein Gesicht war sehr blass, blasser als meines; fast weiß; und die dunkel gewordenen Augen wirkten müde und ängstlich. Jetzt, von Nahem, erkannte ich feine asiatische Gesichtszüge; ein wenig erinnerte er mich an meinen Bruder, dessen Vater Halbjapaner gewesen war, doch die Augen des fremden Jungen waren dunkler, sein Gesicht nicht so markant. Ich schloss daher, dass seine Haare gefärbt waren.

Er konnte wirklich nicht älter sein als ich, aber in seinem Blick lag eine tiefe Verbitterung, die ich nicht kannte. Er hatte die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und das Kinn darauf gestützt. Es sah so aus, als ob er schon eine ganze Weile so dasaß.

“Ist alles in Ordnung? Kann ich dir irgendwie helfen?” Meine eigene Stimme klang so schrecklich aufgesetzt in meinen Ohren. Er antwortete nicht gleich.

“Nichts ist in Ordnung, und wenn du kein von irgendeinem Himmel gesandter Engel bist, wirst du mir auch nicht helfen können.” Er hatte eine sehr sanfte, klare Stimme; jetzt aber klang sie mutlos und schwach.

Er tat mir so Leid in seinem stillen Elend.

Ich versuchte, ihn zu trösten, so gut ich konnte; ich wusste zwar nicht, was es war, dass ihn so bedrückte, aber mir selber halfen ein paar freundliche Worte immer, wenn es mir schlecht ging. “So schlimm ist es bestimmt nicht, was immer es ist. Wenn ich etwas begriffen habe in der letzten Zeit, dann, das es nie zu spät ist, zu hoffen. Es wird bestimmt alles wieder gut, keine Angst. Solange man am Leben ist, ist noch nichts verloren.”

Das Wasser schwappte traurig gegen die Mauer unter uns, und ich war verstört, als der fremde Junge plötzlich anfing zu weinen und das blasse Gesicht in den Händen vergrub.

“Nein, wein bitte nicht, ich wollte nichts Falsches sagen!”, meinte ich verzweifelt, aber er schluchzte nur erstickt. Erschrocken legte ich die Arme um ihn und zog ihn an mich, um ihn irgendwie zu trösten; ich spürte, wie sich sein kalter Körper erst abwehrend verkrampfte und dann doch haltsuchend an meinen drückte.

“Es tut mir leid! Sag mir doch, dass ich irgendetwas für dich tun kann!”, sagte ich hilflos. Er antwortete nichts, und so hielt ich ihn nur mit einem flauen Gefühl im Magen fest und spürte, wie irgendwann sein zerbrechlich wirkender Körper aufhörte zu beben. Ich ließ ihn trotzdem nicht los. “Kann ich wirklich gar nichts tun, um dir zu helfen?”

Mir liefen Tränen über das Gesicht, ich konnte nicht anders, als er weinte; er war so kalt und er zitterte am ganzen Leib. Er drängte sich noch ein Stück dichter an mich. “Halt mich fest. Nur ein bisschen”, flüsterte er schwach.

Ich hielt ihn im Arm und strich ihm über das samtige Haar.

Er war verzweifelt, furchtbar verzweifelt; und er hatte solche Angst. Ich kannte ihn nicht, aber ich hielt ihn fest, bis er sich von alleine wieder von mir losmachte. Er errötete leicht.

“Es tut mir leid. Ich weiß ja nicht einmal, wer du bist. Ich wollte nicht so aufdringlich sein.” “Das ist schon okay. Jedem geht’s mal so beschissen.“ Ich strich ihm ermutigend über den Rücken, und er atmete bald wieder ruhiger.

“Danke. Vielen Dank. Verstehst du, es ist nur...” Der blonde Junge schloss die Augen. Sie waren dunkel in der Nacht wie die Wasser eines tiefen Waldsees. Ich ließ den Arm um seine Schultern ruhen, die so schmal waren wie meine auch. “Hast du Angst vor dem Sterben?”

“Wieso?” Er sah mich nicht wieder an. Ich blinzelte einmal, verwundert über die unerwartete Frage. “Also...um ehrlich zu sein, habe ich mir da nie Gedanken drüber gemacht. Aber wenn du jetzt so fragst...ich denke schon, dass ich Angst hätte. Warum?”

Ich spürte, wie der kühle Körper unter meiner linken Hand erschauerte.

“Ich auch...” Er barg das Gesicht wieder in der Hand; ich merkte, wie er erzitterte.

“...entschuldige...”

“Nein, nicht weinen!” Ich zog ihn zu mir. “Ich weiß nicht, wer du bist, aber du kannst doch nicht einfach so vom Sterben reden, es ist doch gar nichts passiert!”

“...Doch. Und ich bin dir wirklich dankbar für deinen Trost, aber du verstehst das nicht... Also, es ist das Beste, wenn du dir dein Mitleid sparst für jemanden, der es wirklich...” Der Junge sah trotzig zu mir auf, brach dann aber ab und sein Blick wurde wieder weich. “...weinst du?”

Ich wischte mir mit dem Jackenärmel über die feuchten Augen. “Nein. Doch.”

Ich war schon als kleines Kind zu weichherzig gewesen. Ich hatte jeden toten Vogel, der vom Himmel auf den harten Asphalt gefallen war, jammervoll beweint.

Trotzdem fühlte ich mich irgendwie schuldig für meine spontanen Tränen.

“Du hältst mich jetzt bestimmt für einen Heuchler...”

“Nein”, unterbrach er mich sanft mit milde erstaunter Stimme. “Überhaupt nicht.”

Der Junge hob vorsichtig die Hand und strich mir die noch ungeweinten Tränen aus den Augenwinkeln, was ich stumm und mit großen dunklen Augen duldete. Er war mir so nahe, dass ich das fast schwarze Braun seiner Iriden deutlich vor mir leuchten sehen konnte, und der warme Atem aus seinem bleichen Gesicht meine kalte Wange streifte wie eine sachte Berührung.

“Es täte dir wirklich leid um mich, was?”, wisperte er mir staunend zu, und sein zuvor verhärteter Blick weitete sich und wurde offen. Ich nickte nur wortlos.

Der Fremde stieß den Atem aus und schlang auf einmal die Arme um mich. Erst war ich so überrascht, dass ich nicht reagierte, und nur mit großen Augen in die Nacht sah, aber dann hielt ich ihn wieder fest.

“Danke”, flüsterte er an meinem Ohr. “Danke, vielen Dank. Das ist mehr, als ich mir noch erhofft hatte. Obwohl ich dich nicht kenne. Trotzdem bin ich froh, dass du gekommen bist.”

“Warum glaubst du, dass du sterben musst?”, fragte ich ihn traurig. “Es ist schrecklich, so etwas sagen zu müssen.”

Er ließ mich los.

“Wie heißt du?”

Ich antwortete ihm. “Jamie.” “Jamie. Ich bin Junya.” Er lächelte verkrampft und wir gaben uns die Hand, in dem verzweifelten Versuch, den Anschein von Normalität zu erwecken. Allerdings blieb er mir zunächst die Antwort schuldig.

“Ich weiß, es geht mich nichts an, aber warum bist du um diese Zeit noch hier unterwegs?” Er wandte den Kopf und sah mir ins Gesicht.

“Willst du mir etwa auch sagen, dass es gefährlich ist? Ich dachte, ich hätte das hinter mir.” “Nein, das nicht. Aber es ist ziemlich trostlos.” “Ich weiß. ...Aber manchmal kann ich nicht schlafen nachts, und dann gehe ich raus und ein wenig durch die Straßen.”

Er lächelte mich scheu an. Es war das erste Mal, dass er mich ungezwungen anlächelte, und es jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Sein Lächeln war so lieb und schüchtern, dass es mir fast den Atem nahm.

“Eine seltsame Gegend für einen Spaziergang, oder?”

Ich atmete tief durch.

“Mir gefällt es sehr gut so, wie es ist.”

Was hätte ich auch mit einer belebteren Gegend anfangen sollen, in der niemand meine Gedanken und Träumereien respektierte?

Ich versuchte, an unser vorheriges Thema anzuknüpfen, ohne ihn gleich wieder abzuschrecken, denn das musste ich zuvor irgendwie unbeabsichtigt getan haben: “Und was tust du um diese Zeit in dieser Gegend?”

Junya wandte den Blick wieder ab und ins schwarze Wasser. Ein Windzug, der mich frösteln ließ, fuhr durch sein samtiges helles Haar und streichelte sein stilles Gesicht.

“Wartet niemand auf dich?” Als er wieder sprach, war seine Stimme wieder leiser geworden.

Ich errötete. “Entschuldige...ich wollte dich nicht beleidigen...” “Das hast du nicht”, unterbrach er mich mit schwacher Stimme, ohne mich anzusehen. “Aber es macht sich doch sicher irgend jemand Sorgen, wo du steckst.” “Ja...wahrscheinlich macht sich mein Bruder Gedanken. Ich meine, wir haben ja nur einander...aber ich...”

Junya sah mich nicht an, sondern sah nur wieder ins Wasser. Er war wieder so stumm wie noch vor wenigen Minuten.

“Ist gut”, flüsterte ich traurig. “Dann gehe ich besser.” Und ich stand auf.

Ich wusste nicht, warum es mich so tief betrübte, dass der Junge nicht mehr mit mir reden wollte. Was hatte ich denn falsch gemacht? Und obwohl ich wirklich nicht wollte, dass Saku Angst um mich haben musste, wäre ich doch gern geblieben. Und das nicht nur zu Junyas Trost.

Ich wollte wirklich gern bei dem traurigen Jungen sein.

“Warte!”, rief er plötzlich, erhob sich und hielt mich zurück. Ich sah ihn erstaunt an. Seine Augen waren dunkel und ängstlich.

“...Was ist los?”

“Du wolltest wissen, warum ich sterben muss, und warum ich um diese Zeit hier bin.” “Ist schon in Ordnung...du musst es mir nicht sagen, wenn...” Junya schüttelte den Kopf.

“Doch.”

Er nahm meine Hand, die unter seinem Griff leicht zusammenzuckte.

Schon wieder sah er mich nicht an, sondern zu Boden.

“Es ist okay, wenn du nicht mit einem Fremden darüber reden willst.” Meine Stimme war leise in der Nacht.

Er lachte gezwungen. “Weißt du...ich glaube, von allen Menschen bist du mir noch der am wenigsten Fremde.

Wirklich.

Du bist der erste, der sich seit Langem für mich interessiert hat.”

Junya schloss kurz die dunklen Augen und sog tief die klare Luft ein. Ich stand dicht vor ihm und hörte seinen leisen Atem.

„Ich bin krank...“

Der Blonde griff in seine Tasche und zog dann die Hand wieder hervor. In seinen schmalen Fingern hielt er ein kleines Glasdöschen, in dem zwei kleine Tabletten klapperten. Das trockene Geräusch zerriss die sanfte Ruhe zwischen uns.

“Die ganze Sache...ist eigentlich nur die...dass ich diese Tabletten nehmen muss. Für mein Herz. Und ich hab...ich hab nur noch diese beiden.”

Er steckte das Glas so schnell wieder weg, als ob es ihm Angst machte.

“Tut mir leid...” Er wandte sich wieder ab und ich sah, dass er wieder zu zittern anfing. Ich legte spontan die Arme um ihn und zog seinen schlanken, kalten Körper an mich; mittlerweile schon keine so seltsam befremdliche Geste mehr. Junya lehnte zaghaft den Kopf an meine Schulter. Sein weiches helles Haar strich über meinen Hals.

“Keine Angst”, murmelte ich, ihm zum Trost. Der kühle Wind strich um uns wie der Geist eines verblichenen Liebhabers.

“Ich habe aber Angst”, raunte er mir durch das Wispern der fliehenden Nachtluft hindurch zu.

Ich streichelte ihm über den schmalen Rücken, der sich bebend an mich schmiegte. Junya weinte. Ich konnte durch den dünnen schwarzen Stoff hindurch die Knochen seiner Wirbelsäule unter seiner Haut spüren. Er war größer als ich.

“Kannst du dir nirgends neue besorgen?”, wollte ich hilflos wissen. “Das kann doch nicht sein, dass es das einfach so gewesen sein soll!”

“Das würde ich ja tun”, murmelte Junya erstickt an meiner Schulter. “Aber sie sind teuer, und ich habe das Geld nicht. Ich hatte es - aber ich wurde bestohlen. Ich wollte...”, er brach ab.

“Was? Was wolltest du?”

“Ich wollte mir welches besorgen”, fuhr er nach einer Weile leise fort. “Ich habe...ich hatte...ich meine, ich dachte, dass...” Er löste sich jetzt wieder ein wenig von mir.

“Ich dachte, dass ich, wenn ich meinen Körper verkaufe, rechtzeitig das Geld zusammenbekomme. Aber als es dann soweit war, habe ich...ich weiß nicht. Ich bin weggelaufen. Und das Geld habe ich immer noch nicht.

Ich weiß, dass das feige von mir ist, aber...ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!

Ich werde es morgen wieder versuchen. Und wenn mir mein Leben das nicht wert ist, dann habe ich mir das eben selbst zuzuschreiben, weißt du.”

Er ging wieder ein wenig auf Distanz zu mir.

“Das war doch nicht feige von dir!”, protestierte ich. “Ehrlich; ich hätte an deiner Stelle das gleiche getan!” Allein der Gedanke... Diese Stadt hatte keinen guten Ruf; sich hier an die Straße zu stellen, kam in manchen Gegenden völligem Wahnsinn gleich, da konnte man sich auch gleich die Kugel geben.

Junya schenkte mir ein trockenes Lächeln, seltsam unpassend in diesem Moment. “Danke. Aber wenn du als Alternative nur die Aussicht hättest, höchstens zwei Wochen zu überleben, dann würdest du es doch tun, wenn du nicht einfach verdammt noch mal zu stolz wärst.”

Ich schüttelte den Kopf.

Junyas Handeln war durchaus verständlich für mich, auch wenn ich ihn gerade erst kennengelernt hatte. Wie waren beide im Krieg geboren, wie jeder unserer Generation wussten wir, was es hieß, als Kind zu hungern, zu frieren; zuzusehen, wie fremde Flieger in ihren Maschinen abgeschossen wurden und am Himmel verbrannten, vielleicht selber an der Flak zu stehen, anstatt zu spielen wie andere Kinder. Und wir alle wussten, wie es war, zu spüren, wie wenig das eigene Leben anderen Menschen bedeutete.

Da waren wir uns sicher ähnlich.

Nur, dass ich nicht an einer Krankheit litt, die meinen Tod forderte, sollte ich das fast schon so zu bezeichnende Schutzgeld nicht mehr aufbringen können!

Er tat mir so leid. Auf einmal wurde mir schmerzhaft deutlich bewusst, was für ein Glück ich hatte. Ich war gesund. Ich war nicht alleine. Und vor allem hatte ich keinen Grund, Angst zu haben. Junya hatte nur den nahen Tod vor Augen, und er hatte im Gegensatz zu mir nichts weiter zu verlieren als sein Leben.

Allerdings war das alles, was er noch hatte, und er wollte es unter keinen Umständen hergeben. Weder sein Leben, noch seine verzweifelte Seele, die so leicht zerbrechen konnte. War das eine Entscheidung?

Er hatte Recht: Es täte mir wirklich aus tiefstem Herzen Leid um den Jungen mit dem weichen blonden Haar und den wundervoll dunklen Augen.

Ich wollte nicht, dass er sterben musste. Ich mochte ihn. Und wenn ich ihm mit meinen Umarmungen Trost spenden konnte, dann tat ich das gerne. Was sonst konnte ich auch für den herzverwandten Jungen tun? Ich hatte ihn zwar vor einer Viertelstunde nur zum allerersten Mal in meinem Leben gesehen, aber es kam mir trotzdem so vor, als verbände uns etwas; als gehörten wir beide zusammen; wie zwei Veteranen, die sich Jahre nach dem Krieg in einer Kneipe wiedertreffen. Obwohl wir nicht Seite an Seite gekämpft hatten, verband uns doch etwas Großes; etwas, das uns von allen anderen unterschied, vielleicht war es nichts als diese einsamen Straßen, durch die wir beide streunten. Mir fiel ein Gedicht ein, dass ich besaß; in einem Buch, dass Sakuya irgendwo für mich aufgetrieben hatte und das ich eifersüchtig hütete:

‘Ich tät mich zu ihm setzen, Ich sah ihm ins Gesicht, Das schien mir gar befreundet, Und dennoch kannt ich’s nicht.’

- Es hieß ‘Brüderschaft’; von Wilhelm Müller.

“Dann sag mir, was ich sonst tun soll”, sagte Junya heiser zu mir. In seinen braunen Nachtaugen spiegelte sich das weiße Licht der Straßenlaterne, in deren Schein ich gestanden hatte und die wenige Meter hinter mir stand, einsam zwischen kaputten Laternen die schwarzen Straßen zu erhellen versuchend, die der Krieg mit Schlaglöchern übersät und deren Bewohner er vertrieben hatte. Zum größten Teil. Aber ich war noch hier, und Sakuya war zurückgekommen, und Junya war ebenfalls bei mir.

Seit ich den Lichtschein der Laterne verlassen hatte, schien ich einen anderen Teil meines Lebens betreten zu haben, den ich bisher nicht gekannt hatte; einen Teil, der nicht nur aus nächtlichem Umherwandern und straßenkatzenartigem Streunen bestand und den Sakuya vielleicht auch kannte. Es war, als wäre ich an der berühmten Straßenlaterne vorbeigegangen, die in Narnia wuchs. Völlig fehl am Platze und irgendwie ganz anders. Ein letztes Symbol von etwas Vertrautem.

Junyas Augen funkelten mich feucht an wie zwei Edelsteine; das einzig Lebendige über seiner schwarzweißen Kleidung und unter seinem zerzausten Haar und in seinem blassen Gesicht, das verletzlich schimmerte wie aus Porzellan. “Bitte sag es mir.”

‘Ich will nicht sterben’, sagten seine Augen, deren Tiefen schienen wie ein skandinavischer See.

“Ich besorge dir das Geld”, sagte ich auf einmal, ohne lange darüber nachzudenken.

Die dunklen Mandelaugen weiteten sich. “Was?”

“Ja.” Meine Stimme war fest; mein Blick hielt seinen gefangen, der jetzt groß war und ungläubig, wie der eines kleinen Jungen unter seiner ersten Sternschnuppe. Er erschauerte; seine Lippen öffneten sich langsam. “Aber...”

Es wäre falsch, zu behaupten, ich wüsste nicht, warum ich das gesagt hatte.

“Ist okay. Ich will nicht, dass du sterben musst.” “Ich...” Junya biss sich auf die Lippe und sah weg. “Ich bin mir nicht sicher, ob du...”

Er seufzte tief. Dann hob er den Blick und strahlte mich mit feuchten Augen an. “Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken soll. Aber das kann ich nicht annehmen.”

“Doch”, sagte ich bestimmt. “Ich gehe nach Hause und sehe, wie viel ich zusammenbekomme. Und morgen Nacht stehe ich wieder hier und warte auf dich. Wirst du kommen?” “Jamie, nein!” Der Junge trat auf mich zu und nahm mich am Arm, so dass ich zusammenzuckte. Seine Augen funkelten beschämt. “Bitte, das ist schon in Ordnung! Wir haben uns kaum kennengelernt...Ich hätte es dir fast gar nicht erzählt.”

“Aber dann hast du es doch getan”, erwiderte ich leise. “Das hat doch was zu bedeuten. Ich werde hier sein. Wirst du kommen?” “Ich...” Junya senkte beschämt den Blick.

“In Ordnung. Ich werde auf dich warten. Und wenn du nicht kommst, dann ist das auch okay.” Er lächelte mich groß an. Er wischte sich über die Augen. “Jamie...”

Ich hätte alles getan, damit dieses plötzliche Leuchten nicht aus seinem Blick verschwand.

“Ich bin ganz bestimmt da”, versprach ich dem Jungen, der noch vor einer halben Stunde einsam und todgeweiht auf der Kaimauer gehockt hatte. “Du glaubst doch nicht, dass ich zulasse, dass du stirbst, solange man noch etwas dagegen tun kann! Das wäre doch albern. Alles wird wieder gut. Verlass dich auf mich.”

“Hm...” Junya hielt mich noch immer am Arm fest. Er sah zu Boden. “Jamie, ich...ich weiß gar nicht, wie ich mich je dafür bedanken soll; allein für das, was du gesagt hast -”

Ich schüttelte leicht den Kopf. “Eigentlich brauchst du das auch gar nicht.”

Er lachte leise und irgendwie ungläubig auf. “Du bist wirklich unglaublich, weißt du das? Ich könnte dich ja auch nach Strich und Faden betrügen. Kommst du da gar nicht drauf? Nicht zu fassen, dass ich einen Menschen wie dich noch treffen durfte.”

“Aber nicht doch”, erwiderte ich kläglich ob seiner unglücklichen Formulierung. “Du kannst mich so oft treffen, wie du willst. Immerhin hast du noch genügend Zeit dazu. Du wirst noch ganz lange leben.”

Der Blonde nahm meine Hand in seine kalten Finger. Er lächelte leicht, sein Porzellangesicht wurde wieder lebendiger, obwohl seine Augen noch genauso ängstlich funkelten wie zuvor, so hilfesuchend, so ohne den Mut, an etwas zu glauben. Aber sie spiegelten einen Funken der Hoffnung wider, die ich in ihm entzündet hatte; wie ein Ritter, der heranprescht; nur undramatischer, dachte ich, und fand es selber albern.

Aber allein zu sehen, was ich tun konnte, war es mir wert, dafür etwas aufzugeben. Ich würde nicht daran sterben, wenn ich ihm half, zu leben. “Weißt du...” Der Junge zögerte. Er schien nicht die richtigen Worte zu finden; ich sah, wie er nach Ausdrücken rang. “Ich...”

Dann fiel er mir plötzlich bloß wortlos um den Hals, und ich spürte überrumpelt, wie er mir einen ganz kleinen Kuss auf die gerötete Wange hauchte. “Ich werde auf dich warten, Jamie, auch wenn du nicht kommst”, flüsterte er mir ins Ohr, und noch ehe ich irgendwie reagieren konnte, hatte er mich losgelassen und lief fort in die Gasse, in der vorhin die schwarze Katze verschwunden war, als wenn er ein wenig vor seiner impulsiven Aktion erschrocken war. Nach einigen Sekunden nur hatte ihn das Dunkel schon verschluckt.

Ich blieb allein an der Kaimauer stehen, zu verblüfft, um etwas zu tun, und mit einer unangenehm vorbeistreichenden Kälte dort, wo der Nachhall seiner Berührung zu verblassen begann.
 

Irgendwann einige Minuten später machte ich mich nachdenklich auf den Heimweg.

Es würde in einigen Stunden schon wieder hell sein, und nicht, dass es mich gestört hätte, tagsüber zu schlafen - Sakuya und ich pflegten sowieso meist einen sehr sonderbaren Tagesablauf - , aber ich wollte auch wieder nach Hause. Ich wollte Saku zeigen, dass ich noch am Leben und nicht von einem wilden Gangster gefressen worden war, und außerdem wollte ich mein Versprechen gegenüber Junya einlösen.

Und ich musste mir über einiges klar werden, und das konnte ich am besten, wenn ich in Frieden und wohlbehütet eine Weile geschlafen hatte. Ich war wirklich ziemlich müde, jetzt, wo ich fast die ganze Nacht draußen gewesen war. Nicht, dass ich meine Entscheidung überdenken musste - trotz meiner momentanen Erschöpfung war ich doch bei vollkommen klarem Verstand gewesen, als ich ihm mein Wort gegeben hatte, und ich hatte alles ernst gemeint. Ich hatte fest vor, dem kranken Fremden unser Geld zu geben, den ich kaum kennengelernt hatte und dem ich doch blindlings mein Herz geschenkt hatte. Denn das hatte ich, daran zweifelte ich nicht.

Vielleicht war ich ein naiver Junge. Na und?

Ich hatte von klein auf die Angewohnheit gehabt, mich mit Herz und Seele einzusetzen, und genau das tat ich gerade wieder. Und wenn ich dadurch ein Leben retten konnte, dann war ich bereit, viel dafür zu opfern. Ich wusste, dass Junya es wert war. Mir war er es auf jeden Fall wert. Ich konnte einfach niemanden leiden sehen. Und wenn man die Möglichkeit hatte, ein Menschenleben zu retten, dann sollte man das tun, oder nicht?

Daran, dass er mich eventuell nur verarschen könnte, dachte ich nichtmal; das hielt ich von Anfang an für ausgeschlossen.

Nach etwa einer Viertelstunde Fußweg, den ich tief in Gedanken hinter mich brachte - immerhin trug ich jetzt Verantwortung auf meinen jungen Schultern! - erreichte ich das Haus, in dem Sakuya und ich eine Wohnung hatten. Genauer gesagt war es seine Wohnung, aber das war eh egal, da sich sowieso keiner darum kümmerte, solange es noch bessere Quartiere weiter außerhalb gab, in den weniger zerstörten Vierteln. Aber wir waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Wir brauchten nicht viel, und hier waren wir ungestört und unberührt von der größten Kriminalität.

Das Haus, das außer von unserer Wenigkeit kaum bewohnt war und dessen andere Bewohner wir so gut wie nie zu Gesicht bekamen, ragte vor mir in den Nachthimmel wie eine zerborstene Ruine. Und tatsächlich war auch eine obere Ecke abgebrochen oder abgesprengt worden, aber das war lange her und das Haus war nicht ernsthaft einsturzgefährdet. Als ich zur Tür kam, fröstelnd, weil ich so lange in der Kälte gewesen war, konnte ich die nur schwach im Mondschein schimmernden Graffiti sehen, die überall die Wände verzierten; allerdings waren sie alt und kaum noch zu entziffern auf dem kahlen Beton. Die Tür hing immer ein wenig schief in den Angeln, weil sie vor einigen Monaten mal jemand eingetreten hatte, also musste ich jedes Mal, wenn ich rein wollte, mit meinem Knie dagegen stoßen um sie aufzubrechen, und besonders in den vergangenen Wintermonaten störte das, weil man erstens so schnell wie möglich ins Warme wollte und zweitens des Öfteren die Tür auch noch festgefroren zu sein schien. Sakuya und ich hatten irgendwann einmal spaßeshalber gewettet, wer von uns eher blaue Knie vom ewigen Aufstoßen bekommen würde; aber bis dahin hatten wir dann doch noch keine sichtbaren Ergebnisse vorzuweisen gehabt.

Ich brach ins Haus und schloss die Tür unter einigen Mühen wieder so gut wie möglich hinter mir, damit nicht die Kälte durch das ganze Haus zog. Hier drinnen war alles noch relativ intakt; natürlich hatte irgend jemand schon vor Jahren alles mitgenommen, was nicht fest eingebaut war, und selbst etwas von dem, das es doch war; aber der schwarzweiße Fliesenboden war noch fast vollständig erhalten, und nur wenige Fliesen waren zersprungen. Auch das Treppengeländer war noch komplett, was mich sehr beruhigte, denn Saku und ich hatten uns ganz oben eingenistet, und ich hatte immer ein kleines Problem mit ungeschützten Höhen gehabt. Licht gab es hier natürlich keines, aber ich kannte den Weg eh so gut, dass ich auch im fast Stockfinstern zur Treppe fand. Saku wartete bestimmt schon. Ich glaubte nicht, dass er schlief; er war eher ein Nachtmensch, daher würde ich mir auch keine Mühe geben müssen, meine Lautstärke zu dämpfen, wenn ich oben war. Nicht, dass ich eine laute Person war, im Gegenteil - aber in einem solch baufälligen Haus ließ es sich einfach nicht vermeiden, dass ein so hellhöriger Schläfer wie mein Bruder doch von umsichtigsten Bewegungen aufgeweckt werden konnte.

Was mich zu meiner nächsten Überlegung brachte: Wie sollte ich ihm das Ganze erklären? Ich glaubte zwar schon, dass er Verständnis haben würde, aber andererseits wusste ich doch nicht, ob er es gutheißen würde, wenn ich einfach unser Erspartes weggab - das ohnehin zu einem sehr großen Teil sein Erspartes war, von dem wir ganz gut lebten, für unsere Verhältnisse. Mir war schon klar, dass ich nicht unbedingt auf begeisterte Hochrufe stoßen würde. Das hätte ich auch nicht verlangt. Dennoch...Er würde Junya zwar auch helfen wollen, ja; aber andererseits...vielleicht war es besser, wenn ich ihm erstmal nichts davon erzählte. Bei diesem Gedanken bekam ich sofort ein schlechtes Gewissen. Aber wenn ich nur den Teil des Geldes nahm, den ich in unsere kleine Familie mit eingebracht hatte - was nicht viel war, nur das, was ich mir irgendwann mal irgendwie verdient hatte, so gut es ging - dann konnte er nichts dagegen sagen und ich würde nichts Falsches tun. Und Sakuya würde mich verstehen, wenn ich ihm erstmal alles erklärt haben würde. Ich würde es ihm hinterher gleich sagen. Und wenn er sauer war, dann würde ich das irgendwie wieder gut machen.

Allerdings glaubte ich nicht, dass er das sein würde.

Trotzdem wollte ich ihm irgendwie noch nichts von meiner Bekanntschaft erzählen.

Vielleicht morgen, wenn ich Junya das Geld gegeben haben würde.

Irgendwie hatte ich trotz allem noch ein elend schlechtes Gewissen, dass ich ihm so etwas ernsthaft verschweigen wollte.

Wobei - es gab auch eine Menge, was er mir nicht erzählte über sein Leben! Wenn er Geheimnisse haben durfte, dann durfte ich das auch.

‘Aber er nimmt nicht einfach euer Geld’, wisperte mir eine kleine Stimme hinten in meinem Kopf zu. ‘So ein Unsinn’, dachte ich trotzig. ‘Ich brauche es ja nicht für mich selbst. Ich zahle irgendwann alles wieder zurück.’ Und ehe die Stimme fortfahren konnte, verschloss ich ihr schnell den Mund und ignorierte sie. Ein schlechtes Gewissen nützte Junya gar nichts. Und ich hatte ihm doch versprochen, er könne sich auf mich verlassen.

Ich konnte ihn ja schlecht wegen ein paar Gewissensbissen enttäuschen und sterben lassen!

Als ich endlich oben vor unserer Wohnungstür ankam, die auch schon mal bessere Tage gesehen hatte, aber immerhin vollständig schloss, öffnete ich sie doch sehr leise. Man konnte schließlich nie wissen. Es war dunkel drinnen, aber das war es immer um diese Zeit, weil wir keine Lampen besaßen. Wir hatten nämlich keine Vorhänge, und uns beide störte das Bewusstsein, von draußen gesehen werden zu können.

Im Grunde bestand unsere Unterkunft nur aus zwei Zimmern: dem kleinen Badezimmer rechts von mir und einem für zwei Leute auch fast zu kleinen Schlafzimmer. Was ursprünglich mal eine Küche hätte darstellen können, war entfernt worden und nicht mehr zu gebrauchen. Wenn wir kochten, dann taten wir dies auf einem kleinen Gaskocher, der in einer Ecke des Schlafzimmers stand, bei dem Essen und dem wenigen Blechgeschirr, was wir hatten. Alles aus alten Armeebeständen. Davon gab es hier genug. Links der Tür um die Ecke lag der Teil des Schlafzimmers, in dem wir unser Bett stehen und die Matratze liegen hatten, und dort traf ich auch Sakuya an.
 

Er saß auf der Fensterbank und ließ ein langes Bein in den Raum baumeln, während er, das Kinn in die Hand gestützt, nach draußen in den Nachthimmel starrte. Er hatte die dunkelgrauen Augen zwar halb geschlossen, fast so als schliefe er, aber ich erkannte an dem leichten Zucken seiner Mundwinkel, dass er mich gesehen hatte.

Es war nicht ungewöhnlich, dass er irgendwo regungslos saß, fast wie ein großes schwarzes Raubtier, dass es für einen Laien so scheinen mochte, als träume er, aber ich wusste, dass er gerade dann äußerst wach war und die körperliche Ruhe nutzte, um nachzudenken.

Saku saß gern im Halbdunkeln. Heute Nacht ließ er sich von dem Hintergrund der Sterne am Himmel schmücken, und sein rabenschwarzes Haar schluckte all das Licht, das aus seinen funkelnden Augen blitzte. Nur seine Haut war weiß und schimmerte wie Elfenbein, und um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln, als ich zu ihm kam.

Er hatte Musik gehört, bevor ich gekommen war. Er besaß einen tragbaren CD-Player und ein Paar kleiner Boxen, diesen Luxus gönnte er sich trotz seiner Sparsamkeit; und er war unablässig auf der Jagd nach Batterien, um ihn zu füttern, damit er sich weiter mit seiner geliebten Musik voll pumpen konnte. Hauptsächlich hörte er Rockmusik, die ich nicht kannte; aber es war so gut wie überall etwas dabei, was ihm gefiel. Seit dem Krieg gab es kaum noch CDs, nur noch Livebands.

Die Musikwahl heute Abend schien mir sehr melancholisch.

Davon aber ließ er sich jetzt nichts anmerken, als er den Player ausschaltete. “Wo bist du so lange gewesen?”

Ich setzte mich neben ihn auf die Fensterbank, und er wandte sich dem Raum zu und drehte das ernsthafte Gesicht zu mir. “Am Hafen”, sagte ich wahrheitsgemäß.

“Ich wäre dich fast suchen gegangen.” Daraufhin musste ich lachen. Ich hatte es mir ja irgendwie schon gedacht. “Du hältst mich für paranoid, was?”, grinste mein Bruder dann. “Ja, lach ruhig, aber beschwer dich hinterher nicht, wenn ich das nächste Mal nicht komme, um dich zu retten, du undankbarer Streuner.” Er strich mir durchs pechschwarze Haar. “Willst du was essen? Wir haben Schokolade.” Sakuya stand von der Fensterbank auf und ging zu unserer kleinen Küchenecke. “Nein danke, ich bin viel zu müde, um...”, dann horchte ich interessiert auf. “Wir haben Schokolade? Seit wann das denn?” Mein Bruder griff in eine weiße Plastiktüte und zog eine silberne Packung hervor, glänzend und ebenmäßig, was an sich schon ein Grund für einen zweiten Blick war in einer zerstörten Gegend wie dieser. “Glaub es oder nicht, aber ich habe allen Ernstes eine ganze Tafel auftreiben können. Und? Doch Hunger?”

Er war gemein. Er wusste ganz genau, wie vernascht ich war.

“Oooh ja!” Ich sprang von der Fensterbank und lief die paar Schritte zu ihm, aber er hielt die Packung von mir weg mit den Worten: “Okay, du bekommst sie, aber nur, wenn du mir versprichst, dass du nicht mehr alleine so weit weggehst!” Ich stockte. Nicht doch! Das konnte er mir doch nicht verbieten...und morgen Nacht musste ich auf jeden Fall noch mal weg, und vielleicht auch danach noch mal... “Och, Saku, bitte nicht...” Ich streckte bittend eine Hand aus. “Das kannst du nicht von mir verlangen! Du darfst auch heute Nacht auf dem Bett schlafen...”

“Mann, Jamie! Heute Nacht ist es eh viel zu kalt; da lass ich dich sowieso nicht alleine schlafen.” Sakuya hielt die Schokolade hinter seinem Rücken und sah mich dunkel aus seinen grauen Wolfsaugen an. Er seufzte verärgert.

“Jem! Hör gefälligst auf, mich so anzuschauen!”

“Bitte!” Ich sah ihn weiterhin groß an.

“Verdammt; dann nimm schon.” Er gab nach und mir die ersehnte Beute mit einem finsteren Blick. “Du weißt ganz genau, dass ich dir nichts abschlagen kann! Warum tust du das immer wieder und...” Er unterbrach sich selbst mit einem resignierten Seufzer. “Schon gut. Dann nimm wenigstens das Messer mit, das ich dir gegeben hab. Und komm zurück, sobald irgendwelche Leute näher kommen. Ich will dich nicht mühsam in irgendwelchen privaten Etablissements aufsammeln müssen.” “Ich versprech’s!” Ich öffnete die Packung und machte mich fröhlich über den Inhalt her; auf einmal doch hungrig. Dann meldete sich wieder mein schlechtes Gewissen. “Ist das sehr schlimm, wenn ich morgen nochmal alleine rausgehe?”, murmelte ich bedrückt mit vollem Mund. Sakuya fing an zu lachen, was ihm einen bitterbösen Blick von mir eintrug. Was lachte er denn jetzt über mich?

“Oh Gott, Jem”, grinste er dann und setzte sich neben mich, einen Arm um meine Schulter legend. “Vergiss es; ist schon okay. Ich werd’s überleben. Ich mach mir einfach Sorgen um dich, wenn du nicht da bist, in Ordnung? Wenn wir erstmal weg sind aus dieser Gegend, wird alles besser. Versprochen.” “Hmm”, murmelte ich undeutlich und schluckte erstmal meinen Mundinhalt runter. Lecker. “Willst du auch noch was? Es ist nämlich gleich nichts mehr da.” Ich linste kritisch auf die Reste. “Oder jetzt.”

Saku schüttelte bestimmt den Kopf. “Ganz sicher nicht. Du Heuchler; dir ist doch sehr wohl bewusst, dass ich keine Schokolade mag.” “Aber die ist lecker!” “Lass mal. Ich habe erst gegessen. Trotzdem danke.”

Ich hatte noch nie eine Tafel Schokolade so schnell gegessen, glaubte ich, ehe ich nach einem zerschlissenen Handtuch griff, um mir die Finger abzuwischen.

“Saku?” Er war gedankenverloren zusammengesunken und hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet, wodurch ich ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. Aber ich wusste auch so, dass er gerade sehr angenehm müde war. Offenbar war ich nicht der Einzige, der lange nachts unterwegs gewesen war.

“Hmm?”

“Sag mal...”

Sakuya richtete sich wieder auf, setzte sich im Schneidersitz hin und stützte den Kopf in die Hände. “Was ist denn?” Er hatte eine Augenbraue misstrauisch hochgezogen und sah mich unter gesenkten Wimpern hervor wachsam an.

“Also...” Ich fuhr ein bisschen um Worte verlegen mit dem Finger die Kratzer auf dem alten Boden nach, die die Zeit dort aus Langeweile gesammelt hatte. “Wann genau wollten wir denn eigentlich los?”

Er blickte mich überrascht an. “Wieso; so etwa morgen oder eher übermorgen, das habe ich dir doch gesagt...” “Ja, schon klar, aber ich meine nur...wir wollten ursprünglich schon vor einer Woche weg, daher habe ich mich nur gefragt, ob wir vielleicht doch wieder warten...” Ich verstummte. Eigentlich hatten wir wirklich schon am Anfang der Vorwoche aufbrechen wollen, aber dann hatte Sakuya unseren Weggang mehrmals um einige Tage aufgeschoben, so dass wir jetzt immer noch hier waren. Nicht, dass ich unbedingt weg wollte, aber ehrlich gesagt wäre es mir lieber gewesen, wenn wir endlich dieses ruhelose Dasein beenden und an einem Ort leben konnten, wo wir keine halbautomatische Handfeuerwaffe neben dem Bett liegen haben mussten. Denn das hatten wir.

Nur, wie die Dinge jetzt standen - natürlich würden wir gehen; dagegen wollte ich auch gar nichts sagen. Aber dann war da noch Junya...würde er alleine klarkommen? Wenn seine Tabletten wieder aufgebraucht waren? Selbst wenn - ich wollte ihn nicht einfach so verlassen. Nicht nur aus Verantwortungsgefühl heraus. Ich mochte ihn wirklich sehr, und ich hätte ihn gerne noch öfter getroffen. Ich kannte sonst niemanden in meinem Alter, und es wäre schön, ein bisschen Gesellschaft zu haben; nicht nur meinen Bruder.

Vielleicht konnte ich Sakuya morgen oder übermorgen von dem Jungen erzählen. Wenn ich ihm das Geld gegeben hatte. Stellte sich nur die Frage, wie ich ihm das beibringen sollte. Wie ich das beiden beibringen sollte. Zwar konnte Junya keinerlei Anspruch auf mich erheben, aber es kam mir doch ein bisschen verräterisch vor, einfach so wegzugehen und ihn mit seinem Problem allein zu lassen, auch wenn es gar nicht mal so einfach war. Aber wie sollte ich es denn schaffen, keinen von beiden zu enttäuschen? Meinen lieben Bruder, den ich wirklich aus tiefstem Herzen anbetete, und den herzkranken Jungen, der mir diesen federleicht kitzelnden Schauer über den Rücken gejagt hatte? Im Zweifel würde ich mich immer für Saku entscheiden, aber es bereitete mir dennoch ein schlechtes Gefühl, als ließe ich Junya im Stich, was natürlich total dumm war. Und wenn wir jetzt gingen...ich sah ihn ja morgen Nacht wieder. Ich konnte ihm noch alles erzählen. Und vielleicht fand sich ja eine Lösung.

Vielleicht konnte Junya sogar mit uns kommen, wenn Saku ihn mochte. Die Vorstellung war sehr einnehmend, und ich schwelgte für eine Weile in dem Gedanken, so dass ich Sakus nächste Frage gar nicht mitbekam.

“Was?”

Er seufzte. In der Zwischenzeit war er zum Bett gegangen und räumte einige CDs, mein Buch, Papier und Kleidung vom Vortag beziehungsweise der Vornacht von der Decke. Leider waren wir beide ziemlich chaotisch, und das nicht nur nach außen hin.

“Ich habe gefragt, ob dir das so wichtig ist. Gibt es einen Grund, noch zu warten?” Ich fürchtete fast, zu erröten, denn mir war klar, dass mein Bruder mir die unverhohlenen Gedanken meist irgendwie ansehen zu können schien, und die verhohlenen erriet er immer.

“Hast du denn einen Grund, es immer wieder aufzuschieben?”, antwortete ich mit einer Gegenfrage, denn ich hasste es, zu lügen, weil es absolut gegen meine Natur ging. Leider hatte ich nur wenig Erfahrung und noch weniger Talent darin, mir die Wahrheit zurechtzubiegen, doch zu meinem nicht geringen Erstaunen ging Sakuya nicht weiter darauf ein. Aber er konnte ja auch nichts von der Sache mit dem Geld wissen. Das von meinem Gesicht abzulesen war dann wahrscheinlich doch fast unmöglich.

“Schon gut. Wir gehen dann auch wirklich los, versprochen.” Das beruhigte mich ein bisschen. Dass es ihm widerstrebte oder irgendwie unangenehm war, zurückzugehen, hatte selbst ich bemerkt, obwohl ich sonst nicht der Menschenkenner Nummer Eins bin - aber auf ein Versprechen von ihm konnte man sich in der Regel verlassen.

Ich beschloss, einen kühneren Vorstoß zu wagen: “Warum hast du eigentlich Angst davor, zurückzugehen, Sakuya?”

Mein Bruder wandte das Gesicht von mir ab und zur Wand, so dass das wenige durchs Fenster hereinfallende Dämmerlicht nicht mehr ausreichte, seine stillen Züge zu erhellen. “Wie kommst du darauf?”, wich er aus. Böser Fehler. Meine Taktik. Er mochte ein brillanter Lügner sein, aber irgendwie konnte er es bei mir nicht. Normalerweise nutzte ich das aber nicht aus; ich fühlte mich moralisch dagegen verpflichtet. Jetzt wollte ich aber gern wissen, was überhaupt auf uns zukommen würde. Eine Horde durchgeknallter Dealer? Ein Verein sadistischer Frisöre? Eine Therapiegruppe auf Freigang (manchmal könnte man meinen, ich hätte mit der Vermutung nicht mal so falsch gelegen)? Ich wusste so wenig über Sakus Vergangenheit, dass ich mir die Wahrheit wahrscheinlich nicht einmal annähernd ausmalen konnte, so ganz ohne Anhaltspunkte, und bei all dem seltsamen Volk, das sich in der zweifelhaften Freiheit dieses seit dem Krieg inoffiziell so gut wie anarchistischen Landes ansammelte...

“Ich erzähle es dir später, okay?”, sagte Saku plötzlich. Er ließ sich aufs Bett fallen und fuhr sich durch das rabenschwarze Haar. “Ich beantworte dir alle Fragen. Aber erst, wenn wir unterwegs sind.”

Ich schmollte. “Warum nicht jetzt?” Und ich sah aus großen Augen anklagend zu ihm hoch.

Saku strich sich unsicher über die Augen. Er holte tief Luft.

“Nun, weißt du, Jamie, ich...es ist eine ganze Menge vorgefallen. Zwischen meinen Freunden und mir. Ich wollte nicht alles wieder zunichte machen; die Freiheit, die wir für uns selbst gewonnen hatten, und... ich hatte mich dafür entschieden, erstmal wegzugehen, um nicht alles kaputtzumachen, und um...wir sind nicht etwa im Streit auseinander gegangen. Sie waren und sind theoretisch immer noch schließlich so etwas wie meine Familie.”

Das war das erste Mal, dass er etwas von seiner Vorgeschichte erzählte, und ich hörte ihm gebannt zu; bereit, jedes Wort aufzusaugen wie ein kleiner Schwamm.

“...Verstehst du, es...es stehen einfach eine ganze Menge Emotionen zwischen uns, und ich bin mir nicht sicher, ob es schon an der Zeit ist, dass ich zurückgehen kann - wenn sie mich überhaupt noch bei sich haben wollen. Gefühle ändern sich schließlich ebenso wie alles andere. Ich habe wahrscheinlich eine Menge nicht ganz richtig gemacht, und ich war immerhin über ein halbes Jahr lang weg... Ich bin schließlich einfach ohne ein Wort gegangen.” Er zog die Beine an den Körper und vermied es, mich anzusehen, was mich irgendwie störte.

“Jamie...Wenn ich jetzt mehr darüber nachdenke, dann finde ich wahrscheinlich gar nicht mehr den Mut, wieder zu ihnen zu gehen. Also...ich sage es dir, wenn wir auf dem Weg sind. Alles, was du über sie wissen willst, wirklich. Bitte? Jem?”

Er hatte die Koseform meines Namens noch nie so unterwürfig gebraucht, und wie er mich jetzt doch mit dunklen Augen ansah, war ich erschrocken, zu sehen, dass ich etwas tief in ihm aufgewühlt hatte, was er zu berühren vermieden hatte, bis er mich getroffen hatte. Ich wusste nicht, was für eine Last er so tief in sich mit sich herumtrug, aber ich hatte ihn nicht zu einer Äußerung zwingen wollen; nicht so, dass es ihm Qual bereitete, darüber nachzudenken. Von mir aus könnte er alles für sich behalten, wenn es ihm so wehtat, daran zu rühren. Und er hatte gewiss wirklich Mühe, seinen Mut zusammenzunehmen, um zu den Leuten zurückzukehren, von denen er fast schon geflohen war. Nur wovor?

Ich hatte nicht so in der von neuem offenen Wunde nachbohren wollen, die er ohnehin nur deshalb angetastet hatte, um mich von hier wegzubringen. Alleine käme er auch hier zurecht. Alleine könnte er in irgendeine unbekannte Gegend gehen; selbst in die Unterwelt der Stadt; zum Beispiel in die Überreste des U-Bahntunnelnetzes (die von den unheimlichsten Freaks überhaupt besetzt wurden, und in denen ich Glück hätte, würde ich nicht gleich gefressen, wortwörtlich oder im übertragenen Sinne). Saku käme zurecht. Aber nicht, wenn er um meine Sicherheit besorgt war.

“Tut mir leid”, murmelte ich betroffen. “Ich wollte dich nicht verletzen.” Mir wurde bewusst, dass ich den ernsthaften Mann noch nie so aufgewühlt gesehen hatte, und so verwundbar. Es erschreckte mich mehr, als ich zugeben wollte.

Aber meine bewundernde Zuneigung schmälerte es nicht. Eher steigerte es noch das Gefühl, bei ihm bleiben zu wollen. Er war immerhin mein Bruder, und ich liebte ihn. Ich würde noch dann zu ihm stehen und seine Motive verteidigen, wenn er sich selbst und alle um sich herum umbringen würde.

“Jamie”, sagte er leise, mit einer Stimme, unsicher wie leichter Regen, in die Stille der späten Nacht; so spät, dass sie schon wieder früh zu nennen war. “Wenn du es unbedingt wissen willst, dann würde ich dir auch alles erzählen. Über meine Freunde. Ich könnte dir Stunden von ihnen erzählen; über jeden einzelnen von diesen Jungs... Allerdings möchte ich mich im Moment lieber noch nicht zu genau erinnern; nicht, bevor wir auf dem Weg sind. Aber wenn es dir so wichtig ist, dann frage ruhig. Ich sehe ein, dass es schwer ist für dich, nichts zu wissen.” “Oh, Sakuya...” Ich stand von meinem kühlen Sitzplatz auf dem Boden auf und setzte mich neben ihn auf das Bett. Die alte Matratze gab stark nach, selbst nur unter unser beider Gewicht. Ich legte die Arme um ihn und barg das Gesicht an seiner Schulter; ich spürte, wie er nach einer überraschten Pause erleichtert die Arme um mich legte und mich an sich drückte, und ich spürte das leichte Beben, das ihn durchzuckte, als er leise lachte, während er mir durch das seidige Haar fuhr.

“Jem, dir ist schon klar, dass es mein größtes Glück ist, dich gefunden zu haben, oder?” Ich hielt mich nur an seinem warmen, schlanken Körper fest und spürte, wie sein Herz schlug. Er roch so gut, wie die schwere Luft nach einem warmen Regenguss im Spätsommer, und ich liebte es, in seinen Armen zu liegen, die so unglaublich weich und sanft waren, wenn sie sich um mich legten, dass ich mich so beschützt fühlte, als wenn mir nie etwas geschehen konnte. Und ich ging davon aus, dass mir in der Tat wenig drohte, wenn der blasse Schwarzhaarige bei mir war.

Ich liebte es auch, seinen Atem zu hören, und einfach nur zu zweit zu sein, ohne etwas zu sagen, nur um des Gefühls des Nicht-Allein-Seins willen. Wir hielten uns oft gegenseitig fest, wenn die Nächte in der sterbenden Stadt selbst uns Nachteulen zu lang und zu dunkel wurden, und ich war froh, zu wissen, dass Sakuya bei mir war, und dass uns nichts wieder würde trennen können. Nicht viele haben eine solch innige Bindung zu ihrem Bruder, aber wir hatten uns erst sehr spät zum ersten Mal getroffen, als wir beide so allein gewesen waren wie noch nie zuvor, und wir waren uns so ähnlich, dass wir den anderen brauchten, um uns selbst in ihm zu finden.
 

Später, als es schon auf die Morgendämmerung zuging und ich schon im Einschlafen begriffen in Sakuyas Armen lag, die Augen geschlossen, träge im Wegdämmern und eng an ihn gekuschelt, um so viel Körperwärme wie möglich abzubekommen, um die Kälte zu vertreiben, die nebelgleich durch die brüchigen Wände um uns kroch wie ein Vampir, sprach er mich noch einmal an, und ich bemerkte müde, dass er die ganze Zeit über noch am Grübeln gewesen sein musste.

“Jamie, weißt du...ich habe dir nie viel über mich erzählt, und über...du weißt praktisch gar nichts über mich.”

“Das macht mir nichts aus”, murmelte ich mit matter Stimme. “Ehrlich. Ich kenne dich gut genug, um mir keine Sorgen deswegen zu machen. Immerhin sind wir Brüder.” Als ob das alles erklärte!

“Nein”, flüsterte er bedrückt. “Ich meine...du weißt natürlich, wie ich bin, aber wie ich mich dir gegenüber verhalte, ist noch längst nicht alles. Du kannst gar nicht wissen, wer ich bin, wenn du nicht über mein Leben Bescheid weißt. Und vielleicht würdest du mich nicht mehr so sehr mögen, wenn du meine Vergangenheit kennen würdest.” “Dann will ich sie gar nicht wissen”, sagte ich müde und regte mich nun doch ein wenig in seinen Armen, um meinen Kopf an seine Brust legen zu können, denn es war kalt geworden im Zimmer, und die Decke, die uns beide umhüllte, war viel zu dünn für den Winter. “Außerdem glaube ich das nicht. Du bist doch du. Und wenn du eine schreckliche Vergangenheit hattest, sie ist trotzdem nicht mehr als eben Vergangenheit. Was machst du dir denn jetzt noch so einen Kopf darum? Es ist doch bestimmt vorbei, also was soll’s.”

Saku holte tief Luft; ich spürte es an meiner Stirn. “Ja, irgendwie schon; aber...” “Hör auf, Saku”, murmelte ich erschöpft. “Ist doch egal. Mir jedenfalls ist es völlig gleich. Du denkst einfach zuviel. Schlaf lieber.”

Ein Seufzer. “Das war höflich für ‘halt die Klappe und lass mich schlafen’, oder? Tut mir leid.”

Er zog mich ein Stück näher an sich. Für eine Weile schwieg er auch wieder, und ich schlief schon fast. Dann fing er doch noch einmal damit an. “Aber trotzdem, wenn du etwas wissen willst...” In mir wuchs langsam der Gedanke, dass er sich fast wünschte, dass ich ihn ausfragte; genauso sehr, wie er erleichtert war, dass ich es nicht tat.

“Ehrlich; wer von uns ist hier der Jüngere”, murrte ich im Halbschlaf. “Wenn es mich interessieren würde, hätte ich dich schon längst gefragt.” “Hmm...” Saku stieß tief den Atem aus.

Dann legte er den linken Arm um meinen Rücken und strich mir durch die weichen Haare. “Schlaf gut, Kleiner”, wisperte er mir ins Ohr, was ich schon kaum noch hörte, während draußen langsam die Sonne aufstieg und durch unser Fenster unsere unter der dünnen Decke zitternd aneinander geschmiegten Körper beschien.
 

Als ich aufwachte, war ich allein, und die alte Decke war sorgsam um meinen Körper gewickelt worden, zusammen mit Sakuyas Mantel, den er hatte waschen müssen und der jetzt offensichtlich getrocknet war. Ich blieb noch eine Weile liegen und blinzelte entspannt in dem kühlen Nachmittagslicht, das durch das Fenster aufs Bett fiel. Saku war nicht da; wahrscheinlich war er losgegangen, um Essen zu kaufen und was immer er sonst noch für nötig hielt.

Ich hatte keine Eile mit dem Aufstehen. Immerhin hatte ich Zeit, und hungrig war ich auch nicht. Endlich hatte sich auch das Bett angewärmt, so dass ich mich noch ein bisschen dichter in mein karges Nest kuschelte und genüsslich wieder die Augen schloss. Ich lag für eine Weile einfach still und lauschte auf die Ruhe, die sich in einem leeren Zimmer nun mal ausbreitet an einem klaren Nachmittag, wenn man gerade ausgeschlafen hat. Es war eine besondere Art von Ruhe, ganz für mich alleine, die ich voll auskostete, wie ein Glas goldenen Honigs.

Irgendwann kehrten meine Gedanken wie von selbst zu Junya zurück, und zu unserem kurzen Gespräch. Ich konnte mir nicht helfen; mir war, als könne ich seine warmen dunklen Augen noch immer vor mir sehen, wie sie mich unverwandt und voller Ernst angesehen hatten. Und noch immer konnte ich die leichte Berührung seines flüchtigen Kusses auf meiner Wange spüren. Ich drückte mich ein wenig tiefer in die Decken. Eigentlich konnte ich mich daran sogar am deutlichsten erinnern. Das kam mir falsch vor.

Musste ich deswegen jetzt ein schlechtes Gewissen haben? Weil ich einem Schwerkranken meine Hilfe zugesichert hatte und jetzt an nichts dachte als an einen...einen Kuss? Es war ja nicht einmal ein richtiger Kuss gewesen.

Jetzt, wo ich die Muße zum Nachdenken hatte, fielen mir wieder viele Details unserer Begegnung ein. Sein samtiges, helles Haar. Sein zerbrechlicher Körper, dessen kostbaren Herzschlag ich noch durch die Kleidung hatte spüren können, als er sich an mich gedrückt hatte wie ein verschrecktes Kaninchen. Ich konnte mir das alles so lebhaft in Erinnerung rufen, als hätte ich ihn eben erst gesehen. Irgendwie fühlte ich mich dadurch verunsichert.

Aber ich musste ihm heute Nacht das Geld bringen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Und ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz schneller schlug bei dem Gedanken, den Jungen wieder zu sehen; und was mir gestern Nacht noch so selbstverständlich erschienen war, nahm mir rückblickend heute den Atem.

Ich wälzte mich unter der Decke auf den Bauch und hielt das Kissen umklammert, während ich mit in den Nacken gelegtem Kopf in den blauen Himmel starrte.

Das alles musste nichts zu bedeuten haben. Ich war vielleicht ein bisschen durcheinander. Immerhin hatte ich mir eine verantwortungsvolle Aufgabe gestellt.

Ich hoffte wirklich, dass ich Junya helfen konnte; und wenn er mit uns kommen könnte, dann würde er nie mehr Angst haben müssen. Dafür würden Saku und ich dann sorgen.

Mein Bruder würde ihn mögen, das wusste ich. Wenn er erstmal die Sache mit dem Geld verschmerzt hatte.

Der Nachmittagshimmel war ganz blau und ohne eine einzige Wolke. Ich fragte mich, ob das ein gutes Vorzeichen war.
 

Ich erhob mich dann doch bald, weil ich es nicht mehr aushielt, noch länger zu liegen und meinen Gedanken ausgeliefert zu sein.

Meine Gedanken kehrten nämlich immer wieder zu Junya zurück, sobald ich sie schweifen ließ. Seltsam, oder? Ich hatte ihn doch kaum getroffen. Aber irgendwie ging er mir nicht aus dem Kopf.

Ich war nicht verliebt.

Davon war ich überzeugt.

Um so mehr verwirrte und beunruhigte mich die schlichte Tatsache, dass er so präsent war in meinem Geist, die Erinnerung immer bereit, wieder aufzutauchen, sobald ich nicht aufpasste wie ein Luchs.

Ich war nicht verliebt.

Ich war völlig durcheinander, weil ich noch nie zuvor geküsst worden war, nicht einmal ein so kleines bisschen wie von Junya, sei es nun von einem Mädchen oder einem Jungen. Dass Junya ein Junge war, erschien mir dabei eher nebensächlich. Naja, genau genommen war es ein Plus.

Dennoch: Mir schwante schon, dass mir noch eine Menge an Chaos und auch Schwierigkeiten bevorstehen würde, wenn ich nicht alles ableugnete und Junya links liegen ließ.

Selbstverständlich würde ich das nicht tun.
 

Ich schlich ins Bad, mir noch den Schlaf aus den Augen reibend, und vermied den Blick in den gesprungenen Spiegel, weil ich mir den Anblick einer Wasserleiche, die den Finger in die Steckdose gesteckt hat, ersparen wollte; mein übliches Morgenoutfit. Oder Nachmittag in diesem Fall mal wieder, aber lasst es uns einfach mal Morgen nennen, weil ich gerade aufgestanden war, und immerhin aß ich ja auch öfters mitten in der Nacht zu Mittag und nannte es noch so. Ich erwähnte bereits, dass Sakuya und ich einen chaotischen Tagesablauf hatten.

Die Fliesen waren ziemlich kalt unter meinen nackten Füßen, aber das weckte mich wenigstens noch ein wenig mehr auf, und ich balancierte fröstelnd auf einem Bein, während ich mir mein T-Shirt, in dem ich geschlafen hatte, über den Kopf zog. Das wollte ich sowieso gleich noch waschen, also ließ ich es einfach zu Boden fallen. Es war nicht viel Boden da, weil das Badezimmer eher winzig war, aber es gab noch weniger Ablagemöglichkeiten, und dort war schon ein Handtuch zum Trocknen ausgebreitet. Ich befühlte es. Es war noch ziemlich feucht. Wenn Saku es nicht gerade mit Wasser getränkt hatte, konnte er noch nicht allzu lange weg sein. Das bedeutete für mich wahrscheinlich einen langen, ruhigen Nachmittag. Ich durfte Sakus CD-Player benutzen, wenn er nicht da war, aber ich tat das nicht immer, weil ich nicht seine Batterien aufbrauchen wollte.

So hatte ich Zeit, das Geld zusammenzusuchen, fiel mir ein, und etwas in meiner Brust krampfte sich ein wenig zusammen. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen bei der Sache. Sakuya hatte so viel für mich getan und kümmerte sich so aufmerksam um mich, brachte mir sogar Schokolade mit, wenn er welche fand, obwohl Süßigkeiten hier ziemlich teuer waren, und wie dankte ich es ihm?

Aber was hatte ich schon für eine Wahl. Ich konnte jetzt schließlich unmöglich einen Rückzieher machen.

Unsere Dusche war mit größter Zartfühligkeit zu handhaben, wenn die richtige Menge Wasser auf einen herabregnen sollte, aber ich kannte mich schon ein wenig mit ihren Launen aus und kümmerte mich nicht weiter darum. Vielleicht hatten Sakuyas Freunde eine gute Dusche; eine, aus der auch warmes Wasser kam. Bei uns nämlich nicht. Aber das war alles eine Sache der Gewöhnung, und aus diesem Grund duschte ich auch so gerne ‘morgens’, um nämlich besser wach zu werden. Ich musste mittlerweile unglaublich kälteresistent sein. Aber so mangelhaft auch alles war, was wir besaßen; ich liebte mein Leben mehr denn je zuvor, denn im Gegensatz zu der katholisch-mittelalterlichen Jungenschule, in die ich jahrelang von meiner angeblichen Patentante gezwungen worden war - einer widerlichen konservativen Hexe - war das hier ein Paradies.

Ich war streng aufgezogen worden. Wie in einem Haushalt aus dem siebzehnten Jahrhundert. Bis sie gestorben war - kein großer Verlust für mich. Ich war von der Schule genommen worden - kein Geld mehr da, natürlich. Ein Glück. Da war ich fünfzehn gewesen. Ich hatte mich ein paar Monate lang mehr schlecht als recht durchschlagen können, und dann war Saku gerade noch rechtzeitig gekommen. Ich war nicht für das Leben auf der Straße gemacht.

Ich genoss das eiskalte Wasser, das an meinem zitternden Körper hinabrann und mich wieder in die Realität zurückbrachte. Ich träumte zwar gerne, aber Erinnerungen verunsicherten mich stets irgendwie, oder zumindest die meisten von ihnen. Und obwohl ich jetzt noch mehr fror als zuvor, genoss ich das Gefühl irgendwie, denn die nasse Kälte hatte etwas Lebendiges. Es gab nichts Besseres, um klar im Kopf zu werden.

Ich trat aus der Dusche und schnappte mir ein weißes Handtuch, und während ich begann, mir die tropfenden glänzenden Haare trockenzurubbeln, warf ich doch einen vorsichtigen Blick in den Spiegel, bereit, es nach meiner Dusche zu riskieren und auf das Schlimmste gefasst. Aber ich sah zum Glück wieder normal aus; soll heißen, ich hatte den gruseligen Anblick von vorher wegspülen können. Nur blass war ich noch, so blass wie immer, aber das überraschte mich nicht. Unter meinem, nun nass, wirklich dunklen Haar hindurch, dass mir in Strähnen an Kopf und Nacken klebte, blickten mich die vertrauten Träumeraugen an, und mein Spiegelbild erwiderte meinen fragenden Blick so ernst und vorwurfsvoll, dass ich mich fragte, ob es es mir übel nahm, dass ich meinem Bruder so wenig ähnlich sah.

‘Und sieht so auch jemand aus, der den einzigen Menschen bestiehlt, den er hat?’, fragten mich die dunklen Augen meines Spiegelbildes wortlos. Ich stützte die Handflächen aufs Waschbecken und erwiderte meinen Blick einige Sekunden stumm. Dann warf ich das feuchte Handtuch auf die kleine Kommode. “Du hast hier gar nichts zu melden, also halt dich da raus”, warnte ich mein spiegelverkehrtes Ich, ehe ich mir mein T-Shirt vom Boden schnappte und es im Waschbecken mit einem Rest Seife wusch.

Dann, nachdem ich es zum Trocknen aufgehängt hatte und somit alle meine hausfraulichen Arbeiten als erledigt betrachtete, taperte ich zurück in das Wohn- und Schlafzimmer beziehungsweise die Küche, wo ich mir aus unserem Kleiderschrank, sprich hässlichem altem Büromöbel, etwas zum Anziehen heraussuchte. Die schwarze Hose von gestern, die war immer gut, und zu guter Letzt streifte ich mir einen Metallica-Pulli über die noch immer nassen Haare, die mir glänzend in die Kapuze hingen. Ich glaube, ich habe von dieser Band noch kaum etwas gehört - also Lieder, meine ich -, obwohl ich mir sicher bin, dass ich zumindest eines kenne; aber alte Bandpullover sind einfach wunderbar warm, also ist es klar, dass wir uns welche schnappen, wo wir sie kriegen können. Dieses hatte ich vorigen Monat aufgegabelt. Es war trotz seines Alters fast wie neu; nur der untere Saum war total ausgefranst. So viele Leute waren in den letzten zwanzig Jahren gestorben, dass man immer noch etwas auf alten Dachböden finden konnte, auch wenn natürlich der Großteil längst irgendwo unter die Leute gebracht worden war.

Danach ging ich zu unserer Kochecke und machte mir sauber, warm und selig eine Tasse Milch warm.

Aber so sehr ich es mir auch wünschte, ich konnte es nicht ewig hinauszögern, das Geld zu...nehmen. Das durfte ich gar nicht. Junya brauchte es. Er verließ sich auf mich. Und ich hätte alles getan, um ihn nicht enttäuschen zu müssen.

Außer vielleicht, meinen Bruder zu bestehlen.
 

Mein Herz krampfte sich zusammen vor Schuldgefühlen, als ich unter die Matratze in ein in selbige geschnittenes Loch griff und die verbeulte Kassette hervorholte, in der eine Hälfte unserer Ersparnisse lagerte. Die andere Hälfte trug Sakuya immer bei sich, falls diese hier entdeckt wurde, was leider ziemlich wahrscheinlich war mangels besserer Verstecke. Ich hatte mich freiwillig von dieser Verantwortung losgesagt.

Das Metall war kalt unter meinen verkrampften Händen, als ich unter Mühen den Deckel aufklappte, denn die Scharniere waren alt und verbogen, weil die Kassette lange draußen im Müll gelegen hatte, ehe wir losgegangen waren und sie als Spardose aufgegabelt hatten.

Ich zählte die Scheine, die darin enthalten waren. Fast zweihundertsechzig Euro. Nicht viel, bei der momentanen Inflationsrate, obwohl die Lage sich langsam zu bessern schien. Aber von der Hälfte davon würde Junya sicher seine Medizin bekommen. Mit dem restlichen Viertel wurden wir noch klarkommen, bis wir hier weg waren, weg aus der Stadt. Und danach? Das würde sich zeigen. Im Moment jedenfalls war ein Menschenleben wichtiger. Ich griff mit einem schlechten Gefühl in die Kassette und nahm die Scheine heraus. Hundert Euro. Nein, das war gewiss zu wenig. Ich atmete tief durch und entnahm schließlich zweihundert Euro in Scheinen.

Das war fast die Hälfte unseres Geldbesitzes. Die Saku mühsam verdient hatte, um uns ein Leben nicht unter der Armutsgrenze zu ermöglichen, so gut es in dieser Gegend eben möglich war. Wir kamen gut klar. Ich hatte nichts zu klagen. Es hatte immer die Gefahr bestanden, dass mein Bruder auf der Straße angegriffen wurde und wir mit der Hälfte auskommen müssten, oder dass er gar nicht mehr zurückkam. Unser Vorteil war vor allem unsere Schnelligkeit. Selbst Sakuya verlegte sich meist auf die Flucht, wenn es eng wurde. Wir waren ganz wie die streunenden Katzen am Hafen. Die ständige Gefahr war uns beiden wohl bewusst.

Es wäre zu schaffen. Saku hatte Vorsorge getroffen. Es würde uns nicht ins Unglück stürzen, würden wir das Geld verlieren. Wir würden uns eben zusammenreißen müssen. Ich würde tun, was ich konnte, um alles wieder zusammenzubekommen, was ich nahm. Aber jetzt war keine Zeit, um mir das Geld für Junya zu verdienen.

Trotzdem hatte ich noch ein schlechtes Gewissen, als ich mir die Scheine mit klopfendem Herzen in die Hosentasche schob und die Kassette wieder in der Matratze versteckte.

Und wie würde Saku reagieren, wenn er es herausfand? Wenn er mich jetzt gar rauswarf, weil ich mich seines Vertrauens als unwürdig erwiesen hatte? Ich glaubte es nicht, dennoch wäre mir wohler, ich müsste das nicht tun. Aber was war ich schon gegen jemanden, dessen Leben auf dem Spiel stand? Als ich mir das immer wieder vorsagte wie ein Mantra, beruhigten sich meine Nerven ein wenig. Egal, was passierte, ich wusste, dass ich das Richtige tat.
 

Es dauerte bis zum späten Abend, bis Saku zurückkam. Ich wollte auf ihn warten, um ihm zu sagen, wohin ich ging, auch wenn ich die Details auslassen würde. Aber obwohl ich fürchtete, dass er mir am Gesicht ablesen könnte, dass ich ihm das Entscheidende verschwieg, vertraute ich dennoch darauf, dass er mich in Ruhe lassen würde, und ich käme mir schlecht vor, würde ich einfach so gehen. Ich selbst hasste es, nach Hause zu kommen, um dann eine leere Wohnung vorzufinden. Das hatte etwas so furchtbar Niederschmetterndes, dass ich danach regelmäßig ganz geknickt war, und wenn ich erst einmal wieder in einer dieser meiner Phasen steckte, musste sich Sakuya größte Mühe geben, um mich wieder aufzuheitern. Ich nannte das keine psychische Störung oder so. Ich war nur nicht gern allein. Ich brauchte immer jemanden, an den ich mich anlehnen konnte.

Vielleicht war ich in meiner Kindheit zu oft alleine gewesen.

Zum Glück geschah es nur selten, dass ich derartig bedrückt wurde. Und wenn ich mich doch einmal alleine fühlte oder etwas auf dem Herzen hatte, so wie jetzt, dann kuschelte ich mich wieder ins Bett, sobald meine Stimmung allzu trübe zu werden drohte, und lauschte den tröstlichen Klängen der CDs meines großen Bruders.

Ich lag verträumt auf dem Bauch auf der dünnen Matratze, den Kopf auf den verschränkten Armen auf die Fensterbank gelegt, so dass ich die Krähen beobachten konnte, die in unregelmäßigen Formationen hin und wieder über den sich verdunkelnden Himmel zogen, an dem langsam die ersten Sterne aufzuflammen begannen. Es würde eine klare Nacht werden. Vor mir standen die Reste meines lustlos eingenommenen Abendessens, das für mich sowieso mal wieder ein Mittagessen gewesen war.

Ich war schon bei dem letzten Lied auf meinem Lieblingsalbum angelangt und summte müde den Kopf auf die Arme gebettet die letzten Töne mit, während das Lied sich seinem Ende zuneigte. ,And never again, they gave us two shots to the back of the head and we’re all dead now...’

Da spürte ich plötzlich ein paar Arme, die mich so plötzlich von hinten packten, dass mir fast das Herz stehen geblieben wäre.

“Saku!”, beschwerte ich mich, als ich den Kopf wandte und in ein schönes, blasses Gesicht sah, aus dem mich ein Paar dunkelgraue Augen jetzt belustigt anfunkelten, während ihr Besitzer sich neben mich aufs Bett fallen ließ. “Du hättest mich fast zu Tode erschreckt!”

Ich seufzte ergeben und schaltete den CD-Player aus, dann wandte ich den Blick wieder aus dem Fenster, um eine Gruppe Krähen zu beobachten, die gerade in der Nähe aufgestiegen waren und sich uns näherten. Saku kraulte mir noch immer lächelnd den Schopf, und ich streckte mich wohlig seinen langen, geschickten Fingern entgegen.

“‘Flieg, Vogel, schnarr

Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -

Versteck, du Narr,

Dein blutend Herz in Eis und Hohn!/

Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein, -

Weh dem, der keine Heimat hat!’”, zitierte er, indem er meinem Blick folgte. Ich wandte ihm träge blinzelnd ein Auge zu. Der Ältere verfolgte nachdenklich den Flug der zerrupften Vögel mit klaren Augen. Ein bisschen hatte er selbst Ähnlichkeit mit einem großen Rabenvogel, wie er da in seinem schwarzen Mantel auf der Bettkante hockte und die Anspannung nur langsam aus seinem Körper wich, als würde er sein glänzendschwarzes Gefieder ausschütteln. Aber aus seinen Augen sah noch immer der Wolf, als den ich ihn kannte und der er immer sein würde.

“Nietzsche?”, erkundigte ich mich fragend, während mein Bruder zu meiner Enttäuschung aufstand und zur Kochecke ging, um sich Kaffee zu machen. Er sah kurz auf und lächelte mir flüchtig zu. “Stimmt. Sehr gut.” Ein Teil von mir, der nach Anerkennung hungerte, freute sich diebisch über das Lob; ein anderer Teil ließ mich mich auch hochquälen - aus einstündiger Bauchlage in den Stand zieht ganz böse im Rücken - und gähnend wegen der langen Ruhelage zu Saku kommen. Sakuya hatte das Wasser zum Kochen gebracht, und über das beständige Blubbern hinweg konnte ich ihn im Näherkommen leise eine andere Strophe des Gedichts ‘Vereinsamt’ vor sich hin murmeln hören, wie tief in Gedanken versunken:

“‘Nun stehst du starr,

Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!

Was bist du Narr

Vor Winters in die Welt entflohn?’”

Ich dachte nicht, dass das für mich bestimmt gewesen war, also sagte ich nichts, was beweisen könnte, dass ich ihn gehört hatte; aber ich begann doch mehr und mehr zu grübeln, aus welchem Grund Sakuya damals eigentlich fortgegangen war, wenn er doch alle seine Freunde noch immer liebte. Das entzog sich meinem Begriffsvermögen.

“Ist eigentlich irgendwas passiert?”

Ich hob schuldbewusst den Blick und versuchte, ihn so arglos wie möglich anzusehen. “Wieso? Was meinst du?” Saku zuckte die Schultern und wandte sich dann betont beiläufig wieder seinem Kaffee zu.

“Weiß nicht. Ich hab dich eben schon von unten am Fenster gesehen. Du machst ein Gesicht, als stünde der Weltuntergang vor der Tür.” Er bot mir eine Tasse Kaffee an, die ich dankend entgegen nahm. Ich hatte auch noch eine lange Nacht vor mir, wie es aussah.

“Ich weiß auch nicht”, antwortete ich dann ausweichend. “Liegt vielleicht auch nur an deiner Musik.” “Beschwer dich nicht über meine Musik”, sagte Sakuya mit einem leichten Zucken der Mundwinkel. “Du hättest sie dir ja nicht anhören müssen. Ich hab immerhin auch noch was Fröhlicheres.”

“Ach ja? Was denn?”, erkundigte ich mich; sowohl, um auszuweichen, als auch aus reiner Neugier. Mir fiel auf Anhieb nichts ein. “Also...” Mein Bruder überlegte und trank nachdenklich seinen heißen Kaffee. Ich hatte die Hände um meine dampfende Tasse gelegt und beobachtete sein ernsthaftes Gesicht erwartungsvoll. “Ich habe Filmmusik”, sagte er dann zufrieden und stellte die leere Tasse ab. Sakuya gehörte zu den Menschen, die Kaffee als Treibstoff tranken. Was in diesem Fall bedeuten musste, dass er heute Nacht noch etwas vorhatte. Dementsprechend schluckte er das Zeug auch bisweilen wie ein löchriger Mercedes.

Ich konnte nichts erwidern. Er hatte tatsächlich die eine oder andere aufmunternde CD; auch wenn Saku sie sich selten bis nie anhörte, aber es gab sie definitiv.

Also schwieg ich nur stille, trank meinen Kaffee, der jetzt genießbar temperiert war, und hoffte, dass er vergaß, was er mich zuvor hatte fragen wollen.

Ich hätte mir gleich denken können, dass das keinen Sinn hatte.

“Komm schon, Jem. Dich bedrückt doch was. Willst du es mir nicht sagen?”

Ich wand mich unter der Frage und gab zögernd einen Teil der Wahrheit preis: “Ich habe gestern Nacht einen Jungen getroffen, der todkrank ist.” Ich hoffte darauf, dass ihm das genügen würde. Saku stellte das Nachbohren tatsächlich ein; aber er hielt den Blick weiterhin wachsam auf mich gerichtet, während er den Kaffee verstaute.

“Das tut mir leid. Ja, das hat dich sicher getroffen. Was hat er denn?” “Eine Herzkrankheit.”

“Hm.” Saku stand auf und nahm die leere Tasse aus meinen Händen entgegen. Aber bevor er mit dem Abwasch ins Bad ging, blieb er noch eine Weile stehen und sah auf mich herunter. “Jamie, du weißt, dass du mich immer um Hilfe bitten kannst, wenn etwas ist, oder?” “Ja, ich weiß”, murmelte ich mit heiß brennendem Schuldgefühl. Und vielleicht sollte ich das auch tun. Aber ich... Ich sah nicht zu ihm auf. Wenn er nicht schon längst wusste, dass ich etwas vor ihm verheimlichte, dann wurde es ihm spätestens jetzt klar. Aber er sagte keinen Ton, sondern wandte sich ab und ging zum Waschbecken, um die Tassen abzuspülen. Ich wusste nicht, ob ich ihn enttäuscht oder verletzt hatte, aber ich konnte mir gut denken, dass es so war. Jedenfalls zeigte er es nicht. “Danke”, rief ich ihm etwas verspätet mit leiser Stimme hinterher. Ich war ihm dankbar sowohl für sein nun ausgesprochenes Angebot als auch dafür, dass er mich alleine mit den Dingen klarkommen ließ, die mich betrafen, solange ich ihn nicht um Hilfe bat. Ich hätte auch kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen, wenn diese Sache nicht mit dem Moment, in dem ich das Geld aus der Kassette genommen hatte, auch ihn etwas anging - und ich es vor ihm verheimlichte. Die zusammengefalteten Scheine lagen mir schwer wie Blei in der Hosentasche. Mir kam es fast so vor, als könne ich ihre heiße Gegenwart an meinem Oberschenkel durch den Stoff hindurch noch spüren.

Sakuya kam nach einer Weile zurück und trocknete sich die Hände ab.

“Ich muss noch mal los”, sagte er mit einem düsteren Blick aus dem Fenster. Sein Gesicht lag im Dunkeln, weil es jetzt wieder Nacht draußen war. “Ich muss noch einige Dinge regeln, bis wir losgehen. Wenn du auch noch rausgehst, dann bleib bitte nicht ganz so lange; bis Mitternacht sei wieder zu Hause. Wir brechen morgen nach dem Aufstehen auf. Und pack alles ein, was du mitnehmen willst.” Ich nickte und erhob mich. Ich war aufgeregt. Mir stand in der nahen Zukunft eine Menge Unruhe bevor, so wie es aussah.

“Wartest du kurz? Ich komme gleich mit.” Ich sprang auf, zog mir schnell meine alte Jacke über und schlüpfte in meine Schuhe. Dann pustete ich mir die widerspenstigen Haarsträhnen aus der Stirn und lief an Sakuyas Seite, der mir leise lächelnd die Tür aufhielt, ehe wir zusammen die Treppe hinunterliefen.

Wir huschten wie Schatten durch die verlassene Eingangshalle, und die Häuser ragten kahl und stumm vor unseren grauen Augen empor, als wir mitten in die Nacht traten.

Ich atmete tief die kalte Luft aus; mein Atem schwebte mir weiß vor dem Gesicht wie ein Gespenst. Es war ganz still in der Häuserschlucht, in der wir standen.

“Fällt dir hierzu auch ein Gedicht ein?”, fragte ich Sakuya, während wir uns Seite an Seite durch die Gasse drückten und uns Richtung Hafen in dem Schatten der Mauern hielten. Das fragte ich ihn manchmal, wenn mein Herz so bedrückt war, dass es nach ein wenig mehr Schönheit in der Stille gierte wie ein Süchtiger nach dem Schuss. Ich war der Ansicht, dass Menschen, die Gedichte liebten, keine schlechten Menschen sein konnten. Und niemand konnte sich Gedichte so gut merken wie Saku. Mein Bruder hob den Blick gen Himmel und überlegte.

“‘Liegt eine Stadt im Tale,

Ein blasser Tag vergeht;

Es wird nicht lange dauern mehr,

Bis weder Mond noch Sterne,

Nur Nacht am Himmel steht.’”

“Das stimmt aber nicht”, protestierte ich mit einem Blick meinerseits zum Himmel, wo die Sterne funkelten wie tausende Diamantensplitter auf schwarzem Samt ausgeschüttet. Sakuya lachte.

“‘Und funkeln alle weit und breit

Und funkeln rein und schön;

Ich seh die große Herrlichkeit

Und kann mich satt nicht sehn...’ Besser so?” “Hm”, meinte ich zufrieden. “Warum suchst du dir immer erst so bedrückende Gedichte aus? Du kennst so schöne, Saku!”

Er zuckte die Schultern; im Dunkel der Gasse ahnte ich es mehr, als dass ich es sah. “Frag mich was Leichteres. So bin ich nun mal. ‘Dem Rauche gleich, der stets nach kältern Himmeln sucht’.”

Ich musste lachen. Der Klang hing hell wie ein Glockenton in der überraschten Nacht. Saku strich mir freundschaftlich durchs Haar. “Jetzt hast du was vom Zaun gebrochen, Jem! Dabei bist du selber ein kleiner schwarzer Kater, sieh dich an!” Er meinte meine Jacke. Er grinste, ich sah es im Mondlicht. “Aber süß. Kaum zu fassen, dass du mein Bruder bist. Ich kann von Glück sagen”, schnurrte er mir ins Ohr. Ich errötete unwillkürlich, was ihn nur noch mehr entzückte, und er lachte herzlich.

Nach einer kurzen Weile nur kamen wir aus dem Gewirr der Gassen in ein weniger von Mauern durchzogenes Gebiet. Sakuya wies mit dem Kopf nach rechts, wo sich die Straße im Dunkel verlor. “Von hier an möchte ich, dass du mich nicht weiter begleitest. Ich komme so schnell wie möglich zurück; gib Acht, dass du nicht wieder so viel herumstreunst.” Ich nickte. Mein Weg führte geradeaus. Ein paar Straßen, dann würde ich da angekommen sein, wo ich Junya zum letzten Mal gesehen hatte.

Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken.

Saku wandte sich zum Gehen. “Warte noch”, hielt ich ihn zurück.

“Hm? Was ist denn?”

Ich sah ihm in die Augen und brachte ein Lächeln zustande. “Pass auf dich auf.” Das Eis in Sakus Blick brach einmal mehr auf, ein Anblick, der mich jedes Mal aufs Neue erwärmte, und er schenkte mir ein flüchtiges Strahlen.

Dann zwinkerte er mir zu: “Mir ist was eingefallen, das dürfte dir gefallen:

‘Quellende, schwellende Nacht,

Voll von Lichtern und Sternen:

In den ewigen Fernen,

Sage, was ist da erwacht!’”

Dann wandte er sich um und strich die Straße hinunter, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.

“Sage, was ist da erwacht”, hing mir auf den nachdenklichen Lippen wie ein letzter süßer Tropfen, den ich noch mit der Zungenspitze abtupfte. Ja, das wüsste ich auch zu gerne. Die Sterne jedenfalls glitzerten in all ihrer Herrlichkeit über mir, als gelte es das Letzte.

Und mich durchfuhr das zugleich erleichternde wie schaudern machende Gefühl, lebendig zu sein; und ich atmete den erzitternden Moment tief ein.
 

Nachdem ich die Straße überquert und die paar Blocks entlanggegangen war, die Hand gegen meine Hosentasche gedrückt, als könnte mich das irgendwie beruhigen, trat ich leise wie ein Schatten an der Straßenlaterne heraus, von der ich Junya in der Vornacht am Hafenbecken hatte sitzen gesehen. Ich atmete tief aus, als ich eine schmale Gestalt sah, die sich mit dem Rücken in den Windschatten der Mauer einer Lagerhalle gedrückt hatte; unweit der Stelle, wo wir uns verabschiedet hatten. Der Junge hielt die Arme um den Körper geschlungen und sah in die weite Ferne der Nacht. Ich stand zwar im hellen Lichtschein, aber er entdeckte mich nicht, weil er in die falsche Richtung sah; auch, als ich so leise näher kam, als betrete ich ein Bauwerk aus frisch gefallenem Pulverschnee, das bei dem kleinsten Geräusch in sich zusammenfallen könnte.

Erst als ich an seine Seite trat, hob er den Kopf, und für einen Moment sah ich durch die hellen fedrigen Strähnen, die ihm kreuz und quer ins Gesicht hingen, wie sich seine Mandelaugen in stummer Ungläubigkeit weiteten.

“Jamie”, flüsterte er mit einer Stimme, in der grenzenloses Erstaunen mitschwang. “Du bist...” Ihm versagte für einen Moment die Stimme.

“Du bist zurückgekommen...”

Ich nickte überflüssigerweise und lächelte ihm scheu zu. “Ich habe dir doch versprochen, dass ich komme. Was hattest du denn erwartet?” “Ehrlich? Ich hätte nie erwartet, dass du wirklich kommst. Ich dachte, ich stelle mich hier hin, und warte eine Weile, ganz für mich, und...”

Er hob verlegen die Schultern.

“Und gebe mich für einen Abend einem schönen Traum hin.”

Ich schüttelte vehement den Kopf. “Nein”, erklärte ich entrüstet. “Du kannst mir glauben, dass ich meine Versprechen halte. Und du hast doch nicht etwa im Ernst gedacht, dass ich dich jetzt alleine lasse, mit deinem Herzen und so, wo ich dir doch helfen und dein Freund sein wollte...”

Ehe ich weitersprechen konnte, spürte ich seine Arme, die sich fest um mich schlangen und mich an ihn drückten, so dass ich seine Wärme und sein wild schlagendes Herz an mir spüren konnte. Ich glaube, ich bin rot geworden, und ich war so überrascht, dass ich erstmal überhaupt nicht reagieren konnte. Ich war mir nicht sicher, ob Junya den Unterschied zwischen ‘Freund’ und ‘Freund’ herausgehört hatte, aber was mich viel mehr beschäftigte, war die schlichte Tatsache, dass ich mir selber für eine Weile ziemlich unsicher über eben diesen Unterschied war. Ich kann nicht sagen, dass mir diese Nähe unangenehm war, aber er muss es wohl so empfunden haben, denn als er mich bald wieder losließ, waren seine Wangen gerötet und er hielt den Blick gesenkt.

“...Tut mir leid, ehrlich”, sagte er verlegen. “Ich dachte nur...nein, ich dachte nicht, ich...ich habe mich nicht zurückgehalten. Es tut mir leid, ich bin nur so froh...entschuldige, wenn ich dir zu nahe getreten bin. Ich meine, du bist...” Ihm versagte ein weiteres Mal die Stimme.

Der arme Junge mochte Schwierigkeiten haben, in vollständigen Sätzen zu sprechen; ich dagegen hatte große Probleme, überhaupt zusammenhängende Gedanken zu bilden, die ich dann erst irgendwie in Worte hätte fassen müssen. Also verlegte ich mich auf meine Offenheit, die ich sowieso stets für den richtigsten - sofern es so etwas gab - und unproblematischsten Weg hielt, und antwortete auf den Teil seiner Rede, den ich als einziges komplett verstanden hatte.

“Nein, das macht doch nichts. Ich freue mich. Ich meine, ich freue mich, dass du dich freust.”

Ich hob ein bisschen hilflos die Schultern. “Also, na ja. Wenn du möchtest, darfst du mich gerne in den Arm nehmen.” Ich glaube, mein Mund war noch nie meinem Gehirn so weit voraus gewesen. Als ich realisierte, was genau ich da gerade so ungeschickt vorgebracht hatte wie ein verschnupfter Schuljunge, schwankte ich bestimmt ein bisschen.

Was mein Angebot im Übrigen nicht gerade glaubwürdig erscheinen ließ.

Junya lachte ein wenig verlegen, und dann standen wir zwei einige Minuten, so kam es mir vor, wortlos voreinander und wussten nicht, wohin wir sehen sollten - die Straße, der Hafen, die Betonmauer neben mir; sehr hübsch, sehr stilvoll, diese zeitlose Bautechnik - , bis mir einfiel, warum ich eigentlich hier war.

“Ach so, ja”, rief ich zerstreut aus und fummelte mit der Hand in meiner Hosentasche herum, bis meine suchenden Finger die zerknüllten Scheine zu fassen bekamen. “Ich hab was für dich. Ich hab’s dir ja versprochen. Hier.” Ich streckte ihm die Hand entgegen.

Junya zögerte erschrocken. “Ich habe dir gestern schon gesagt, ich kann das nicht annehmen.” “Das musst du aber”, rief ich verärgert. “Du hast das weder von mir verlangt, noch erwartest du das von mir, ich habe das ganz alleine entschieden, dass ich dir das Geld gebe, das du brauchst. Ich habe die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Bruder gehabt, aber ich habe trotzdem keine Sekunde gezweifelt, dass du es kriegen sollst, und ich will, dass du es bekommst, weil ich das für dich tun will, und ich bin schon immer unvernünftig gewesen, außerdem verlange ich von dir, dass du weiterlebst, also sag jetzt nicht, du willst es nicht, ich bestehe nämlich darauf!” Ich nahm seine erschrocken zurückzuckende Hand und schloss seine kalten Finger um die mitgenommenen Banknoten. Das ging doch nicht an, dass ich mir die ganze Zeit Gedanken machte, und dass dieser Kerl mir jetzt weiszumachen versuchte, dass er lieber sterben wollte! Erstens fand ich das beleidigend, und zweitens nahm ich ihm das sowieso nicht ab.

Junya stieß tief die Luft aus, und für einen Moment sah es so aus, als wollte er mir das Geld doch wieder zurückgeben. “Wenn du auch nur daran denkst, bringe ich dich persönlich um die Ecke”, warnte ich ihn, ehe er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

Zum ersten Mal lachte der Junge wirklich, und ich konnte deutlich hören, wie erleichtert er war und wie viel befreiter er die Nacht einatmen konnte. “Nein danke”, entgegnete er leise, während er das Geld mit zitternden Fingern einsteckte.

“Ich werde das niemals wieder gutmachen können. Du hast mir gerade das Leben gerettet.”

Der Junge hob den Blick und seine dunklen Augen blickten ehrlich und voll tiefer Dankbarkeit direkt in meine. “Hab ich gerne gemacht”, murmelte ich. Das war die volle Wahrheit. Ich war glücklich.

Junya senkte den Blick, hob ihn dann wieder; das Himmelblau seiner Augen flackerte unstet. „Jamie...weißt du...Ich kann nicht glauben, dass du das für mich getan hast, und egal, was du von mir denkst, ich bin unendlich dankbar, dich getroffen zu haben, und...” Er zögerte. “Und ich will...” Er zögerte, senkte dann wieder den unschlüssigen Blick, als hätte er Angst, weiter zu gehen, als er es schon war. Dann nahm er meine Hand vorsichtig in seine.

“Das bedeutet mir wirklich sehr viel”, flüsterte er, und ich spürte an seinem Daumen, wie schnell sein Pulsschlag war. Wie auch meiner.

Dann, ehe ich irgendwie antworten konnte, beugte er sich zu mir vor und ich fühlte seine weichen Lippen, die sich auf meine legten, so überraschend und sanft, dass ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, und während sich noch mein ganzes Herz zusammenzog, spielte sich die ganze Wirklichkeit um mich herum nur noch in einzelnen Eindrücken ab, die sich in mich brannten; die kalte Luft um uns, Junyas Herzschlag, den ich so deutlich hören zu können glaubte, als wäre es mein eigener, und seine salzigen Lippen, die vorsichtig die meinen berührten, und mir wurde schwindlig, als ich mich nicht zurückzog vor dieser unbekannten Hitze, die mich in einer Flutwelle durchströmte und mir den Atem nahm. Mein Herz setzte aus und fing dann rasend schnell wieder zu schlagen an, und in meinen Schläfen rauschte das Blut; als der Junge seine Lippen von meinen löste und ich seinen warmen Atem spüren konnte, so nah war er mir noch immer, sah ich, dass in seinen hellen Augen Tränen schimmerten. “Verzeih mir”, flüsterte er. Unsere Gesichter berührten sich fast in der Dunkelheit.

Junya senkte den Blick; unter seinen dunklen Wimpern quoll silbrig eine einzelne Träne hervor.

“Jamie, ich...verzeih mir...” Er hob das Gesicht und sah mich an; seine Augen waren groß. “Oh, bitte verzeih mir, ich kann nichts dagegen tun...” Eine weitere Träne rann ihm an der bleichen Wange hinab und tropfte auf den schwarzen Asphalt. In meiner Gelähmtheit, in der das Schlagen meines Herzens fast alles übertönte, antwortete ich mit dem ersten, was mir dazu in den Sinn kam.

“Aber da musst du doch nicht weinen!”

Und ich schloss den bebenden Jungen in meine Arme und zog ihn an mich, über seine fedrig-blonden Haare streichelnd, während ich auf seinen Atem lauschte. Junya atmete zitternd ein und drückte sich an mich. “Danke...”

Ich liebte dieses neue Gefühl, für andere da sein zu können, sei es nun Junya oder Sakuya; aber in diesem Moment hatte ich ebenso das Gefühl, dass er mich genauso sehr festhielt wie ich ihn, auch wenn er selbst es vielleicht gar nicht merkte.
 

Wir standen wohl einige Minuten lang so da, auch wenn mir das Zeitgefühl nachts in der Stadt immer abhanden kommt; ich hielt die Augen geschlossen, und bis auf unseren leisen Atem war es ganz still. Ich hätte nicht gewusst, was ich sagen konnte; ich mochte Junya, ich wollte bei ihm sein, aber es schien mir so gut wie sicher, dass jener noch etwas mehr wollte, und ich wusste nicht, ob mir das so ganz geheuer war.

Dann aber hörte ich, an der Grenze meiner bewussten Wahrnehmung nur, ein Geräusch, wie von leisen Schritten auf dem Asphalt, und als ich die Augen aufschlug und über Junyas Schulter blickte, sah ich meinen Bruder aus den Schatten auftauchen.
 

Ich hatte keine Ahnung, was er dachte, als er uns in dieser warmen Umarmung stehen sah, oder was ich wollte, dass er dachte, oder was er denken wollte, aber als unsere Blicke sich trafen, sah ich für den einen Moment nichts als ein kurzes Flackern unter der Oberfläche der Überraschung.

Nur ein Bruchteil einer Sekunde, dann hatte Junya ihn auch bemerkt, und die erste Reaktion von uns beiden war, auseinanderzuspringen wie zwei gleichgepolte Magneten, was die eigentlich erwünschte Wirkung äußerst effektiv ins Gegenteil verkehrte.

Ich bemerkte jedoch schnell, dass das egal war; denn nachdem er sein erstes Erstaunen überwunden hatte, zögerte Sakuya nicht lange. Er blickte sich um in die Straße, aus der er gekommen war, dann lief er schnell so leise wie möglich auf uns zu, seine schwarzen Lederstiefel verursachten kaum ein Geräusch auf dem Boden, sein offener Mantel wehte hinter ihm wie ein Paar mattschwarzer Rabenschwingen. Er hielt einen abgewetzten Beutel mit der Hand umklammert und als er uns erreicht hatte, griff er jeden von uns eilig an einem Arm.

“Kommt mit; schnell”, sagte er gepresst und zog uns mit sich in eine angrenzende Gasse.

“Was ist los?”, wollte ich wissen. “Was hast du -”, als ich Stimmen hinter uns hörte. Viele laute Stimmen, und das Knattern von alten Motorrädern.

“Es tut mir so leid, ich wusste nicht, dass ihr hier steht”, sagte Saku verzweifelt, während er einen raschen Blick nach allen Seiten warf und uns dann durch die angrenzenden Gassen schleuste, immer noch die Hände an unseren Armen. “Ich wäre nicht hierher gelaufen...”

Ich spürte, wie sich seine rechte Hand mit sanftem Druck um meinen Oberarm geschlossen hatte, und mit einem Mal hatte ich das hartnäckige Bedürfnis, mich vor ihm erklären zu müssen. “Wir haben nur -” “Sag’s mir später, Jem, ja”, unterbrach Saku mich leise. “Es ist jetzt egal.”

Er huschte noch um eine oder zwei Ecken mit uns - Junya war noch viel zu erschrocken, um überhaupt an Gegenwehr zu denken, und das war ich ebenfalls - , dann schob er uns in eine Nische zwischen zwei gemauerten Lagerhallen, die gerade breit genug war für uns zwei, und deren Rückwand von einem alten Container gebildet wurde, dessen marineblaue Farbe schon fast vollständig abgeblättert war. Sakuya stellte sich vor uns vor den Eingang der Nische und sah uns beiden ins Gesicht. Seine Augen schauten gehetzt drein, und wir konnten seinen grauen Blick nur stumm und erschrocken erwidern wie zwei Rehkitze.

“Passt auf”, sagte er leise. “Jamie, ich erkläre dir hinterher, was los ist; es ist jetzt nur wichtig, dass ihr hier bleibt, und dass ihr zwei euch nicht von der Stelle rührt und keinen Laut gebt, bis ich zurückkomme, um euch zu holen, verstanden?” Junya nickte stumm und mit geweiteten Augen. “Aber Saku”, begann ich verzweifelt. “Was hast du...”

Er schnitt mir wiederum das Wort ab. “Das ist jetzt nicht wichtig”, versicherte er eilig. “Jem, versprich mir, dass du hier bleibst, bis ich dich holen komme, ja?” “Aber...” “Versprich es mir!” Er sah mich jetzt eindeutig flehend an.

Ich nickte langsam und ergeben. “Ich versprech’s.” “Gut.”

Mein Bruder sah sich um, aber noch war alles still hinter uns. Dann wandte er sich wieder an uns. “Du”, sagte er zu Junya, der schuldbewusst zusammenfuhr. “Nein, keine Angst. Wie heißt du?” “Junya...” “Kannst du mit einer Waffe umgehen, Junya?” Der Junge schüttelte nur erschrocken den Kopf.

“Okay, dann also...” Sakuya warf wieder einen Blick über die Schulter, dann griff er unter seinen Mantel und zog eines seiner langen Messer hervor. Ich wusste nicht, wie viele er besaß, aber mindestens zwei waren es damals. Er gab es mir und schloss meine Finger um den Griff. Dieser war noch warm von der Nähe zu Sakuyas Körper. “Nimm das bitte. Falls jemand euch findet, dann kannst du euch wenigstens verteidigen. Aber bewegt euch auf keinen Fall von der Stelle. Ich pass schon auf, dass sie euch nicht kriegen. Nicht meinen Bruder, ich versprech’s! Ich bin bald wieder zurück und komme euch beide holen, okay?”

Mit diesen Worten blickte er sich ein weiteres Mal um und wollte gehen, aber ich rief ihn zurück; mit einem so lauten Flüstern, wie ich es nur zustande brachte. “Saku!” Er drehte sich noch einmal zu mir.

“Versprich mir, dass du heil wiederkommst!” Mein Herz hämmerte. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustieße. “Bitte!” Meine steifen Hände hielten die Waffe, die er mir in die Hand gedrückt hatte, so ungeschickt und fest umklammert, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Ich muss einen erbarmungswürdigen Anblick abgegeben haben.

Saku jedenfalls lächelte schmerzlich, als er mich da so stehen sah wie einen Hobbit mit einem Schwert. Er trat zu mir zurück und drückte mich an sich, wuschelte mir durch das Haar. “Keine Angst, ich kann ganz gut auf mich aufpassen.” Er küsste mich kurz auf den Scheitel und huschte dann lautlos in die Gasse hinaus. Er ging ein paar Meter an der Fassade des gegenüberliegenden Lagerhauses entlang, dann erklomm er mit ein paar schnellen Bewegungen die Backsteinmauer und verschwand wie ein Schatten auf dem Dach.

Einige Gassen weiter hörte man die Motorräder.

Das Problem war nicht, dass ich ihm nicht glaubte. Sondern vielmehr, dass ich wusste, dass das noch immer keine Garantie war.

Eine Weile verharrten Junya und ich reglos in der Nische. Das Blut rauschte mir in den Ohren; ich war noch viel zu erschrocken, um einen klaren Gedanken zu fassen. Natürlich konnte es immer passieren, dass man in den Straßen von irgendwelchen Gangs bedrängt wurde, aber darum zu wissen und in die Situation zu kommen sind zweierlei Dinge.

Und wenn Sakuya jetzt etwas zustieß; meinem stolzen, sanften Sakuya?

Wenn wir nicht ausgerechnet hier gestanden hätten, hätte er allein über die Dächer verschwinden können; wenn, wenn, wenn...Das war jetzt auch egal.

Ich hatte wirklich Angst, während ich da so krampfhaft das Messer umklammert hielt, das Saku mir gegeben hatte, und ich hörte, wie auch Junya neben mir versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Nach einer Minute etwa hörten wir nichts mehr von den Geräuschen ein paar Gassen weiter, aber ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war...

Jedenfalls begann ich, trotz allem nicht mehr ganz so flach zu atmen, denn wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass man sicher war, solange es ruhig war, es sei denn, man wurde gerade gesucht von irgendjemandem, und das war bei uns beiden glücklicherweise nicht der Fall. Unser Versteck war zwar dunkel, aber nicht besonders gut. Jemand, der nach uns suchte, könnte uns leicht in den Schatten gedrückt entdecken.

Die Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen.

Ich merkte, wie ich nervös auf irgendein Anzeichen von meinem Bruder wartete. Junya war ziemlich still, ob aus Angst, oder weil er nicht wusste, was er sagen sollte, weiß ich nicht.

Aber nach einer Weile brach er mit einem Flüstern das Schweigen; um mich von meiner Anspannung abzulenken, wie ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit realisierte.

“Das ist also dein Bruder?”, wisperte er; dicht an meinem Ohr aufgrund des Platzmangels. Es tat mir unerwartet gut, ihn so dicht neben mir zu haben. Es war schön, zu merken, dass jemand da war, und zu wissen, dass diesem jemand wirklich etwas an einem lag; ob einem das nun zu weit ging oder nicht war eine Frage für später.

Ich nickte schwach. “Ja”, flüsterte ich zurück. “Sakuya. Wir haben uns vor drei Monaten erst zum ersten Mal getroffen.”

Junya ließ sich mit dem Rücken an dem Container hinabsinken und ich tat es ihm gleich, so dass wir nun nebeneinander am Ende der Nische saßen und auf die Gasse sahen. Er war warm, und wir rückten unwillkürlich ein wenig enger zusammen, denn mitten in der Nacht im März ist es nicht unbedingt ratsam, sich irgendwo in einer Gasse auf den Boden zu setzen. Aber wir konnten einfach nicht länger dort stehen.

“Hm.” Junya schlang die Arme um den Oberkörper. „Ist er Japaner?“ „Ja, nein, nur zu einem Teil. Ich nicht, wir sind nur Halbbrüder.“ “Er ist dir unglaublich ähnlich.” “Wirklich?” Ich dachte eine kleine Weile darüber nach. “Ich wusste nicht, dass man das sieht.“ „Es sind die Augen...etwas in euren Augen.“

Wir saßen eine Weile nebeneinander in der Stille. Ich war viel zu nervös, um der Höflichkeit halber ein Gespräch anzufangen, das ich mir im Moment wirklich aus den Fingern hätte saugen müssen. Immerhin musste ich mich mitten in der Nacht in einer dunklen Gasse vor irgendwelchen unheimlichen Leuten verstecken - während mein Bruder draußen unterwegs war, um diese loszuwerden, die es anscheinend auf ihn abgesehen hatten - und das zusammen mit dem Jungen, dem ich ein Drittel unseres Geldes gegeben hatte, damit sein Herz nicht stehen blieb, und der mir gerade noch so überraschend einen Kuss gegeben hatte. Die Erinnerung ließ mir Schauer über den Rücken laufen; leider spürte ich nicht deutlich genug, ob sie kalt oder heiß waren. Ich meine, ich mochte ihn wirklich, und auch seine Nähe, und seinen Kuss, aber nicht auf diese Weise, die er gemeint zu haben schien, da war ich mir ziemlich sicher.

Konnte ich mir da nicht Gedanken drüber machen, wenn feststand, ob Sakuya die Nacht lebendig überstehen und ich mir keine Lungenentzündung holen würde, Junya seine Medizin hatte und wir überhaupt alles geklärt hätten? Mein Leben war zu einem wirren Haufen loser Fäden geworden.

Junya seufzte.

“Jamie”, begann er leise, ohne mir ins Gesicht zu sehen, “weißt du, was da vorhin passiert ist...”

“Ist schon in Ordnung”, unterbrach ich ihn murmelnd. “Das ist kein Problem für mich.”

“Nein, das meinte ich nicht...”

Der Junge zögerte. “Ich...weißt du, du musst mich wahrscheinlich für ziemlich dumm halten, weil wir uns ja erst seit gestern kennen, oder denken, dass ich einfach noch mehr Geld von dir will, aber...” Ich wandte den Kopf, um ihm heftig zu widersprechen, als ich sah, dass er mir jetzt doch direkt in die Augen sah; ängstlich, aber standhaft, und dass er wirklich dringend loswerden wollte, was er im Begriff war zu sagen. Ich hielt die Klappe.

“Jamie...” Er holte tief Luft. “Jamie ich mag dich wirklich. Ich meine das ernst.

Seit ich dich gestern Nacht zum ersten Mal gesehen habe - ich weiß, das klingt abgedroschen...

Wenn...wenn du...dann ist das in Ordnung - aber ich wollte einfach nur, dass du es weißt.”

Seine schimmernden Augen sahen mich groß und furchtsam an, als fürchte er, dass ich ihn ins Gesicht schlagen könnte ob solch einer Ungeheuerlichkeit. Ungeheuer? Ungeheuer verwirrend.

Ich hatte nicht geahnt, dass ein gesunder Mensch so verwirrt sein konnte.

“Also...” Ich konnte seinem Blick nicht länger standhalten. Erstens wollte ich nicht, dass er irgendetwas missinterpretierte - ich mochte ihn zwar wirklich sehr, und wenn ich mich in einen Menschen verlieben könnte, dann in ihn; aber... - und zweitens war da ja noch etwas, was ich ihm noch hatte sagen wollen.

“Wir gehen morgen früh weg. Saku und ich verlassen die Stadt.”

“Oh...” Junya senkte den Blick. Er schien auf einmal alle Kraft verloren zu haben, die er eben noch bei seinem Geständnis an den Tag gelegt hatte. “Ist okay...”

Er tat mir leid, weil ich deutlich hören konnte, wie enttäuscht er war.

Und dann realisierte ich erst, wie sehr ich den blonden Jungen selbst mit meiner kühlen Antwort verletzt hatte. Mir wurde ganz heiß vor Scham.

“Junya...Junya, weißt du... was ich dich eigentlich hatte fragen wollen...” Ich nahm seine Hand, damit er mich wieder ansah, und hatte damit sofort seine volle Aufmerksamkeit.

Ich merkte, wie sehr es ihn befreit hatte, jetzt in Worte gefasst zu haben, was ich mir eh schon hätte denken können, wenn der menschliche Verstand nicht so zur Verleugnung angelegt worden wäre.

“Also, wenn du willst...ich wollte Sakuya fragen, ob du vielleicht mit uns kommen kannst. Wenn du möchtest. Ich meine, ich würde mich freuen...” Ich sprach weiter, um mich selbst ein bisschen zu beruhigen, während Junya mich sprachlos ansah. “...Ich wollte ihn das fragen, sobald ich ihm die Sache mit dem Geld gebeichtet habe, das weiß er nämlich auch noch nicht...nicht, dass er dann versöhnlicher gestimmt wäre, aber vielleicht, wenn ich ehrlich bin und mich gut entschuldige, und wenn ich ihn lieb bitte, erlaubt er es sicher; immerhin geht es hier nicht nur um mich, sondern auch um dich, also gewissermaßen auch noch um dein Leben, was ja auch noch wichtig ist, mir zumindest, aber Saku bestimmt auch bald, und ich bin mir sicher, dass alles gut wird, wenn wir gehen, und...Ich hab’s dir ja versprochen. Siehst du?”

In dem Moment fiel mir siedendheiß ein, dass Sakuya ja erst mal einigermaßen gesund und vor allem lebendig zurückkommen musste, damit ich ihm von der Sache mit dem Geld erzählen konnte, und mir wurde ganz schlecht. Das aber auch alles auf einmal passieren musste! Ich konnte mich nur auf eine Sache konzentrieren und stand meiner eigenen Einschätzung nach demzufolge ganz knapp vor einem Nervenzusammenbruch.

Glücklicherweise fanden meine Qualen ein Ende, als ein keuchender Schatten einen ebensolchen über uns warf, als er sich vor die Nische stellte.

Ich schnellte hoch wie ein Kastenteufel und fiel Sakuya vor Erleichterung quietschend um den Hals, mal wieder in einer meiner unbeherrschten Phasen, die Saku immer nur mit einem beschwichtigenden über belustigten bis entzückten Gesichtsausdruck über sich ergehen ließ; aber dieses Mal lachte er mit mir und nahm mich in den Arm, so dass ich mich auf Zehenspitzen stellen musste, um mein Gesicht in seinem nach Regen duftenden Haar zu vergraben, das jetzt nur noch lose von dem Band zusammengehalten wurde.

Ich ließ meinen Bruder dennoch schnell wieder los und beschloss, alles endlich zu klären, ein für allemal. Ich ertrug diese Geheimniskrämerei nicht länger.

“Saku, es tut mir so leid; ich habe zweihundert Euro genommen von unserem, nein, deinem Geld, damit Junya seine Medizin kaufen kann. Ich tu alles, um es wieder gut zu machen, wirklich; aber kann Junya morgen mit uns kommen? Bitte!” Ich glaubte, damit alles Wichtige gesagt zu haben, und wartete mit klopfendem Herzen auf eine Antwort Sakuyas.

Eins stand fest; ich würde recht lebhaft träumen in der folgenden Nacht.

Oder Tag.

Was Saku aber antwortete, haute mich mehr um als alles, was ich nicht zu erwarten versucht hatte: “Ich weiß.”

Ich starrte.

“Wie?”

Sakuya seufzte, sah von mir zu dem verstummten Junya, dann wieder zu mir. “Weißt du, ehrlich gesagt, obwohl ich kein ordentlicher Mensch bin, fallen mir doch komische gelbe Krümel auf, die auf dem Boden liegen, auf dem auch unsere Teller stehen müssen, und ich bin nicht zu blöd, um zu merken, dass sie aus der Matratze stammen, in der das Geld liegt. Du hast gar nicht bemerkt, dass ich das Ende angehoben hab, um nachzusehen, oder?” Er sah mich tadelnd an, als sei es keine Schande, dass ich ihn bestohlen hatte, sondern als hätte ich Unglück über unsere Familie gebracht, indem ich nicht bemerkt hatte, wie er hinter mir das halbe Zimmer umgeräumt hatte.

“Ich hab Musik gehört!” “Ach, jetzt ist schon wieder meine Musik schuld?” Sakuya sah mich so ernst an, dass ich verschüchtert den Kopf einzog - dank der vielen Jahre der Erziehung, in denen man immer grundsätzlich etwas falsch gemacht hatte, und wenn es nur die Zumutung der eigenen Existenz war - bis ich seine grauen Augen in diebischer Freude glitzern sah und mich entrüstet aufrichtete. “Du verarschst mich, Saku!”

Er lachte leise. “Hast du das auch schon bemerkt?”

Ich warf Junya einen verstohlenen Blick zu, der plötzlich auffällig ernst auf mich wirkte. “Ich hab das Gefühl, ihr nehmt mich beide nicht ernst”, schmollte ich wütend. “Das ist doch kein Spiel!” “Du hast Recht”, sagte Saku trocken und wurde auf einmal doch ernst. “Nein, das ist sicher kein Spiel, und wenn wir nicht schnell und gemein genug sind, gehen wir alle drauf. Das Leben in Deutschland ist so ziemlich das zielloseste, was du irgendwo in Europa nur finden kannst, und ich wünschte wirklich, wir hätten diese beschissenen Probleme nicht und könnten irgendwo in einem fernen Land in Frieden leben. Also hältst du es für besser, wenn ich dir jetzt sage, dass du eine linke Ratte bist und dass ich dich nie wieder sehen will, ich mir das Geld zurücknehme, wir aller unserer Wege ziehen und sehen, wie wir klarkommen? So etwa? Fühlst du dich dann ernster genommen?” “Nein”, sagte ich sehr eingeschüchtert in Ermangelung einer anderen Antwort. Sakuya seufzte und sah an mir vorbei in die Ferne.

“Wisst ihr was”, sagte er leise, “ich hab in meinem Leben nicht immer alles richtig gemacht, und das weiß ich auch; ich hab öfter gestohlen, als ich zählen kann, und das ohne schlechtes Gewissen; aber wenn du in dem ganzen Chaos ein Mensch bleiben und überleben willst, was hast du dann manchmal für eine Wahl, als etwas zu tun, von dem du weißt, dass es falsch ist?” Er sah traurig aus. “Sofern du zwischen richtig und falsch unterscheiden kannst, heißt das.” Ich glaubte nicht, dass er nur noch von mir sprach; und auch nicht nur von sich. Er schien eher die ganze Stadt, wenn nicht ganz Europa mit einzubeziehen.

Ich war eine Weile stumm. “Dann wusstest du, wofür ich das Geld brauchte?”, fragte ich dann vorsichtig.

Sakuya schüttelte den Kopf. “Nein. Ich habe nur geraten. Ich bin allerdings froh, dass ich Recht hatte.” “Dann darf Junya mit uns kommen?” “Sicher.” Er sah den Jungen an. “Wenn du willst, heißt das.” “Ich würde mich sehr freuen”, antwortete Junya heiser mit leuchtenden Augen.

Saku lächelte. “Schön.” Er schüttelte gedankenverloren sein langes schwarzes Haar aus und band es von Neuem zusammen, ehe er weitersprach. Ich war mir ziemlich sicher, dass er ahnte, dass da vielleicht etwas anbahnen könnte zwischen Junya und mir, und ich platzte fast vor Drängen, eine Meinung von ihm zu hören. Denn irgendwie hegte ich die verzweifelte Hoffnung, dass er mehr darüber wusste als ich. Ich mach’s kurz: Ja, ich wollte, dass er mir sagte, was los war und was ich tun sollte. Ich wollte Junya nicht gleich wieder verlieren, und so, wie es war, war ich glücklich; andererseits reichte mir das auch erstmal, und alles, was darüber hinausging, wäre mir zu schnell gewesen.

Es hatte angefangen zu nieseln, und in Sakuyas pechschwarzem Haar hingen feine Tröpfchen wie Diamantstaub, und sein langer schwarzer Mantel glänzte wie Rabengefieder und spielte ihm elegant um die Knöchel in den hohen Stiefeln. Es war seltsam. Mein Bruder sah gut aus, gewandt, nachdenklich, stolz, ich wusste das, aber es ging irgendwie an mir vorbei außer in Form von bewunderndem Bruderstolz, aber wenn ich den Blick zu Junya wandte, dessen Haar in wilden Daunen vom Nieselregen benetzt wurde, welcher seine durchscheinende Haut feucht schimmern ließ, war er nicht das, was ich schön nennen würde auf die Weise, wie ich es bei Saku tat; dazu war er viel zu hager, zu schmal; wie eine streunende Katze. Wie bei heimatlosen Katzen, bei denen man jedes Gelenk überdeutlich zu spüren glaubt, wenn man sie auf den Arm nimmt; ganz vorsichtig, weil man jederzeit das Gefühl hat, diese geschmeidigen, Körperchen könnten zerdrückt werden, noch während man unter ihrer heißen Haut ihr kleines Herz ganz schnell schlagen spürt. Dieses Gefühl hatte ich, wenn ich Junya ansah. Sein Leben war so zerbrechlich, viel zerbrechlicher als unseres; und konnte jederzeit verlöschen wie eine Kerzenflamme im Luftzug. Und ich spürte das, was Sakuya spüren musste, wenn er mich ansah: Tiefe Zuneigung und den Wunsch, zu beschützen. Selbst wenn ich dafür zu schwach war.

Aber was ich für ihn empfand, wusste ich trotzdem noch nicht.

Ich wusste nicht, was es war, das ich fühlte, wenn ich in diese fast schwarzen Augen sah, die direkt sein Herz widerzuspiegeln schienen.

Und ich hatte ein bisschen Angst, wenn ich ihn ansah; mein Herz schlug dann so schnell, und ich wusste nicht, was er tun würde, wenn ich ihm ein Stück entgegen kam. Ich wollte nicht, dass er mich missverstand.

Deswegen tat ich es nicht. Ja, das ist der Grund, warum ich nicht von mir aus auf ihn zuging; es gibt sicher Leute, die das nachvollziehen können, und auch solche, die nur den Kopf schütteln darüber; aber so ist das nun mal mit mir: Ich war freigiebig mit meiner Zuneigung, ich liebte gern und wurde gern geliebt, wie Saku; aber sobald ich diesen fremden Grund betreten hatte, der plötzlich so viel unsicherer und gefährlicher war, bekam ich Angst. Mit Liebe in dieser Form konnte ich nicht umgehen: Ich wusste nicht, wie. Schließlich war ich trotz allem nur ein naiver Junge geblieben, der das Leben gerade erst kennen zu lernen begann und versuchte, mit ihm Freundschaft zu schließen.

Aber meine brüderliche Liebe konnte ich anbieten, und das tat ich auch. Ich hatte menschliche Nähe so nötig wie Licht und den freien Himmel, wie ein warmes Bett und einen sicheren Zufluchtsort in der Nacht.

Sakuya sah sich um, in die Nacht in seinem Rücken, dann richtete er seine regenklaren Wolfsaugen wieder auf mich und Junya, der mit schüchtern gesenktem Blick in einer Ecke stand. Ich verspürte den plötzlichen Drang, diesen in den Arm zu nehmen. Er sah so verfroren aus. Kein Wunder. In nur einem T-Shirt.

“Okay, passt mal auf”, sagte Sakuya und strich sich durch die Haare wie so oft, wenn ihm etwas missfiel. “Ihr geht schon mal nach Hause; wärmt auch auf und ruht euch ein bisschen aus, oder packt schon mal ein bisschen was zusammen, weil wir morgen bei Tagesanbruch raus wollen, also”, er sah auf die Uhr, “in knapp sieben Stunden. Junya, wenn du mir den Namen deiner Medizin sagst, gehe ich und besorge sie dir noch heute Nacht, ich kenne tatsächlich einen vertrauenswürdigen Apotheker. Es liegt sowieso auf meinem Weg. Es wird nicht lange dauern, bis ich nachkomme; vielleicht eine halbe Stunde, wenn alles gut geht.” Man sah ihm an, dass er uns lieber begleitet hätte, damit uns nichts passierte, aber sein praktisches Denken siegte dennoch über den Bemutterungstrieb.

Junya händigte ihm mit klammen Fingern gleich die ganze Glasdose aus, aus der er noch die letzte Tablette nahm und in einem kleinen Apothekenplastikbeutelchen sicher verpackte und in seiner Hosentasche verstaute, und Sakuya strich geräuschlos davon in die Nacht, nachdem er uns noch einmal mit einem Blick auf unser Frösteln eindringlich gebeten hatte, nach Hause zu gehen und uns auszuruhen.

Ich war noch nicht so müde, aber Junya war es; er fror und zitterte leicht vor Müdigkeit. Er hatte nicht so lange geschlafen wie ich. Wir verloren dann auch keine Zeit, sondern machten uns auf den Weg. Keiner von uns hatte Interesse, hier noch zu bleiben.

Wir sprachen nicht auf dem kurzen Weg, aber Junya sah leise glücklich aus, was mich froh machte.
 

Wir gingen durch die Gassen, die zu unserem Haus führten, über uns die Sterne, die in unseren Augen leuchteten wie in denen zweier streunender Mondschattenkatzen. Wir sprachen nicht, schlichen nur auf Samtpfoten Seite an Seite durch die Nacht, und ich hörte Junyas ruhigen Atem neben mir, der mir ein Gefühl vermittelte, das ich nie zuvor gehabt hatte. Keine Verliebtheit. Ich wusste nicht, was es war. Aber es fühlte sich an, als seien die Sterne über uns letzte Scherben unserer Vergangenheit, und die junge Nacht gehörte nur uns, die wir waren unsichtbar in der Dunkelheit der Häuserschluchten, einander fremd und doch seltsam vertraut.

Junya ging neben mir, dicht und doch stets einen gewissen Abstand einhaltend, so dass wir uns nie versehentlich berührten, und ich fragte mich, ob er das mit Absicht tat, ob er das wollte, ob er bereute, was er vorhin getan hatte, oder ob er Angst hatte, wie ich. Und ich fragte mich, ob es mir denn etwas ausmachte.

Dann schob ich plötzlich aus einer Eingebung heraus meine kalte Hand in seine, so dass er erschrocken und verwirrt aufsah, das Sternenlicht fing sich in seinen Augen. Ich versuchte, seinen Blick ruhig zu erwidern, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug, und mir die Dunkelheit seiner Augen vorkam wie Eis unter meinen Füßen, auf dem ich mich vorwärtstastete, in der ständigen Angst, ich könnte einbrechen und ertrinken.

“Weißt du”, sagte ich leise zu ihm; wir waren stehen geblieben. “Junya... Ich will dein Freund sein, okay?” Ich hob scheu die braunen Augen zu ihm; unsicher, ob er verstanden hatte, was ich meinte, was ich nicht meinte, und ob er sich eine Freundschaft mit mir vorstellen konnte, und sei sie noch so eng. Ich wusste, dass es nicht das war, was er sich wünschte, aber ich konnte ihm im Moment nicht mehr geben, und ich wünschte es mir so sehr.

Ein zögerndes Lächeln stahl sich um Junyas Mundwinkel, und seine traurigen Lippen wurden weich. “Jamie...” Er zögerte und überlegte.

“Du bist der mit Abstand wundervollste Mensch, der mir je begegnet ist, und ich hätte nicht gedacht, dass ich dein Freund sein darf, wo du doch...wo du doch meine...Gefühle nicht erwiderst, was ich verstehen kann, meine ich. Ich meine...ich... Es ist wie ein Traum.

Plötzlich wird der Himmel hell, plötzlich scheinen wieder die Sterne, wo ich mich doch schon mit der schwarzen Mitternacht abgefunden hatte. Und du hast mir Flügel geschenkt, damit ich in die Nacht fliegen kann, wie der Wind, wie ein Zugvogel, und dem Winter entkommen.”

Seine Hand hatte sich bei seiner Rede fester um meine geschlossen, wie um sie festzuhalten, und ich spürte, wie mich ein Schauer überlief wie Regen. Er stand vor mir, und sah wieder zu Boden; er wusste nicht, ob er mich ansehen sollte, und ich wusste, er hatte doch Angst. Angst, seinen funkelnden Leitstern aus den Augen zu verlieren und mit gebrochenen Flügeln zu Boden zu stürzen. Ein Wort von mir mochte genügen. Und ich schwor mir, dass ich ihn nie verletzen würde, diesen kleinen Zugvogel auf seinem Weg nach Süden, der Sonne entgegen, die er nicht kannte. Ich schlang meine Arme fest um ihn und zog ihn an meinen Körper, und spürte, dass er erzitterte unter meinen Händen. Er vergrub das Gesicht an meiner Halsbeuge, ich konnte seinen warmen Atem auf meiner kühlen Haut spüren. Seine rechte Hand krallte sich ganz vorsichtig in meine Schulter, als hätte er Angst, dass ich fortfliegen könnte. “Ich bin doch dein Freund”, sagte ich tröstend. “Ich lass dich schon nicht alleine.”
 

Wir brachen bei uns in das Haus ein. Während wir leise die Treppen hochschlichen, fühlte ich mich sehr viel entspannter und befreiter als eben noch, ehe ich seine Hand genommen hatte; jetzt, da zumindest ansatzweise die Fronten geklärt waren, jetzt, wo ich wusste, was er meinte, und er, was ich meinte - was mir stets ein Bedürfnis war; ich hasste es, missverstanden zu werden - konnten wir ohne die lästige Vorsicht miteinander umgehen. Das Einzige, was mich traurig machte, war, dass ich ihm nicht weiter entgegenkommen konnte. Es klingt dumm, aber mir tat das leid. Jedenfalls huschten wir ins oberste Stockwerk wie zwei Freunde, die spätnachts nach Hause zurückkehrten, was wir bei oberflächlicher Betrachtung ja auch ‘nur’ waren, und das war genau das, was mich so glücklich machte. Ich war sehr glücklich mit Junya an meiner Seite. Noch am Morgen hatte ich mir so etwas herbeigesehnt. Es war herrlich, dass er mit uns kommen würde.

Ob Saku eifersüchtig war?

Und schon wieder hatte ich ein leichtes schlechtes Gewissen und schalt mich einen Trottel.

Ich schloss oben die Wohnungstür auf und ließ meinen Freund vor mir eintreten. Während ich die Tür sorgfältig wieder absperrte, sah er sich neugierig um.

“Hier wohnst du”, bemerkte er leicht überflüssig. Er hatte die Hände schüchtern in den Taschen vergraben und ich merkte, dass seine Wangen gerötet waren.

“Wir brauchen nicht viel”, verteidigte ich mein Refugium. “Zum Leben reicht es allemal.”

Ich zeigte ihm kurz die Räumlichkeiten, wozu ich mich praktischerweise gar nicht von der Stelle bewegen musste, und bot ihm etwas zu essen an, was er aber dankend ablehnte.

“Willst du duschen?”, fragte ich noch. “Das Wasser ist leider immer kalt.” Junya zuckte die Schultern. “Das macht nichts, danke. Gerne.” “Handtücher und so sind alles da, in der Kommode. Du kannst dir alles nehmen. Ein Teil bleibt eh hier. Ich packe in der Zeit...das dauert nicht wirklich lange. Warte - zieh das an, du kannst darin schlafen, dann musst du nicht dein Zeugs anbehalten.” Ich händigte ihm ein weißes T-Shirt und eine abgerissene schwarze Stoffhose von mir aus, ehe er mit einem scheuen Dank im Bad verschwand.

Tatsächlich schaffte ich es nicht nur, meine wenigen Klamotten in meinem abgeschabten Rucksack zu verstauen, sondern sogar noch einen Teil von Sakuyas CDs, die wenigen Bücher, die wir besaßen, und meinen restlichen persönlichen Besitz darauf und auf eine weitere Tasche zu verteilen. Etwas ließ ich über, was ich Junya morgen zum Anziehen überlassen würde. Wenn er weiterhin so herumlief, würde er sich noch was einfangen.

Weil ich nichts zu tun hatte, packte ich auch noch Sakus Sachen zusammen in seinen schwarzen Rucksack, seine T-Shirts und Hemden und seine netten kleinen Accessoires, die er je nach Laune mal mehr, mal weniger trug. Allerdings hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt selten mehr als ein Armband oder einen Ring auf einmal an ihm gesehen, und der Rest lag ordentlich bei uns herum. Seine geliebten CDs packte ich ganz vorsichtig oben zu dem CD-Player. Wie ich ihn kannte, brauchte er seine Musik auch oder erst recht auf dem Weg. Und ich auch. Nicht einmal das Messer vergaß ich einzupacken, und all den unwichtigen Mist, den man halt überall mit hinschleppen muss, den ich jetzt aber nicht unbedingt auch noch aufzählen möchte.

Ich war fertig und saß auf der Matratze bei einer Tasse Milch, als Junya mit nassem Haar und sauber in meinem frischen T-Shirt aus dem Bad kam. Ich war auch umgezogen in der Zwischenzeit - soll heißen, ich trug das Shirt, in dem ich normalerweise schlief, und das mir vier oder fünf Nummern zu groß war.

Ich wollte auch noch duschen, weil mir schon klar war, dass ich wohl drei oder vier Tage keine Gelegenheit dazu haben würde. Ich wusste nicht genau, wie lange wir unterwegs sein würden, aber Saku hatte drei volle Tage veranschlagt, wenn alles gut ging, und es war immerhin ein weiter Weg, wenn wir die Straßen benutzten. Was wir tun würden. Luftlinie oder eben querfeldein könnten uns unangenehme Überraschungen erwarten. Und wenn wir schnell ins Gebüsch verschwinden konnten, würde uns kein Überfall treffen.

Wer würde auch schon drei Herumtreiber mit schäbigen Rucksäcken überfallen wollen.

Ich zeigte Junya, wo er schlafen konnte. Saku war sicher einverstanden, wenn wir ihm das Bett überließen. Immerhin war er unser Gast. Und Saku war immer höflich anderen Leuten gegenüber, die ihm keinen Anlass zu anderem Benehmen gaben. Wir zwei würden uns die Matratze teilen, kein Problem.

Junya war erschöpft; man konnte es deutlich an seinen Augen sehen; auch wenn er glaubte, nicht schlafen zu können, wusste ich aus eigener Erfahrung, dass das sehr wohl ging, wenn er sich erst mal hinlegte und entspannte.

Während er zu Bett ging, ging ich duschen, nachdem ich meinem neuen Freund eine gute Nacht gewünscht hatte. Das Wasser war wie immer kalt, aber das war mir jetzt so was von egal. Mit einem Mal war ich froh, dass Saku bald zurückkommen und die restlichen Sachen packen würde, und das dann unsere letzte Nacht in diesem winzigen Kabuff sein würde. So konnte es nicht weitergehen. Es war nicht schlecht, aber es war nicht alles, was ich mir vom Leben erwartet hatte. Und für drei Leute war es zu wenig.

Junya hatte Recht gehabt. Wir mussten fliegen, wenn wir dem Winter entkommen wollten.

Auf nach Süden.

Als ich fertig war, wickelte ich mir zitternd ein Handtuch um die Hüften und trocknete mir meine tropfenden Haare ab. Nachdem ich noch ein paar Sachen aus dem Bad zusammengesucht und mich angezogen hatte, schlich ich leise aus der Tür. Junya war wohl wirklich eingeschlafen. Ich wurde von einer Welle der Fürsorge erfasst. Er sollte sich ausruhen.

Er hatte es sich verdient.

Ich zog so leise wie möglich die Badezimmertür hinter mir zu, und im selben Augenblick öffnete sich die Wohnungstür, und eine schwarze Gestalt schlüpfte auf leisen Pfoten ins Zimmer.

“Oh, du bist wieder da”, flüsterte ich, meine Erleichterung ignorierend wie vorher meine Sorge. Es war fast schon Routine. “Ich glaube, Junya schläft.”

“Das solltest du auch langsam lieber tun”, raunte Saku mir leise zu. “Wir müssen morgen ein ganzes Stück Wegs hinter uns bringen.”

Ich nickte nur. “Was hast du besorgen müssen?”

Sakuya öffnete seinen Beutel. “Erstmal natürlich die Medizin für deinen Freund. Die müsste eine ganze Weile reichen. Und das hier.” Er reichte mir etwas Kleines, was ich nach einer Weile im Dunkeln als ein altes Handy erkannte.

“Wofür ist das?” “Falls etwas passieren sollte.” Saku schloss meine Hand darum. “Ich habe einige Nummern eingespeichert. Wenn etwas geschehen sollte, rufst du einfach da an und bittest um Hilfe. Sie werden kommen.” Er sagte es nicht, aber das sehnsüchtige ‘hoffentlich’ in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen.

“Das werden sie sicher”, sagte ich bestimmt und griff das Handy fester, obwohl mir der Gedanke, es könnte etwas passieren, gar nicht behagte. Saku lächelte, seine Augen blitzten kurz im Dunkeln auf. “Danke.” “Oh, dafür nicht.”

Mein Bruder sah sich kurz um. “Hast du schon was gepackt? Gut. Ich gehe kurz duschen, dann mach ich den Rest. Und du gehst in der Zeit schlafen.” Ich nickte ergeben. So ein bisschen mütterliche Befehlsgewalt tat auch mal sehr gut. Vor allem, wenn man so wie ich gerade doch langsam merkte, wie kaputt man war.

Aber als Saku im Bad war und ich nur leise das kalte Wasser laufen hörte, ging ich entgegen seiner Anweisung doch nicht sofort schlafen. Stattdessen stand ich eine ganze Weile gedankenversunken an Junyas Bett und schaute auf ihn hinab, wie er da zusammengerollt lag und leise atmete, ehe ich überhaupt merkte, was ich da tat. Ich schüttelte kurz den Kopf.

Ich griff nach unten und zog Junya die Decke ein bisschen weiter hoch. Sie war sehr kurz, deswegen verschob sie sich jedes Mal, wenn man sich unter ihr bewegte, weswegen Saku und ich gerne zwei benutzten, oder auch Sakuyas Mantel zusätzlich. Der war warm, und roch beruhigend nach Leder und nach Sakuya, einem feinen Duft aus Regen, Leder und Patchouli.

Junya schlief wirklich tief und fest. Er hatte sich zusammengerollt wie ein Kätzchen, und im Schlaf war sein blasses Gesicht sehr ernst und traurig, so dass ich ihn am liebsten getröstet hätte, hätte ihn das nicht wahrscheinlich geweckt. So strich ich ihm nur kurz mit dem Zeigefinger durch sein zerzaustes helles Daunenhaar, das sich ganz weich anfühlte unter meiner Haut und noch nass war vom Duschen, und sah nach, ob er genügend zugedeckt war. Es wäre wirklich eine grausame Laune des Schicksals, wenn er jetzt an einer Grippe sterben würde.

Dann setzte ich mich neben das Bett auf die Matratze und betrachtete nur den schlafenden Jungen, ohne wirklich etwas Bestimmtes dabei zu denken. Ich betrachtete nur seine im Schlaf entspannten Gesichtszüge und ließ meine Gedanken wandern.
 

So traumversunken merkte ich es gar nicht, dass Sakuya wieder im Zimmer war, bis er sich neben mich setzte und mich ansah. Dann schrak ich plötzlich hoch und spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. “Äh, ich...” Ich verstummte.

Mein Bruder setzte sich in den Schneidersitz und betrachtete mich gedankenverloren, so schien es. Ich senkte errötend den Blick zu Boden.

“Verliebt?”

Die Frage kam so plötzlich, dass ich automatisch “Nein!”, antwortete. Aber dann zögerte ich, denn das wäre zu ungenau gewesen. Saku schwieg und wartete. Ich suchte verstohlen in seinem Gesicht nach Anzeichen seiner Gedanken, aber ich konnte nichts Negatives feststellen, und so fasste ich mir ein Herz und begann stockend zu erzählen: “Also, es...ich...Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, aber...” Ich brach hilflos ab. “Ich glaube nicht, aber ich könnte es mir gut vorstellen. Ich mag ihn sehr”, schloss ich dann schnell und wandte mit brennenden Wangen den Blick ab. “Aber im Moment...”

“Er hat dich ziemlich gern, stimmt’s?”, fragte Saku leise. Ich sah ihn wieder an. Er erwiderte meinen Blick offen, und ich fasste ein wenig Mut.

“Ja. Aber ich...” “Du willst das nicht.” “Das ist es nicht...Es ist nur...Noch nicht. Ich will nur sein Freund sein, aber es... Ich weiß nicht, wie weit es kommt. Was soll ich machen?”, fügte ich verzweifelt an. Ich brauchte einen Rat. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.

Sakuya schwieg eine Weile und starrte in die Ferne.

“Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst”, meinte er dann. “Das kann ich nicht für dich entscheiden. Aber lass es geschehen, und hab keine Angst. Du allein weißt, was du fühlst, und nur danach musst du dich richten.” Ich nickte, als hätte mir das geholfen. Vielleicht hatte es das, aber ich fühlte mich hilfloser als zuvor.

Ich merkte aber, wie gut es war, mit Saku darüber reden zu können. Die Dinge erschienen einem so viel klarer, wenn man sie jemandem anvertrauen konnte. Ich war erleichtert.

“Ich bin so froh, Saku... Ich dachte, du wärst mir vielleicht böse...” “Was? Wieso?” “Weil ich...na ja...weil ich schwul bin...” Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Und jetzt, wo ich es zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte...

Zu meinem Erstaunen lachte Sakuya gedämpft und schüttelte den Kopf. “Oh Gott, Jem...Nein, ich bin dir nicht böse. Ich bin ein bisschen erleichtert.” “Wieso?” „Na weil ich selber schwul bin.“

Ich starrte ihn nur erstaunt an. Er zuckte die Schultern und wich meinem Blick beschämt aus. “Ich weiß...ich hätte es dir schon längst sagen sollen, aber...” Er verstummte. Seine grauen Augen starrten in die leere Dunkelheit des Zimmers.

“Wieso hast du es nicht getan?”

Er fuhr herum. “Ich habe mich nicht getraut! Ich hatte Angst, dich gleich wieder zu verlieren, weißt du...und selbst wenn du nicht gegangen wärst...es klingt dumm, aber ich dachte, dass du nicht mehr mit mir in einem Bett würdest schlafen wollen. Und dann hätte ich mich wirklich wieder einsam gefühlt.” Er schüttelte den Kopf, seine wirren schwarzen Strähnen fielen ihm in das zu Boden gerichtete Gesicht. “Entschuldige. Das klingt wirklich blöd. Ich weiß, es sollte mir nicht so wichtig sein.”

Ich wusste eine Weile nicht, was ich sagen sollte, dann streichelte ich meinem großen Bruder ermutigend den Rücken. “Keine Sorge. Ich hätte es trotzdem gemacht. Immerhin sind wir Brüder.” Sakuya sah mich kurz aus seinen funkelnden Wolfsaugen an, dann fing er leise an zu lachen. “Oh ja, das sind wir wirklich!”
 

Später in der Nacht, als wir unten auf der Matratze lagen, unter Sakuyas Mantel, dachte ich darüber nach, was er mir gesagt hatte; ich hatte mir vorher nie Gedanken darüber gemacht, auch wenn er meinte, ich hätte es merken können (auch Jahre später fand ich nicht, dass ich das gekonnt hätte). Saku war nun mal...ja, Saku eben.

Ich kann nicht leugnen, dass mich das beschäftigte. Ich erwischte mich in der nächsten Zeit dann und wann dabei, wie ich Sakuya ansah und mich fragte, mit wie vielen Männern er schon geschlafen hatte – dafür schämte ich mich ein wenig, es kam mir zu dreist vor -, oder ob er je auf die Art verliebt gewesen war wie Junya, so dass er mir helfen konnte. Ich schämte mich ein bisschen für diese ordinäre Neugier, aber unterdrücken konnte ich sie nicht. Er war immerhin mein Bruder.

Aber jetzt kuschelte ich mich etwas näher an ihn, um mich zu wärmen, und mir fielen fast die Augen zu. Sakuya strich mir über die Haare, und ich schnurrte leise. “Weißt du, ich hätte schon trotzdem noch mit dir in einem Bett geschlafen”, murmelte ich. Ich lag einfach für mein Leben gern neben meinem Bruder und spielte Katze. Sakuya seufzte, aber nicht traurig. “Ich wollte das Risiko trotzdem nicht eingehen. Nenn mich einen Feigling, wenn du willst, aber ich wollte lieber auf Nummer Sicher gehen.

Ich hätte dich nie angefasst!” Für einen Moment klang er regelrecht entsetzt bei dem Gedanken. “Aber so liebebedürftig, wie ich bin, würden die meisten Menschen das falsch auffassen.”

Ich lachte leise, um Junya nicht zu wecken. “Aber ich kenne doch deine Macken.” “Hm.” Saku schwieg kurz.

“Wäre es dir wirklich egal gewesen?”, fragte er dann. Ich überlegte. Natürlich, es ließ sich viel sagen, die wirklichen Reaktionen der Menschen sahen meist anders aus. Dennoch...

“Ja”, sagte ich fest. Sakuya drückte mich kurz.

“Danke.”

“Ich hätte nie gedacht, dass du schwul bist.” Das musste einfach raus. Ich sagte schon, es beschäftigte mich. Mein Bruder seufzte und strich sich durch das auf dem Kissen wie Flügel ausgebreitete Haar, um es zu bändigen. “Abgesehen davon, dass ich Gedichte liebe und mich schminke, meinst du?” Und der ganzen anderen Kleinigkeiten, die ich dir jetzt nicht extra aufzählen will, fügte sein leicht spöttischer Blick hinzu.

Ich zuckte die Schultern. “Ist das dann sehr schlimm, dass ich nichts gemerkt habe?”

Saku lachte und drehte sich auf den Rücken. “Nein. In den letzten Monaten gab es keinen Anlass, zu dem du es hättest bemerkt haben können. Und ich hoffe ja auch, dass ich nicht so sehr mädchenhaft bin wie andere. Und jetzt schlaf besser, sonst werde ich es doch noch vor Erleichterung, und das solltest du nicht mitbekommen.”

Dann fiel ihm aber dennoch etwas ein. “Jamie, es gibt da was, was ich dir noch hatte sagen wollen.” “Ja? Äh, was?” “Na ja... Ein paar meiner Freunde sind auch schwul. Du hast ja zum Glück kein Problem damit, und es wird dich auch keiner anmachen...bis auf...aber das ist nicht ernsthaft, du musst dir also keine Sorgen machen. Ich dachte nur, es ist besser, wenn du es vorher weißt.”

Ich überlegte erstaunt. “Na, gut... Ist vielleicht besser so. Aber es ist im Grunde egal.” Ich überlegte noch mal kurz. “Wie viele denn?”

“Hm... Als ich weggegangen bin, waren wir neun Leute. Mit mir sind davon sechs schwul oder bisexuell, einer ist hetero und zwei äußern sich nicht.”

Ich keuchte. “Meine Güte! Ist das Zufall?” “Ja und nein. Am Anfang war es Zufall, aber als wir mehr wurden, war es einfach so, dass man sich einfach besser angefreundet hat mit Leuten, die es nicht stört...wir gehen sehr offen damit um. Außer Diego natürlich... Ich weiß nicht, wieso, aber er fühlt sich wohl bei uns, auch wenn er selber behauptet, er schläft mit dem Rücken zur Wand; das ist natürlich Blödsinn.” Sakuya lachte unterdrückt. “Vielleicht, weil man die Jungs einfach lieb haben muss.”

Nach diesen Worten verstummte er und schloss die Augen, und ich drehte mich auch auf die Seite, um zu schlafen.

Gut, da hatte ich meine Information.

Ich hatte Sakuya seit langem nicht so viel und in so gelöster Stimmung reden hören; er schien sein Zuhause wirklich mit ganzem Herzen zu lieben, und ich verstand immer weniger, warum er gegangen war.

Trotzdem freute ich mich auf die bevorstehenden Bekanntschaften.

Damit schlief ich ein.
 

Ende 01/?



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Last_Tear
2011-11-08T08:28:31+00:00 08.11.2011 09:28
*shivers*
Eine tote Stadt >.<
*Gänsehautfeeling*
Und Ratten können auch bösartig sein in der Gruppe O.o
Wenngleich menschliche Ratten vermutlich mehr x.x
*fiep*
Oh Gott X___X
Ich muss auch öfters mal nachts allein raus, um nachdenken zu können ;_;
*Jamie anlieb*
*purr*
Frühlingswind *o*
*schnupper*
Mh <3
Regen? Interessant O.o

*fiep*
Ich hätte nen Schock bekommen X__X
Wenn ich davon ausgehe, allein zu sein und dann plötzlich da jemand sitzt
*miep*
Gott, ich bin mehr in dieser Stadt als im Unterricht O.o"

>aber in seinem Blick lag ich
las ich oder lag ohne ich

Oh Gott X___X
*selbst fast zu heulen anfängt*
Deine Beschreibungen sind so verdammt real ;____; Und so schön >.<

Awwwww *o*
Ja, manchmal bringen Worte nichts mehr >-<
Cute O.o

Sadistische Frisöre wtf XD
*chuckle*
Sweeney Todd reloaded huh XP

*lach*
Mh, Saku wird mir immer sympathischer <3
Gedichte
*schnurr*

Damian? Wer ist das denn O.o Und wo kommt der jetzt her @.@ War das nich grad noch Junya?

Damn X___X
So, ich hab von zwei Stunden HK NICHTS mitbekommen
*drop*
Absolut nichts X__X
*fiep*
*shivers*
Gott.... 50 Seiten @.@
*miep*
Ok, interessant, cute, nice WOAH >_<
Ok, mir fehlen die richtigen Worte um das zu beschreiben XD
Eindeutig X__X
*miep*
Sorry @.@
Nur so viel: Ich les weiter, unbedingt XD
*neugierig desu*
Und ja, die Story is toll *o*

Von:  JamieLinder
2011-10-13T18:49:32+00:00 13.10.2011 20:49
OMG. Ich lese jetzt seid knapp 2 Stunden an deiner Geschicht &
bekomme einfach nicht genung...
Sie ist so herzergreifend, dass man mitbangen, mit weinen und mit lächeln möchte und einfach mal muss.


Ich freue mich schon auf die weiterführung. (:


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