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Eine Geschichte über Egoismus

von

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Kapitel 1

Jene, die mich kennen, würden mich vermutlich mit Attributen wie Naivität, Fröhlichkeit und Oberflächlichkeit charakterisieren. Auch diejenigen, die mich besonders gut und lange kennen, würden keine anderen Eigenschaften als diese nennen. Da bin ich mir ganz sicher. Keiner von ihnen weiß, was in mir vorgeht, denn ich bin ein guter Schauspieler. Ich strenge mich den Menschen gegenüber, die mir am nächsten stehen, besonders an. Vor allem dieser eine Mensch soll von all dem hier niemals etwas erfahren. Wenn sie es doch täte, könnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen, denn sie ist der Mittelpunkt meines Lebens, alles, was für mich zählt...

„Lock, komm endlich! Wir wollen endlich die Farbbomben auf das Haus vom Bürgermeister werfen!“

Ich sehe meine besten Freunde an, während sie vor mir über den Fallbeil-Platz herlaufen. Wir verstecken uns hinter der Mauer, zählen bis Drei und ziehen dann an der Leine des Katapults. Etwa ein Dutzend Luftballons, die mit Farbe gefüllt sind, fliegen durch die Luft und treffen das Haus fast überall. Nur wenig bleibt farblos. „Actionpainting!“ ruft Shock und kichert. Sofort rasen wir wieder über den Platz und lachen lauthals über die wütenden Stimmen hinter uns, die immer leiser werden. Noch nie hatte uns jemand eingeholt und auch jetzt hängen wir unsere Verfolger binnen weniger Minuten ab.

Wir verstecken uns im Wald. Barrel stützt sich an einen Baum, hält sich den Bauch und schnauft wie ein Rhinozeros, kann sich trotz seiner Erschöpfung sein breites Grinsen aber nicht verkneifen.

„He, Barrel!“ Shock grinst ebenfalls. „Wir machen das schon jahrelang. Man sollte meinen, dass du dir irgendwann wenigstens ein bisschen Kondition antrainiert hättest!“

„Shock, sei nicht so gemein zu unserem Kleinen. Das ein Meter lange Sandwich von heute morgen liegt ihm doch noch so schwer im Magen.“

„Ha! Ein Meter? Für ihn ist das doch etwas für den hohlen Zahn!“ Wir witzeln noch eine Weile weiter über unseren kleinen, runden Freund, der wie immer nichts versteht und einfach mit uns lacht.

Diese gewohnte Situation spielte sich schon unzählige Male ab. Für uns gibt es einfach nichts, dass wir lieber täten. Nichts, was uns mehr Vergnügen bereitet. Es mag stimmen, dass uns die meisten Bewohner Halloween Towns dafür hassen. Aber wen interessiert schon, was andere denken? Solange ich meine Freunde habe und einen Ort, den ich Zuhause nennen kann, brauche ich nichts und niemanden auf der Welt.

Es ist spät – weit nach Mitternacht – als wir Zuhause ankommen. Mit „Zuhause“ meine ich Jacks Haus, in das wir kurz nach Oogie Boogies Ableben einzogen. Jack, der gutmütige Kerl, war uns nicht böse. Er kannte unser aller Beweggründe für die Dienerschaft bei Oogie, weshalb er die Unterkunft des alten Sackes dem Erdboden gleichmachte und uns zu sich holte. Dort erfuhren wir, was elterliche Liebe ist, denn die beiden – sowohl Jack als auch Sally – umsorgten uns voller Fürsorge und tun dies bis zum heutigen Tag. Ich weiß nicht, wie es den anderen beiden geht, aber ich bin ihnen sehr dankbar für alles, was sie für uns getan haben und tun. Ich würde ihnen das natürlich niemals sagen. Ich verstecke mich – wie gesagt – hinter der Maske. Auch oder gerade vor den Personen, die für mich am wichtigsten sind.

Die Lichter des Hauses sind ausgeschaltet. Wie immer klettern wir das Rohr an der Seite hinauf, um in den ersten Stock zu gelangen und wie immer wartet eine wütende Sally auf uns, um uns in Empfang zu nehmen. Mit verschränkten Armen steht sie da und tippt nervös mit ihrem Fuß auf den Boden auf.

„Hey, Sally! Mensch, altes Haus! Lange nicht gesehen!“ sage ich beschwingt und versuche die Unschuldsnummer. „Wir, äh, haben uns nur kurz die Beine vertreten. Wir wollten gerade zurück ins Bett und...“

„Deine Ausreden werden auch immer schlechter. Ich habe euch gebeten, früher zu Hause zu sein. Wenigstens in der Schulzeit könntet ihr rechtzeitig hier sein. Stattdessen streunt ihr durch die Gegend und macht was weiß ich für Sachen.“

„Och, heute haben wir nur Farbbo...“ Barrel will gerade ansetzen und ihr von den Farbbomben auf dem Haus des Bürgermeisters erzählen, aber bevor er den Satz beenden kann, übertönt Shock ihn.

„Heute ist doch Freitag und mal ganz im Ernst: Wer passt Freitags schon in der Schule au...“

„Ihr solltet das tun! Es würde euren Noten gar nicht schlecht bekommen!“ Sally wendet uns den Rücken zu. „Ich habe euch gesagt:, es sei mir egal, was für Sachen ihr macht, solange ich sie nicht zu Gesicht bekomme, aber ich will trotzdem, dass ihr was aus eurem Leben macht. Alles, worum ich euch bitte, ist...“

Barrel ist wie immer der Erste, der ein schlechtes Gewissen bekommt und Sally um Verzeihung bittet. Er ist einfach zu leutselig und ehrlich, weshalb ich nicht wirklich verstehe, warum er mit uns all diesen Unfug anstellt. Er will, dass sich die Leute in seiner Gegenwart wohl fühlen, ist höflich und kann Ungerechtigkeit einfach nicht zulassen. Ich weiß, wieso er sich Oogie anschloss, aber ich verstehe nicht, warum er auch weiterhin diesen Unsinn mit uns anstellt.

Shock entschuldigt sich ebenfalls bei Sally. Ich denke, sie tut es nicht, weil es ihr wirklich leid tut. Sie ist kein schlechter Mensch, aber sie hat ihre Probleme mit Autoritäten. Befehle oder dergleichen kann sie nur schwer akzeptieren. Sie muss immer gegen alles aufbegehren, macht einen riesigen Aufstand, bekommt ihre Strafen dafür und muss schließlich doch die ihr aufgetragene Aufgabe erledigen. Es ist sowohl in der Schule als auch bei Jack und Sally so. Das Problem ist weniger das Ausführen der Befehle oder die Einhaltung gewisser Regeln als eher ihr Bedürfnis, ihr Image aufrechtzuerhalten. Sie möchte vor Jack und Sally als emanzipierte, ungebundene Person dastehen. Vom Rest der Gesellschaft will sie um jeden Preis als Rebellin betrachtet werden. Auch Barrel und mir gegenüber erhält sie dieses Theater aufrecht. Ob sie damit ihre Unsicherheit verstecken will? In manchen Situationen scheint durch, dass sie schwankt und zögert. Sie ist auch verkrampft, schüchtern und ängstlich. Ich bin mir nicht sicher, ob Barrel es je bemerkt hat, aber ich kenne beide Seiten an ihr, sowohl die starke als auch die in sich gekehrte. Irgendwer sagte mal: „Man mag einen Menschen wegen seiner Stärken, aber man liebt ihn wegen seiner Schwächen.“ Genau das beschreibt meine Gefühle für Shock. So sehe ich sie. So liebe ich sie.

Auch ich entschuldige mich bei Sally. Ich weiß, dass das, was wir getan haben, falsch war. Ich habe nie gerne anderen Leuten Schaden zugefügt, Streiche gespielt, verbotene Dinge getan. Nicht seit jener Nacht einige Jahre zuvor. Mein Selbst, dass ich nach außen verkörpere, ist im Grunde nur eine Rolle, die ich spiele. Ich habe mich schon vor langer Zeit aufgegeben. Ich habe keine Ziele und keine Wünsche. Ich strebe nach nichts und interessiere mich für (fast) nichts...

Sally sieht uns duldsam an und sagt schließlich: „Es ist doch eh immer das Gleiche mit euch. Geht jetzt ins Bett. Ihr habt morgen Schule.“

„Aber es ist schon so spät. Da muss ich eigentlich ausschlafen.“ sagt Shock und kichert.

„Wenn du so lange ausbleiben kannst, dann kannst du nachher auch um sieben Uhr aufstehen und zur Schule gehen. Gute Nacht!“ Fröhlich summend geht Sally zurück ins Schlafzimmer, aus dem laut und deutlich Jacks Schnarchen zu hören ist (man muss sich ernsthaft fragen, wie ein Gerippe wie Jack Schnarchlaute zustande bringt, aber er schafft es dennoch).

Erschöpft schleppen wir uns in unsere Betten. Barrel kriecht hinauf in die obere Koje des Doppelbetts, während ich mich in die untere fallen lasse. Ich kann die Beule der gewölbten Matratze erkennen, die durch Barrels Gewicht verursacht wird. Ich stemme meinen Fuß dagegen und rufe hinauf: „Zieh deinen Hintern ein, Specki.“

Barrel dreht sich zur Seite, weshalb die Wölbung verschwindet, und keine dreißig Sekunden später kann man auch schon sein Schnarchen vernehmen. Ich bin wie immer der Letzte, der noch wach ist, denn auch Shock schläft schnell ein. Ihr Bett steht an der gegenüberliegenden Wand. Durch das hinein scheinende Licht kann ich deutlich ihre Gesichtszüge erkennen. So wie jetzt habe ich sie schon unzählige Male beobachtet und jedes Mal macht mir dieser Anblick deutlich, warum ich überhaupt noch hier bin. Jetzt kann ich besser einschlafen.

Der Wecker (in Form einer laut singenden Sally) weckt uns unsanft. Ich öffne vorsichtig ein Auge und luge ins Zimmer. Sally geht beschwingt durch den Raum, reißt die Vorhänge auf und öffnet das Fenster. Die kalte Herbstluft zieht herein und das Licht veranlasst uns, schnell die Decke über den Kopf zu ziehen. Barrel rafft sich stöhnend auf und klettert die Leiter hinunter. Die letzten beiden Stufen übersieht er und plumpst geräuschvoll zu Boden.

Sally hilft ihm auf und zieht mir dann die Decke weg. Schnell lege ich meine Hand auf das Gesicht und zieh die Beine an. Barrel trottet ins Badezimmer.

„Los, steht auf, ihr faulen Bälger!“ Sally geht zum Kleiderschrank, zieht unsere Schuluniformen heraus und wirft sie Shock und mir zu. „Macht schon. Wenn Barrel vor euch beim Frühstück ist, dann bleibt für euch nichts übrig und noch einmal Essen machen werde ich garantiert nicht.“

Das ist ein verdammt guter Beweggrund. Schnell erheben wir uns und wetteifern darum, wer als nächstes in das Badezimmer darf. Als Barrel herauskommt, entsteht ein Handgemenge. Als Verlierer stehe ich nun vor der verschlossenen Tür und beschließe, erst zu frühstücken und dann ins Bad zu gehen.

Auf dem Weg zur Schule beraten wir über das, was wir heute Abend unternehmen wollen. „Lasst uns nach Christmas Town und Sandy Claws ärgern.“ schlug Barrel vor. Er mag den Weihnachtsmann einfach zu gerne. Ich vermute, sie teilen die selbe Leidenschaft für das Essen.

Shock verschränkt die Arme hinter dem Kopf und erwidert gelangweilt: „Da waren wir doch erst letzten Freitag.“

„Das stimmt allerdings.“ stimme ich zu. „Wie wäre es, wenn wir die Party von Benny Bunny aufmischen? Ich wette, es wird wieder so eine lasche Vorstellung wie beim letzten Mal.“

„Das haben wir bei seiner letzten Party auch getan und deshalb sind wir heute nicht eingeladen.“ Shock schaut mich finster an. „Außerdem kann uns sein Vater sowieso nicht leiden, nachdem wir aus Versehen statt Sandy Claws ihn gekidnappt und zu Jack gebracht haben. Erinnerst du dich?“

„Wie könnte ich das vergessen? Schließlich standen wir damals noch unter der Herrschaft von Oogie.“ Beim Aussprechen dieses Namens wirft Shock mir einen noch finsteren Blick zu und wendet sich von mir ab.

Barrel starrt mit träumerischem Blick in die Gegend. „Die Party war ein Hochgenuss.“

„Was war ein Hochgenuss?“ frage ich. „Das fackelnde Wohnzimmer oder die Katze mit dem Dynamit am Schwanz?“

„Dieser einzigartige, unglaubliche... Eiersalat!“ Barrel beginnt zu sabbern.

Shock und ich werfen uns einen kurzen Blick zu und seufzen. Essen ist tatsächlich das Einzige, was durch die Regionen seines Hirns schwirrt.

„Lasst uns ins in die Kneipe gehen und schauen, ob wir nicht ein bisschen Streit mit den Touristen bewirken können!“

Barrel und ich stimmen ihr gut gelaunt zu. Touristen ärgern ist das Einzige, an dem man wenigstens ein wenig Spaß haben kann. Jack hatte durch die Übernahme von Weihnachten erheblichen Schaden angerichtet, der bezahlt werden musste. Das riesige Loch in der Haushaltskasse Halloween Towns konnte nur noch durch den Tourismus gestopft werden.

Im Sportunterricht liegt Barrel in der Ecke und schnarcht leise vor sich hin. Ich erhole mich gerade von einem Tausend-Meter-Lauf und beobachte Shock, wie sie über den Platz fegt und ihre Konkurrentinnen binnen weniger Sekunden hinter sich lässt. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck läuft sie ins Ziel und grinst mich kurz an. Ich grinse zurück. Ohne rot zu werden, denn das habe ich mir schon vor einiger Zeit abgewöhnt.

Die Kneipe ist sehr voll, als wir am Abend eintreffen. Shock sieht bezaubernd aus – wie immer. Auch Barrel hat sich in seine besten Kleidungsstücke geworfen, in denen er aussieht wie ein Klischee-Zuhälter; mit halboffenem Hemd, einer Sonnenbrille und Ketten. Wir verjagen die großmäuligen Halbstarken, die unsere Stammplätze belegen und lassen uns an dem Tisch in der Ecke nieder. Shock pfeift die Bedienung, ein genervtes schwarzhaariges Mädchen namens Mourning, herüber und bestellt Bier für uns alle – außer für mich.

„Schau nicht so beleidigt. Du hast Schere-Stein-Papier nun mal verloren, also darfst du uns nachher auch nach Hause manövrieren. Barrel und ich werden dazu garantiert nicht mehr in der Lage sein, oder was meinst du, Barrel? Barrel?“ Er sitzt schon nicht mehr auf seinem Platz, sondern läuft der genervten Bedienung hinter. Er hat schon seit mehreren Wochen ein Auge auf die Kleine geworfen.

„Ich weiß nicht, wieso er eigentlich noch versucht, bei ihr zu landen. Er hat doch bisher immer einen Korb kassiert.“ bemerkt Shock amüsiert und sieht zu, wie das Mädchen Barrel mal wieder zusammenstaucht. Geknickt geht Barrel zur Theke und kehrt mit zwei weiteren Biergläsern zum Tisch zurück.

Der Abend verläuft nicht sehr abwechslungsreich. Shock legt sich mit ein paar asiatischen Touristen an, die sich tausendmal dafür entschuldigen, dass sie Shock angerempelt hätten (Fakt ist, dass Shock ihnen ein Bein stellte), und auch mit ein paar Amerikanern, mit denen wir uns schließlich prügeln. Wie immer werden wir danach vor die Tür gesetzt und wie so häufig stütze ich mit der rechten Seite den sturzbetrunkenen Barrel und mit der linken Seite die völlig beschickerte Shock. Als wir eine kleine Steinbrücke überqueren, muss Shock sich übergeben und reihert über das Geländer in den Fluss. Barrel lässt sich auf dem Boden nieder, lehnt sich an die niedrige Steinmauer und schließt die Augen. Wenige Sekunden später vernehme ich sein lautes Schnarchen. Es ist doch immer dasselbe. Genervt laufe ich auf und ab und lausche dabei Shocks geräuschvollen Eskapaden. Als sie den Inhalt ihres Magens in voller Gänze dem Fluss übergeben hat, lässt sie sich erschöpft neben Barrel nieder. Auch bei ihr dauert es nur wenige Sekunden, bis sie einschläft. Ich beuge mich zu Barrel hinunter und packe ihn an den Schultern.

„Kommt schon Leute! Aufwachen! Ihr erkältet euch! Na los! Macht die Augen auf!“ Es hilft alles nichts. Als ich mich genervt wieder aufrichte, bemerkte ich Bewegungen am naheliegenden Waldrand. Vorsichtig nähere ich mich Stelle, wo ich sie glaube gesehen zu haben. Plötzlich höre ich eine leise wispernde Stimme, die immer und immer wieder meinen Namen sagt. Ich kenne sie, ich weiß, dass ich sie schon einmal gehört habe.

„Hallo? Wer ist da?“ Ich bekomme keine Antwort. Nur das Flüstern ist noch da. Ich habe das Gefühl, umkreist zu werden, in die Falle gegangen zu sein und plötzlich erkenne ich die Stimme, die weiter meinen Namen zischt. Wie hatte ich sie nur vergessen können...



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