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Das Wunder des Lebens

von

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Alles in Ordnung

XVI. Alles in Ordnung
 

Daphne starrte müde durch die Scheibe.
 

Wie…?
 

Wie hatte sie das hingekriegt…?
 

Irgendwie.
 

Sie zwang sich, wieder zurück auf die Labordaten zu schauen, zum tausendsten Mal.
 

Einiges war glasklar.
 

Anderes nicht.
 

Sie hatte die Gencluster isoliert.
 

Blondes Haar – kein Problem, wenn es sich als Handgepäck dominanter Erbinformationen einschmuggelte.
 

Brians Augen… Kinderspiel.
 

Aber der Rest?
 

Ein Mensch war so viel mehr als das Zusammenspiel seiner physischen Merkmale.
 

Die in jedem Menschen latent vorhandenen Erbkrankheiten… nieder mit ihnen. Ganz ging das nicht, sie hatte einige Versuche gebraucht, um die Sache zu optimieren, die Risiken aufs Äußerte zu minimieren. Aber Brian und Justin waren ja netterweise ausgesprochen freigiebig gewesen in ihrer Not. So eine Ladung hatte ganz schön viele Kandidaten zu bieten.
 

Ein Hauch von schlechtem Gewissen hatte sie gequält. Aber dann… Es war eine Kurzschlussreaktion gewesen zuzugreifen. Aber wenn schon… nur ein Versuch… es würde ihnen nicht schaden, sie würden es nicht erfahren. Es war ja nur ein Gedankenexperiment.
 

Dann hatten sich in der Petrischale Ergebnisse gezeigt. Es wuchs. Aber dort ging es nicht weiter… Was nun… Aber sie hatte einen Ort… Aber das war nicht ganz einfach… Aber es ging.
 

Es wuchs sich fest.
 

Es gedieh.
 

Schockartig wurde ihr klar, dass es ein Leben war, ein denkender, fühlender Mensch… oh Gott!
 

Sie konnte es doch nicht einfach… wegschmeißen!
 

Aber sie wollte doch gar keine Mutter sein, doch nicht schon jetzt. Außerdem war das gar nicht ihr Kind. Naja, zu einem Bruchteil schon, aber den hatte sie rezessiv gehalten.
 

Ein Kind… wenn, dann, wenn sie einen Partner gefunden hätte oder bereit wäre, das allein durchzuziehen, aber doch nicht jetzt, nicht... so.
 

Sie hatte kein Recht an Lilly.
 

Sie hatte sie gestohlen.
 

So war es. Sie war eine Diebin. Und eine Lügnerin.
 

Sie hatte das nicht gewollt, nicht geplant, aber es ließ sich einfach nicht mehr leugnen, Lilly war da, lebte, lebte in ihr… oh Gott!
 

Sie hatte Hilfe gebraucht und jetzt zahlte sie den Preis, nicht ganz unwillig, schließlich tat sie das, was sie am Meisten ersehnte.
 

Aber was war mit Lilly?
 

Genetisch mochte sie wenig von ihr abbekommen haben – haha, als sei das Zufall gewesen. Aber dennoch hatte sie sie neun – naja fast – Monate mit sich herumgeschleppt, mit ihr geredet, sie sich ausgemalt, ihr einen Namen gegeben. Und plötzlich… der Stress, die Schmerzen…
 

Sie hatte sie nicht sehen wollen – wie hätte sie sie sonst fortgeben können?
 

Das war das Härteste gewesen, was Daphne je hatte tun müssen.
 

Für Lilly.
 

Sie gehörte nicht zu ihr.
 

Und Brian hatte draußen gewartet.
 

Er war da gewesen.
 

Nicht Justin… aber Brian.
 

Brian würde es auch tun, mit Sicherheit.
 

Oder?
 

Doch. Er würde Lilly nicht im Stich lassen, trotz aller nach außen getragener Kälte würde er dergleichen niemals tun. Nicht wie sie. Aber das tat sie nicht. Sie gab es denen, zu denen es auch gehörte.
 

Sie war sein Kind, viel mehr als ihres.
 

Aber das wusste er nicht.
 

Aber er würde es dennoch tun.
 

Oder?
 

Sie konnte sich nicht sicher sein.
 

Verfluchte Masern.
 

Wie hatte Brian reagiert, als ihm klar wurde, dass er mit Lilly allein war?
 

Was hatte er gedacht?
 

Was hatte er gefühlt?
 

Und vor allem: Was hatte er getan?
 

War sie jetzt bei ihnen?
 

Ging es ihr gut?
 

Hatten sie es heraus bekommen?
 

Das mit der Vaterschaft – bestimmt. Sie waren ja nicht blöde.
 

Aber wie sie das…
 

Nein.
 

Das verstand sie selbst ja nicht recht.
 

Wie hatte das klappen können?
 

Darum war sie hier.
 

……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………
 

„Na, Gus, weißt du, was nächste Woche ist?“ fragte Justin den kleinen Jungen, während die beiden auf der Terrasse versuchten, ein Star Wars-Raumschiff aus den passenden Legosteinen zusammen zu puzzeln.
 

„Ich komme in die Schule!“ strahlte Gus und drückte einem Lego-Jedi ein Laserschwert in die Hand.
 

„Ja, genau. Aber da ist noch etwas“, meinte Justin geheimnisvoll.
 

„Was denn?“ wollte Gus neugierig wissen.
 

„Jemand hat Geburtstag…“, flüsterte Justin, als könne sie jemand belauschen.
 

„Geburtstag! Wer?“ fragte Gus gespannt und sah Justin an.
 

„Rate Mal!“ lächelte dieser.
 

„Du?“
 

„Nein. Ich hatte im Februar Geburtstag, als noch ganz viel Schnee lag, weißt du?“
 

„Mmm, Jenny?“
 

„Nein, die wurde im Oktober geboren, vor Weihnachten.“ Gus hatte inzwischen die Monatsnamen gelernt, doch war sein Zeitgefühl noch nicht besonders ausgeprägt. Justin hatte seinen schlauen Büchern entnommen, dass ein Kind Gus‘ Alter ungefähr einen Zeitraum von zwei Wochen überschauen konnte, alles andere war weit weg und latent ewig.
 

„Lilly?“
 

„Nein, Lilly wurde ja gerade erst geboren, sie ist nicht einmal zwei Monate alt.“
 

„Papa?“
 

„Ganz genau, Gus“, bestätigte Justin lächelnd.
 

„Oh“, sagte Gus. „Wie alt wird Papa denn?“
 

„Sechsunddreißig.“
 

„Das ist aber viel. Papa ist ganz schön alt!“
 

Justin verkniff sich das Lachen, auch weil Gus das voller staunender Bewunderung gesagt hatte. „Sag das Papa ja nicht – er mag es gar nicht, wenn ihn jemand „alt“ nennt.“
 

„Warum denn? Ich will auch alt sein! Und so groß wie Papa!“
 

„Das wirst du schon früh genug. Aber jeder Mensch mag etwas nicht… Was willst du nicht, dass man es dich nennt?“
 

„Dumm! Ungeschickt! Das bin ich nämlich nicht!“
 

„Da hast du recht. Und Papa mag es nicht „alt“ genannt zu werden, okay?“
 

„Aber warum denn nicht! Er ist doch voll alt!“
 

Armer Brian, dachte Justin. Seine eigene Brut verriet ihn.
 

„Stell dir vor, du wärst doof – würdest du es okay finden, wenn dich jemand „doof“ nennen würde?“
 

Gus dachte nach. „Nein… das wäre zwar richtig, aber wäre trotzdem gemein!“
 

„Siehst du, genauso ist das mit Papa.“
 

„Er ist also alt, aber er will nicht, dass das jemand sagt?“
 

„Äh… ja…“ Gott sei Dank konnte Brian ihn jetzt nicht hören, er war bei Kinnetic. Er würde sich postwendend scheiden lassen. Aber aus Gus‘ Froschperspektive waren sie wohl beide Greise.
 

„Wann hat Papa denn Geburtstag?“
 

„Am Montag und am Mittwoch wirst du eingeschult.“
 

„Und heute ist?“
 

„Freitag.“
 

„Freitag. Sonnabend, Sonntag, Montag – Papas Geburtstag, Dienstag, Mittwoch, da gehe ich zur Schule?“ zählte Gus ab.
 

„Richtig, Gus, gut gemacht“, lobte Justin. Er war auch stolz auf sich selbst. Er hatte Gus das beigebracht.
 

„Was wünscht sich Papa?“ wollte Gus wissen.
 

Gute Frage. Was man mit Geld kaufen konnte, besorgte Brian sich selbst, und es bedeutete ihm letztlich nicht außergewöhnlich viel. „Etwas, das ihm zeigt, wie lieb du ihn hast?“ schlug Justin vor. Das war für Brian unbezahlbar.
 

Gus überlegte. „Papa hat immer so wenig Zeit… Können wir ihm das nicht schenken? Zeit?“
 

Justin schaute den kleinen Jungen erstaunt an.
 

Ja, das ließ sich wirklich für kein Geld der Welt kaufen.
 

Er würde mit Ted sprechen müssen.
 

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Brian stolperte erschöpft ins Haus, die sengende Hitze ließ das Hemd an ihm kleben wie eine zweite Haut, obwohl er die Anzugjacke abgestreift hatte, bevor er ins Auto gestiegen war. Ein weiterer Punkt gegen seinen Oldtimer, ohne eine Klimaanlage war er im Sommer ein reines Folterinstrument. Und im Winter kaum weniger, die altersschwache Heizung brauchte ewig, um die Pittsburgher Kälte auszugleichen.
 

Kinnetic war gut ausgelastet, es gab viel zu tun. Das Meiste lief inzwischen mehr oder weniger automatisch, aber er war das Hirn, ohne seine Gegenwart zuckte der Organismus des Betriebes nur reflexartig und gebar nichts Neues.
 

Aber es gab auch Zuhause…
 

Lilly schrie immer noch alle paar Stunden, nass und hungrig. Auch wenn Justin an der Reihe war, wachte er jedes Mal mit auf.
 

Gus brauchte ihn.
 

Und Justin… Aber es waren nicht mehr bloß sie beide.
 

So war das wohl, wenn man das Babylon gegen ein Babyfon getauscht hatte.
 

Obwohl das Babylon ihm offiziell noch immer gehörte.
 

Ein Mahnmal des Todes, des Hasses… der Erkenntnis, was wirklich zählte.
 

Aber die Dinge hatten wieder ihre Ordnung.
 

So war es wohl, so musste es sein.
 

Er hatte immer seine Routinen gehabt, seine Ordnung.
 

Diese hier war neu, anders, besser – aber sie war Ordnung.
 

Es war gut. Und es war anstrengend.
 

Er hatte sich immer an seine Grenzen getrieben, der Lohn war Vergessen gewesen, die Euphorie des Rausches, der Macht.
 

Kaum war er durch die Haustür, riss er bereits an den Knöpfen seines Hemdes. Keine drei Minuten würde er es noch in dieser siffigen Pelle aushalten, Armani hin oder her. Während er die Treppe hinauf lief, zerrte er bereits an Knopf und Reißverschluss seiner Hose.
 

Raus hier… Weg damit…
 

Als das eiskalte Wasser der Dusche auf seine nackte Haut prasselte, jappste er kurz, dann ließ er die fast schmerzhafte Erfrischung einsickern, seine Lebensgeister berappelten sich.
 

Deutlich entspannter trat er, nur mit einer schwarzen Unterhose bekleidet, auf die kleine rückwärtige Terrasse, die vom Schlafzimmer abging. Ein paare leere räudige Blumenkästen glotzten ihn vorwurfsvoll an. Als er das Haus gekauft hatte, hatte er sich über dergleichen keine Gedanken gemacht. Dafür gab es Personal, oder? Nein, gab es nicht. Das war ihr Zuhause, kein inhaltsloses Projekt irgendwelcher Innenarchitekten und Landschaftsdesigner. Putzfrau, Gärtner… okay, die hielten den Laden in Schuss.
 

Aber wie hatte es Gus so schön formuliert? Meins. Selber machen.
 

Brian spähte hinab. In einiger Entfernung türmte sich Justins Baumstamm-Massaker auf, ein wirres, zorniges Geflecht, ein gordischer Knoten perversen Ausmaßes, Natur in eine unnatürlich brutale Form geknechtet. Es war nicht schön. Aber das war egal, das sollte es wahrscheinlich gar nicht sein. Man konnte nicht aufhören, es anzustarren. Wild, allem trotzend, gnadenlos, zutiefst irritierend wie der Funke einer tobenden Schöpfung. Es entzog sich jeder Beschreibung, schuf seine eigene Logik abseits aller Sprache. Er hatte Justins Talent ja schon früh erahnt, aber hatte keine Vorstellung davon gehabt, was es zutage fördern könne. Justin war nicht ein braves Schülerlein einer etablierten akademischen Tradition. Er war ein verfluchtes, fast angsteinflößendes Genie, dämmerte Brian. Und er hatte gerade erst angefangen. Der Galerievertrag war gut, aber mit ein wenig Marketing konnte es Justin ganz nach oben schaffen. Aber das war nie Justins Triebfeder gewesen, nur ein Nebeneffekt. Er würde diese Stämme auch so verbiegen, wenn er völlig alleine auf der Welt wäre.
 

Brian sah hinunter. Auf der Terrasse spielte der von der Muse geküsste Genius kindlich kichernd mit Gus irgendein albernes Brettspiel, bei dem man anscheinend ständig die Sitzpositionen wechseln musste. Sein von der Sonne geblichenes Haar stand wirr, die anfangs gerötete Haut hatte einen sanften Goldton angenommen, die Spuren der Masern waren kaum mehr zu erkennen. Trotz seiner doch inzwischen vierundzwanzig Jahre wirkte er wie ein verspielter Teenager, sorglos und leicht sich im Augenblick verlierend. Er konnte auch ganz anders, das wusste Brian.
 

Was Justin anging, trog der erste Eindruck meist gewaltig.
 

Justin war Chaos, doch seine Ordnung, ein Fels unter Zuckerguss, Granit mit Waldmeistergeschmack.
 

Und, so irre es auch war, der Vater seiner Tochter, die tief unter dem Sonnenschirm, geschützt vor Mücken, Bienen und Wespen unter einem Moskitonetz, schlief.
 

Sie brauchte wahrscheinlich Energie, um sich genau dann die Seele aus dem Leib zu brüllen, wenn er gerade eingenickt war.
 

Aber das war okay.
 

Er wusste das.
 

Das war Ordnung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  brandzess
2011-11-21T13:48:23+00:00 21.11.2011 14:48
Bin auf beides sehr gespannt^^
Was Brian wohl so alles zum Geburtstag bekommt und wie Gus einschulung so wird.
Also Tradotionel sind da ja die eltern dabei....dei Leute werden schön blöd gucken wenn Gus mit 1. zwei Kerlen als Eltern und 2. welchen mit einem solchen Altersunterschied und 3. vllt noch mit kleiner Schwester ankommt *hehe* xD
tolle vorstellung!


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