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Aurae

Löwenherz Chroniken II
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Kapiteltitel ist nicht von mir, sondern ein Zitat von Friedrich Hebbel. Komplett anzeigen

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Das Gewissen ist die Wunde, die nie heilt und an der keiner stirbt.

Erst am Tag danach ließ man Raymond wieder gehen. Man bot ihm keine Entschuldigung und er verlangte auch keine. Er verstand, warum es notwendig gewesen war, ihn unter Beobachtung zu lassen und trug es deswegen niemandem nach.

Er wurde nicht vom Direktor selbst, sondern von Seline und Joy entlassen, die ihm beide anboten, weiter bei ihnen zu leben, was von ihm allerdings abgelehnt wurde. Im Moment wollte er eigentlich nur noch nach Hause, dort allein sein, ohne immer jemanden in seiner Nähe zu haben, selbst wenn diese Person ihn trösten könnte.

Das erste, was er tat, als er endlich zu Hause angekommen war, bestand darin, zu duschen. Dabei verbrachte er die meiste Zeit damit, Wasser auf sich regnen zu lassen und mit gesenktem Blick zu beobachten, wie es im Abfluss verschwand, als wäre es niemals hier gewesen, vergaß dabei aber, seine Schuldgefühle mit sich zu nehmen.

Eigentlich hatte er vorgehabt, erst einmal bei Joel vorbeizugehen, ihm zu sagen, dass es ihm gut ging, dass er ihm beistehen würde und dabei gleich sicherzustellen, dass es seinem Freund ebenfalls gut ging. Doch je mehr er das abfließende Wasser betrachtete, desto mehr schwand auch dieser Wunsch und wurde von dem Verlangen ersetzt, einfach nur allein zu sein.

Irgendwann holte ihn die Kälte ein, so dass er die Dusche verließ und dann beschloss, einkaufen zu gehen. Er hatte keinen Appetit oder gar Lust, etwas zu essen, sogar das angebotene Frühstück in der Akademie war von ihm ausgeschlagen worden. Aber solange er vor den Regalen stand, sich überaus lange damit auseinandersetzte, was er kaufen sollte, die anderen Kunden und auch Verkäufer beobachtete, während er in der Schlange stand und wartete, musste er sich nicht mit dem Geschehen auseinandersetzen. Er musste nicht daran denken, dass sein Fehlverhalten das Leben einer Freundin eingefordert hatte, dass sein bester Freund deswegen mehrmals in Gefahr geraten war. Während dieser Zeit konnte er selbst glauben, dass er nur einer von vielen war, ein Mensch, der keine Freundin auf dem Gewissen hatte, einer, der keinerlei seltsame Kräfte in seinem Inneren beherbergte, die ihn dazu antreiben wollten, sich selbst zu vernichten.

Das Leben aller anderen Menschen, die er beobachten konnte, während er nach dem Einkaufen auf einer Parkbank saß, ging einfach weiter, keinen von ihnen schien es zu kümmern, dass Christine so brutal und plötzlich aus dem Leben gerissen worden war. Hatte irgendwer von diesen Leuten sie überhaupt gekannt? Raymond war sich nicht sicher, denn er erkannte keine dieser Personen, sie schienen ihm wie eine graue, undefinierbare Masse, zueinander verschmolzen, unmöglich, sie jemals wieder voneinander zu trennen und erneut zu benennen. Deswegen unternahm er diesen Versuch gar nicht erst und beobachtete einfach nur, ohne die einsetzende Kälte zu beachten.

Es wurde bereits Abend, als Raymond wieder heimkehrte und seine Einkäufe fast schon mechanisch verräumte, alles dort, wo es hingehörte, als wäre er nie fort gewesen. Die Schränke waren leer, als wäre er erst eingezogen, die Wohnung schien ihm fremd, obwohl er an diesem Tag bereits einmal hier gewesen war. Alles war ihm fremd, auch er sich selbst.

Die Kälte war in seine Glieder gekrochen und ließ sich nicht vertreiben, auch nicht durch die aufgedrehte Heizung oder die Decke unter die Raymond sich wärmesuchend verkroch. Der Blick auf sein Handy-Display ließ das Loch in seiner Brust anwachsen. Niemand hatte sich bei ihm gemeldet, er war von niemandem vermisst worden, als ob er eigentlich derjenige war, der gestorben war. Und in dieser Nacht wünschte er sich wieder einmal, dass er wirklich derjenige gewesen wäre, der an Christines Stelle gestorben wäre. Er glaubte nicht, dass jemand ihn vermissen würde, wenn sie es nun schon nicht taten und dafür wäre er das schlechte Gewissen, das ihn stetig verfolgte und zu verschlingen drohte, endlich los.

Eine Weile überlegte er, Eve und Adam anzurufen, kam aber davon ab. Sicher würden sie ihm beide nur sagen, dass er keinerlei Schuld an all diesen Dingen trug, aber das änderte nichts daran, dass er sich schuldig fühlte und das ging einfach nicht fort. Nicht einmal der Gedanke an Eves fröhliche Stimme änderte etwas daran.

Die goldene Blume, die sich zuvor auf dem eisigen Feld gegen den Zweifel durchgesetzt hatte, ließ ihren Kopf hängen, war geknickt von seiner erst langsam einsetzenden Erkenntnis, dass er Christine niemals wiedersehen würde, dass niemand sie je wiedersehen würde, weil er es versäumt hatte, besser auf sie aufzupassen.

Erst das entfernte Murmeln, Verkehrslärm und das Zwitschern von Vögeln, das plötzlich erklang, verriet ihm, dass er eingeschlafen sein musste. Aber eigentlich dürfte er diese Geräusche nur hören, sofern ein Fenster oder die Balkontür offen wäre – und er war sich sicher, nichts von beidem geöffnet zu haben.

Also wühlte er sich wieder unter seiner Decke hervor und entdeckte tatsächlich, dass sich die weißen Vorhänge im Wind der offenen Balkontür bauschten.

Verwirrt sah er sich um, nahm den Geruch von frischem Tee wahr, was ihn nur noch mehr verwirrte. Dann erklangen Schritte – und im nächsten Moment stand Alona in der Tür, mit zwei Tassen in der Hand. Sie sah emotionslos auf ihn hinab, aber in ihren Augen glaubte er, Schmerz zu sehen. Von ihr erwartete er Schuldzuweisungen, da sie ihn am Kinoabend noch davor gewarnt hatte, dass Christine nicht mehr lange durchhalten würde, aber sie kamen nicht. Statt etwas zu sagen, nickte sie ihm nur zu und hob dann eine der Tassen, um ihn zu grüßen.

Er wunderte sich nicht einmal, dass sie sich einfach Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatte, war lediglich froh, dass er nicht mehr allein war und sie ihm keinerlei Vorwürfe machte. So fand er sich kurz darauf auf dem Sofa wieder, eine Tasse Tee in den Händen, um sich daran zu wärmen.

„Keiner hat sich bei dir gemeldet?“, fragte sie.

Er schüttelte mit dem Kopf, schweigend. Obwohl er zuvor im Laden beim Einkaufen mit dem Verkäufer gesprochen hatte, mechanisch, als gäbe es ein Tonband, das er nur abspielen müsste, erschien es ihm nun unmöglich, einen Laut hervorzubringen.

Alona schwieg ebenfalls, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Ihre gerunzelte Stirn verriet ihm, dass sie gerade angestrengt darüber nachdachte, was sie sagen sollte. Aber er glaubte nicht, dass es sich um Mitleidsbekundungen oder doch noch kommende Vorwürfe handelte – und sein Verdacht bestätigte sich auch sofort: „Morgen ist Christines Beerdigung. Ich will, dass du mit mir dorthin gehst.“

Eigentlich blieb ihm keine Wahl, außerdem wollte er ebenfalls zu dieser Beerdigung, aber nicht allein – und er glaubte nicht, dass Joel sich darüber freuen würde, wenn Raymond sich an ihn hing. Bislang hatte er von niemanden aus der Familie Chandler etwas gehört und er dachte nicht daran, sich ihnen aufzudrängen, wenn er derart unerwünscht war.

So stand er am nächsten Tag gemeinsam mit Alona auf dem Friedhof, in einiger Entfernung zu dem ausgehobenen Grab um das sich einige Leute versammelt hatten. Neben Christines Eltern, die sich trauernd in den Armen lagen, konnte Raymond auch einige seiner Mitschüler entdecken, dazu auch Rufus und Theia Chandler – und Joel. Es erfüllte ihn mit Erleichterung, dass sein Freund gesund schien, aber diese Welle schwand sofort wieder, als Joel bei seinem Anblick zusammenzuckte hastig die Augen abwandte. Fast als hätte er wirklich Angst vor ihm.

Alona machte keine Anstalten, näher zu gehen, deswegen blieb Raymond bei ihr stehen, damit sie nicht allein sein musste. Sie hatte die Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben, dessen Grau zur Farbe des bewölkten Himmels passte. Ihre Schultern waren hochgezogen, als versuche sie, sich vor der Kälte zu schützen, aber ihr Zittern verriet, dass sie darin erfolglos war.

Nebeneinander stehend lauschten sie der Beerdigungsrede, gehalten von einer für Raymond unbekannte Frau, die Christines Leben zusammenfasste, ohne ihre Zeit bei der GS zu berücksichtigen. Als sie zu der Stelle kam, an der Christines Tod Erwähnung fand, wurde lediglich von einem tragischen Unfall gesprochen, der sie viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte.

Raymond lauschte dem mit einem stechenden, kalten Gefühl in der Brust und erinnerte sich wieder an jene Nacht zurück, an die schwarze Schicht, die Ketten, die sie aufspießten, die Figur, die sie danach eingenommen hatte …

Er atmete scharf ein, kalte Luft strömte in seine Lungen, so plötzlich, dass sein Hals zu schmerzen begann. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Alona ihm einen kurzen Blick zuwarf, aber er war zu sehr mit husten beschäftigt, um zu erkennen, ob es sich um einen besorgten handelte.

Zumindest half ihm dieser Anfall gleich, die Erinnerung an jene Nacht wieder zu verdrängen.

Der Sarg wurde hinabgelassen, die Trauernden warfen Blumen und Erde hinab, während sie weiterhin weinten und dann davongingen. Lediglich Joel blieb allein zurück, mit zwei Friedhofsmitarbeitern, die begannen, das Grab zuzuschaufeln. Es war ein trauriger Anblick, den eigentlich so fröhlichen, lebenslustigen Jungen so geknickt und fast schon gebrochen zu erleben … und vor allem so einsam.

Erst in diesem Moment ging Alona selbst hinüber, gefolgt von Raymond, der sich fragte, wie Joel wohl reagieren würde. Im ersten Moment reagierte er jedoch gar nicht, starrte einfach nur weiter auf den Sarg hinunter, dessen dunkles, poliertes Holz sich nur aufgrund des Glanzes von der ihn umgebenden Erde unterschied.

Alona nahm die Hand aus der Tasche und warf eine getrocknete Seerose auf den Sarg hinab. Raymond beobachtete ihren Fall – dabei fragte er sich, warum es sich ausgerechnet um eine Seerose handelte, ohne eine Antwort darauf finden zu können –, bis sie auf dem Holz landete und rasch unter Erde begraben wurde, als wäre sie nie hier gewesen.

Kaum war das geschehen, ging Alona davon, gab ihm aber ein Zeichen, dass er ruhig bei Joel bleiben sollte, was er auch tat.

Schweigen umfing die beiden Freunde, während sie gleichsam auf den Sarg hinabsehen, der inzwischen fast vollständig von Erde verdeckt war. Aber Raymond konnte nicht glauben, dass Christine sich in dieser Kiste befand. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass ihr Lachen wirklich für immer verstummt sein sollte und ihr Körper nun dort unten lag, untätig dem ewig währenden Zerfallsprozess ausgesetzt, den niemand aufzuhalten vermochte.

Erst als nichts mehr von dem Holz zu sehen war, schaffte er es, den Blick wieder zu heben.

Der Friedhof lag mitten in der Stadt, umgeben von mehreren großen Straßen und doch drang nichts von diesem Lärm hierher. Auf einigen anderen Gräbern waren rote Windlichter zu sehen, in denen Kerzen brannten und damit gegen die früh einfallende Dunkelheit anzukämpfen versuchten.

Warum hatte die Stadt diese christlichen Riten übernommen? Warum wurde Christine so beerdigt, statt mumifiziert? Vergraben, statt verbrannt?

Er war überzeugt, das alles einmal gelernt zu haben, dass es dafür eine vernünftige Erklärung gab, aber in diesem Moment wollte sie ihm nicht einfallen und eigentlich war sie auch vollkommen irrelevant, wie ihm selbst bewusst war.

Erst Joels zaghafter Stimme gelang es, ihn aus seinen Gedanken zu holen: „Kannst du mich zum Ausgang des Friedhofs begleiten?“

Für Raymond war das gar keine Frage, deswegen nickte er sofort und setzte sich gemeinsam mit seinem Freund in Bewegung. Dieser hielt den Blick nach wie vor ein wenig gesenkt und vergrub seine Hände nun ebenfalls in den Taschen seines braunen Mantels. Der Kies knirschte unter ihren Schritten und war das einzige, was die Stille ein wenig vertrieb.

Wieder schwiegen sie einige Schritte lang, da Raymond nicht wusste, was er sagen sollte und Joel offenbar erst einen inneren Ruck benötigte, den er sich auch sofort gab: „Es tut mir leid, dass ich mich nicht bei dir gemeldet habe.“

Raymond erwiderte, dass es schon in Ordnung wäre. „Ich kann verstehen, dass du nach den Ereignissen Zeit benötigt hast.“

Sein Atem erschien in weißen Wolken vor ihm, während er sprach, aber sie wirkten derart milchig, dass er sich nicht sicher war, ob sie wirklich existierten oder nur seiner Einbildung entsprangen.

„Aber ich will nicht, dass du denkst, dass ich Angst vor dir habe.“

Endlich sah Raymond zu ihm hinüber und bemerkte erst in diesem Moment, dass Joel den Kopf gehoben hatte und dann bereits fortfuhr: „Ich war ziemlich erschrocken über das, was in dieser Nacht geschehen ist. Nicht nur mit Christine, sondern auch mit dir. Ich habe es nicht verstanden … eigentlich tue ich das immer noch nicht.“

Das konnte Raymond ihm gar nicht verübeln, er selbst verstand es immerhin ebenfalls nicht, was er auch sagen wollte, als Joel ihm schon wieder zuvorkam: „Aber ich denke, du verstehst es ebenfalls nicht und dir muss das noch viel mehr Angst machen als mir. Ich will dir da nicht noch mehr Druck machen, sondern lieber ein guter Freund sein.“

Er holte die rechte Hand wieder aus der Tasche und legte sich die Faust aufs Herz. „Und was macht ein guter Freund? Er steht einem bei, wenn man verängstigt ist und Hilfe benötigt und genau das will ich tun. Wir können zusammen die Furcht abbauen und auch dieses Ereignis verarbeiten.“

Die Worte berührten Raymond derart, dass die Kälte in seinem Inneren langsam zu schmelzen begann. Nicht vollständig, aber zumindest ansatzweise und im Moment genügte das.

„Was denkst du?“ Joel sah ihn endlich direkt an.

Raymond widerstand der Versuchung, die Brille abzunehmen, um die Aura seines Freundes zu betrachten. Außerdem wollte er auch nicht zögern, deswegen antwortete er ohne zu lange zu warten: „Ich finde, das ist eine gute Idee. Ich würde dir auch lieber beistehen bei deiner Angst.“

Joel atmete erleichtert auf, was auch Raymond ein wesentlich besseres Gefühl als zuvor gab. Er war immer noch angespannt und bedrückt, ungläubig, aber er glaubte endlich ernsthaft, wieder neue Hoffnung fassen zu können. Als wäre Seline noch immer bei ihm in seiner Zelle.

Dann verfinsterte sich Joels Gesicht aber auch gleich wieder. „Ray, werde ich auch sterben?“

Diese Frage fror die Hoffnung sofort wieder ein und ließ Raymond die Augen weiten. „Wie kommst du darauf?“

Selbst das Knirschen der Kiesel unter Joels Füßen klang plötzlich traurig, er sah wieder stur nach vorne, den Blick vollkommen leer. „Ich habe inzwischen begriffen, dass ich wie Christine bin. Die goldenen Augen, die seltsamen Kräfte ...“

Zur Demonstration nahm er die Hand wieder vom Herzen und öffnete sie, mit der Handfläche nach oben. Kleine Kristallsplitter erschienen in einem feinen Nebel auf seiner Handfläche. Die Fragmente bewegten sich von allein, schwebten umher, ohne jedes Ziel, aber auch ohne den Bereich der milchigen Schwaden zu verlassen. Raymond betrachtete das fasziniert, bis Joel die Hand zur Faust ballte und damit alles wieder verschwinden ließ.

„Ich habe das festgestellt, nachdem du bewusstlos geworden bist“, führte er aus. „Die anderen wissen noch nicht, dass ich davon weiß.“

Es musste einiges an Mühe erfordert haben, bis Joel diese Fähigkeit zu kontrollieren gelernt hatte. Dass es ihm in dieser kurzen Zeit gelungen war, überraschte Raymond, sonst kannte er seinen Freund immerhin nicht derart strebsam.

Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was, weswegen Joel leise seufzte, fast frustriert. „Aber du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet: Werde ich sterben?“

Darauf etwas zu sagen war nicht leicht. Die einzig wahre Antwort darauf wäre eigentlich ein deutliches Ja, denn so war es immerhin, aber das konnte er ihm nicht sagen.

Nein, das wollte er ihm nicht sagen. Wenn Joel das wusste, würde er mit Sicherheit jede Hoffnung verlieren und sich am Ende vielleicht noch etwas antun – und das könnte Raymond sich niemals verzeihen. Es war sein Wunsch, Joel so lange wie möglich bei sich zu halten und ihn nicht einfach zu verlieren. So wie er Christine wegen seiner Nachlässigkeit verloren hatte.

Er hatte bei Christine versagt und sie nicht retten können, noch einmal würde ihm das nicht geschehen.

Die Kälte schwand noch ein wenig mehr, wurde ersetzt durch eine Entschlossenheit, die er bislang selten gekannt hatte und die ihn deswegen zu einer Antwort beflügelte, die er nicht vorher durchdacht hatte: „Keine Sorge, das werde ich nicht zulassen.“

Joel sah ihn erstaunt an. „Was?“

Raymond erwiderte seinen Blick. „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst. Ich werde dich beschützen, so dass du nicht deine Kräfte einsetzen musst. Solange ich bei dir bin, wird dir nichts geschehen.“

Bewunderung, Dankbarkeit und auch ein wenig Ehrfurcht war in Joels Gesicht zu erkennen, als er wohl endlich die volle Tragweite dieser Worte begriff. Mit einem erleichterten Ausruf – offenbar zweifelte er nicht im Mindesten, dass es Raymond möglich sein würde, ihn zu schützen – legte er schwungvoll einen Arm um seinen Freund, womit er diesen fast umriss. Dennoch war das Gefühl angenehm, es war fast wie früher, als ob nie etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre, weder Christines Tod, noch die kurze Funkstille.

„Danke, Ray“, sagte Joel enthusiastisch. „Du bist wirklich der beste Freund, den man sich nur wünschen kann.“

Dass Joel derart überzeugt von ihm war, obwohl er hatte beobachten können, wie hilflos Raymond in jener Nacht bei Christine gewesen war, überraschte ihn. Aber er hakte nicht nach und wies auch nicht darauf hin, schon allein, weil er sich ja nun selbst dazu entschieden hatte, endlich zu kämpfen.

Joy würde ihm das allerdings niemals gestatten, also musste er eine andere Alternative finden. Und er wusste auch schon genau, wen er dazu ansprechen musste.

Am Ausgang des Friedhofs angekommen, entdeckte Raymond sofort die anderen Besucher, die dort noch versammelt standen und sich mit bedrückten Gesichtern gegenseitig versicherten, dass sie einander – aber vor allem Christines Eltern – stützen würden in dieser schwierigen Zeit.

Raymond überlegte, ebenfalls zu ihnen hinüberzugehen, aber er hatte nie viel Kontakt mit den Landes gepflegt, deswegen fühlte es sich für ihn fehl am Platz an, sich nun derart aufzudrängen.

Als Joel seine Eltern entdeckte, klopfte er Raymond auf die Schulter. „Danke, dass du mir zugehört hast. Kommst du morgen wieder in die Schule?“

Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. „Kommst du denn?“

Joel nickte. „Ich muss wohl. Du kennst ja meinen Vater. Deswegen wäre es cool, wenn du auch kommst. Besonders jetzt, da Chris ...“

Seine Stimme erstarb einen kurzen Moment, ehe er sich wieder fing: „Jedenfalls, danke, dass du heute da warst. Ich hoffe, du kommst morgen auch.“

„Werde ich ganz bestimmt“, versicherte Raymond ihm.

Dann verabschiedeten sie sich voneinander, so dass Joel zu seinen Eltern gehen konnte, die bereits an ihrem Auto auf ihn warteten. Ehe er einstieg, wandte er sich noch einmal in Raymonds Richtung, worauf dieser ein wenig die Hand hob.

Kaum war Joel endlich wirklich eingestiegen, musste Raymond daran denken, was er ihm versprochen hatte. Er würde ihn beschützen. Er würde darauf achten, dass er nicht sterben müsste, obwohl seine Existenz auf ein rasches Ende zusteuerte. Er würde tun, was er tun musste.

Die durch diesen Gedanken entstehende Hitze sorgte dafür, dass er seinen eigenen Mantel aufknöpfte, so dass er leichter an seine Krawatte kam, um diese zu lockern. Es kam ihm vor, als würde dieses Stück Stoff ihn einschnüren und ihm jegliche Möglichkeit zu atmen rauben.

Während er das tat, trat Alona, quasi aus dem Nichts, wieder zu ihm. Sie sagte nichts, aber das musste sie auch nicht, da er sofort seinen Blick auf sie richtete.

„Ich habe mich entschieden“, sagte er, als hätte es jemals zwischen ihnen zur Diskussion gestanden.

Da dies nicht der Fall gewesen war, blickte sie ihn verwirrt an, so dass er zu einer Erklärung ansetzte: „Ich werde kämpfen. Und ich möchte, dass du mir zeigst, wie ich am besten gegen die Mimikry vorgehen soll. Ein Nein werde ich nicht akzeptieren.“

Dennoch hielt er nach seinen Worten für einen Moment den Atem an. Er wusste nicht, wie sie auf vollendete Tatsachen reagierte oder ob sie überhaupt gewillt war, ihn zu unterrichten und auf ihrem ausdruckslosen Gesicht war nichts abzulesen. Auch nicht, als sie schließlich den Mund öffnete, um ihm eine Antwort darauf zu geben: „Gut, ich bin einverstanden.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
*räusper*
Der erste Teil des Kapitels mag ein wenig gehetzt und unzusammenhängend erscheinen, ich hab damit versucht, Raymonds Gefühl von Trauer und Schuld zu emulieren. Vielleicht ist es mir ja gelungen.
Ursprünglich war geplant, dass Ray und Joel ein wenig länger nicht miteinander reden und Ray später erst den Entschluss fasst, zu kämpfen - aber Joel wollte nicht so lange von Ray getrennt sein. ;< Komplett anzeigen

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