Eingebrannte Memoiren
Er verließ sein Zimmer mit einem Seufzen.
Das tat er selten, wenn er allein war und noch seltener – nein, nie – in Gesellschaft anderer. Gedankenverloren strich er über seine Arme und Schultern, wo die Kratzspuren des Mädchens prangten und allein der Gedanke an diese Narben, erfüllte ihn mit einer undefinierbaren Gier nach mehr von ihrem Temperament. Auch wenn er wusste, dass es nicht sein eigenes Bewusstsein war, das danach begehrte, oder das so oft im Schlaf ihren Namen hauchte.
Er hatte geglaubt, die Frau, die dieser Schwächling so närrisch liebte, zu beschmutzen, würde ihn – beziehungsweise was noch von ihm übrig war – derart wahnsinnig und dadurch angreifbar genug machen, um ihn endlich ganz zu vernichten. Aber er hatte sich getäuscht. Hatte erneut den Fehler begangen, den Jungen zu unterschätzen. Seine Wut war nicht mehr die gleiche wie früher. Sie war kontrollierter geworden, verzehrte nicht länger nur sich selbst, sondern schlug Ziel gerichtet Löcher in die Käfigwände.
Aber das spielte keine Rolle. Er hatte ihn wieder in sein dunkles Verlies zurückgeworfen und würde sich ein andermal um seine endgültige Hinrichtung kümmern.
Eine Bewegung im Schatten zu seiner Rechten ließ ihn anhalten. Er musste nicht hinsehen, um seinen Beobachter zu identifizieren, tat es aber trotzdem.
Geschmeidig glitt die Nummer II der Organisation aus dem Dunkel, das Gesicht wie üblich eine Fassade aus Hohn und Sarkasmus. Dieser Mann konnte nach außen hin als gefährlich, aber keinesfalls als so intelligent, wie er eigentlich war, erkannt werden. Xemnas hatte jedoch nie zu jenen gehört, die sich davon täuschen ließen. Trotzdem blieb er in Xigbars Anwesenheit stets auf der Hut; sie umkreisten aneinander schon so lange und zugegebenermaßen blieben sie dabei immer auf selber Augenhöhe, auch wenn ihm das missfiel.
„Damit wäre das Rätsel also gelöst“, lachte er und hob in typisch provokanter Geste das Kinn. „Wobei mir schleierhaft ist, dass du sie immer einen Freund nanntest.“ Sein Grinsen wurde anzüglich. „Die Bezeichnung ‚Freund’ scheint mir nämlich untertrieben.“
Xemnas antwortete nicht, war sich aber dem Blick bewusst, den Xigbar auf seine Brust abschoss, wo knapp über dem Ausschnitt des Mantels der Schnitt zu sehen war. Selbstverständlich. Einem Scharfschützen entging so etwas nicht. Ihm entging im Prinzip gar nichts und viele gaben sich dem großen Irrtum hin, ihn diesbezüglich unterzubewerten.
„Es ist ihre Schuld, nicht wahr?“, fragte er betont salopp. Xemnas warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihn natürlich nicht einschüchterte. Damit war er in jeder Hinsicht eine Ausnahme in der Organisation. „Dass wir den Raum des Erwachens nicht finden können. Aufgrund des Mechanismus im Schloss. Du könntest ihn nur finden, wenn du eine Erinnerung daran hättest. Aber die gehört einzig und allein dem süßen kleinen Schmutzfink, ist es nicht so?“ Seine Fragen waren lediglich die gut getarnten Varianten von Feststellungen.
Er schwieg und wandte sich zum Gehen, aber Xigbar trat ihm unbefangen in den Weg.
„Ich bevorzuge es ja, selbst die Teile zusammenzusuchen und lasse mich eher selten dazu herab, nachzufragen. Aber hinsichtlich dessen überraschst du mich. Sie ist der Schlüssel zu jenem Raum, den wir so lange gesucht haben. Warum hast du sie gehen lassen?“
Zorn flammte in den Augen des Superiors auf und erst da trat der Schütze den Rückzug an, wich mit erhobenen Armen zur Seite. Aber das selbstgewisse Lächeln wischte es nicht von seinen Lippen.
„Das geht dich nichts an.“ Es war unmissverständlich, dass dies das letzte war, was Xemnas dazu sagen würde. Er ließ Xigbar stehen und verschwand in den Tiefen des Schlosses, zu Orten, die außer ihm kein anderes Mitglied kannte.
„Als ob“, flüsterte der Einäugige amüsiert und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die weiße Wand hinter sich. „Dann hatte ich mich wohl getäuscht. Du bist tatsächlich nicht Terra…“
Was er jedoch nicht wusste und nie erfahren würde, war, dass Xemnas nach einer Weile noch einmal stehen blieb. In einem dunklen Seitengang des Schlosses, wo selten jemand hinkam.
Dass er die Handschuhe von den Händen streifte und sie im schwachen Licht betrachtete, die Wärme von Aquas Haut noch daran haften fühlte und doch nur eines dachte:
Meine Hände sind kalt.
~ Ende ~