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71. Unsichtbar

Kann ein Mensch eigentlich unsichtbar sein?

Oder gibt es Menschen, neben denen andere einfach nicht gesehen werden?

Manchmal glaube ich, dass ich unsichtbar bin, dass mich andere gar nicht wahrnehmen.

Oder vielleicht wollen sie mich auch nicht sehen.

Ich weiß es nicht.

Jeden Morgen grüßen sich meine Mitschüler, es wird sich zu gewunken, Lächeln und Umarmungen werden ausgetauscht und Lachen schallt durch die Gänge.

Nur ich scheine von diesem morgendlichen Ritual ausgeschlossen zu sein.

Wenn ich glaube, dass ein Lächeln und ein Gruß mir zu gelten scheinen, muss ich doch meist feststellen, dass jemand anderes gemeint ist, irgendwer noch hinter mir steht, der angesprochen wurde.

Liegt es daran, dass ich so klein bin? Liegt es daran, dass die Leute einfach nur über mich hinweg schauen?

Aber eigentlich kann es nicht sein.

Sie ist auch nicht viel größer und sie kann nicht einen Schritt durch den Gang machen, ohne dass sie angesprochen und ihr zu gelächelt wird.

Es scheint fast so, als ob die Menschen morgens einige Worte von ihr brauchen würden, damit sie den Tag überstehen können. Jeder giert nach einem bisschen Aufmerksamkeit von ihr.

Manchmal wundert es mich, dass sie ihr nicht die Sachen vom Leibe reißen und mit sich nehmen, um alle ein kleines Stückchen von ihr jeden Tag durch die Gegend tragen zu können.

Sie wird von jedem gesehen und bewundert. Ihr Strahlen erhellt den Gang und jeder möchte in ihrem Schein baden.

Sie ist sichtbar.

Nicht so wie ich.

Ich bin und bleibe unsichtbar.

Sie geht um eine Ecke und verschwindet hinter einer Tür, ihre Bewunderer bleiben stehen und lassen ihr einen Moment der Ruhe.

Ich jedoch folge ihr, will auch einen Moment ihr Strahlen fühlen.

Doch als sich die Tür hinter mir schließt, ist kein Bisschen des Leuchtens zu sehen.

Sie steht über das Waschbecken gebeugt und atmet tief durch. Langsam sieht sie auf und blickt mich an.

„Wie gerne wäre ich so unsichtbar wie du.“

„Was?“, entgegne ich verdattert, weil sie mich so direkt angesprochen hat.

„Ich wäre gerne unsichtbar.“

„Warum?“ Ich verstehe nicht. Wie kann sie sich wünschen, so wie ich zu sein, wenn ich doch so gerne wie sie wäre?

„Du bist frei zu tun, was du willst. Dich nimmt keiner als Vorbild, von dir erwartet keiner etwas. Ein falscher Schritt von mir und jeder weiß es. Bin ich einmal schlecht drauf, will jeder wissen warum, weil man dann etwas zum tratschen hat. Weißt du wie viel einfacher lächeln wird, wenn man weiß, dass man dann seine Ruhe hat?“ Seufzend wendet sie sich ab und atmet noch einmal durch.

Als ich sie dort stehen sehe, diesen Moment der Einsamkeit genießend, bin ich fast froh unsichtbar zu sein. Und außerdem…

…hat sie mich gesehen…



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  DemonhounD
2012-10-16T18:42:36+00:00 16.10.2012 20:42
Von der Erzählweise her erinnert miczh dies sehr an "Ein unschickliches Geständnis" aus meiner Fanfictiongalerie, wenngleich ich mich niemals anmaßen würde die beiden Texte näher miteinander zu vergleichen.

Ich möchte aber sagen, dass mir dies hier stiltechnisch gut gefällt.

Erinnert mich auch irgendwie an den Spruch
"Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich recht ungeniert."
Vielleicht auch, weil ich ihn derzeit so oft höre.

Persönlich habe ich mir viele Gedanken zur psychologischen Veranlassung, einen solchen Text zu schreiben, gemacht. - Dies alles lasse ich aber hier im Kommibereich lieber außen vor. Zumal es vielleicht auch absolut daneben geht.

Manchmal ist es vielleicht ganz gut, sich einzubilden, die Menschen "auf der anderen Seite" seien insgeheim genau so verloren, wie man selbst.
Von:  TommyGunArts
2012-08-11T14:08:20+00:00 11.08.2012 16:08
Diese Stoty gefällt mir sehr, weil sie zeigt, dass es manchmal gar nicht so schlecht ist, dass zu sei, was man ist. Und weil sie zeigt, dass wir nicht ständig neidisch auf etwas sein sollen, von dem wir gar nicht wirklich wissen, ob wir es tatsächlich wollen.
Die Umsetzung des Wortes ist dir sehr geglückt und toll gemacht. Jeder von uns kennst sicherlich sowohl die sichtbaren, als auch die unsichtbaren Kinder, und selbst wenn ich eher so ein zwischending bin, muss ich zugeben, ich wäre definitiv lieber eines der unsichtbaren Kinder, als eines der Sichtbaren. Denn für mich zählt das "Ich-Selbst-Sein" und ich glaube, dass könnte ich als sichtbares Kind nicht.
lg
E. Ternity
Von:  Trollfrau
2012-07-10T10:32:08+00:00 10.07.2012 12:32
Och schön.
Die Geschichte gefällt mir.
Das Wort hast du super umgesetzt.

Dieser Satz hat mich in bisschen verwirrt: ...dass die Leute einfach nur mich hinüber schauen? (über mich hinweg wäre vielleicht besser oder mich übersehen?)



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