Der verstörte Patient
Nachmittags begab ich mich, auf Wunsch eines befreundeten Arztes, zu einem Hausbesuch bei einem seiner Patienten. Auf dem Weg zu ihm studierte ich das Telegramm meines Kollegen, in dem er mir alles Wesentliche notiert hatte.
Mr. Miller war Witwer und schon von der älteren Generation. In regelmäßigen Abständen wurde sein Herz abgehorcht und er bekam entsprechende Medikamente zur Stärkung seines Immunsystems. Hinzu kam, dass er seit Tagen über Schmerzen in der Brust klagte. Den Aufzeichnungen zufolge handelte es sich um einen ruhigen Patienten.
Nachdem die Droschke anhielt, packte ich das Telegramm in die Innentasche meines Jacketts, nahm meine Arzttasche und stieg aus. Ich war gerade im Begriff an der Tür zu läuten, als ich ein Knurren aus dem Rhododendron vernahm.
In Erwartung eines wilden Tieres, war ich durchaus überrascht, als mir eine Rhododendronpflanze mitsamt Wurzel entgegen flog.
„Verschwinde von hier, vermaledeiter Dämon!“
„Ich bin kein Dämon, sondern Arzt“ rief ich erschrocken und gekränkt zugleich.
„Sie sind nicht Dr. Campbell!“
„Das ist korrekt. Mein Name ist Dr. Watson. Ich soll im Auftrag meines Freundes Dr. Campbell nach Ihnen schauen. Mr. Miller?“
„Hach, und wieso kommt er nicht selbst?“
„Weil er selbst das Bett hüten muss. Wollen wir nicht in Ihrer guten Stube Platz nehmen?“
Verstört erhob sich Mr. Miller aus dem Busch und reichte mir seine zitternde Hand entgegen. Behutsam stützte ich den alten Mann und brachte ihn ins Haus. Mir entfiel nicht, dass Mr. Miller die ganze Wohnung mit Blicken durchforstete, so als ob er glaubte, verfolgt zu werden. Um Mr. Miller ein wenig zu beruhigen verabreichte ich ihm einen Cognac. Nachdem er sich gefasst hatte, fragte ich ihn, was es mit dem Dämon auf sich hatte.
„Doktor, gerade als die Sonne aufging, schaute ich wie jeden Morgen über mein Anwesen und beobachtete eine Gruppe Rehe, die vom Hyde Park zum Fressen herkam. Wie Sie mit Sicherheit schon festgestellt haben, liegt mein schönes Anwesen direkt neben dem Park. Wir ließen es dort wegen meiner Frau errichten. Sie liebte Tiere und als sie das Haus nicht mehr verlassen konnte, ließ ich eine Futterkrippe errichten. Wenigstens konnte sie so auf ihre letzten Tage die scheuen Tiere vom Fenster aus betrachten.
Unerwartet erschien er wie aus dem Nichts; der Dämon!
Seine Augen glühten grell-gelb. Er kreischte in den fürchterlichsten Tönen und ich meinte eine lange dünne Zunge aus seinem triefenden Maul gesehen zu haben. Widerlich, grässlich! Die Rehe waren starr vor Schreck. Er packte sich das Kleinste und verschwand mit ihm im Nebel.
Wer weiß schon, heute nur ein Reh und morgen sind vielleicht wir an der Reihe. Das war die Warnung für uns. Gott helfe uns und habe Erbarmen!“
Er sprang mit hochgerissenen Armen auf und kniete sich anschließend mit gefalteten Händen auf den Boden. Ich half der armen Seele auf.
„Mr. Miller, wenn es Sie beruhigt, werde ich raus gehen und nach dem Rechten schauen. Solange sollten Sie ein wenig ausruhen.“
Auf dem Weg nach Draußen, machte ich mir einige Gedanken über den merkwürdigen Vorfall. Man muss nicht Sherlock Holmes heißen, um Eins und Eins zusammen zu zählen.
Sollte das ein Zufall sein, zwei Rehkitze an einem Tag? Das Eine aus Stein in der Bakerstreet und das Andere angeblich von einem Dämonen entführt. Und überhaupt, dieser Dämon. War das vielleicht ein entlaufendes exotisches Tier aus dem Zoo oder Zirkus, welches Mr. Miller nur für einen Dämonen hielt? Hätte davon nicht etwas in der Times zu lesen sein müssen? Wie auch immer, irgendetwas müsste er doch wohl gesehen haben.
Doch diese Gedanken wurden von der Verwunderung unterbrochen, als ich das sah, was ich in diesem Moment am wenigsten erwartet hätte.
„Watson, gut, dass Sie da sind. Ich habe meine Streichhölzer auf dem Tisch liegen lassen.“
Inmitten einer Gruppe von Rehskulpturen, die rund um eine Futterkrippe aufgebaut waren, hantierte Holmes mit Lupe und Maßband.
„Holmes, was treiben Sie denn hier?“ fragte ich total verdutzt und reichte ihm, wie in Trance, meine Streichhölzer hin. Er griff danach und zündete sich eine Zigarette an.
„Die selbe Frage könnte ich Ihnen stellen, mein Freund.“
„Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass ich heute als Vertretungsarzt für einen Kollegen einspringe und einen Hausbesuch bei Mr. Miller verrichten muss.“
„Ach ja, das war heute? Nun gut. Ich war im benachbarten Hyde Park.“
„Im Hyde Park? Sonst gehen Sie doch durch die Straßen Londons spazieren.“
„Ich war doch nicht spazieren! Ich habe Ermittlungen durchgeführt. Bevor Sie fragen, was dabei heraus kam, erzähle ich Ihnen davon. Zuerst habe ich mich mit dem Parkwächter über Hirsche und Rehe unterhalten. Ich wollte wissen, was sie zu dieser Jahreszeit fressen und wo sie sich aufhalten würden. Nachdem ich dies in Erfahrung brachte, machte ich mich auch schon auf Spurensuche. Bis ich von einer Menschenmenge aufgehalten wurde. Ausgerechnet heute fand im Hyde Park eine Vorlesung über die Vegetation des Hyde Parks statt. Also zwang ich mich hindurch. Von diesem Gedrängel habe ich mit Sicherheit einige Hämatome davon getragen.
Nach dem ganzen Stress wollte ich mir erstmal eine Zigarette gönnen und meine Gedanken ordnen. Doch anstatt meiner Streichhölzer fand ich einen Zettel in der Tasche.“
Mein Freund hielt kurz inne und zog das besagte Stück Papier aus der Tasche.
„Lesen Sie nur,“ forderte er mich auf.
„Passen Sie auf! Der Schein trügt!“
„Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeuted!“
„Meine Güte, Holmes! Das ist eine Warnung. Wer hat Ihnen das zugesteckt?“
„Das weiß ich leider selbst nicht. Vermutlich wurde er mir im Gedrängel untergejubelt. Aber diese Nachricht ist fantastsich. Das hat noch einen besonderen Reiz auf mich. Ich wusste, dass dieser Fall eine Herausforderung an mich ist. Aber es scheint noch viel mehr dahinter zustecken. Jemand anderes hat auch noch seine Finger im Spiel. Doch dazu kann ich momentan noch nichts Weiteres sagen.
Während ich alle Orte absuchte, wo sich Rehe aufhalten sollten, traf ich auf einen älteren Herrn. Er saß auf einer Parkbank und fütterte die fetten Tauben. Anscheinend hatte ich mit meinen Ermittlungen sein Interesse geweckt. So kamen wir in ein interessantes Gespräch. Er erzählte unter Anderem, dass sich viele Rehe und Hirsche auf dem Anwesen von Mr. Miller aufhielten und sich dort an dessen Futterkrippe satt fraßen.“
Nun erzählte ich Holmes meine so eben noch frischen Erzählungen von Mr. Miller und war gespannt auf seine Reaktion.
„Ein Dämon also. Nur merkwürdig, dass Dämonen ebenfalls Paarhufer sind. Die Spuren dort am Boden stammen von einem Menschen ab. Ein kleiner, schmaler Fuß. Der Abdruck ist nicht tief und die Sohlen verlaufen nach vorne spitz zu. Ich würde behaupten, sie stammen von einer Frau!“
Hinter uns vernahmen wir auf einmal ein energisches Rufen.
„Sind Sie nicht dieser Detektiv aus der Zeitung?“
Naserümpfend drehte sich mein Freund zu Mr. Miller um.
„Sie sind Mr. Miller?“
Bevor Holmes ganzer Unmut über die Presse zum Ausbruch kam und der arme Mann davon erschlagen wurde, brachte ich mich lieber mit ein.
„Ganz Recht, Mr. Miller, das ist mein Freund Sherlock Holmes. Er wird sich der Sache widmen.“
Das kränkliche Gesicht meines Patienten wechselte zu einem erleichterten Lächeln.
„Da kann ich ja beruhigt zu Bett gehen, wenn sich Sherlock Holmes des Falles annimmt. Aber seien Sie doch bitte etwas leiser und erschrecken die armen Tiere nicht. Sie sind ja immer noch starr vor Angst.“
Während Holmes zurück blieb, ging ich mit dem alten Mann zurück ins Haus, um meine Untersuchungen zu beenden. Mit meinem Stethoskop horchte ich gewissenhaft das Herz und die Lunge meines Patienten ab. Die vorsorgliche Behandlung meines Freundes Dr. Campbell schien sich positiv auf seine Gesundheit auszuwirken. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig und die Lunge war frei. Und doch hatte der Mann immer noch Schmerzen. So kam mir ein Gedanke, was ihn bedrücken konnte. Ich tastete gründlich seinen Bauchbereich ab, bis ein schmerzliches Stöhnen von Mr. Miller meine Vermutung bestätigte.
„Mr. Miller, ihre Galle ist nicht in Ordnung. Ich gebe ihnen ein entzündungshemmendes Mittel. Zudem wäre es nur ratsam, wenn Sie ihre Ernährung fettarmer gestalten. Sollten sich die Schmerzen zu einer Kolik entwickeln, müssen Sie umgehend ins Hospital. Ich werde meine Diagnose und Behandlung Dr. Campbell mitteilen.“
Mr. Miller schlief rasch ein. Ich schrieb derweil einen Bericht für Dr. Campbell.
Sehr geehrter Dr. Paul Campbell,
ich habe mich zu Mr. Miller begeben und muss Ihnen mitteilen, dass seine Schmerzen mit aller Wahrscheinlichkeit von einer Überlastung der Galle herführen. Ich riet ihm daher zu einer fettreduzierten Ernährung. Dennoch besteht die Gefahr einer Kolik.
Mir macht der geistige Zustand des Patienten mehr Sorgen. Es bestehen Anzeichen einer zunehmenden Demenz. Der Patient erfreut sich an Statuen, die er für lebendig hält.
Hochachtungsvoll
Dr. John H. Watson
Als ich mir den Mantel überwarf und im Begriff war das Haus zu verlassen, traf glückerlicherweise das Dienstmädchen ein. Ich gab ihr die Aufforderung, wenn sich der Zustand von Mr. Miller verschlechterte, sich unverzüglich mit ihm ins Hospital zu begeben.
Nun konnte ich mit ruhigem Gewissen das Haus verlassen und zu Holmes zurückkehren.