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Zwischenwelten

-Sidestory X ~ Veleno-
von

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Beginn: 18.05.2011

Ende: 22.06.2011
 

Kapitel 12
 

Es kam selten vor, dass ich einer Person gegenüber vom ersten Augenblick an Abneigung verspürte. Doch bei Kenai Ichimura, seines Zeichens Informant, hatte ich das Gefühl, dass er das Potenzial besaß, die Ausnahme von der Regel zu sein. Und es fiel mir nicht schwer festzustellen, woran das lag. Der junge Mann strahlte eine Selbstgefälligkeit aus, die selbst sein durchaus vorzeigbares Auftreten und die antrainierte Höflichkeit nicht kaschieren konnten.

Ein Blick in seine Augen genügte um zu erkennen, dass er ein Vampir war, der sich seiner Fähigkeiten nicht nur bewusst, sondern sich ihrer vielleicht auch ein wenig zu sicher war. Ein intelligenter junger Mann, keine Frage, doch gleichsam Spieler und Täuscher. Ein Mann, der es liebte und gewohnt war, die Fäden in der Hand zu halten und seinem Gegenüber stets einen oder mehrere Schritte voraus zu sein.

Dies war mein erster Eindruck von Kenai Ichimura, als ich ihn an diesem Abend in die Bibliothek meines Hauses bat.

Der junge Vampir war ein aufmerksamer und höchst engagierter Beobachter. Ich war mir sicher, dass er sich nach diesem Besuch an jedes Detail meines Heims würde erinnern können. Und dies war einer der Gründe, weshalb ich es vermied ihm mehr zu zeigen, als unbedingt notwendig war.

Er folgte mir in respektvollem Abstand, seinen Begleiter wie einen Schatten mit sich führend.

Wenn ich mich recht entsann, war der Name des Anderen Jima. Ein hochgewachsener, schweigsamer Vampir, der seinem Verhalten nach durchaus ein Slave hätte sein können. Er war ein Mysterium, selbst für die von sonderbaren Erscheinungen und ungewöhnlichen Ereignissen geprägte Welt der Vampire. Seine Loyalität gegenüber dem jungen Ichimura allerdings, war über jeden Zweifel erhaben. Mehr gab es über ihn nicht zu sagen.

Insgeheim fragte ich mich, ob Kenai bewusst war, welch unsagbares Glück es bedeutete, einen Mann wie ihn an seiner Seite zu haben. Ich bezweifelte es. Nicht so sehr, weil ich ihn für zu jung hielt, sondern vielmehr deshalb, weil sein Verhalten ihm gegenüber mir verriet, dass er die Gegenwart des Älteren als Selbstverständlichkeit betrachtete.

Du Narr, dachte ich und unterdrückte ein wehmütiges Lächeln.

Er hatte es noch nicht gelernt. Noch nicht erkannt, dass auch die Ewigkeit kein Garant dafür war, dass die Person, die ihm wichtig war, für immer an seiner Seite blieb. Er würde es erst verstehen, wenn der Andere einmal nicht mehr bei ihm sein konnte – oder wollte.

Ich bot Ichimura einen Sessel an und nahm ihm gegenüber Platz. Jima trat hinter ihn und nahm eine Haltung ein, die er, wie ich vermutete, bis zum Ende dieses Gesprächs nicht mehr verändern würde.

Ichimura dagegen lehnte sich entspannt zurück, schlug die Beine übereinander und sah mich mit einem Lächeln an, dem noch ein Hauch von Selbstgefälligkeit anhaftete.

Welch ein Kontrast zu Steel! Dieser junge Mann hier glaubte bereits zu wissen, was er doch eigentlich erst noch zu lernen hatte.

„Nun, Meister Veleno“, er legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander, ohne dass sein Lächeln an Intensität verloren hätte, „was kann ich für Euch tun?“

Prüfte er mich? Ich hatte mein Anliegen bereits in meinem Schreiben an ihn angedeutet, damit er sich, falls nötig, auf unser Gespräch vorbereiten konnte. Hatte er Grund zu der Annahme, dass der Brief den er erhalten hatte möglicherweise nicht von mir stammte?

„Ich wünsche Informationen über jene Menschen zu erhalten, die von unseresgleichen in Vampire verwandelt wurden. Über Erschaffene, wenn Sie sich erinnern.“

Sein Lächeln gewann an Tiefe.

„O ja, ich erinnere mich sogar sehr gut daran.“

Ich spürte, wie sich in meinem Inneren eine Form von Unbehagen ausbreitete, die jener glich, die mich in Momenten nahender Gefahr ergriff. Wenn sie auch nicht mehr war als eine Ahnung, ein Vorzeichen, eine frühe Warnung meiner Sinne.

Ich konnte mir lebhaft vorstellen, das für die meisten Klienten des jungen Mannes Jima der Auslöser derartiger Gefühle war. Ein Trugschluss, keine Frage. Solange man seinen Herrn, dessen Schutz er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, nicht verärgerte oder bedrohte, stellte er absolut keine Gefahr dar, dessen war ich mir sicher. Sein Meister dagegen...

„Wie ich hörte habt Ihr selbst ein solches Wesen in Eurer Obhut. Rührt Euer Interesse daher?“

Ich bin Ihnen diesbezüglich keine Rechenschaft schuldig, lag es mir auf der Zunge, doch stattdessen fragte ich: „Welchen Preis fordert Ihr für die Informationen?“

Er sah mich überrascht an, dann kehrte das Lächeln auf seine Züge zurück.

„Ihr seid sehr direkt. Man sagte mir, Ihr wäret eher zurückhaltenderer Natur.“

Auch das konnte ich mir lebhaft vorstellen und im Allgemeinen war ich bereit, dieser Einschätzung meiner Person vorbehaltlos zuzustimmen. Doch ich konnte es mir nicht leisten zu riskieren, dass er irgendetwas von dem was wir hier besprechen würden nach außen trug. Nicht solange ich nicht sicher sein konnte, dass für Noël kein Schaden daraus erwuchs. Denn letztendlich diente dieses Treffen einzig dazu, mehr über die Erschaffenen zu erfahren und ihn so besser verstehen und angemessener mit ihm umgehen zu können. Wenn ich ihn dadurch in Gefahr brachte, würde dieses Gespräch nicht stattfinden.

Er schien auf eine Bemerkung meinerseits zu warten, erkannte jedoch schnell, dass ich nicht vorhatte eine solche zu machen und zuckte mit einem beinahe mitleidig wirkenden Lächeln die Schultern.

„Nun, das hängt ganz davon ab, wie viele und mehr noch welche Informationen Ihr zu diesem Thema wünscht.“

Eine passende und zugleich erstaunlich nichtssagende Antwort. Doch er war nicht der Einzige, der diese Arte der Unterhaltung, dieses Spiel mit dem Gegenüber beherrschte.

„Alles was nötig ist um sie zu verstehen und vor einem raschen Ende zu bewahren.“

Ich sah das begehrliche Glitzern in seinen Augen, den Triumph auf seinen Zügen, noch bevor er beides durch ein verbindliches Lächeln kaschieren konnte.

„Der Erschaffene, der sich in Eurer Obhut befindet, darf ich ihn sehen?“

„Nein“, erwiderte ich nach einer angemessenen Pause und bemerkte zum zweiten Mal Überraschung auf dem Gesicht des Anderen. Selbst sein stummer Begleiter schien einen Moment lang irritiert, wenngleich ich nicht ausschließen konnte, dass ich mich im Bezug auf ihn täuschte. Offenbar war es eher untypisch, dem jungen Ichimura eine Bitte abzuschlagen. Es machte mir jedoch nichts aus, diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung zu sein. Es war eine Erfahrung, die ihm zweifellos gut tat, wenngleich dies nicht der Grund für meine Ablehnung war. Ich hielt es schlicht für äußerst unklug, ihn und Noël aufeinandertreffen zu lassen. Kenai Ichimura war jemand, der Noël ohne Weiteres zur Weißglut treiben konnte, dessen war ich mir sicher. Genauso gut hätte man zwei Kampfhähne in einen Käfig sperren und darauf hoffen können, dass sie einander lediglich distanziert betrachteten.

Dies war allerdings nur ein und vergleichsweise unbedeutender Grund, weshalb ich ein Treffen möglichst vermeiden wollte. Ich hielt Steel für vertrauenswürdig, doch nicht einmal ihm hätte ich den jungen Erschaffenen vorgestellt. Dass er ihn dennoch zu Gesicht bekommen hatte, war wohl eine Laune des Schicksals gewesen – und ich war nicht sicher, ob es eine gute gewesen war.

Berichten zufolge war Kenai, im Gegensatz zu Steel, nicht gerade für seine Diskretion bekannt und ich war geneigt, den Schilderungen Glauben zu schenken.

Dank Steels Unterstützung war es mir gerade erst gelungen, Noël vor einer nicht zu unterschätzenden Gefahr zu bewahren. Ich hatte nicht vor ihn erneut einer solchen auszusetzen und war daher bestrebt, so wenige Informationen wie möglich an andere Vampire weiterzugeben.

„Nun“, erwiderte Ichimura schließlich, „wenn Ihr es nicht wünscht, kann man natürlich nichts machen.“

Die Großmütigkeit und scheinbare Gelassenheit mit der er es aussprach, ließ mich daran zweifeln, dass er meinte was er sagte. Es fiel mir nicht schwer mir vorzustellen, dass er eine kurze Abwesenheit meinerseits nur zu gern dazu genutzt hätte, sich ein wenig nach Noël umzusehen.

Als er den Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte, wurde seine Lächeln noch eine Spur intensiver. Dann ließ er den Blick langsam durch den Raum streifen.

„Ihr habt eine wirklich beeindruckende Sammlung von Büchern in Eurem persönlichen Besitz.“

Ich fasste es als Kompliment auf und sah davon ab ihn daran zu erinnern, dass dies für einen Bibliothekar nicht besonders ungewöhnlich war.

„Ich würde gerne einen Blick in das eine oder andere werfen. Haltet Ihr das für möglich?“

Sein Blick hatte etwas verschwörerisches und riet mir, auf der Hut zu sein.

„Das ist Ihr Preis?“

Er neigte den Kopf ein wenig und bedeutete mit einer Bewegung der Hände seine Zustimmung. Zumindest deutete ich es als solche, denn die Geste an sich war ausgesprochen vielsagend.

Ich musterte ihn eingehend und kam zu dem Schluss, dass mein erster Eindruck mich nicht getäuscht hatte.

„Einverstanden“, erwiderte ich, hob jedoch die Hand, bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte. „Sie können sich innerhalb dieser Regale alles ansehen, was für Sie von Interesse ist, solange Sie sich an zwei Bedingungen halten. Erstens, Sie werden dieses Haus noch vor Sonnenaufgang wieder verlassen. Eine Einsicht außerhalb dieses Zeitfensters ist nicht Bestandteil unserer Vereinbarung.“

Er lächelte amüsiert. Er schien eine gewisse Freude daran zu haben, dass ich seine Art des Handels mit Informationen kannte und auf ähnliche Weise vorging wie er. Enttäuschung schien er dagegen keineswegs zu empfinden.

„Und zweitens?“, fragte er höflich.

„Zweitens erhalten Sie ausschließlich Zugang zu offiziellen beziehungsweise frei zugänglichen Dokumenten. Bücher und Papiere, die, aus welchen Gründen auch immer, der Geheimhaltung unterliegen oder als verbotenes Gut klassifiziert sind, sind ebenso wenig Teil des Handels.“

„Derartige Dokumente befinden sich in Eurer privaten Bibliothek?“

Seine Lippen zeigten ein verschmitztes Lächeln, doch seine Augen glitzerten gefährlich.

„Einige, ja“, erwiderte ich kühl und fixierte ihn, während er bedächtig die Fingerspitzen aneinanderlegte und einen Moment darüber nachzudenken schien, ob diese Bedingung für ihn akzeptabel war.

„Selbstverständlich“, antwortete er schließlich mit unverändert guter Laune.

Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er dies als eine herbe Einschränkung verstehen musste. Selbst wenn ihm bewusst gewesen sein musste, dass ich ihm zu diesen Unterlagen ohne die entsprechende Erlaubnis der zuständigen Personen keinen Zugang gewähren konnte. Außerdem war er Händler und es schien mir recht ungewöhnlich, dass er meine Bedingungen ohne Weiteres akzeptierte.

„Ihr seid sehr vorsichtig und das auf eine erfrischend forsche und entschlossene Art.“

Einen Moment lang glaubte ich, mich verhört zu haben, dann wurde mir erneut bewusst, wen ich vor mir hatte und dass ich keineswegs ausschließen konnte, dass diese Form der Direktheit unter jüngeren Vampire gerade in Mode war. Zu meiner Zeit hätte es kein Vampir gewagt, so mit einem Meister zu sprechen – weder was seine Haltung, noch die Wortwahl anging. Schließlich waren Unsterblichkeit und Schmerzunempfindlichkeit zwei vollkommen verschiedene Dinge und nicht wenige der Oberen konnten sehr schnell sehr unangenehm werden, wenn sie sich in irgendeiner Weise nicht ernst genommen oder gar belästigt fühlten.

Ich gehörte nicht zu ihnen, aber Ichimura hatte das Pech, dass ein gewisser jemand bereits vortreffliche Vorarbeit geleistet hatte, was die Zermürbung meiner so vielgepriesenen Geduld anging. Nun, in jedem Fall war es für mich wohl an der Zeit, meine Maßstäbe zu revidieren oder zumindest ein wenig mehr der Realität anzugleichen. Schließlich lebten wir in einer modernen Welt.

„Bitte verzeiht mein loses Mundwerk. Ich bemühe mich wirklich es unter Kontrolle zu halten, aber ich fürchte, es ist ein aussichtsloses Unterfangen.“

Seine plötzliche Entschuldigung überraschte mich. Offenbar merkte man mir meine Stimmung doch mehr an, als ich es beabsichtigt und angenommen hatte. Und nicht zum ersten Mal ärgerte ich mich darüber, dass ich einer solchen Kleinigkeit derartige Beachtung schenkte.

„Nun, ich scheine im Allgemeinen keine Person zu sein, die man für würdig hält, ihr mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen.“

Selbst in meinen Ohren hörten sich die Worte verbittert und auch ein wenig zornig an. Noël hatte wirklich ganze Arbeit geleistet.

Ichimura zog die Brauen hoch.

„Tatsächlich?“

Es klang mehr als nur beiläufig interessiert und schon bereute ich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Eine Weile schwiegen wir, dann ergriff mein Gast wieder das Wort.

„Wie auch immer. Ich akzeptiere Eure Bedingungen. Allerdings gibt es da noch ein kleines Problem, weshalb ich dem Handel unter diesen Voraussetzungen nicht zustimmen kann.“

Fragend hob ich eine Braue und er beeilte sich, mir die Angelegenheit zu erklären.

„Seht, die Informationen die Ihr wünscht mögen für Euch einen gewissen Wert haben, doch sie waren weder schwer zu beschaffen, noch sind sie für mich von nennenswerter Bedeutung.“

Ich lauschte seinen Worten aufmerksam und wartete.

„Die Bücher, in die ich Einblick nehmen möchte, sind dagegen von geradezu unschätzbarem Wert. Einige von ihnen sind in dieser Ausführung nirgendwo sonst zu finden und ich akzeptiere grundsätzlich nur Gegenleistungen, deren Wert dem, was ich anzubieten habe, zumindest einigermaßen entspricht.“

Das war eine interessante Entwicklung der Dinge. Der junge Vampir besaß also so etwas wie ein Berufsethos. Das war zum einen natürlich erfreulich und zum anderen kam es meinem Anliegen durchaus entgegen.

„Nun, ich denke was das angeht, kann ich Ihre Sorge zerstreuen.“

Er sah mich erstaunt an.

„Es gibt noch eine weitere Bedingung.“

Beinahe augenblicklich kehrte das Lächeln auf seine Züge zurück.

„ Ein drittens?“, fragte er amüsiert.

„So ist es.“

„Nun“, er breitete die Arme aus, „was darf es sein?“

„Es ist nicht nötig, dass Sie das Stattfinden dieses Gesprächs leugnen und ich erwarte dies auch nicht von Ihnen. Allerdings muss ich darauf bestehen, dass Sie alles, was Sie in diesem Hause gehört, gesehen oder gelesen haben, für sich behalten. Selbstverständlich sind all jene Erkenntnisse und Fakten, die Sie den Büchern und Dokumenten entnommen haben, davon ausgenommen. Für alles andere gilt die Vereinbarung, dass Sie nichts davon in irgendeiner Form an irgendjemanden weitergeben.“

Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden und er sah mich mit nur mühsam beherrschter Fassungslosigkeit an. Ich hatte ganz offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. Über die Informationen die er erhielt nicht frei verfügen zu können war wie es schien etwas, das er weder gewohnt, noch widerstandslos zu akzeptieren bereit war.

Auf seinem Gesicht arbeitete es. Ein paar Mal schien es, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders.

„Einverstanden“, erwiderte er schließlich mit einem Lächeln, das ihn offensichtlich sehr viel Mühe kostete.

„Sie akzeptieren die Bedingungen?“, fragte ich noch einmal und er nickte bestätigend.

„Ich akzeptiere die Bedingungen.“

Dankbar, dass dieser erste wesentliche Teil des Handels abgeschlossen war, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück. Es war nicht sicher gewesen, ob Ichimura auf die von mir gestellten Bedingungen eingehen würde, da sie für ihn weder zielführend noch gewinnbringend waren. So aber konnte ich, ohne die Befürchtung Noël Schaden zuzufügen, die Informationen erhalten, die ich benötigte. Ich konnte nicht leugnen, dass ich erleichtert war.

Nach mir nahm nun auch Ichimura eine bequemere, auf längere Gesprächszeiten ausgerichtete Sitzhaltung ein. Der Mann in seinem Schatten bewegte sich nicht einen einzigen Millimeter.

„Was können Sie mir über die Erschaffenen sagen?“, begann ich, den Blick aufmerksam auf meinen Gegenüber gerichtet.

„Was möchtet Ihr denn wissen?“, erwiderte er und lächelte amüsiert.

Offenbar hatte er den Rückschlag bezüglich der Bedingungen unserer Unterhaltung recht schnell verkraftet. Und es war keine besondere intellektuelle Leistung zu bemerken, dass er die Angelegenheit offenbar eher als ein unterhaltsames Spiel betrachtete, als mit der Ernsthaftigkeit mit der ich es tat. Als er den wenig erfreuten Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte, beeilte er sich mir zu erklären, was er eigentlich hatte sagen wollen: „Fragt mich.“

Es klang eher wie eine Forderung als ein Angebot und die Art, in der er gönnerhaft die Arme ausbreitete um seine Worte zu unterstreichen, ließ meine Meinung ihm gegenüber nicht gerade positiver werden. Ich hoffte für ihn, dass er mit diesem Verhalten nicht einmal an den Falschen geriet.

„Besitzen Erschaffene einander sehr ähnliche Fähigkeiten oder sind diese genauso vielfältig wie diejenigen geborener Vampire?“

„Letzteres.“

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir in ganzen Sätzen zu antworten?“, fragte ich nun doch ein wenig ungehalten und erntete dafür gleich zwei erstaunte Blicke.

Kritik schien demnach auch nicht zu den üblichen Verhaltensweisen gegenüber dem jungen Ichimura zu gehören. Oder aber sie hatten sie nicht von mir erwartet.

Ichimura hielt sich jedoch nicht lange damit auf und beinahe augenblicklich wanderten seine Mundwinkel wieder nach oben.

„Selbstverständlich, ich bitte um Entschuldigung.“

Ich antwortete nicht und wartete darauf, dass er sich wieder dem eigentlichen Thema zuwandte.

„Tatsächlich unterscheiden sich die Erschaffenen, wie Ihr sie nennt, im Wesentlichen durch zwei Eigenschaften von geborenen Vampiren.“

Er legte wieder die Fingerspitzen aneinander.

„Die erste ist, dass sie als Menschen geboren und dann von einem der unseren zu Vampiren gemacht werden. Die zweite ist, dass sie auf das Blut desjenigen angewiesen sind, dem sie ihre, wenn auch nicht ganz so unsterbliche, Existenz verdanken.“

Ich hatte also recht behalten. Sie waren wie wir. Und der Gedanke daran erschien um so erschreckender, wenn man sich nur einen einzigen Moment in Erinnerung rief, welchen Platz sie in dieser Gesellschaft einnahmen und wie die geborenen Vampire – insbesondere Angehörige des Adels – sie zu behandeln pflegten. Außerdem bedeutete es, dass ich im Grunde keine Möglichkeit hatte etwas über meinen Gast herauszufinden, das über einige allgemeine Aussagen über die Erschaffenen hinausging. Eine ernüchternde Erkenntnis, doch ich war gewillt, mein Wissen in dem Maße zu erweitern, wie Ichimuras Kenntnisse es zuließen. Selbst wenn kaum etwas davon auf Noël zutreffen sollte, so hoffte ich dennoch, zumindest die Umstände seines bisherigen Lebens und damit vielleicht auch ihn etwas besser verstehen zu können.

„Sie können männlich oder weiblich und natürlich auch alles zwischen diesen beiden Extremen sein“, fuhr Ichimura fort und setzte dabei ein amüsiertes Grinsen auf.

Ich fand es einen interessanten Ansatz, die Geschlechter als Extreme zu bezeichnen, beschloss aber, mir die Überlegungen dazu für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben.

„Theoretisch können sie jeden Alters sein, tatsächlich werden meist nur junge Menschen zu Vampiren gemacht. Außerdem ist ihre Lebenserwartung meist sehr viel geringer als die unsrige. In Zahlen gesprochen bedeutet dies eine Zeitspanne von weniger als 200 Jahren. Soweit ich informiert bin, ist der aktuell älteste Erschaffene etwa 250 Jahre alt und die Geschwindigkeit seiner geistigen Degeneration nimmt mittlerweile beunruhigende Züge an. Es ist anzunehmen, dass er sehr bald, nun, sagen wir, die Jäger werden sich darum kümmern.“

Er verschränkte die Finger ineinander und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass das Leuchten in seinen Augen angesichts der Thematik über die wir sprachen unpassend schien.

„Wie Euch sicherlich bekannt sein dürfte, neigen sie dazu den Verstand zu verlieren.“

„Warum?“, fragte ich und einen Moment lang schien er erstaunt darüber.

„Nun“, begann er schließlich, „ das hängt natürlich von ganz unterschiedlichen Faktoren ab, aber zusammenfassend betrachtet dürfte es wohl darauf zurückzuführen sein, dass das Vampirblut für ihre ursprünglich menschlichen Körper und mehr noch ihren Geist zu stark ist.“

„Ich verstehe“, sagte ich, war jedoch nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Die Tatsache an sich überraschte mich nicht, hatte ich selbst sie als Ursache doch bereits vermutet. Es war vielmehr die Bedeutung und Tragweite dessen, die sich bisher meiner Kenntnis entzogen hatte und nur allmählich Zugang zu meinem Vorstellungsvermögen erhielt.

Wussten die Erschaffenen, dass das Blut das sie nährte zugleich ihren Tod herbeiführte? Und wenn es so war: Was war es für ein Gefühl sich dessen bewusst zu sein? Schmerzte es sie? Hatten sie Angst?

„Es gibt sehr schwache Erschaffene, genauso wie es starke und mächtige gibt. Viele von ihnen entsprechen eher dem klassischen Bild des Vampirs, also der gerade typischsten Vorstellung, die die Menschen von uns haben. Im übrigen unterliegen all jene einem Irrtum die glauben, dass die Erschaffenen lediglich die Fähigkeiten und Eigenschaften haben, die ihrem Meister eigen sind. Es gibt einige unter ihnen, denen Knoblauch, Kreuze und sogar Silber und Weihwasser nichts anhaben können. Außerdem solche, die ein Pfahl in ihrem Herzen ebenso wenig töten würde, wie die Strahlen der Sonne.“

Wie Noël, dachte ich und fragte mich im Stillen, ob er mächtiger war als er zu erkennen gab. Wenn dem so war, dann war er wahrlich ein Meister der Täuschung. Denn bei aller Bescheidenheit, einen durchaus erfahrenen und nicht mehr ganz jungen Vampir wie mich so lange Zeit zu täuschen, war, wenn auch nicht unmöglich, so doch überaus schwierig. Außerdem sagte seine Resistenz gegenüber der Sonne nichts über seine Kräfte im Kampf aus.

Ich erinnerte mich an die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Überall hatte ich das Blut und die Körper seiner Brüder und Schwestern gesehen und es bestand kaum ein Zweifel daran, wer sie getötet hatte. Dennoch, wer konnte sagen, welche Kräfte sie besessen und welcher es bedurft hatte, sie zu vernichten?

„Einige von ihnen wären ohne jeden Zweifel in der Lage, ihren Meister zu töten.“

Ich musterte ihn aufmerksam. Sprach er von Urag?

Er hatte den Kopf ein wenig schief gelegt und sah mich mit forschendem Blick an. Als er wolle er mich prüfen, herausfinden ob und was ich mit dieser Angelegenheit zu tun hatte. Doch ich musste mich nicht verstellen, um einigermaßen erstaunt zu fragen: „Das halten Sie für möglich?“

Er verzog das Gesicht wie jemand der feststellen musste, dass die Entwicklung des Gesprächs nicht seinen Vorstellungen entsprach.

„Sicher. Ihr nicht?“

„Offen gestanden, ich hatte keine rechte Vorstellung davon, über welche Kräfte sie verfügen. Davon einmal abgesehen kann ich nicht erkennen welchen Sinn es für sie hätte ihren Meister zu töten, wenn sie doch auf sein Blut angewiesen sind.“

„Wirklich nicht?“, er fixierte mich, als befänden wir uns in einem Verhör und ich mich in der Rolle des Verdächtigen.

Ich hielt seinem Blick jedoch mühelos stand. Ich war nicht ganz sicher, was genau er mit dieser Frage bezwecken wollte, doch was immer es letztendlich war, ich würde ihm keinerlei Auskünfte über Urag oder Noël geben.

„Ich könnte Mutmaßungen anstellen“, erwiderte ich, „aber eigentlich habe ich Sie um eine Unterredung gebeten, damit das nicht nötig ist.“

Er lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und für den Bruchteil einer Sekunde sah ich in seinen Augen etwas aufblitzen, das in meinem Inneren eine Vielzahl an Alarmsignalen auslöste. Sein Lächeln blieb unverändert.

„Nun, ein Grund dafür mag sicherlich der gleiche sein, aus dem gelegentlich auch einige der Unseren den Tod wählen.“

Die Furcht vor der Unendlichkeit. Die Angst davor, dass das Leid, das Sterben, das wir so oft sahen, niemals enden würde. Langeweile, weil alles möglich und zugleich doch immer nur die Wiederholung des schon dagewesenen zu sein schien. Die Erkenntnis, das unsere Existenz letztlich vollkommen bedeutungslos war.

„Dazu wäre es nicht notwendig ihren Meister zu töten“, erwiderte ich, obwohl ich seine Antwort darauf bereits ahnte.

„Ob sie es wollen oder nicht, vom Moment ihrer Geburt an sind sie Eigentum desjenigen, der sie ein zweites Mal ins Leben rief. Und solange ihr Meister nur ein wenig Interesse an ihnen hat, dürfte es ihnen ausgesprochen schwer fallen, ihrem Dasein ein Ende zu bereiten. Kein Vampir, da werdet Ihr mir sicherlich zustimmen, wird jemals zulassen, dass sein Eigentum eine solche Entscheidung ohne seine Zustimmung trifft.“

Ich nickte. Natürlich nicht. Und es gab mehr als nur einen Weg, einen potenziellen Selbstmörder an seinem Vorhaben zu hindern. Sogar dann, wenn man nicht selbst anwesend sein konnte. Zudem waren die Erschaffenen Vampire und als solche nicht ohne Weiteres zu töten. Die Möglichkeiten eines schnellen Todes waren nicht sehr vielfältig und jene für einen schmerzfreien besaßen wahrlich Seltenheitswert. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand, der diese Schmerzen des Sterbens nur ein einziges Mal gefühlt hatte, ein schier unerträgliches Leben jenen Qualen vorzog. Und wen hätten die Erschaffenen darum bitten können sie zu töten? Selbst wenn das Unterfangen fehlschlug, wäre die Strafe dafür vermutlich um ein Vielfaches schlimmer gewesen als der Tod – ganz zu schweigen davon, wenn es gelang. So lange war ich bereits am Leben, so viele Bücher hatte ich gelesen und doch hatte ich nie von einem Vampir gehört, der das Leben eines Erschaffenen aus Zuneigung zu diesem beendet hatte. Die Erschaffenen waren Gefolgsleute, Sklaven, die keine eigenen Rechte besaßen. Alles was sie waren, waren sie durch ihren Meister – im guten wie im schlechten Sinne. Wollten sie sterben, quälten sie sie und klammerten sie sich ängstlich und mit all ihrer Kraft ans Leben, bereitete es ihren Herren nur umso mehr Vergnügen sie leiden zu sehen, bevor sie sie auslöschten. Es wäre eine Lüge gewesen zu behaupten, dass ich keine Vorstellung davon hatte, was man diesen Wesen antat – die Grausamkeit und Perversion mit der einige von ihnen behandelt wurden und die mich jedes Mal aufs neue erschütterte. Von dieser Warte aus betrachtet war es erstaunlich, dass die Erschaffenen unseresgleichen nicht noch mehr hassten, als sie es ohnehin schon taten und die geborenen Vampire bisher weitestgehend unbehelligt gewähren ließen.

„Ich bin allerdings der Ansicht, dass vielmehr ihre Gefühle für derlei Zwischenfälle verantwortlich sind.“

Obwohl ich wusste, dass er nicht von Liebe sprach, versetzte mir der Gedanke daran einen Stich. Und einmal mehr wurde das Lächeln des Anderen für mich schier unerträglich.

„Es ist äußerst interessant zu beobachten, welche Gefühle die Erschaffenen gegenüber ihren Meistern hegen. Ich denke, Hassliebe beschreibt es ganz gut. Natürlich wünschen sich die meisten Herren Gehorsam, Liebe und Verehrung. Allerdings wissen sie auch ein gewisses Maß an Rebellion und Stolz zu schätzen, weil diese die Langeweile vertreiben und ihnen die Möglichkeit der Demütigung nicht verlorengeht.“

Mir wurde bei dem bloßen Gedanken daran übel, mit Vampiren die so dachten und danach handelten auch nur im entferntesten verwandt zu sein.

„Gehorsam sind sie bis zu einem gewissen Grade alle, wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Was Charakter und Temperament anbelangt, so finden sich bei ihnen alle erdenklichen Ausprägungen und Extreme.“

„Aber als Motive für die Ermordung ihres Meisters kommen lediglich Verzweiflung, Hass oder Liebe in Frage“, sinnierte ich und er grinste.

„So ist es.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann fügte er hinzu: „Allerdings habe ich noch nie von einem Erschaffenen gehört, der seinen Meister aus Liebe getötet hat. Nicht einmal aus Eifersucht.“

„Also ist so etwas in der Vergangenheit schon einmal vorgekommen?“, fragte ich und bemerkte eine gewisse Härte in meiner Stimme, die ich mir selbst nicht erklären konnte.

„So etwas?“, fragte er betont unschuldig, doch davon ließ ich mich nicht täuschen.

Im Anflug eines Lachens stieß ich die Luft aus, doch meine Augen, das wusste ich, waren von einem Lächeln weit entfernt.

„Sie wären ein schlechter Informant, wenn Sie die Gerüchte um Meister Urags Tod nicht kennen würden.“

Er hob die Hände, als wolle er anzeigen sich zu ergeben.

„Sieht aus als wäre ich durchschaut.“ Der Schalk blitzte in seinen Augen und es war nicht zu übersehen, dass ihm unser Gespräch Vergnügen bereitete. Als er bemerkte, dass ich diese positive Einschätzung unserer Unterredung nicht teilte, beeilte er sich, mir meine Frage zu beantworten.

„Es ist wohl tatsächlich früher schon ein paar Mal vorgekommen, allerdings selten genug, um es nicht als Bedrohung einzuschätzen.“

Zweifellos hatte er recht. Wäre es anders gewesen, würden wir die Erschaffenen heute vermutlich nur noch aus Büchern kennen.

„Obwohl es verwundern mag, denn die Erschaffenen haben ja durchaus Grund dazu uns töten zu wollen.“

Irritierender Weise schien ihm der Gedanke zu gefallen, wenngleich ich nicht hätte sagen können warum.

„Es mag daran liegen, dass die Gefühle, die sie ihrem Meister gegenüber hegen, selten so eindeutig sind. Denn selbst wenn sie ihn nicht im sexuellen Sinne lieben, selbst wenn sie ihn überhaupt nicht lieben, betrachten doch viele von ihnen ihren Schöpfer als eine Art Vater.“

Was dem, was er mit ihnen tut, noch einmal eine ganz besondere Note verleiht, dachte ich und schauderte. Es war widerwärtig, besonders da sie wussten, was die Erschaffenen in ihnen sahen. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass Noël Urag als seinen Vater betrachtet haben könnte.

„Nicht enden wollende Qualen, Schmerzen, die einem die Seele zerreißen, Hass, Demütigung und gekränkter Stolz. Ja, ich denke, das sind die wesentlichen Elemente“, sinnierte er und ich hütete mich davor ihn zu unterbrechen.

„Das und natürlich ihre grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft zu töten.“

„Ein Erschaffener dem es gleichgültig ist, dass er damit sich und seine Brüder und Schwestern zum Tode verurteilt.“

Er nickte, doch dann ging die Bewegung in ein hin und her wiegen über.

„Weil der Tod des Meisters zu seinem Lebensinhalt geworden ist.“

„Gut möglich“, erwiderte er, während er nachdenklich vor sich hinstarrte.

„Allerdings solltet Ihr Euch nicht dazu hinreißen lassen, sie als eine große Familie zu betrachten. Es ist richtig, dass sie das Blut ihres Meisters teilen und damit gewissermaßen Kinder ein und derselben Person sind. Aber jenseits dessen besteht zwischen ihnen keine Verwandtschaft oder tiefere Verbundenheit, außer vielleicht in dem Sinne, dass sie das gleiche Schicksal teilen. Besser, Ihr stellt es Euch wie einen Harem vor. Anders ausgedrückt, solange sie sie nicht selbst wünschen und herstellen, gibt es zwischen ihnen keine tiefere emotionale Verbundenheit.“

Und ich hatte Noël vorgeworfen, dass er den gesamten Adel als eine geschlossene Einheit betrachtete. Dabei hatte ich selbst in Bezug auf ihn nichts anderes getan. Ich ärgerte mich über diesen Fehler meinerseits, zumal ich mir eingebildet hatte, den Blick auf das Individuum stets zu wahren.

„Und welchen Grund hat Meister Urag ihnen gegeben, ihn so zu hassen?“

Diesmal verschwand das Lächeln von seinem Gesicht und machte einem ernsten Ausdruck platz.

„Jeden nur erdenklichen, fürchte ich“, erwiderte er und bei dem bloßen Gedanken daran, was er damit meinte, stieg Übelkeit in mir auf.

„Sagt, Meister Veleno, ist es korrekt, dass Ihr einen Hang zum musikalischen habt und daher einige Musikinstrumente Euer Eigen nennt?“

„Ich selbst bin nicht sonderlich musikalisch veranlagt, aber es stimmt, dass ich gute Musik sehr schätze“, antwortete ich, ohne zu wissen, worauf er mit seiner Frage eigentlich hinaus wollte.

„Eurem Grammophon kann ich es ansehen, aber wie steht es mit Euren anderen Instrumenten? Nutzt Ihr Sie?“

„Sicher, wenn mir der Sinn danach steht“, erwiderte ich zögernd, da mir das Ziel seiner Fragen noch immer unklar war und ich zudem den Eindruck hatte, dass es ihn eigentlich nichts anging, wie und womit ich meine Zeit verbrachte.

Er nickte und fuhr dann in ernstem Ton fort: „Seht, Meister Veleno, auch Meister Urag war ein Sammler, wenngleich von weitaus weniger harmlosen Instrumenten als Ihr. Er sammelte Folterinstrumente und war seines reichen Arsenals wegen auch nicht ganz unbekannt. Und Ihr werdet mir gewiss zustimmen, wenn ich sage, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass er nie von ihnen Gebrauch gemacht haben soll. Im Übrigen ist nicht anzunehmen, dass sich sein Einfallsreichtum darin erschöpft hat, sie für seine speziellen Gäste zu nutzen. Ich fürchte, seine Fantasie war weitaus umfassender.“

Ich nickte betreten, während ich versuchte den Kloß loszuwerden, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Ich selbst hatte Urag nie in seinem Haus aufgesucht, aber ich kannte die Gerüchte und hatte, wenn ich ehrlich war, auch keine Zweifel daran gehegt, dass sie der Wahrheit entsprachen. In meinem Geiste sah ich Bilder aufsteigen, die die erbarmungswürdigen Kreaturen auf Streckbänken und anderen lebensverachtenden Gebilden zeigten, doch in dem Moment, in dem ihre Gesichter Noëls Züge annahmen, hörte ich mich selbst die nächste Frage stellen.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass es nicht zwingend des Blutes ihres Meisters bedarf, um sie zu ernähren und vor dem Verfall zu bewahren.“

Er lächelte.

„Demnach habt Ihr Euch eines der von Meister Urag erschaffenen Vampire angenommen? Oder habt Ihr Euch am Ende selbst dazu entschlossen, Euch einen Gefolgsmann zuzulegen?“

Mir gefiel weder die Art wie er mich ansah, noch wie er mit mir sprach, doch dies war nicht der richtige Moment für Erziehungsmaßnahmen, weshalb ich lediglich bemerkte: „Ich nahm an Sie wären hier um meine Fragen zu beantworten und nicht umgekehrt.“

Ich blickte ihn kühl an und glaubte einen Anflug von Enttäuschung auf seinem Gesicht zu sehen, wohl weil ich nach wie vor nicht bereit war, ihm Informationen über Noël zukommen zu lassen.

„Ihr habt recht“, räumte er schließlich ein und widmete sich dann ganz der Beantwortung meiner Frage.

„Ich darf davon ausgehen, dass Ihr Euch mit Blutgruppen und deren Passung bei Menschen ein wenig auskennt?“

Ich nickte.

„Bei den Erschaffenen und ihren Meistern ist es so ähnlich.“

Es schien ihm zu gefallen mir etwas berichten zu können, dass mich so offensichtlich überraschte. Beinahe erwartete ich, dass er sich in stillem Vergnügen die Hände rieb.

„Natürlich nicht in diesem extremen Sinne, dass sie sterben, wenn sie das Blut einer falschen Blutgruppe zugeführt bekommen“, fuhr er fort und beobachtete dabei sehr genau mein Mienenspiel.

„Das Blut der Menschen ist anders als das unsere und für die Erschaffenen ist es nahezu wertlos. Ihr Körper ist nicht mehr menschlich und das Blut der Sterblichen ist für ihre Bedürfnisse zu schwach. Wie kann ich es am besten ausdrücken? Erschaffene wurden, ob nun freiwillig oder gewaltsam, in einen Zustand versetzt, der ihrem natürlichen Lebensverlauf vollkommen zuwiderläuft. Ihre Körper wehren sich dagegen beziehungsweise sind von sich aus nicht in der Lage, diesen Zustand des Vampir-Seins aufrecht zu erhalten. Zugleich sind sie jedoch unfähig wieder Menschen zu werden. Man könnte es vielleicht so sagen: Das Blut der Vampire erinnert sie und jede Faser ihres Körpers beständig daran, was sie sind. Nur dadurch sind sie fähig sich zu bewegen, zu regenerieren und so weiter und so weiter. Denn das Blut geborener Vampire ist dem der Menschen zu jedem Zeitpunkt überlegen. Es dominiert, ganz gleich wie viel des Lebenselixiers wir in uns aufnehmen. Den Erschaffenen fehlt diese Stabilität und deshalb benötigen sie das Blut anderer, möglichst mächtiger Vampire.“

Er machte eine Pause und genoss sichtlich die Faszination, mit der ich seinen Ausführungen lauschte.

„Dennoch haben sie, wie Ihr wisst, eine höchst unterschiedliche Lebensspanne. Einer der wesentlichsten Gründe dafür ist selbstverständlich ihr Status. Die meisten von ihnen sterben lange bevor sie das Stadium des Irrsinns erreichen durch die Hand ihres Meisters. Für all jene, deren Ableben eigentlich vermieden wurde, ist die in meinen Augen derzeit plausibelste Erklärung die, dass eine gewisse Passung zwischen Blutspender und -empfänger vorliegen muss.“

Ein Blutspender, dachte ich. Das also war die Rolle, die ich für Noël spielte.

„Da dieses Problem nur bei Erschaffenen auftritt und unsere geliebten, forschungswütigen Menschen nichts von deren Existenz wissen, gibt es so gut wie keine Informationen darüber, wie viele Blutgruppen und -merkmale bei Vampiren existieren.“

Er machte erneut eine Pause und sah zu seinem stummen Begleiter auf. Der hochgewachsene Mann rührte sich nicht, auch Ichimura sagte kein Wort und doch war ich sicher, dass zwischen ihnen eine Form von Kommunikation stattfand, die sich mir nicht erschloss. Ich beneidete sie ein wenig, während ich beobachtete, wie sie einander einzig durch Blicke verstanden.

Einige Sekunden lang verharrten sie so, dann wandte mein Gast seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.

„Letztendlich scheint es jedoch darauf hinauszulaufen, dass sie umso länger leben, je besser Meister und Erschaffener zusammenpassen.“

Mir entging die Doppeldeutigkeit seiner Worte nicht und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie auch ihm selbst gefiel.

Gerade als ich im Begriff war die nächste Frage zu stellen, hob er die Hand und beantwortete sie, bevor ich sie aussprechen konnte.

„Während das Blut der Menschen zu schwach ist, ist das der Adligen, die ja zumeist ihre Herren sind, im Grunde zu stark. Einige der Meister wissen das auch und nehmen es bereitwillig in Kauf. Nicht wenigen von ihnen erscheint es sogar zweckgemäß, da sie ihrer Spielzeuge ohnehin rasch überdrüssig werden. Über die Wirkung des Blutes anderer Vampirkreise ist wenig bekannt, da es dort nicht üblich ist sich diese Art von Untergebenen zu halten. Die Erschaffenen sind weitestgehend dem Adel vorbehalten und wie es scheint nicht ohne Grund. Soweit die Geschichte und unsere Erfahrungen mit ihnen es zulassen, kann man feststellen, dass sie – wenn sie es überhaupt tun – nur Wesen gehorchen, die stärker sind als sie selbst.“

Ich erinnerte mich, etwas darüber gelesen zu haben. Es gab eine Theorie die besagte, dass eine Art Prägung stattfand in dem Moment, in dem das Blut ihres Meisters in die Adern der Erschaffenen floss. Damit erklärte man die Tatsache, dass viele von ihnen freiwillig auch grausamsten Vampiren folgten und sich ihnen unterwarfen. Wenn man den Ausführungen des Autors Glauben schenken durfte, so taten die meisten von ihnen dies ohne den Noël eigenen Widerstand. Dafür, dass sie grundsätzlich nur Meister akzeptierten die stärker waren als sie selbst, sprach, dass das Mal, welches sie am Körper trugen und das sie als Besitz ihres Herrn brandmarkte, ausschließlich durch das Zeichen eines noch mächtigeren Vampirs ersetzt werden konnte.

Als wollte er meine Gedanken bestätigen erklärte Ichimura: „Übernimmt ein Vampir, aus welchen Gründen auch immer, einen Erschaffenen aus dem Besitz eines anderen Meisters, so scheint dies nur zu funktionieren, wenn der neue Besitzer über größere Kräfte verfügt als der vorherige. Bekanntheit und Status können das wohlgemerkt nicht aufwiegen. Anscheinend entscheidet ausschließlich die körperliche und bis zu einem gewissen Grad auch die geistige Stärke des Meisters.“

Obwohl es absurd war auch nur einen einzigen Moment daran zu glauben, dass Noël einer solchen Übernahme zustimmen würde, fragte ich mich plötzlich, ob ich stärker war als Urag. Es war nicht das erste Mal, dass ich darüber nachdachte, aber es war das erste Mal, dass meine Überzeugung dass es so war schwand.

„Allerdings“, begann er erneut und unterbrach damit meine Gedankenkette, „scheint auch das richtige Mischungsverhältnis von Bedeutung zu sein.“

Ich ahnte was er meinte, jedoch fehlte mir eine klare Vorstellung davon.

„Die Menge des Blutes wie auch die Häufigkeit des Trinkens sind wesentliche Aspekte, wenn es darum geht, den Verstand und das Leben eines Erschaffenen möglichst lange bewahren zu wollen.“

Er unterstrich seine Worte mit einer eindrucksvollen Geste und fuhr mit seinen Erklärungen fort, doch ich hörte ihn kaum. In meinem Kopf kreisten die Fragen und Gedanken und meine Sorge um den jungen Erschaffenen wuchs mit jeder Sekunde. Woher sollte ich wissen, wie viel meines Blutes gut für ihn war? Wusste er selbst es? Wenn dem so war konnte ich ihn fragen, doch falls nicht...

Ich atmete einmal tief durch und versuchte dann wieder Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Noël sich mir soweit öffnen würde, dass ich es an seinem Verhalten und seiner Körpersprache würde ablesen können – sofern das überhaupt möglich war.

Selbst die Tatsache, dass ich sein Leben gerettet hatte, hatte ihn bisher lediglich dazu bewegen können, sich gelegentlich und äußerst widerwillig mit mir zu unterhalten. Wie also sollte ich ihn dazu bewegen, mir eine so wichtige Information anzuvertrauen? Zumal mir das Wissen darum eine gewisse Macht über ihn verlieh. Und ich musste befürchten, dass er eher bereit war sein Leben aufzugeben, als zuzulassen, dass ich ihn in irgendeiner Weise beherrschte.

Angesichts dieser Problematik, gewann eine andere, wenn auch keineswegs neue Frage wieder an Bedeutung. Nämlich jene, ob ich Noël überhaupt bei mir behalten wollte. Alle Erwartungen und Hoffnungen, die ich in den jungen Mann gesetzt hatte, hatten sich als unerfüllbar herausgestellt. Und war ich nicht – in einem Anflug von Faszination und Mitgefühl – schon viel zu weit gegangen? Ich hatte ihn vor seinen Verfolgern bewahrt, ihm mein Blut gegeben und verwandte einige Mühe darauf, ihn vor den Informanten und auch anderen Vampiren abzuschirmen. Und auch wenn er mich nicht darum gebeten hatte, so nahm er meine Hilfe doch stillschweigend an. Was hatte ich im Gegenzug dafür erhalten? Nichts, nicht einmal ein Wort des Dankes. Deshalb war es an der Zeit, für mich selbst die Frage zu beantworten, ob ich so weitermachen wollte wie bisher. Ich schützte einen Mörder, daran bestand kein Zweifel und wie es schien war ich bereit einige Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, um diesen Schutz aufrecht zu erhalten. Zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit, wenn man es denn so nennen wollte, mochte es allerlei Gründe gegeben haben, dies zu rechtfertigen. Doch Noël verweilte nun bereits einige Monate in meinem Haus und allmählich verlor das Argument, dass er lediglich ein wenig Zeit benötigte um sich hier einzugewöhnen, an Glaubwürdigkeit. Zugegeben, inzwischen sprach er sogar gelegentlich mit mir, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sich in diesen Wochen irgendeine Art von Beziehung zwischen uns entwickelt hatte. Warum also klammerte ich mich noch immer an die Vorstellung, eines Nachts einen Vertrag mit ihm zu schließen? Denn warum sonst hätte mich dieses Thema so sehr beschäftigen sollen? Ganz offensichtlich gab es irgendetwas in meinem Inneren, das nicht bereit war die Hoffnung aufzugeben und von der Realität wenig wissen wollte. Dabei hatte ich ehrlich gehofft, diese Art romantischer Vorstellung endlich hinter mir gelassen zu haben.

Eine andere Frage kam mir in den Sinn und ihre Brutalität schmerzte mich. Ist es das wirklich wert? Ist er das wirklich wert?

„Letztendlich bedeutet es, dass sowohl ein zu wenig als auch ein zu viel des Blutes den Prozess geistiger Degeneration erheblich beschleunigen kann“, schloss Ichimura seinen Bericht und sah mich aufmerksam an.

Vermutlich erwartete er weitere Fragen, doch ich war nicht sicher, ob es klug war sie zu stellen. Es gab so vieles, über das ich nachdenken musste und ich brauchte Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Und das konnte ich nicht, solange diese beiden Vampire in meinem Haus verweilten.

Einen Moment überlegte ich, ob ich ihn noch zu dem Ritual befragen sollte, mit dem man Erschaffene eines anderen Meisters zu seinen eigenen machen konnte, entschied mich dann aber dagegen. Ich hätte ihm wohl kaum mit der gebotenen Aufmerksamkeit lauschen können. Außerdem hielt ich es für unwahrscheinlich, dass er selbst schon einmal einen Erschaffenen aus fremdem Besitz übernommen hatte. Das theoretische Wissen dafür besaß ich bis zu einem gewissen Grade bereits selbst und meine Bibliothek barg, wie ich wusste, bemerkenswert zahlreiche und detaillierte Informationen zu diesem Thema.

„Gibt es sonst noch etwas, das Ihr gerne in Erfahrung bringen möchtet?“

Ich seufzte und verneinte. Für diese Nacht war es wahrlich genug.

Er schwieg einige Sekunden, dann fragte er erwartungsvoll: „Dürfte ich dann meinen Lohn einfordern?“

Von einem Moment auf den anderen wirkte er alles andere als gefährlich oder geheimnisvoll. Eher wie ein Schuljunge, der es nicht erwarten konnte, zum ersten Mal einen Blick in das neue Klassenzimmer zu werfen.

„Bitte sehr“, erwiderte ich und musste feststellen, dass man meiner einladenden Geste die Erschöpfung ansah. Doch Ichimura schien es gar nicht zu bemerken. Mit leuchtenden Augen sprang er auf, deutete noch rasch eine Verbeugung an und verschwand, gefolgt von seinem getreuen Schatten, zwischen den Bücherregalen.

Eine gewisse Trägheit und der Umstand, dass ich Besucher in der Bibliothek nur ungern unbeaufsichtigt ließ, veranlassten mich dazu, in meinem Sessel sitzen zu bleiben und lediglich von Zeit zu Zeit festzustellen, welche Werke Ichimura sich ausgesucht hatte. Ich nahm an, dass es mit seiner Tätigkeit als Informant zusammenhing, dass er sich in erster Linie für die Stammbäume und Lebensläufe seiner Mitvampire interessierte. Alles was auch nur im entferntesten Aufschluss über die Familiengeschichten der Großen und Mächtigen der Vampirwelt gab oder versprach, wurde zum Gegenstand seiner Recherche. Stundenlang vertiefte er sich in Pergamente, Bücher und Akten und ich konnte nicht leugnen, dass sein reges Interesse mir Freude bereitete. Ich war stolz auf meine Sammlung und es kam schließlich nicht sehr häufig vor, dass jemand meine Leidenschaft für Bücher teilte – und sei es auch nur für einen winziges Ausschnitt dessen, was ich mein Eigen nennen durfte.

Natürlich waren die hier zusammengetragenen Werke nichts im Vergleich zu dem, was sich in der offiziellen Bibliothek befand. Mochte es auch nur ein Teil davon sein, so war doch das Wissen einer ganzen Welt dort zusammengetragen worden und ich als sein Wächter damit beauftragt es zu schützen und über die Jahrhunderte hinweg zu bewahren.

Ich stellte mir Noëls Gesichtsausdruck vor, wenn er erfuhr, dass der Mann bei dem er lebte und den er wohl auch ein wenig fürchtete, in Wirklichkeit nichts anderes war als ein mittelalterlicher, langweiliger Bibliothekar. Bei dem Gedanken daran musste ich unwillkürlich lächeln.

Die große Standuhr schlug die fünfte Stunde und mahnte meine Gäste zum Aufbruch.

Es war lange her, dass jemand so reges Interesse an meiner Sammlung gezeigt hatte und dennoch war ich erleichtert, dass die beiden Männer mich nun verlassen würden.

Ichimura dagegen zeigte tiefes und ehrliches Bedauern darüber, dass er nicht länger hier verweilen und die Bücher studieren konnte. Doch er hielt sich an unsere Vereinbarung und so verließen wir die Bibliothek und standen wenig später wieder in der Empfangshalle.

Ichimura verabschiedete sich in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, der er sehr höflich und durchaus glaubwürdig Ausdruck verlieh. Eine Hoffnung, die ich um Noëls willen nicht teilen konnte. Kenai Ichimura war ein interessanter Vampir, dies stand außer Frage und gewiss hätte ich mit ihm so manches Thema erörtern können und gewiss einen Nutzen davon gehabt. So aber blieb mir nur zu wünschen, dass diese Nacht, wenn sie denn kam, möglichst lange auf sich warten ließ. Seine Wissbegierde in allen Ehren, doch solange Noël in meinem Hause weilte, konnte Ichimura zu einer ernstzunehmenden Gefahr werden. Einer Gefahr, die sich weniger auf mich, als vielmehr auf den jungen Erschaffenen bezog. Und als hätte er es gehört und wollte mir nun widersprechen, betrat er nur einen Moment später das Haus.

Mehrere Sekunden lang schien die Zeit still zu stehen. Auf den Gesichtern aller Anwesenden – Jima ausgeschlossen – zeigte sich zunächst eine milde Überraschung, die bei Noël jedoch rasch in ein ungläubiges Starren überging. Sein Blick war unablässig auf die beiden Besucher gerichtet. Dann begannen seine Lippen zu zittern, bis sie schließlich mit einem Laut, der nicht mehr als ein erschrecktes Keuchen war, zwei Worte formten.

„Der Informant.“

Und dann tat er etwas, das er nie zuvor getan hatte. Er eilte an den beiden vorbei, packte mich am Arm und versteckte sich, mit einem Ausdruck der Angst und des Misstrauens auf dem Gesicht, hinter meinem Rücken.

Bisher kannte ich ein solches Verhalten lediglich von Kindern und nie hätte ich erwartet, dass mein störrischer Gast es einmal zeigen würde. Auch die Heftigkeit seiner Reaktion gab mir Rätsel auf, doch noch bevor ich sie verstand, hatte ich bereits den Arm erhoben und mich schützend vor ihn gestellt.

„Ist er schüchtern?“, fragte Ichimura amüsiert, beugte sich ein wenig vor und trat einen Schritt näher.

Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern ging ich zu ihm und streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich danke Ihnen für die Unterredung, sie war wirklich sehr erhellend. Auf Wiedersehen, Herr Ichimura“, sagte ich mit einem Lächeln und in einem freundlichen Ton, der jedoch keinen Zweifel daran ließ, was ich von ihm und seinem Begleiter erwartete.

Er musterte mich und entschied dann offenbar, dass dies nicht der rechte Moment für Verhandlungen war. Er lächelte ein perfektes, geschäftliches und nicht ganz ehrliches Lächeln.

„Auf Wiedersehen, Meister Veleno. Es war mir eine Freude mit Euch Geschäfte zu machen“, betonte er, ergriff meine Hand und küsste sie.

Ich verzog keine Miene, wenngleich ich sicher war, dass er es nicht getan hätte, wäre Noël nicht anwesend gewesen. Es war nicht auszuschließen, dass er dem jungen Erschaffenen damit zeigen wollte, wie man einem Meister üblicherweise begegnete. Vielleicht tat er es aber auch nur, weil er den Abstand zwischen ihnen dadurch ein wenig verringern konnte und sei es auch nur für einen Moment. Solange er meine Hand hielt, ruhte sein Blick auf Noël, dann verließen er und sein Begleiter das Haus. Gerade als er sich noch ein letztes Mal nach dem jungen Mann an meiner Seite umsah, fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.

Es vergingen einige Sekunden, in denen keiner von uns etwas sagte. Zeit genug, um mir darüber klar zu werden, dass es schon eine Weile zurücklag, dass Noël und ich uns im selben Raum befunden hatten und gewillt waren miteinander zu reden.

Ich wandte mich zu ihm um, doch er starrte immer noch völlig entgeistert die Tür an, durch welche meine Gäste gerade verschwunden waren.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, doch schließlich wanderte sein Blick langsam zu mir.

„Das war der Informant!“, rief er fassungslos. „Was wolltet Ihr von ihm?“

Es bedurfte lediglich eines Blickes um zu erkennen, dass er nicht vorhatte mir sein Verhalten gegenüber Ichimura zu erklären, weshalb ich mich damit begnügte seine Frage zu beantworten.

„Er ist ein Informant und ich brauchte Informationen. Also habe ich Kontakt zu ihm aufgenommen.“

„Was ist so wichtig, dass Ihr diesen Mann in Eurer Haus holen musstet?“

Er sah mich an. Empört, ungläubig und mit einem wunderschönen, lebendigen Funkeln in den Augen. Ich hätte ihn ewig so ansehen können, doch sein Ungeduld war geradezu greifbar.

„Du scheinst ihm nicht sonderlich zugetan zu sein“, bemerkte ich und bereute es sofort, da er noch im selben Moment den Blick abwandte.

Ob er es wohl gewagt hätte Meister Urag diese Frage zu stellen, ging es mir durch den Kopf und seufzend schob ich den Gedanken beiseite. Wann hatte ich eigentlich damit begonnen, mich bei jeder Gelegenheit mit seinem früheren Meister zu vergleichen?

„Du“, beantwortete ich seine Frage und sofort galt seine gesamte Aufmerksamkeit wieder mir.

Es war amüsant zu beobachten, wie sich seine Augen vor Überraschung weiteten und sein Mund sich in sprachlosem Erstaunen öffnete.

„Ihr macht Euch über mich lustig“, knurrte er, als er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte.

„Wenn es das ist, was du glauben möchtest“, erwiderte ich und zuckte leicht mit den Schultern. Ich beobachtete mit einigem Interesse sein Mienenspiel, das sehr rasch wechselte und jenen irritierend schönen Hauch von Rot zurückließ, den ich so gern bei ihm sah.

„Ich brauchte Informationen über die Erschaffenen und Kenai Ichimura war der Mann, der bereit war sie mir zu geben“, erklärte ich und wieder dauerte es eine Weile, bis er seine Sprache wiederfand.

„Was wollte er dafür?“

Noëls Stimme war nicht mehr als ein atemloses Flüstern. Ganz so, als könne er noch immer nicht glauben was ich getan hatte und mehr noch, als fürchtete er etwas schreckliches könne geschehen, wenn er es laut aussprach.

Eigentlich ging es ihn nichts an. Ein Anflug von Widerwillen war in meine Gedankenwelt zurückgekehrt, doch ich verbannte ihn so gut es ging aus meinem Bewusstsein. Ich erreichte nichts, wenn ich jetzt auf Anstand und Etikette beharrte.

„Das Einzige, das ich zu bieten habe“, antwortete ich und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er an etwas vollkommen anderes dachte als ich.

Vermutlich hätte ich an diesem Punkt und zu recht wie ich fand, mit einer gewissen Empörung reagiert, doch dann wurde mir bewusst, dass es vermutlich der Behandlung von Meister Urag zu verdanken war, dass er so dachte.

„Wissen und die Bücher in denen es steht“, erklärte ich und sah ihn aufatmen, bevor erneut eine feine Röte sein Gesicht überzog.

„Ich glaube, ich muss dich um Verzeihung bitten. Meine Unkenntnis hat dir womöglich einige Unannehmlichkeiten bereitet. Ich werde in Zukunft aufmerksamer sein.“

Ich hatte nicht beabsichtigt ihn in Verlegenheit zu bringen, tat es aber ganz offensichtlich, denn die Färbung seiner Wangen blieb.

„Warum habt Ihr nicht mich gefragt?“, erwiderte er.

Er klang verstimmt, wenngleich ich nicht mit Sicherheit hätte sagen können, worin die Ursache seines Ärgers bestand.

Jedenfalls war es nun an mir, ihm ein erstauntes Gesicht zu zeigen.

„Nun“, sagte ich schließlich, „ich hatte angenommen, dass du mir nicht antworten würdest. Und du wirst mir sicher zustimmen, dass es nicht ganz einfach ist, mit dir ins Gespräch zu kommen.“

Kaum hatte ich es ausgesprochen, bereute ich meine Worte auch schon und so fügte ich eilig hinzu: „Aber ich würde wirklich gern mehr über dich wissen.“

Einen Moment lang starrte er mich an, dann nahm sein Gesicht einen wirklich ganz erstaunlichen Rotton an.

„Idiot!“, fauchte er, doch fehlte es seiner Stimme an Überzeugungskraft, weshalb ich die Beleidigung nicht wirklich ernst nehmen konnte.

Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand irgendwo im Inneren des Hauses.

Eine Weile sah ich ihm nach, dann seufzte ich schwer und machte mich auf den Weg in mein Schlafgemach.

Idiot.

Ich musste zugeben, dass mich sein Mut und seine Dreistigkeit, mir so etwas ins Gesicht zu sagen, beeindruckten. Es war lange her, dass jemand so etwas gewagt hatte und wenn ich mich recht entsann, waren es stets Menschen gewesen. Allerdings war ich weder so unbesonnen noch so egozentrisch, über irgendeine Form der Bestrafung nachzudenken. Positiv gewendet bedeutete es womöglich, dass er so weit Vertrauen zu mir gefasst hatte, dass er nicht fürchtete, ich könnte ihn in irgendeiner Weise dafür zur Rechenschaft ziehen. Und die Kombination seiner Verlegenheit und des Unvermögens damit umzugehen, machten es schon beinahe liebenswert.

Unwillkürlich wanderten meine Mundwinkel nach unten. Offenbar war ich inzwischen einsam genug, um sogar eine Beleidigung als positives Zeichen zu deuten. Etwas, dass zugegebenermaßen recht abwegig schien und, hätte es jemand anderen betroffen, doch zumindest einige Verwunderung bei mir hervorgerufen hätte.

Es war allmählich wirklich an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Und doch wusste ich, dass ich genau das nicht tun würde – zumindest nicht in allzu naher Zukunft. Es sei denn, mein eigensinniger Gast gab mir einen Grund dazu, meine Meinung zu ändern.

Wahrscheinlich, zumindest war es zu befürchten, hatte Anoha doch recht. Ich brauchte dringend wieder eine Frau an meiner Seite. Jemanden, der zu mir passte und dem das Leben mit mir angenehm genug war, um es wenigstens ein paar Jahrzehnte lang mit mir zu teilen. Selbstverständlich hätte ich nur zu gern eine Person gefunden, die ein Leben lang mein Gefährte sein würde, aber ich war mittlerweile klug genug, meine Erwartungen der Realität anzupassen. In Bezug auf Noël allerdings...

Idiot.

Nun, in jedem Fall war es doch wirklich außerordentlich erfrischend, auf so deutliche und eindeutige Weise daran erinnert zu werden, wofür ich all diese Umstände in Kauf nahm.
 

Kapitel 12 - Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2011-12-21T10:24:17+00:00 21.12.2011 11:24
._.
na hoffentlich muss er diesen "Informant" nicht wieder sehen ._.
Der ist... bäh oO
Noels Reaktion auf ihn war komisch ._.
und der Kleine ist eifersüchtig ^-^


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