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Vergessen

Ein Tribut an die Freundschaft
von

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Aufbruch

Ein Windzug zerrte an den perfekt frisierten Haaren der älteren Frau. Abfällig schnaubend hob sie die Hand auf Gesichtshöhe, als könne dies allein bereits den Wind daran hindern, ihre Hochsteckfrisur zu zerstören. Jedes Mal dasselbe, wenn man auf diese Art zu einem anderen Ort reiste.

„Benjamyn, nun komm. Wir werden nicht zu spät kommen.“, meinte sie mit scharfem Unterton zu ihrem Sohn. Der etwa elfjährige, dunkelblonde Junge stand, seinen Koffer neben sich, einen halben Meter von ihr entfernt. Er sah sie einen Augenblick herausfordernd an, dann jedoch senkte er den Kopf.

„Ja, Mutter.“, sagte er gerade so laut, dass seine Mutter ihn verstehen konnte. Diese nickte und setzte sich dann in Bewegung. Sie mussten aus diesen Bahnhofstoiletten heraus, diese waren einfach kein Ort für eine elegante Frau wie sie. Königlich schritt sie also durch den Toilettenbereich und durchquerte dann den Vorraum mit den Waschbecken. Alles war mit Schutt bedeckt und wahllos verteilte Absperrbänder erzeugten die Atmosphäre einer Baustelle.

Dieser dreckige Ort war jedoch im London der siebziger Jahre die einzige Stelle im gesamten Hauptbahnhof, zu der man sicher und vor allem unentdeckt apparieren konnte. Deshalb torkelten nun, als sie die offiziell wegen Umbauarbeiten gesperrte Toilette verließen, auch weitere Gestalten aus den engen Kabinen im hinteren Bereich. Der Junge sah sich kurz um, wollte einen Blick auf die anderen erhaschen, die auch nach „Hogwarts - Schule für Hexerei und Zauberei“ gingen oder gehen würden.

Grob riss ihn jedoch seine Mutter am Hemdsärmel weiter. Sein großer, unhandlicher Koffer schlug ihm bei diesem plötzlichen Ruck gegen sein rechtes Bein. Ein kleiner Schmerzenslaut entwich seinen Lippen, aber dann lief er umso schneller neben der blonden Frau her. Diese steuerte ganz gezielt den Bahnsteig der Gleise 9 und 10 an.

Schon gespannt, was ihn nun erwarten würde, reckte Ben neugierig den Kopf. Und zum ersten Mal heute begannen seine Augen zu leuchten, als er sich wieder ins Gedächtnis rief, dass er nun endlich nach Hogwarts gehen würde. Das hieß, er würde ein ganzes Schuljahr auf einem Internat verbringen, ohne seine zänkische Mutter oder seinen wortkargen Vater!

„Hör auf zu träumen, mein Sohn!“, fuhr sie ihn nun auch schon wieder an. Niemals schien sie ausgeglichen zu sein. Und wirklich aufrichtige, freundliche Worte hatte er noch nie aus ihrem kleinen, spitzen Mund gehört. Zumindest erinnerte er sich an nichts desgleichen. „Sieh zu und lerne. Warte dreißig Sekunden ab, wenn ich verschwunden bin, und komm mir dann nach, wenn kein Muggel dir zusieht.“

Sie hatten mittlerweile den halben Bahnhof durchquert, die Plattform der Gleise 9 und 10 betreten und standen vor einem Tragpfeiler, der mit seinen roten Backsteinen jedem anderen Pfeiler auf diesem Bahnsteig exakt glich. Doch Bens Mutter war scheinbar der Ansicht, dass es etwas Besonderes an genau diesem Pfeiler gab. Bei dem Wort „verschwunden“ horchte der Junge ebenfalls auf. Wohin sollte seine Mutter denn-

„Mutter!“, schrie der Elfjährige entsetzt, als die Frau einfach durch die Wand getreten – und tatsächlich verschwunden war! Entsetzt ließ er den Koffer stehen und lief einmal um den Träger herum. Doch auch hier war keine Spur von seiner Mutter zu sehen! Verwirrt ging er wieder zurück. Nachkommen, hatte sie gesagt. Durch eine Wand?!

Ben atmete einmal schwer aus. Diese Situation war einfach zu seltsam. Doch er würde es versuchen, einfach durch diese Wand zu gehen. Immerhin war er nun ein Zauberer! Aber er würde rennen – ein bisschen den Mut zusammen nehmen und losstürmen. Den Koffer vor sich erhoben, damit der nicht herumschlackerte.

Gesagt – getan. Der Junge nahm Anlauf und sprang sogar ab, als die Wand nah heran kam. Mit geschlossenen Augen erwartete er einen Aufprall, doch nichts dergleichen passierte. Zögernd blinzelte er, während er wackelig landete. Er brauchte einen Moment, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Aber innerhalb von Sekunden hatte sich die ganze Landschaft, das Gleis und... alles, wirklich alles, verändert! Staunend riss er den Mund auf und sog die neuen Eindrücke in sich auf.

„Du hast zu lange gebraucht, Benjamyn. Ich bin enttäuscht von dir.“, holte ihn die frostige, verärgert klingende Stimme seiner Mutter zurück in die Wirklichkeit. „Niemals, hörst du, niemals wirst du zu einem guten Schüler in Hogwarts, wenn du nicht einmal in der Lage bist, eine solch einfache Anweisung zu befolgen.“

Wie kleine giftige Nadeln stachen die Worte in sein Herz. Kein guter Schüler? Angst ergriff ihn, während er äußerlich nur eine Entschuldigung murmelte und den Blick senkte. Ständig war sie enttäuscht von ihm, das war Ben längst gewohnt. Nur noch Bitterkeit verspürte er bei solchen Aussagen. Nie konnte man es ihr recht machen, egal, wie sehr man sich bemühte. Aber jetzt drohte sie sogar, dass er deshalb auch in Hogwarts ungeliebt sein würde. Ein schlechter Schüler werden würde, einer, den die Leute verachteten.

Nur schwer konnte sich Ben überwinden, seiner Mutter zum Ende des Zuges zu folgen. Die scharlachrote Dampflok war so imposant, dass er in einer anderen Situation bestimmt freudestrahlend davor gestanden und sie bewundert hätte. Aber seine Mutter hatte ihm wie immer alles verdorben. Trotzdem schleppte er sich mit ausdruckslosem Gesicht hinter ihr her, stellte schweigend seinen Koffer ab und drehte sich dann wieder zu ihr um.

„Such dir ein leeres Abteil, mein Sohn, und lass dich nicht mit irgendwelchen Halunken ein. Halte unseren Namen in Ehren und sei stets höflich, respektvoll und ordentlich. Pflege guten Kontakt zu deinen Mitschülern…“, etwa fünf Minuten dauerte die Predigt seiner Mutter. Nach den ersten Worten jedoch schaltete Ben ab, da sie sich dabei weiter zum Zuganfang bewegten. Klammheimlich sah er sich auf dem Gleis 9¾ um. Hexen und Zauberer, Eltern wie Kinder, Eulen und Katzen, Mäntel und Roben, viele Farben, alles durchdrungen vom Geruch des Dampfes.

Er spürte die schwache Sehnsucht in sich aufglimmen, die ihn bereits zuvor ergriffen hatte. Aber seine Mutter hatte sie erstickt, als sie meinte, er würde eh kein guter Schüler werden. Bestimmt war sie auch der Ansicht, er würde keine Freunde finden und nur Schande über seine Familie bringen. Ben wandte den Blick zum Zug, als ihm eine einzelne Träne über die Wange rollte.

„Und denke immer daran, dass du unser einziger Sohn bist. Du repräsentierst uns in Hogwarts.“, endete seine Mutter die lange Rede. Benjamyn jedoch sah sie nun mit traurigen Augen an. Dann nahm er plötzlich Haltung an, was die Frau mit einem schmallippigen Lächeln bedachte.

Ja, dachte er dabei, du denkst, ich würde nur euch repräsentieren. Aber ich bin nicht du und ich bin nicht Vater. Ich bin Ben, kapier das endlich!

„Ich würde gern sagen, dass ich dich vermissen werde, Mutter.“, sagte er ernst. Dem verwirrten Blick ihrerseits entgegnete er mit einem trotzigen seinerseits. „Aber ich soll dich ja nicht anlügen. Grüß bitte Vater von mir. Auf Wiedersehen, Mutter. Bis Weihnachten.“

Kurze Zeit war sie sprachlos. Die blonde Frau sah ihren Sohn an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Dass er sie nicht vermissen würde, obwohl er zum allerersten Mal solange von zuhause weg war? Ganz kurz kamen Zweifel in ihr auf, ob er sie denn nicht lieben würde. Aber dann dachte sie sich, dass er bestimmt nur mutig klingen wollte. Sie schnaubte verächtlich.

„Markiere hier nicht den Starken, Benjamyn, damit kommst du bei mir nicht durch!“, drohte sie ihm, doch ihr Sohn wirkte völlig unbeeindruckt. Wann war sein Gesicht zu dieser reglosen Maske geworden? Vor einem Jahr noch hatte man ihm jedes seiner nur mühsam gebändigten Gefühle direkt aus dem Gesicht ablesen können. „Aber ich werde deine Grüße ausrichten. Auf Wiedersehen, mein Sohn. Bis Weihnachten.“

Ungeschickt beugte sie sich herab und drückte ihren Sohn mit spitzen Fingern einmal kurz an sich. Doch dieser erwiderte die Umarmung nicht. Aufgrund dessen löste sie die Berührung recht schnell wieder, doch Ben fühlte sich trotzdem, als würde er in ihrem schwer duftenden Parfüm ertrinken.

Dann jedoch drehte sie sich um und verschwand. Vermutlich würde sie direkt zur Arbeit fahren, zu ihrem ach so tollen Bürojob im Zaubereiministerium. Ben war ein einziges Mal mit ihr dort gewesen, und er hatte es als stinklangweilig empfunden. Einzig und allein die fliegenden Zettel hatten ihn fasziniert.

Endlich frei, dachte Ben bei sich. Er sah seiner Mutter nicht einmal nach, sondern drehte sich um und ließ den Blick über die Menge schweifen. Zum Teil standen dort Eltern und Großeltern, die sich von ihren jüngeren und älteren Kindern verabschiedeten, des Weiteren Schülergruppen von bis zu einem Dutzend Leuten, die sich nach den Ferien viel zu erzählen haben schienen, und einzelne Männer und Frauen, vermutlich diejenigen, deren Kinder bereits im Zug saßen.

Plötzlich jedoch gab die Menge den Blick frei auf einen einzelnen Jungen, der etwa in Bens Alter war, einen braunen Schrankkoffer vor sich stehen hatte und die große Dampflok zu bestaunen schien. Doch Ben bemerkte in diesem Moment, dass der Junge gar nicht richtig dorthin sah. Er schien in der Ferne verloren, voller Sehnsucht nach etwas oder jemandem, was nicht hier war. Dann jedoch schob sich eine dicke Frau mit Perlenkette und schwarzem Spitzenkleid in sein Sichtfeld und der Junge wurde wieder von der Masse verschluckt.

Kurz grübelnd wandte der Junge sich zum Zug und ging die paar Schritte zu einer Tür, die ins Innere desselben führte. Prompt wurde er von einem gefühlt doppelt so großen Schrank von einem Kerl beiseite gestoßen. Dieser grinste nur, aber auf Ben wirkte es wie ein Zähnefletschen. Erschrocken ließ Ben seinen Koffer sinken.

„Verpiss dich, Stöpsel, hier sitzen wir, die Fünf- und Sechstklässler aus Slytherin!“, meinte er grollend und Ben hob abwehrend die Hände.

„Ich wollte euch nicht stören, hab mich einfach in der Tür geirrt.“, meinte er entschuldigend lächelnd. Der große Kerl wirkte zufrieden und wollte sich abwenden, als Ben noch leise etwas hinzufügte. „Ich wollte in den Hogwarts Express, nicht ins Irrenhaus.“

Unschlüssig, ob er sich verhört hatte oder der Junge vor ihm tatsächlich noch etwas gesagt hatte, musterte er diesen. War vermutlich einer der Erstklässler, dieser Furzknoten. Aber sicher konnte man sich bei diesen Kröten niemals sein. Also wandte er dem Kleineren einfach den Rücken zu und pfiff stattdessen einem schwarzhaarigen Mädchen hinterher, dass gerade den Waggon betrat.

Ben lächelte mit grimmiger Befriedigung und versuchte es erfolgreich einen Waggon weiter vorn. Den schweren Koffer hatte er mithilfe eines netten Kerls mit wuscheligen braunen Haaren in den Zug gewuchtet und in einem leeren Abteil verstaut. Praktischer Weise besaß der Koffer zwei Fächer. Im unteren hatte er alles verstaut, was er in Hogwarts brauchen würde. Oben hingegen waren seine Kleidung für Hogwarts, sein neuer Zauberstab, ein Buch und etwas Nervennahrung. Er nahm Platz, lehnte sich zufrieden zurück und schaute aus dem Fenster, das den Blick auf weite Landschaft frei gab.

Er würde niemandem winken, wenn der Zug abfahren würde. Er wusste, dass seine Mutter längst weg war. Aber auch sonst hätte er nicht am Fenster gestanden. Ben hing seinen düsteren Gedanken weiter nach, bis er plötzlich Gepolter auf dem Flur hörte. Stimmengewirr wurde laut, einer fluchte, einer brüllte. Verwirrt sah er auf. Was war da los?

Und da riss jemand die Tür zu seinem Abteil auf und ein blonder Junge stolperte hinein. Nein, er wurde von jemandem hineingestoßen, der bereits wieder die Abteiltür zuzog und nur noch brüllte: „Hier kannst du bleiben, in Einzelhaft, du Amispinner!“

Ben war verblüfft. Sowohl über den hasserfüllten Ton des Ausrufers wie auch über die Tatsache, dass ihm der Junge bekannt vorkam. War das nicht der sehnsüchtige Junge, der ihm eben auf dem Bahnsteig aufgefallen war? Ja, die gleiche Kleidung trug er. Und die blonden Haare passten auch. Erstaunlich, wie sich die Wege wieder kreuzten.

Da hob der Fremde auch schon den Kopf und ihre Blicke begegneten sich.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Suse
2011-06-08T15:33:13+00:00 08.06.2011 17:33
Wow. o.o Erstmal wow.

Der Prolog ist echt richtig toll! Ich mag es, wie du die Situation beschreibst und auch die Charaktere kommen sehr gut rüber. Ich konnte förmlich die dicken Rauchschwaden des Hogwartsexpress riechen. =w=

Der kleine Benjamyn gefällt mir sehr gut. Ich mag seine freche und begeisterungfähige Art. Wer wäre schon nicht begeistert, wenn man vor dem riesigen Hogwartsexpress steht und dazu noch ein Junge ist? :D
Aber ich finde es auch gut, dass du ihn nicht den unantastbaren und unberührbaren Helden spielen lässt, sondern gut durchblicken lässt, dass ihn die schlechte Beziehung zu seinen Eltern schon mitnimmt.

Wird denn noch aufgeklärt, wer der nette Kerl mit den wuscheligen braunen Haaren war? o^o Der hat mich neugierig gemacht. ._.

Ich freu mich schon auf weitere Kapitel, ich werde auf jeden Fall fleißig weiterlesen. x3

Hab dich lieb. <3
Von:  Porschelady
2011-05-11T21:37:07+00:00 11.05.2011 23:37
Irgendwie sidn die beiden ja süß ^^
schade das aus Brady so was schlimmes wird XD
Von: abgemeldet
2011-05-07T07:24:12+00:00 07.05.2011 09:24
Awww wie toll <3


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