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Warrior Women

von

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The Thing about Happy Endings


 

I
 

Ein Mundwinkel hob sich und ließ seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln werden. Nur seine Augen erreichte es nicht. Diese blieben auch weiterhin ausdruckslos und zeigten eine Wand, eine aufgebaute Distanz, die nichts überbrücken konnte.

Zumindest nicht Angela Ryans. Das war ihr bereits klargeworden, als sie nach Hause gekommen war und diesen fremden Mann in ihrer Wohnung in ihrem Lieblingssessel hatte sitzen sehen.

Ihr Lieblingsbuch war aufgeschlagen auf seinem Schoß. Die schwarze Pistole in seiner Hand war auf ihre Gestalt gerichtet, noch bevor er den Blick gehoben hatte. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass er gekommen war um sie zu töten. Genauso wie sie gewusst hatte, dass er nicht gehen würde bevor er es hinter sich gebracht hätte.

Deswegen hatte sie schweigend die Einkaufstüten abgestellt. Mit Tränen auf ihren Wangen hatte sie zugesehen, wie er das Buch beiseite gelegt und auf sie zugekommen war.

Und nun stand er vor ihr, mit diesem unleserlichen Gesichtsausdruck und mit dem kalten Lauf der Nighthawk gegen ihre Stirn gepresst.

Es hieß, einem lief noch einmal sein gesamtes Leben vor den Augen ab, wenn man dabei war zu sterben. Angela sah nichts. Nichts, außer ihrem Mörder, der sich seelisch längst abgeschottet hatte. Für ihn war sie nur ein weiterer Job. Einen, den es zu erledigen galt, um die Kohle abzustauben, die sein Auftragsgeber ihm für eine Kugel in ihrem Kopf versprochen hatte. Dabei stellte es keinen Unterschied dar, wer sie war oder wie ihre Geschichte lauten mochte. Der Kerl vor ihr stellte keine Fragen und suchte keine Antworten. Er folgte lediglich Befehlen.

„Für Leute wie uns gibt es kein Happy End“, war das einzige, das sie über die Lippen brachte. Ihre Stimme war trotz der Tränen merkwürdig fest, beinahe höhnisch, als hätte auch sie sich seelisch bereits abgeschottet, irgendwie ausgeklinkt. Vielleicht hatte sie das auch, als der Schuss fiel.

Er weckte nicht einmal die alte Frau, die nebenan wohnte. Nein, ihr Mörder hatte auf dem Weg hierher in aller Ruhe seinen Schalldämpfer auf die Waffe geschraubt hatte. Das einzige Geräusch war daher ihr Körper, der zusammensackte und dumpf auf dem Holzboden aufschlug.

Stille folgte, in der sich Blut ausbreitete. Ihre Augen starrten gen Decke und Schritte entfernten sich, ehe sie gänzlich verebbten.
 


 

II
 

Sein schwarzer Ford stand in einer Gasse, in der es kein Licht gab. Nur machte ihm die Dunkelheit schon lange keine Angst mehr. Als Kind hatte er sie gefürchtet, Monster unter seinem Bett und in den Schatten gesehen. Mittlerweile wusste er jedoch, dass das einzige, was in der Dunkelheit lauerte, Menschen wie er waren.

Er war das Monster, das unter dem Bett hockte. Das Monster, das darauf wartete, bis das Kind über ihm eingeschlafen war, um es bei lebendigen Leibe fressen zu können.

Er war die Kreatur in den Schatten. Die Kreatur, die nur darauf lauerte, dass der einsame Spaziergänger an ihm vorbeiging und ihm den Rücken zukehrte, um ihn von hinten anspringen und in die dunkle Ecke zerren zu können.

Er brauchte sich vor nichts fürchten, weil er bereits alles war, was dort existierte. Deswegen schritt er teilnahmslos auf seinen Wagen zu, nur ein weiterer Schatten in der Nacht. Nicht einmal das Rascheln hinter ihm brachte ihn dazu innezuhalten oder sich gar umzudrehen. Aus diesem Grund sah er auch nicht die Gestalt auf der anderen Straßenseite, als er den Ford startete und auf die verlassene Hauptstraße auffuhr.

Hätte er nur einen Blick über seine Schulter oder in den Rückspiegel getätigt, hätte er die weiße Haut gesehen, die selbst in der Dunkelheit zu leuchten schien.

Hätte er sich umgesehen, hätte er das Auge entdeckt, das die Fahrt seines Wagens beobachtete und ihm nachsah. Er hätte gesehen, dass der Kopf der Gestalt eine neunzig Grad Drehung zur Seite machte und der übermäßige Hut ihr ins Gesicht rutschte, aber nicht herunterfiel.
 


 


 

III
 

„Guten Morgen, Schlafmütze!“

Brice Lamar begann sich bei der Lautstärke der gesagten Worte zu regen und öffnete blinzelnd die Augen. Anstelle von Susans Gesicht ragte jedoch eine Fratze mit schneeweißer Haut über ihm. Ein tiefgeschminktes Auge starrte ihn unverhohlen an, während ein übermäßiger Hut auf ihrem nackten Kopf saß.

Erschrocken fuhr Brice hoch, um seine Pistole unter seiner Matratze hervorziehen zu können. Mit dem Kopf knallte er gegen den der Frau, die über ihn gebeugt war. Mit einem Aufschrei sank er zurück in die Kissen und rieb sich die schmerzende Stirn. Als er abermals aufsah, saß nur Susan am Bettrand, die sich ebenfalls die Stirn hielt.

„Kannst du nicht aufpassen, du Mistkerl?“, zischte die junge Frau. Sie trug einen Unterlippenpiercing und hatte feuerrotes Haar, das auf der einen Seite länger als auf der anderen war. „Da will man nett sein und dich wecken – und was machst du?“ Sie erhob sich, zeigte ihm den Mittelfinger und schmiss die Schlafzimmertür beim Hinausstürmen zu.

Brice sah ihr eine ganze Weile nach, ehe er sich einige der blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte. „Dir auch einen guten Morgen, Susan...“

Einen Moment blieb er noch liegen, dann schob er die Decke zurück und setzte sich auf. Was hatte er da gerade gesehen? War es ein Streich seiner Fantasie gewesen? Doch er zuckte nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf, als er sich ins Badezimmer schleppte. Was sollte es sonst gewesen sein?

Obwohl er gestern Nacht, als er nach Hause gekommen war, bereits geduscht hatte, stieg er noch einmal unter die Dusche. Schon alleine, um den Schein zu wahren und um gänzlich wach zu werden.

Gähnend drehte Brice den quietschenden Hahn auf und ließ das Wasser seinem Körper herunterlaufen. Im Hintergrund konnte er Geschirrklappern vernehmen, was ihm versicherte, dass Susan nicht allzu nachtragend sein konnte, wenn sie trotz allem den Tisch deckte. Zwar hatten sie vermutlich bereits Mittag, aber das war nichts Außergewöhnliches. Er empfand es viel mehr als angenehm, wenn Susan mit pappigen Brötchen vom Morgen in seiner Wohnung auftauchte.

Nach dem Handtuch angelnd trocknete er sich ab und zog sich an.

Im Vergleich zu der schwarzen Kleidung, die er während seiner Aufträge trug, bestand sein restlicher Kleiderschrank aus grauen T-Shirts und legeren Jeans. Das war unauffällig und unauffällig war gut in seiner Branche.

„Eigentlich hast du mich gar nicht verdient!“, motzte Susan, als er sich zu ihr ins Esszimmer des Apartments gesellte und sich an dem runden Tisch niederließ.

Ein Korb mit Brötchen und eine Kanne frischen Kaffees, der sein Aroma inzwischen in der gesamten Wohnung verteilt hatte, begrüßten ihn.

„Und nur, damit du es weißt, du siehst echt scheiße aus, Brice.“

Beide musterten sich darauf eine Weile, bis Brice den Blick desinteressiert abwandte. „Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“ Er nahm sich eines der Brötchen und schnitt es auf, während sich Susan ihm gegenüber setzte und einen Schluck Kaffee trank.

Nebenbei schob sie ihm die Morgenzeitung herüber, die sie immer auf dem Weg hierher besorgte.

„Was ist überhaupt mit deinen Haaren passiert? Du siehst aus, als bist du unter den Mähdrescher gekommen.“ Obwohl seine Worte grob klangen, handelte es sich um eine simple Feststellung. Im Grunde war es Brice sogar gleich, mit was für einer Haarfarbe oder Frisur Susan herumlief. An ihrer Persönlichkeit änderte es ohnehin nichts.

„Sehr witzig!“, entwich es ihr, bevor sie nonchalant mit den Schultern zuckte. „Ich hatte einfach gestern Abend den Drang sie abzuschneiden. Ich brauchte mal eine Veränderung. Und das hier, das ist mein ganz eigener Stil.“

Inzwischen schlug Brice die Morgenzeitung auf und ließ die blauen Augen über die einzelnen Artikel wandern. Solange, bis einer seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Er überflog die Zeilen über den Mord an einer Angela Ryans, während Susan im Hintergrund ungestört weiterredete. Aber wann hatte sie schon mal bemerkt, wenn er ihr nicht mehr zuhörte? Das hatte er kein einziges Mal erlebt, obwohl er schon seit einigen Jahren mit ihr zusammen war.

„Du solltest den Job als Nachtwächter kündigen. Geld hin oder her, aber du machst dir deine Gesundheit kaputt. Ich hab’ schon viele Studien gelesen, die beweisen dass der gesündeste Schlaf vor Mitternacht ist. Wann hast du das letzte Mal zu dieser Zeit geschlafen, huh?“

Doch Brice antwortete nicht, sondern schluckte lediglich. Er starrte noch immer auf die Worte vor sich. Seine Augen klebten an dem Satz, der von einer schwangeren Angela Ryans sprach. Von einem toten Baby, das nicht einmal die Chance auf Leben gehabt hatte, weil jemand seiner Mutter aus einem noch unbekannten Motiv eine Kugel in den Schädel gejagt hatte.

„Erde an Brice? Hörst du mir überhaupt zu, du Idiot?“

„Klar...“, erwiderte er abwesend. Sein Blick wanderte unterdessen zu dem Foto herunter, das den Tatort zeigte. Abgebildet war das Gesicht der schwarzhaarigen Angela Ryans mit einem feinen, runden Kreis auf ihrer Stirn und einem Blutsee auf dem Holzboden unter ihr. Aber es war die Spiegelung in dem Blut, die Brice beschäftigte und ihm die Nackenhaare aufstellte. Es war die einer Frau mit einem enormen Hut auf dem Kopf. Das einzelne Auge starrte ihn aus der Schnappschuss heraus an, als würde sie jeden Moment aus dem Foto steigen.

„S-Susan...“ Brice war aufgesprungen, schob seinen Teller beiseite und klatschte die Zeitung auf die Tischplatte. Fiebrig sah er auf und deutete mit dem Finger wiederholend auf das Bild. „Komm’ her! Schau dir das Bild an. Schau es dir an!“

„Du hast mir kein bisschen zugehört“, murrte Susan, erhob sich jedoch trotzdem und umrundete den Tisch. Dann hob sich ihre Augenbraue und sie zuckte mit den Schultern. „Was? Eine tote Frau. Kennst du die oder was?“

„Nicht die Frau, die Spiegelung im Blut“, beharrte er, woraufhin Susan abermals skeptisch das Foto musterte.

„Da ist keine Spiegelung, Brice.“ Sie sah ihn an, als wollte er sie auf den Arm nehmen.

Brice bemerkte es nicht, denn er starrte nur verwirrt auf das Foto herunter.

„Ich hab’ dir doch gesagt, dieser Schlafrhythmus tut dir nicht gut.“ Mit den Augen rollend kehrte Susan zu ihrem Stuhl zurück und begann ihr eigenes Brötchen zu schmieren, während auch Brice sich wieder sinken ließ.

Abwechselnd schaute er von Susan und dem Bild Angela Ryans hin und her. Es gab tatsächlich keine Spiegelung. Es war nur Blut. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei war er felsenfest sicher gewesen eine gesehen zu haben - genauso wie heute Morgen, als er die Augen geöffnet hatte. War er dabei den Verstand zu verlieren? Oder lag es tatsächlich an seinem Schlafrhythmus?
 


 

IV
 

Die öffentliche Bücherei von Fairburrow befand sich in dem kleinen Stadtzentrum direkt gegenüber der Feuerwache. Es war ein einstöckiges Gebäude, das nur einen Eingang besaß. Und das, obwohl es neben der Bibliothek auch noch ein paar andere Räumlichkeiten für diverse Veranstaltungen innerhalb der Gemeinschaft von Fairburrow beherbergte.

Brice kannte dieses Gebäude wie seine Westentasche. Dabei schlug er nur selten ein Buch auf und benutzte seine Karte fast ausschließlich dafür, sich an einen der öffentlichen Computer im hinteren Teil zu setzen. Zwar hatte er selber einen Laptop, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Vor Menschen, die genug Geld hatten, um einen Auftragskiller anzuheuern, musste man sich in Acht nehmen. Auch, wenn Brice niemals direkten Kontakt zu seinen Klienten hatte, sondern der geschäftliche Teil durch einen Mittelmann ausgehandelt wurde. Doch selbst mit Alexey wollte Brice lieber auf Nummer sicher gehen Deshalb vermied er es auch weiterhin, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen.

„Schönen Nachtmittag, Mister Lamar.“

Er erwiderte das höfliche Lächeln der braunhaarigen Bibliothekarin, als er sich auf dem Stuhl sinken ließ. Obwohl er Anonymität vorzog, ließ es sich nicht vermeiden, dass gewisse Leute ihn hier bereits kannten. Fairburrow mochte eine Vorstadt sein, aber wenn man seit Jahren die Bücherei wegen Nachforschungen besuchte und Bücher auslieh, die man bei sich zu Hause ins Regal legte und beim nächsten Mal ungelesen zurückgab, ließ es sich nicht vermeiden ein bekanntes Gesicht zu werden. Solange sie ihm nicht über die Schulter sahen, war es Brice jedoch vollkommen gleich.

Kurz sah er sich um und nahm die Menschen um ihn herum in Augenschein, die ebenfalls an den Computern saßen. Erst danach bewegte er den Mauspfeil zu dem Internetsymbol herüber, um dort die Nachrichten zu lesen. Für gewöhnlich informierte er sich nicht über seine Zielpersonen, nachdem er sie ausgeschaltet hatte, doch für gewöhnlich waren auch keine schwangeren Frauen darunter. Er mochte vielleicht als Abschaum der Gesellschaft gelten, als Monster sogar, aber selbst er hatte gewisse Prioritäten. Eine untersagte ihm, sich an Menschen mit Kindern zu vergreifen. Diese waren tabu. Bisher hatte er noch jeden Auftrag abgelehnt, wenn er herausgefunden hatte, dass seine Zielperson entweder eine Mutter oder ein Vater war. Kinder waren unschuldig und sollten nicht ständig für die Taten ihrer Eltern bestraft werden. Das gab es bereits zu häufig in dieser Welt. Das hatte er am eigenen Leib erfahren und das würde er auch nicht vergessen. Konnte er auch gar nicht, denn in dem Gesicht jedes Kindes spiegelte sich unwillkürlich das seines Bruders wieder.

Brice stützte das Kinn mit dem schmalen Bärtchen auf die Handfläche und klickte sich durch die Artikel, die Google ihm ausgespuckt hatte. Er überflog sie alle desinteressiert. Der eine ähnelte sowieso dem anderen und beinhaltete nichts, was Brice in irgendeiner Art und Weise interessierte.

In einem Interview berichtete der Polizeichef darüber, dass es das Werk eines erfahrenden Täters gewesen war. Spuren wurden bisher jedoch keine gefunden, doch die Untersuchungen waren noch nicht abgeschlossen.

Ein anderer Artikel ratterte Angela Ryans’ Lebenslauf herunter. Angefangen von der Grundschule, die sie besucht hatte, bis hin zu der Freiwilligkeitsarbeit, die sie in einem Kinderheim absolviert hatte. Zusammengefasst war Angela Ryans ein Engel, der keiner Fliege etwas tun und gegen den niemand einen Gräuel hegen konnte. Zumindest keiner, außer ihr ehemaliger Ehemann. Auf dessen namentliche Erwähnung stieß Brice erst sechs Artikel später.

Terrence Donovan.

Kein Wunder, dass ihm diese Angela nichts gesagt hatte, wenn sie nach der von ihr eingereichten Scheidung, ihren Mädchennamen angenommen hatte. Mister Donovan war schließlich nicht unbekannt, sondern zufällig der Besitzer einer der bestbesuchtesten Restaurantketten des Südostens.

Brice konnte sich an ein Interview mit ihm erinnern, als er vor einigen Jahren das erste Morena-Restaurant eröffnet hatte. Terrence Donovan hatte die Gelegenheit genutzt, um feierlich zu verkünden, dass dies der Name seiner verstorbenen Mutter sei. Diese hatte laut Donovan Spezialitäten mit Meeresfrüchten und Fisch zu Lebzeiten geliebt.

Die Nachrichtensprecherin war hin und weg gewesen und wie Butter in der Sonne geschmolzen. Doch Brice war sich sicher, dass der hochgewachsene Donovan mit den stechenden Augen nicht ganz das Muttersöhnchen war, das er vorgegeben hatte zu sein. Er war Brice schon damals unsympathisch gewesen.

Und obwohl ihm sein Verstand sagte, dass er es darauf belassen sollte, erwischte sich Brice dennoch dabei, sein Mobiltelefon aus der Hosentasche zu ziehen. Es war ein Prepaid Handy, das er aufgrund Sicherheitsmaßnahmen alle paar Monate ersetzte.

„Hey, Shelly“, begann er mit leiser Stimme, nachdem am anderen Ende sein Anruf beantwortet wurde. „Ich brauche ein paar Informationen zu einem Typ namens Terrance Donovan. Kannst du mir die besorgen?“

Ein amüsiertes Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung, gefolgt von dem Klappern einer Computertastatur. „Gab es schon mal jemand, über den ich nichts rausfinden konnte? Aber Terrance Donovan? Was hat der dir getan? Hast du dir ’ne Fischvergiftung in seinem Restaurant geholt? Muss dir sagen, dass ich nicht weiß, ob das ein guter Grund ist, ihn umzulegen, Brice.“

Ein Mundwinkel hob sich, als Brice das Internetfenster schloss. „Das ist es nicht.“ Er erhob sich und durchquerte die Bücherei. Zum Abschied hob er die Hand, als er an der Bibliothekarin vorbeiging. „Ich bin eher an seiner Ehe mit Angela Ryans interessiert.“

„Ryans?“, wiederholte Shelly mit kratzenden Stimme, durch die Brice ihn schon seit ihrem ersten Gespräch in seinen Fünfzigern einschätzte. „Hat es was mit der Schwangerschaft zu tun? Hey, du kennst das Motto! Hinterfrage nie die Aufträge. Das kann dich Kopf und Kragen kosten! Frag, Alexey, der gibt dir das sicherlich gerne noch mal schriftlich.“

„Alexey muss nichts davon erfahren. Und Sorgen machen brauchst du dir auch nicht. Zu dir kommen die nicht, falls etwas schief geht“, erwiderte Brice, als er die Straße überquerte, wo sein schwarzer Ford stand.

Niemand konnte Shelly so schnell mit ihm in Kontakt bringen, so viel stand fest. Shelly wusste, wie er seine Spuren zu verwischen hatte. Abgesehen davon, dass Brice ohnehin nicht den Mann hinter der Stimme kannte. Er hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen, da die einzige Verbindung über das Telefon und E-Mail bestand. Auch hier kümmerte sich sein Mittelmann Alexey Pawlow um den geschäftlichen Teil, der den Kontakt zwischen beiden Männern überhaupt erst hergestellt hatte.
 


 

V
 

„Wie seh’ ich aus?“

Brice, der auf Susans Sofa saß und Football schaute, sah kurzzeitig auf, um seine im Türrahmen stehende Freundin zu mustern. Sie trug ein trägerloses Kleid, das genauso rot war wie ihre Haare. Es erinnerte ihn an das Blut, das sich um Angela Ryans’ Kopf ausgebreitet hatte. Dazu hatte sie ihre Augen stark geschminkt und Lippenstift aufgetragen. Das wiederum erinnerte ihn an diese Ausgeburt seiner Fantasie, die er heute Morgen beim Aufwachen und in dem Foto der Zeitung gesehen hatte.

Noch immer vermochte er sich keinen Reim daraus zu machen. Andererseits zwang er sich dazu, nicht allzu viel hineinzuinterpretieren. Es war Unsinn. Nichts weiter als ein Hirngespinst.

Eine Weile starrte er noch nachdenklich in Susans Gesicht, dann wandte er den Blick wieder dem Footballspiel zu. Dort legten die 49ers gerade einen Touchdown hin und gingen somit in Führung. „Du siehst gut aus.“

Ein Schnauben seitens Susans folgte. „Danke für das Interesse. Manchmal weiß ich gar nicht, warum ich mich mit dir abgebe, Brice.“ Sie nahm ihre Handtasche vom Haken neben der Eingangstür und kam zu ihm herüber. Keine Sekunde später nahm sie ihm die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus. „Dabei könnte ich jeden haben!“ Sie schüttelte den Kopf. „Komm jetzt, ich will nicht zu spät da sein.“

Seufzend erhob sich Brice und folgte ihr aus der Wohnung und zu seinem Wagen, der am Straßenrand vor dem Wohnhaus stand.

„Warum muss ich noch mal mit, wenn du deine Freundin treffen willst?“, erkundigte er sich, als sie einstiegen und er den Wagen in den Verkehr einreihte.

Er ging gerne mit ihr aus, aber machte sich nur ungern die Mühe einen Anzug herauszusuchen, um den Abend mit zwei schnatternden Weibern zu verbringen. Aber er war sich sicher, dass Susan das wusste und seine Meinung sie einfach nicht interessierte.

„Mandy hat endlich einen neuen Freund und sie will, dass ich ihn kennen lerne“, erklärte Susan. Ganz so, als sollte Brice es eigentlich besser wissen als nachzufragen. „Damit er nicht so alleine ist, bist du da. Ihr könnt euch über Baseball unterhalten. Mandy meinte, er ist ein riesiger Fan.“

„Ich mag überhaupt kein Baseball, Susan.“ Brice bog auf eine andere, verlassenere Straße ein. Dabei warf er einen kurzen Blick auf den GPS, der sie zu dem Restaurant bringen sollte, in dem Susan Reservierung für vier gemacht hatte.

Wenigstens war es nicht das Morena. Brice hätte ungern einem Typen wie Terrence Donovan zu weiterem Umsatz verholfen.

„Heute Abend schon“, nahm Susan inzwischen ihr Gespräch wieder auf, nachdem sie sich noch einmal die Haare gekämmt hatte. „Tu es für mich, Brice. Dann hast du was gut bei mir.“ Nicht einmal der anzügliche Ton in den letzten Silben konnte Brice’ Laune heben.

„Dann mus-“ Erschrocken riss er das Lenkrad herum und trat auf die Bremse, als eine Gestalt mit einem enormen Hut auf die Fahrbahn trat.

Mit quietschenden Reifen schlitterte der Ford über die Straße. Brice’ Fuß drückte das Bremspedal durch, so dass der Wagen schließlich halb auf Gehweg zum Stehen kam.

Susan sah ihn entgeistert von der Seite an. „Was zum Teufel...?“

Doch Brice hatte bereits die Autotür geöffnet und war ausgestiegen. Mit hämmerndem Herzen sah er sich um. Doch die Straße sowieso der Gehweg war verlassen. Keine Menschenseele war weit und breit zu entdecken. Nein, da war nichts außer die Finsternis, die selbst alle Geräusche zu verschlucken schien. Das einzige Licht kam von den Scheinwerfern des Fords, die sich irgendwo in der Dunkelheit verloren.

Tief einatmend fuhr sich Brice mit einer Hand über das verschwitzte Gesicht. Er hätte schwören können, er hätte jemanden gesehen. Halluzinierte er? Oder was war heute los mit ihm?

„Was war das?“, zischte Susan, die nun ebenfalls ausgestiegen war und über das Wagendach hinweg zu ihm herüber starrte. Ihre Haare waren zerzaust und Brice konnte selbst in den schlechten Lichtverhältnissen das Zucken ihres linken Augenlids sehen. „Kannst du mir das mal erklären, Brice? Du kannst doch nicht einfach so eine Bremsung hinlegen!“

„Eine... Ratte oder so ist mir vors Auto gelaufen.“ Eine klägliche Ausrede, das wusste Brice selbst.

„Willst du mich verarschen? Anstatt ein Nagetier umzufahren, spielst du lieber mit unseren Leben? Verlierst du jetzt völlig den Verstand?“ Wütend setzte sie sich wieder in den Wagen und knallte die Autotür zu.

Seufzend tat Brice es ihr gleich, nachdem er noch einen letzten unruhigen Blick über die Umgebung hatte wandern lassen.
 


 


 

VI
 

„Also, was machst du beruflich, Nicolas? Erzähl doch mal!“, entrann es Susan, als sie zu viert an einem der feingedeckten Tische in dem von leisen Stimmengewirr durchzogenem Restaurant saßen. Susan und Brice auf der einen, Mandy und Nicolas auf der anderen Seite, während der Kellner die Teller abräumte.

Auf Susans Frage hin stieß ihr Brice sachte den Ellenbogen in die Seite.

„Was?“, entfuhr es ihr. „Immerhin muss ich doch wissen, ob Nicolas auch für Mandy finanziell sorgen kann, sollte es ernst zwischen ihnen werden.“

Am liebsten hätte Brice sich die Hand gegen die Stirn geschlagen. Konnte man denn noch dreister und direkter sein? Abgesehen davon, dass es sie seiner Meinung nach nicht einmal etwas anging. Beste Freundin hin oder her.

„Das ist schon in Ordnung, Susan“, lenkte Nicholas ein und lächelte über sein Weinglas hinweg.

Im Vergleich zu Susan brauchte Brice ihn nur ansehen, um zu wissen dass er eine Menge Geld besaß. Er benahm sich immerhin schon wie ein Snob und auch sein Anzug sprach für ein hingeblättertes Vermögen.

„Ich unterrichte amerikanische Geschichte an der Fairburrow Privatschule“, bestätigte Nicolas Brice’ Verdacht und richtete bedeutungsvoll die Brille auf seiner Nase.

„Oh!“, machte Susan begeistert. Ein Grinsen breitete sich daraufhin auf ihren Lippen aus.

Brice rollte dagegen mit den Augen, während er den vorbeilaufenden Kellner nach der Rechnung bat.

„Richtig gebildet, also“, fasste Susan zusammen. „Da solltest du dir mal ein Scheibchen abschneiden, Brice. Hier sitzt ein Mann vor dir, der aus seiner Intelligenz etwas gemacht hat im Gegensatz zu dir, Mister Nachtwächter.“

Es kam nicht überraschend, weshalb Brice ungestört seine Brieftasche herausholte. „Sagt die, die seit ihrer Schulzeit in einem Kegelcenter arbeitet.“

„Das geht auf mich“, unterbrach Nicolas, so dass Brice misstrauisch zu ihm herübersah.

Er hatte erwartet, dass er zahlen musste. Susan schröpfte ihn ständig, obwohl er in ihren Augen weniger als sie selbst verdiente. Brice wollte überhaupt nicht daran denken, was sie unternehmen würde, wenn sie von der Summe wüsste, die sich auf einem separaten Bankkonto befand. Jenes hatte Alexey für ihn angelegt, als er ihn zum stillen Mitbesitzer von Pawlow’s Gun Palace gemacht hatte. Immerhin musste das Geld gewaschen werden, weil ihm ansonsten irgendwann der Steuerbeamte im Nacken sitzen würde. Gefolgt von der Polizei.

Brice zuckte mit den Schultern, während er in aller Ruhe sein Weinglas leerte. „Da sage ich sicherlich nicht nein.“

„Ist er nicht ein richtiger Gentleman?“, entrann es Mandy kichernd, als Nicolas jenem Kellner zum Tresen folgte, um seine Debitkarte durchziehen zu lassen.

Brice sah diesem Trottel mit weißem Anzug und pompösen Gang hinterher, ehe er seinen Blick auf Mandy richtete. Verglichen mit Susan war sie eine kleine graue Maus, so dass es fast erstaunlich war, dass jemand wie Nicolas sie überhaupt bemerkt hatte.

Mandy Calton bestand aus dezentem Make-up, einem Büschel unbändigem, nussbraunem Haar und einem schwarzen Kleid, welches das bisschen an Oberweite, das sie aufwies, noch zu verstecken wusste.

„Ja, ganz anders als Brice hier!“, stichelte Susan und streckte ihm die Zunge heraus, als er ihr auf den Kommentar hin einen genervten Blick zuwarf.

„Weißt du, wenn du-“ Abermals an diesem Tag wurde Brice unterbrochen, nur diesmal war es nicht eine Gestalt auf der Straße, sondern sein Mobiltelefon. Es klingelte in seinem Standardton, weil Brice sich nicht die Mühe machte, für ein paar Monate einen anderen einzustellen.

„Entschuldigt mich.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, erhob er sich und suchte sich den Weg zwischen den besetzten Tischen hindurch.

Er trat hinaus ins Freie, wo die kühle Nachtluft einen bereits den vor der Tür stehenden Herbst spüren ließ.

„Shelly“, beantwortete er den Anruf, nachdem er sich vergewissert hatte, ungestört zu sein. Doch abgesehen von einigen vorbeifahrenden Autos war die Straße wie leergefegt.

„Willst du Donovans Lebenslauf oder soll ich dir die Details, wo er aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, sparen und gleich zu seiner turbulenten Ehe mit Ryans übergehen?“, meldete sich Shellys Stimme. Dieses Mal war das Klicken einer Computermaus im Hintergrund zu vernehmen.

„Turbulent klingt interessant.“ Inzwischen hob Brice den Blick zu dem sternenklaren Himmel über Fairburrows Straßen. Da es hier keine Häuser mit mehr als drei Stockwerken gab, hatte man einen freien Blick auf das Firmament. Und obwohl Brice kein Lehrer sein mochte, nie etwas aus seiner angeblichen Intelligenz gemacht hatte, konnte er trotzdem einige Sternenbilder erkennen. In Gedanken verband er die hellen Punkte, die den großen Wagen ausmachten.

„Das fand ich auch“, meldete sich Shelly unterdessen. „2002 gab Donovan die Verlobung bekannt und zwei Monate später fand bereits die Hochzeit statt. Die nächsten sieben Jahre ihrer Ehe verliefen unspektakulär - zumindest konnte ich darüber nichts finden. Doch interessant wird es im Sommer 2009. Laut einigen alten Zeitungsartikeln, begeht Melora Ryans, Angela Ryans’ jüngere Schwester, Selbstmord. Angela ist diejenige, die sie findet. In den darauffolgenden Monaten hat sie eine Fehlgeburt und wird mehrmals wegen Panikattacken ins Krankenhaus eingeliefert.“

„Panikattacken?“, wiederholte Brice und zog die Augenbrauen zusammen. Auf ihn hatte diese Frau überhaupt nicht panisch gewirkt. Viel eher das genaue Gegenteil, wenn er sich richtig erinnerte. Es war als wäre sie vorbereitet gewesen. Als hätte sie gewusst, dass er kommen würde. Andere betteln um ihr Leben, flehen ihn an sie zu verschonen, doch Ryans hatte lediglich ihre Einkaufstüten beiseite gestellt. Das, und von einem Happy End gesprochen, das nicht für sie beide nicht bestimmt war.

„Ja, den Unterlagen des Krankenhauses zur Folge litt sie unter Wahnvorstellungen, die auf den Tod ihrer Schwester zurückzuführen sind. Paranoia oder so was. Deswegen hat Donovan sie sogar Anfang 2010 in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen.“

„Was für Warnvorstellungen waren das?“, fragte Brice.

„Hier steht,... sie hat eine Frau gesehen, die sie verfolgt hat. Warum ist das wichtig, mh?“

„Wird sie beschrieben?“ Noch während Brice das fragte, bemerkte er das Beben in seiner Stimme. Er hielt den Atem an in dem Wissen, dass Shelly es ebenfalls gehört haben musste.

„Alles in Ordnung?“, entwich es diesem.

„Natürlich.“

Einen Moment herrschte drückendes Schweigen zwischen ihnen.

„Na schön...“, sagte Shelly schließlich. „Ryans’ Fantasiegestalt war eine schlanke Frau mit schneeweißer Haut, einem einzigen Auge, roten Lippen, einer Glatze, einem Hut, der mit Früchten bestückt war, und verschlissenen Fetzen am Leib. Mehr steht hier nicht. Total albern, wenn du mich fragst.“

Jegliche Worte, die Brice eventuell hatte sagen wollen, blieben ihm im Hals stecken. Sie drohten ihm die Luft abzuschnüren, egal wie oft er schluckte.

„Brice? Bist du noch dran, Brice?“

„Schick’ mir einfach alle Informationen, die du hast“, brachte er schließlich krächzend hervor, ehe er den Anruf beendete.
 


 

VII
 

Mit flinken Fingern zog Brice seine Werkzeuge zum Lockpicking heraus, die er einem versteckten Fach im Kofferraum seines Fords entnommen hatte. Dann begann er bereits das Schloss zu öffnen.

Bereits nach kurzer Zeit war ein leises Klicken zu vernehmen und er konnte die Tür aufschieben. Mit einem letzten Blick in den dunklen Hausflur duckte er sich unter das gelbe Absperrband hinweg und verschwand in Angela Ryans’ Wohnung.

Eigentlich wusste er, genauso wie jeder, der in dieser Branche etwas von seiner Arbeit verstand, dass der Täter niemals zum Ort des Verbrechens zurückkehren sollte. Das konnte ihm Kopf und Kragen kosten.

Trotzdem war Brice hier und zog die Gardinen der Wohnzimmerfenster bestimmend zu, ehe er seine Taschenlampe einschaltete.

Er hatte keine Ahnung, warum er hier war oder was er zu finden glaubte, doch nachdem was ihm Shelly über das Telefon gesagt hatte, hatte er einfach kommen müssen. Denn wie konnte es ein Zufall gewesen sein, dass Brice genau dasselbe sah wie Ryans? Das war so gut wie unmöglich – egal, wie gerne er es sich einreden würde.

Ohne sich weitere Gedanken darum zu machen, was sein Aufenthalt an diesem Ort für Konsequenzen mit sich bringen konnte, begann er das Apartment zu durchsuchen.

In dem kleinen Wohnzimmer angefangen öffnete er jede Schublade, schaute hinter jedes Bild und untersuchte jedes Möbelstück. Darunter auch den Lieblingssessel der Frau, deren Umrisse auf den Holzboden gemalt worden waren.

Als er nichts Brauchbares finden konnte, wechselte er zum Esszimmer und schließlich sogar ins Schlafzimmer. Er führte in jedem Raum dieselbe Prozedur durch.

Letztendlich wurde er jedoch nirgends fündig, so dass er sich schließlich schwer auf der Kante des Bettes niederließ. Es war mit rosafarbenem Seidenbettzeug bezogen worden. Allerdings wusste er das bereits, da er sich inzwischen relativ gut in der kleinen Wohnung auskannte.

In den vergangenen Wochen hatte er kaum etwas anderes getan, als Ryans’ Gewohnheiten auszuspionieren. Dafür waren jene Abhörgeräte und Kameras nützlich gewesen, nach denen Brice in den anfänglichen Jahren seiner Karriere noch in seiner eigenen Wohnung gesucht hatte, da er sich stets beobachtet gefühlt hatte. Die hatte er jedoch am selben Abend, an dem er Ryans aufgelauert hatte, wieder abmontiert und eingesteckt. Es war lästig, aber unvorbereitet an einen Auftrag heranzugehen könnte unter Umständen noch lästiger werden.

Brice wollte gerade aufstehen und gehen, als er die Klimaanlage automatisch angehen hörte. Sie ratterte monoton vor sich hin. Scheinbar hatte niemand daran gedacht sie auszuschalten, seit Ryans’ Tod.

In diesem Augenblick schoss ihm eine Idee in den Kopf. Er richtete den Schein der Taschenlampe auf den Schacht. Dieser befand sich über dem Türrahmen und bei näheren Überlegungen genau im toten Winkel seiner Kameras.

Abermals stieg Adrenalin in ihm hoch und flutete seine Venen. Hektisch zog er den Stuhl heran, der neben der Tür stand, und ignorierte die von der Lehne fallende Bluse. Sich die Taschenlampe zwischen den Zähnen klemmend stieg er auf ihn. Zeitgleich fischte er seine Autoschlüssel aus der Hosentasche und löste mit einem Schlüssel die Schrauben der Klappe. Anschließend zog er das Gitter von dem quadratischen Schacht ab. Kalte Luft blies ihm sogleich um ein Vielfaches entgegen, als er hineinschaute.

Aber er wurde nicht enttäuscht. Das war die Hauptsache.

Ein Grinsen zeigte sich auf seinen Lippen, das sein Gesicht zu einer Grimasse formte, da er die Taschenlampe noch immer im Mund hielt.

Er zog das schwarze Buch heraus und warf es auf das Bett, ehe er alles in den Urzustand zurückversetzte. Erst danach wandte er sich wieder dem Notizbuch zu.

Da hatte scheinbar jemand mit allen Mitteln verhindern wollen, dass dieses Schmuckstück gefunden wurde. Wie gut, dass Frauen oftmals dazu tendierten Tagebücher führen zu müssen. Nur Susan tat es nicht - aber Ausnahmen bestätigten bekanntlich die Regeln.

Er wollte sich gerade wieder auf dem Bett niederlassen und das Buch durchblättern, als ihn ein leises Klopfen zusammenfahren ließ.

Erschrocken richtete er den Lichtstrahl auf das einzige Fenster des Zimmers, während er stocksteif darstand. Dessen Gardine hatte er zuvor ebenfalls zugezogen gehabt. Es war unmöglich, das war Brice klar, doch er konnte schwören, dass das Klopfen aus dieser Richtung gekommen war. Hatte er sich das auch nur wieder eingebildet? Sie befanden sich hier immerhin im dritten Stock. Feuerleitern gab es auch keine.

Klopf, klopf.

Brice’ fuhr zusammen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Blick fest auf das Fenster gerichtet, als er zögernd herübertrat. Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er es nicht tun sollte, er es am besten einfach ignorierte. Trotzdem fand sich nach der Gardine greifen.

„Oh Gott...!“ Es war nur ein Murmeln, während der Kopf vor der Scheibe sich zur Seite legte. Er schien nicht an die menschliche Anatomie gebunden zu sein, wenn man die Drehung beachtete.

Das Auge starrte ihn ausdruckslos an, während die andere Hälfte des kreidebleichen Gesichts in den Schatten, außerhalb seines Lichtstrahls, lag. Er wollte ihn verändern, fand sich jedoch in seiner Haltung eingefroren.

Seine einzige Bewegung stellte ein Beben dar, das durch seinen Körper fuhr und bis in seine Hand ging. Es ließ das Licht der Taschenlampe wackeln.

Zum ersten Mal konnte Brice einen besseren Blick auf die Gestalt werfen und bemerkte den riesigen Hut, der mit Früchten bestückt war. Darunter Trauben, Kiwis, Äpfel und andere Früchte, während von der hautengen Kette an ihrem Hals Kirschen baumelten.

Als sie plötzlich die Hand in einer abgehackten Geste hob, um mit den krallenartigen Fingern in einem durch Mark und Bein gehenden Ton an der Scheibe zu kratzen, nahm Brice reißaus.

Die Taschenlampe rutschte aus seiner Hand, doch er fing an zu rennen, durch die Wohnung zur Tür, wo er sich in dem Absperrband verhedderte und es abriss. Er schüttelte sich, als wollte er sich von einem hineingerannten Spinnennetz befreien. Danach strauchelte er die Stufen des Hausflures in der Finsternis herunter.

Die heruntergefallene Taschenlampe in Angela Ryans’ Wohnung begann derweil zu flackern, ehe sie gänzlich erlosch.
 


 

VIII
 

Jedes Licht innerhalb von Brice’ Apartment brannte und verströmte eine angenehme Wärme, ein Gefühl der Geborgenheit. Genauso tat es die schwarze Pistole, seine Nighthawk, die neben Brice mit Schalldämpfer auf dem Bett ruhte. Griffbereit, entsichert. Sie war seine treuste Gefährtin. Gleichzeitig war da das Wissen, dass sie sich sofort gegen ihn stellen würde, würde sie in die Hände eines anderen fallen. Eine Waffe war eben doch nur zum Töten und nicht zum Beschützen gemacht. Das hatte Brice schon vor einer langen Zeit lernen müssen.

Jeder erinnerte sich an die erste Person, die er auf dem Gewissen hatte. Niemand vergaß das Gesicht des Menschen, den er zum ersten Mal eine Kugel verpasst hatte. Schon gar nicht, wenn diese Person der eigene Vater gewesen war.

Damals hatte er seinen Bruder beschützen wollen, immerhin war Jesse erst acht Jahre alt gewesen. Unschuldig, ein Kind eben. Aber seinen Erzeuger hatte das nicht gekümmert, er hatte sich schon immer an kleineren vergriffen gehabt. An Menschen, die sich nicht gewehrt und die seine Launen schweigend hingenommen hatten.

Zumindest so lange, bis Brice nach dem Gewehr gegriffen hatte. Sein Vater hatte ihm das Schießen selbst beigebracht, es war das einzige, was er Brice jemals gelehrt hatte.

Noch bis heute erinnerte er sich an das Geräusch, als der Schuss gefallen war. Genauso wie an den Rückstoß, der ihn beinahe von den Beinen geholt hatte. Das Loch in der Brust seines Erzeugers war ein Krater gewesen. Doch das, an was sich Brice am Genausten erinnerte, war an seine Mutter am Telefon mit der Polizei und an die Sirenen kurze Zeit später.

Auf Menschen konnte man sich eben doch nicht verlassen. Bei einer Schusswaffe wusste man dagegen genau woran man war. Man wusste, unter welchen Umständen sie einen verraten würde.

Brice war noch eine ganze Zeit in seinem Ford durch die Straßen von Fairburrow gerast, immer wieder einen Blick in den Rückspiegel werfend und unruhig mit den Fingern auf das Lenkrad trommelnd. Das Tagebuch von Angela Ryans hatte auf dem Beifahrersitz gelegen und Brice’ Nerven damit alles andere als beruhigt. Einerseits hatte in ihm der Drang geherrscht hineinzuschauen, andererseits hatte er einfach das Fenster herunterkurbeln und es hinausschmeißen wollen.

Aber das alles konnte auch nur ein geschmackloser Scherz sein. Irgendein Trick, um ihn aus dem Weg zu räumen. Irgendjemand wollte, dass er einen Fehler beging. Eventuell hofften sie auch einfach, dass er sich einfach die Kugel gab.

Sobald er nach Hause gekommen war, hatte er seine Nighthawk in der Hand gehabt und hatte jedes Licht angeschaltet. Er hatte sein Laptop aus dem Wohnzimmer geholt und sich im Schlafzimmer auf dem Doppelbett verschanzt.

Auf diesem saß er auch zum gegebenen Zeitpunkt noch. Die Tür zum Flur stand offen und gab ihm somit einen uneingeschränkten Blick ins Wohnzimmer sowie auf die Eingangstür.

Brice fand sich immer wieder in diese Richtung blickend, als wollte er sichergehen, dass er noch immer alleine war. Dass da auch wirklich keine seltsame Gestalt mit einem Früchtehut und einem ausdruckslosen Auge stand.

Nebenbei ging er seine E-Mails durch, blieb jedoch an der von Shelly hängen und überging die von Alexey, die ihn über einen neuen Auftrag informierte. Für gewöhnlich las er diese immer als erstes, diesmal schenkte er ihr jedoch keinen zweiten Blick.

Shellys Informationen waren wichtiger. Sie stellten den Grund dar, warum er den Laptop überhaupt eingeschaltet hatte.

Brice’ Augen huschten über den Inhalt, Zeile für Zeile, obwohl sein Absender ihm das Interessanteste bereits über das Telefon mitgeteilt hatte. Er überflog auch noch einmal die Beschreibung der Halluzination, die Ryans gehabt hatte.

Allerdings klappte er den Laptop bereits kurze Zeit später mit zittrigen Fingern zu. Stattdessen nahm er das Tagebuch zur Hand und warf abermals einen Blick zur Tür.

Er hatte sich das doch wirklich nur eingebildet, oder? Wie hatte das Ding sonst im dritten Stock außerhalb des Fensters einfach so in der Luft stehen können? Es musste eine Warnvorstellung sein. Oder ein Traum. Ein Alptraum.

Er kniff sich in den Arm, doch die einzige Reaktion blieb ein scharfes Lufteinziehen. Danach schüttelte er knapp den Kopf und öffnete das Buch. Was hatte er auch erwartet?

Die Einträge waren alles andere als einheitlich, sowieso in der Länge, als auch in den Daten, in denen sie niedergeschrieben wurden. Doch Brice interessierte sich sowieso nur für einen ganz bestimmten Zeitraum, weshalb er zum Sommer 2009 vorblätterte. Fündig wurde er nicht. Zwischen Juni 2009 bis Juli 2010 war kein Eintrag von Ryans geschrieben worden.

Wieder wandten sich Brice’ Augen von dem Tagebuch ab, sahen auf und wanderten durch den Teil seiner Wohnung, den er vom Bett aus sehen konnte, ehe sie zur Seite zurückkehrten.

„10. Juli. Terrence sagt, sie entspringt meiner Fantasie. Dass sie nur ein Symptom von posttraumatischem Stress ist. Ich will ihm glauben, aber wie kann ich glauben, sie ist eine Halluzination, wenn sie mich anfassen kann? Wenn ich ihre eiskalte Hand gespürt habe, als sie meinen Arm gepackt hat? Wie, verdammt noch mal!?“

Dieser Eintrag ließ es Brice eiskalt den Rücken herunterlaufen. Was bedeutete das? Dass was-auch-immer-hinter-ihm-her-war nicht nur eine bloße Warnvorstellung war? Andererseits konnte eine Illusion auch nicht an Fensterscheiben kratzen, so dass der Laut jedes Haar am eigenen Körper sich aufstellen ließ.

Sich umsehend blätterte er die Seite um und überflog die Einträge, da er nicht an ihrem persönlichen Kram interessiert war.

„21. Juli. Die Tabletten von Dr. Williams helfen nicht. Warum verschreibt er sie denn? Warum verschwindet sie nicht, wenn sie angeblich nur in meinem Kopf existiert!? Sie soll endlich verschwinden und mich in Ruhe lassen!“

Zwischen diesem und dem nächsten Eintrag lag ein knapper Monat.

„18. August. [...] Kurz bevor Melora starb, hat sie gesagt, dass sie hier sei. Langsam verstehe ich, was sie meinte. Was ist, wenn Melora auch von ihr heimgesucht worden ist? Was, wenn sie der Grund für ihren Selbstmord war? Heißt das, dass sie auch darauf wartet, dass ich sterbe? Oder ist sie diejenige, die umbringt? Bin ich die Nächste...?“

Sie hatte wohl kaum die Nächste sein können, da Brice es war, der den Abzug gedrückt hatte und nicht dieses Ding, das einem schlechten Horrorschinken entfleucht sein könnte. Andererseits... tot war tot, was wiederum bedeuten würde, dass Brice selbst der Nächste war?

„22. August. Die Morgenübelkeit hat begonnen. Wird sie mir dieses Kind auch wegnehmen? Oder wartet sie, bis es geboren ist? Ich hoffe es sehr.“

„3. September. Ich habe Terrence eine Nachricht hinterlassen. Er hat das Recht zu erfahren, dass ich schwanger bin. Ich will, dass er es weiß, auch wenn ich nicht zu ihm zurück kann. Er versteht es einfach nicht. Er weiß nicht, was vor sich geht. Verübeln kann ich ihm seine Taten aber auch nicht, schließlich denkt er, es würde helfen mich in ärztliche Behandlung zu geben. Er will nur, dass es mir besser geht. Ich auch, aber Ärzte können wir nicht helfen. Niemand kann.“

„5. September. Simon ist der Einzige, der mir glaubt. Anders als ich hat Melora scheinbar ein besseres Händchen für Männer gehabt. Ich wünschte Terrence könnte auch einmal so sein wie Simon. Er hat Nachforschungen angestellt und ist dabei auf ein altes Foto gestoßen.“

Brice blätterte die Seite um, um das alte, ins Buch geklebte Foto ansehen zu können – und traute seinen Augen kaum. Ihm stockte unwillkürlich der Atem.

Es war die Frau mit dem Hut und dem blanken Gesicht. Nur auf dem Bild sah sie viel... menschlicher aus. Braunrotes Haar wallte unter dem extravaganten Früchtehut hervor und fiel ihr über die schmalen Schultern. Die Gesichtsform war dieselbe, schlank und markant. Nur ihre Lippen waren zu einem feinen Lächeln verzogen, als sie direkt in die Kamera schaute.

„Ihr Name ist Mare Kartz. Laut Simon ist sie in Fairburrow geboren und gestorben. Ihre Mutter, die an Schizophrenie litt, hat sie in ihrem Wahn umgebracht. Bereits wenige Tage später starb sie an einer Überdosis Tabletten in der psychiatrischen Anstalt, in die sie eingeliefert worden war.. Die beiden Schwestern, die sie gefunden hatten, wurden ebenfalls innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden tot aufgefunden. Genauso wie deren Familien in den darauffolgenden Tagen. Es sind alles Unfälle gewesen. Zumindest laut den Medien.“

„17. Oktober. Warum lässt sie mich nicht in Ruhe? Egal, wohin ich gehe oder was ich tue, sie ist immer da! Warte, bis mein Baby da ist, dann kannst du mich haben. Bitte!“

Das war der letzte Eintrag. Zwei Tage, bevor Brice in ihrer Wohnung auf sie gewartet hatte. Wissend, aber unwissend zugleich. Wie hatte ihm das alles entgehen können? Angelas Panik? Ihre Hoffnung und ihre Schwangerschaft? Und was bedeutete das für ihn?

Diese simple Frage sorgte dafür, dass ein Beben durch Brice’ Körper ging und seine Finger sich um seine Nighthawk schlossen.
 


 

IX
 

Als ein leises Knarren durch seine Wohnung schallte, schreckte Brice aus seinem Halbschlaf, in dem er nach stundenlangem Grübeln verfallen war.

Sofort saß er senkrecht auf dem Bett. Die Nighthawk lag noch immer in seiner Hand und der Lauf war auf die Tür gerichtet. Sobald er Schritte auf dem Parkettfußboden vernahm, wanderte sein Finger zitternd zum Abzug, obgleich seiner sonst so ruhigen Hand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als wollte es durch seinen Mund flüchten, um sein Leben zu retten.

Was, wenn sie es war? Was, wenn sie gekommen war, um ihn zu holen? Was, wenn er tatsächlich der nächste wäre?

Sein starrer Blick war auf den Türrahmen fixiert. Er schluckte nicht, er wagte es nicht einmal zu blinzeln.

„Das ist kein Problem, Mister Springs“, erklang eine Stimme aus dem Esszimmer.

Brice stieß den Atem aus, von dem er nicht gewusst hatte, ihn überhaupt angehalten zu haben. „Susan...“ Erleichterung brach über ihn rein und das Adrenalin machte Übelkeit platz.

„In Ordnung, dann bis morgen und einen schönen Tag noch.“ Damit knallte etwas auf den Tisch und für Brice klang es nach ihrem Handy. Er ließ die Waffe sinken und schob sie unter sein Kopfkissen, kurz bevor Susans das Schlafzimmer erreichte.

Sie stand einen Moment im Türrahmen, ehe sie näher an ihn heran trat. „Du bist wach.“

„Ich bin wach...“, wiederholte Brice und betrachtete seine Freundin eine Weile schweigend. In dem Moment, in dem sich ein verwirrter Ausdruck auf ihre Züge legte, zwang er sich zu einem Lächeln und griff nach ihrer Hand, um sie wortlos zu sich aufs Bett ziehen zu können.

Susan gab nach, obwohl ein Teil von Brice damit gerechnet hatte, sie würde protestieren. Aber nein, sie ließ sich neben ihm nieder und legte ihm nur spaßend eine Hand an die Stirn. „Fieber hast du keines.“ Ein Schmunzeln legte sich auf ihre schmalen Lippen. Dieses Mal fehlte der Lippenstift, wie Brice ins Auge fiel. Ohne ihn sah sie sowieso besser aus - das sollte er ihr eventuell irgendwann mal sagen.

Damals, als sie ihn in dem Kegelcenter, in dem sie arbeitete, angesprochen hatte, hatte sie ebenfalls keinen Lippenstift getragen. Zumindest nicht am ersten Tag. Die darauffolgenden dagegen schon.

Sie hatte ihm das erste Getränk stets spendiert, wenn er mal wieder alleine an einem der Tische gesessen und Fremden beim Bowlen zugesehen hatte. Vielleicht hatte sie Mitleid mit ihm gehabt. Vielleicht hatte sie auch einfach ihn für einsam gehalten. Vielleicht war er es sogar gewesen, als er seiner Zielperson gefolgt war.

„Nein, wieso?“ Eine seiner Hände wanderte in ihren Nacken und er zog sie in einen Kuss. „Ich dachte nur Frauen mögen ein bisschen Romantik“, murmelte er gegen ihre Lippen, zog sie an sich und lehnte sich selbst nach hinten an die Wand hinter dem Bett. „Oder sind das nur Frauen wie Mandy?“, fügte er neckend hinzu und legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab, als diese sich nach kurzem Zögern an ihn kuschelte.

„Nicht nur Mandys“, gab sie zu. „Aber mal ehrlich, Brice, was ist los? Da ist doch irgendwas. Ich kenne dich lange genug, um das zu bemerken, du Dummkopf.“

„Es ist nichts wirklich. Nur-“ Doch der Rest seines Gedanken blieb aus, verdunstete wie Wasser in der Sonne, als sein Blick neben sich aufs Bett fiel. Dort lag sein Laptop, doch das Tagebuch fehlte.

„Nur was?“ Susan sah auf und musterte ihn argwöhnisch, aber Brice’ Augen hefteten nur an der leeren Stelle neben sich.

Wo zum Teufel war es hin?

Hecktisch schob er die Rothaarige beiseite und lehnte sich über die Bettkante, um nachzusehen, ob es heruntergefallen sein könnte.

Nichts.

Vielleicht war es irgendwie unter das Bett gerutscht?

Er sah nach, ungeachtet von dem misstrauischen Blick Susans, die sich ebenfalls erhoben und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

„Brice, was ist los mit dir?“, entwich es ihr. „Du benimmst dich nur noch so merkwürdig! Erst das mit dem Foto, dann der halbe Unfall, weil du diese Ratte nicht überfahren wolltest. Und dann verschwindest du einfach aus dem Restaurant, dass ich Nicholas und Mandy anbetteln musste, mich nach Hause zu bringen – und jetzt das?“

Aber Brice hörte ihr nicht zu, sondern starrte unter das Bett, wo sich nichts außer einer dicke Staubschicht befand. Es konnte doch nicht einfach verschwinden? Es musste hier irgendwo sein. Es musste!

„Okay, ignorier’ mich!“, entwich es Susan. „Verdammt erwachsen, Brice! Ruf’ mich an, wenn du aufgehört hast, dich wie ein armer Irrer zu benehmen.“ Mit diesen Worten stapfte sie aus dem Schlafzimmer. Wenige Sekunden später knallte die Haustür zu.

Aber Brice stand nur weiter im Raum und ließ seinen Blick umherwandern.

Das Buch war spurlos verschwunden. Fast so, als habe es nie existiert. Doch Brice wusste es besser.

Es existierte! Genauso wie diese Frau mit dem Früchtehut, dem starren Augen und der anderen Gesichtshälfte, die er bisher noch nicht gesehen hatte.

Und er hatte das Gefühl, wenn er sie sah, er sterben würde.
 


 

X
 

„Es gibt Personen, die sollte man nicht an der Nase herumführen...“, entwich es Brice. Seine Stimme genauso kalt wie seine blauen Augen, wie sein bleiches Gesicht, in dem nicht ein Muskel zuckte. „Darunter fallen Menschen, die Zugang zu einer Waffe und keine Skrupel haben sie zu benutzen, Mister Donovan.“

„Wer sind Sie?“ Nur ein Stottern, das die Angst verriet, obgleich Brice es auch so in seinen Zügen und der Körperhaltung seines Gegenübers lesen konnte.

Der große Terrence Donovan, der seiner Restaurantkette den Namen seiner geliebten Mutter gegeben hatte, war nun klein mit Hut. Er saß mit schlotternden Knien auf seinem Sessel. Die Tasse mit Tee war längst auf dem Boden zerschellt und hatte Flecke auf dem Teppich hinterlassen.

„Ich bin der, den Sie beauftragt haben Ihre Exfrau umzubringen.“

„Sie sind verrückt!“, zischte er. Seine Finger krallten sich in die Armlehnen, als wollte er aufspringen, tat es aber nicht. Der auf ihn gerichtete Lauf der Nighthawk gebot ihm Einhalt. Insbesondere, als Brice sie mit dem Daumen entsicherte.

„Ich hab' nichts dergleichen getan!“

„Oh doch, das haben Sie...“, erwiderte Brice und fuhr mit den Fingern der anderen Hand dem Bärtchen an seinem Kinn nach. „Und ich kann auch ganz genau sagen warum.“ Er legte eine künstlerische Pause ein, da er sich einfach nicht an der Angst in dem Gesicht des anderen satt sehen konnte. Nicht bei Terrence Donovan.

„Sie dachten, Sie wären so schlau. Dass niemand dahinter kommen würde. Dass niemand das Puzzle zusammensetzen könnte. Leider haben Sie sich da geirrt, Mister Donovan.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen!“

Doch Brice konnte ihm ansehen, dass er es ganz genau wusste. Die Augen des anderen mieden seine und wanderten stattdessen aufgeregt durch das Zimmer. Schweiß stand ihm auf der Stirn, er war sichtbar im Schein der Lampe. „Das ist skandalös! Sie tauchen hier auf, halten mir eine Waffe an den Kopf und unterstellen mir, meine eigene Frau umgebracht zu haben!“

„Exfrau...“, korrigierte Brice. „Eine ziemlich intelligente Exfrau sogar. Nachdem Sie sie in die Psychiatrie eingeliefert haben, hat sie so getan, als wäre sie vollkommen in Ordnung, so dass sie schon nach einigen Monaten wieder entlassen wurde. Und das, obwohl sie alles andere als in Ordnung war, obwohl sie diese... Erscheinung immer noch gesehen hat. Sie hatte Angst, dass sie dahinter kommen und sie wieder einliefern lassen. Deshalb hat sie Sie verlassen. Wahrscheinlich mitten in der Nacht oder wenn Sie auf Arbeit waren, damit Sie sie nicht aufhalten. Dann hat Angela Scheidungspapiere fertig machen lassen. Sie haben versucht, dagegen anzukämpfen, doch sie kam Ihnen zuvor. Angela hat sich extra Melora Ryans Verlobten, Simon Monroe, als Anwalt genommen. Die hat nämlich genau dieselbe Gestalt gesehen, die sie sogar zum Selbstmord getrieben hat. Ihr Verlobter wusste davon und er glaubte Angela. Er hat sogar einen Arzt bestochen, um ein Schriftstück anfertigen zu lassen, das bestätigt, dass Angela mental vollkommen gesund sei. Sie haben Angela verloren. Sie verschwand und Sie konnten erst ihren Aufenthaltsort herausbekommen, nachdem Angela Sie kontaktiert hat, um Ihnen über die Schwangerschaft zu erzählen und ihnen klarzumachen, dass Sie nichts mit ihr oder dem Baby zu tun haben werden. Da haben Sie beschlossen, dass wenn Sie sie nicht haben können, dann keiner. Nicht wahr, Mister Donovan? War es nicht so?“

Als Brice endete folgte Schweigen. Er ließ seinem Gegenüber alle Zeit, die er benötigte, doch senkte die Nighthawk nicht einen Millimeter. Die schwarze Pistole war auch weiterhin auf seine Stirn gerichtet.

Inzwischen sah er zu, wie die Zahnräder hinter Donovans Stirn arbeiteten, wie er verzweifelt nach einem Ausweg suchte. „Selbst wenn...“, begann er langsam und mit gesenkter Stimme. Gleichzeitig sah er auf und starrte Brice direkt ins Gesicht. „Was wollen Sie schon unternehmen, Mister Lamar? Wenn Sie zur Polizei gehen, erwartet Sie dieselbe Strafe wie mich.“

„Das hatte ich nicht vor“, stellte Brice klar und zuckte kaum merklich mit den Schultern. Die Worte seines Gegenübers machten ihm klar, dass auch Donovan seine Hausaufgaben über ihn gemacht hatte. Schon alleine aus dem Grund, dass er seinen Namen nie genannt hatte. Vielleicht hatte er ihn anfangs tatsächlich nicht erkannt, aber jetzt ganz sicher.

Brice war das nur recht. Sollte Donovan ruhig wissen, wer sein Mörder war. „Ich wollte nur den Grund erklären, warum ich Sie erschießen werde.“ Ein Schmunzeln huschte über seine Züge, das seine Augen jedoch nicht erreichte. Nicht, weil er sich seelisch abgeschottet hatte, sondern weil er niemals Spaß am Morden hatte. „Und um zu erklären, dass Sie schon wieder falsch gelegen haben. Ihre Exfrau hatte keine Halluzinationen. Sie hätten ihr Tagebuch lesen sollen – aber nein, sie hatte es extra versteckt. Damit falls Sie auftauchten, Sie es auch nicht finden und gegen sie verwenden können. Schlaues Mädchen.“ Brice lachte heiser auf, während Donovan ihn entgeistert über die Waffe hinweg anstarrte. „Melora Ryans sah genau dieselbe Frau, die sie stalkte. Deswegen hat sie Selbstmord begangen, hat aber Angela davon erzählt. Kurz danach begann Angela sie ebenfalls zu sehen und hatte ihre Fehlgeburt, die sie ebenfalls dieser Erscheinung zuschreibt. Dann kam ich und habe Angela und ihr ungeborenes Baby getötet.“ Brice hielt einen Moment inne, um einen Blick über seine Schulter zu werfen und sich umzusehen. „Und angefangen genau dasselbe zu sehen. Es gab noch einige andere, die aber längst den Löffel abgegeben haben. Diese Frau ist keine Illusion. Sie existiert und ihr nächstes Opfer ist derjenige, der bei dem Tod ihres vorigen dabei gewesen war.“

„Sie sind ja völlig verrückt!“, zischte Donovan. Er wollte aufstehen, aber Brice packte ihm grob an der Schulter und drückte ihn wieder in den Sessel.

„Vielleicht...“, gestand er und drückte den kalten Lauf gegen die Schläfe, unter deren Haut Donovans Puls pochte. „Aber das ändert nichts an den Fakten. Genauso wenig wie an dem hier. Das ist Gerechtigkeit. Und vielleicht auch eine Art Opfergabe. Ich werde mich nicht von ihr töten lassen wegen eines bescheuerten Auftrags, den ich nicht mal ausgefüllt hätte, hätte ich von der Schwangerschaft gewusst!“ Damit drückte er ab.

Der Schalldämpfer verschluckte den Schuss, so dass Donovan ächzend in sich zusammensackte.
 


 

XI
 

Es war fünf Uhr morgens und Brice stand vor dem Apartmentgebäude, in dem sich seine Wohnung befand. Er lehnte an seinem schwarzen Ford am Rand der Hauptstraße, die bereits befahren war, und starrte auf sein Mobiltelefon. Genauer gesagt auf Susans Nummer, obgleich er wusste, dass sie vermutlich noch immer schlief. Trotzdem wählte er. Einen Versuch war es immerhin wert.

„Hast du mal auf die Uhr geguckt, Brice?“, wurde sein Anruf nach einem langen Klingeln schließlich beantwortet.

Ein Schmunzeln legte sich auf Brice’ Lippen bei dem genervten Unterton. Ausnahmsweise konnte er ihn Susan nicht einmal verübeln.

„Tut mir leid wegen gestern“, sagte er. „Die Arbeit stresst mich einfach zur Zeit. Ich will dich sehen, Susan.“

„Wenigstens siehst du ein, dass du dich benommen hast, wie ein richtiger Arsch“, erwiderte sie nach langem Schweigen. Im Hintergrund konnte vernehmen, wie sich eine Tür schloss und Wasser zu laufen begann. Es klang für Brice ganz danach, als ob Susan ihn so eben mit ins Badezimmer genommen hatte. „Aber ich muss in zwei Stunden zur Arbeit.“

„Kannst du nicht heute krank machen?“ Diesmal war es Brice’ Stimme, der einen anzüglichen Ton beinhaltete. „Dann könnten wir uns einen schönen Tag machen.“

„Mh...“, machte sie, ehe sie kurzzeitig schwieg. „Du weißt, wie man die Frauen rumkriegt.“ Nun lachte Susan und es war genau das, was Brice von Anfang an angezogen hatte. Ihr Lachen war ehrlich, das einzig ehrliche in ihrer Beziehung. Leider lachte seine Freundin viel zu selten, beschwerte sich dagegen aber ständig.

„Ich bin auf dem Weg. Bis gleich.“

Amüsiert steckte Brice das Mobiltelefon wieder weg und trat um den Wagen herum, um zu sehen, ob er seinen Kofferraum abgeschlossen hatte. Es war eine weitere lästige Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte. Schon alleine nicht aus dem Grund, dass er dort in einem Geheimfach sein Arbeitswerkzeug aufbewahrte.

Gerade als er ihn zu öffnen versuchte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Die Kälte, die von ihr ausging, fraß sich durch seine schwarze Jeansjacke und durch den Stoff seines T-Shirts darunter.

Brice sah auf, nur um in ein bekanntes Gesicht zu sehen. Es war leichenblass und hatte ein tiefgeschminktes Auge, das ihn starr ansah. Es blinzelte nicht mal. Doch das war nicht, was Brice das Blut zu Eis gefrieren ließ. Viel eher die andere Gesichtshälfte. Es war das zweite, zugenähte Auge. Das Wort, das in die Haut des Lids eingeritzt worden war.

„Crash...“, entwich es den roten Lippen in einer Stimme, die weder weiblich noch männlich war. Sie war seltsam verzerrt.

Die Gestalt, die mehr einer Puppe als einer Frau glich, legte den Kopf langsam zur Seite, während die krallenartigen Finger sich in die Haut seiner Schulter bohrten.

„Crash“, wiederholte sie.

Brice riss sich instinktiv los, ein Beben ging durch seinen Körper, als er rückwärts zu stolpern begann. Einfach, um von ihr wegzukommen und ihrem eiskalten Griff zu entkommen.

Erst als eine Hupe schrillte, riss sich sein Blick von ihr los. Sein Kopf ruckte zur Seite, wo die Lichter des entgegenkommenden Wagens ihn blendeten.
 


 

XII
 

Obwohl noch nicht viele Menschen unterwegs waren, hatte sich schnell eine Menge Schaulustige gefunden, die aus ihren Löchern gekrochen waren. Jeder wollte sehen, was von dem armen Kerl übrig geblieben war, der von dem Lexus mitgenommen worden war.

Der Firmenangestellte, der ihn fuhr, hatte sofort den Wagen gehalten und die Ambulanz gerufen.

Dabei rührte er sich nicht, kein Muskel zuckte, als ob der Körper in Schock war. Das linke Bein lag zudem in einem merkwürdigen Winkel. Kein Ton war über die blutbefleckten Lippen gedrungen und auch sein Blick verlor sich, ohne sich auf eines der Gesichter über ihm zu fokussieren.

Nein, die Wahrscheinlichkeit, dass die Sanitäter noch etwas für ihn tun konnten, sah selbst für den Firmenangestellten niedrig aus. Sein Wagen hatte ihn frontal erwischt. Woher war der Kerl überhaupt gekommen? Warum war dieser Trottel auch rückwärts auf die Strasse gestolpert? Wieso hatte er nicht seine Augen aufgemacht?

Stimmengewirr und ferne Sirenen erfüllten die Luft und wurden vom Wind die Straße herunter getragen.

Als die Polizei und die Ambulanz erschienen, tauchte auch eine rothaarige Frau auf, die sich erst desinteressiert, dann panisch durch die Menge schob. Sie schubste sogar einen jungen Polizisten aus dem Weg, um auf ihren Stöckelschuhen zu dem armen Kerl herüber zu stolpern, der auf dem Asphalt ausblutete. Doch die Rothaarige ließ sich dennoch neben ihn auf die Knie sinken. Sie rückte nah an ihn heran, als wollte sie in ihn hineinkriechen. Sie schluchzte und schrie die Sanitäter an, dass sie ihre gottverdammten Hintern bewegen und ihren Freund ins Krankenhaus bringen sollten.

Und zum ersten Mal zeigte sich wieder ein Zeichen von Leben auf dem bleichen Gesicht. Di blauen Augen weiteten sich mit Realisierung. Eine zittrige Hand hob sich und krallte in das Material des Rocks, als er zu der jungen Frau hochstarrte. Seine Lippen bewegten sich, ohne das anfangs ein Laut aus seiner Kehle drang. „Ni... Nicht.“
 


 


 

XIII
 

Als Brice die Augen aufschlug, fand er sich unter einem blutroten Himmel liegend wieder. Ruckartig setzte er sich auf und sah sich ungläubig, verwirrt, vor allem aber verängstigt, um.

Er saß auf einer Wiese, die ausschließlich aus Löwenzahn bestand und bis zum Horizont reichte. Dabei war es vollkommen nebensächlich, in welche Richtung er blickte. Genauso sah es mit dem beständigen roten Himmel aus, der weder Wolken noch Sonne zu haben schien. Kein Wind wehte und nicht ein Vogel sang. Nein, es herrschte Totenstille, das Land verlassen und kahl.

Zögernd erhob sich Brice, wobei er sich unwillkürlich fragte, wo er war und wie er hierher gekommen war. Erst als er an sich selbst heruntersah, kehrten langsam die Erinnerungen zurück. Ganz langsam wie Nieselregen tröpfelten sie wieder in sein Bewusstsein und lichteten den Nebel.

Scheinwerfer, die ihn geblendet hatten. Die Scheinwerfer eines Autos. Er war vor einen Wagen gelaufen, der ihn mitgenommen hatte. Anschließend erinnerte an hektische Stimmen, die jedoch von dem betäubenden Schmerz verdrängt worden war.

Susan...

Sie war gekommen. Plötzlich hatte sich ihre schiefe Frisur sich in sein Sichtfeld geschoben. Die Panik hatte ihr ins Gesicht geschrieben gestand, nicht einmal ihr Make-up hatte es versteckt. Und Brice hatte ihr sagen wollten, dass sie hätte wegbleiben und verschwinden sollen. Daran, ob er es tatsächlich getan hatte, erinnerte er sich nicht mehr.

Und nun war er hier, wo auch immer hier sein mochte. War er tot? Oder war das eine Art Koma? Nur ein Traum?

Von ganz alleine begann er einen Fuß vor dem anderen zu setzen und über die Wiese aus Löwenzahn hinweg zu schreiten.

Jeglicher Tumult, der in den letzten Tagen und Stunden in ihm geherrscht hatte, war für den Moment fort. Nur diese innere Ruhe war zurückgeblieben. Sie war begleitet von dem Gedanken an Jesse.

Es war Jahre her, dass er seinen Bruder gesehen hatte. Noch länger, als sie das letzte Mal ein Wort miteinander gewechselt hatten. Allerdings hatte er Jesse nach dem Tod ihres Vaters nicht mehr unter die Augen treten können. Nicht, nachdem dieser vor ihm zurückgeschreckt war, als ob er selbst und nicht ihr Vater der Feind gewesen war. Vielleicht war es Brice sogar gewesen. Womöglich war er mehr nach seinem Vater gekommen, als er stets angenommen hatte. Vielleicht spielte es auch keine Rolle mehr.

Im Nachhinein konnte er nicht sagen, wie lange er durch diese trostlose Landschaft gewandert war. Es kam ihm vor wie viele Meilen, obwohl er nicht mal die leichteste Erschöpfung verspürte.

Doch irgendwann bemerkte er die auftauchenden Schatten am Horizont. Mit jedem Schritt, den er in ihre Richtung tätigte, wuchsen sie an, obwohl sie auch weiterhin bewegungslos auf der Wiese standen, die aus Löwenzahn gemacht worden war.

Es handelte sich um eine Gruppe von Frauen, erkannte er, als er sie erreicht hatte. Sie alle waren in Fetzen gekleidet und standen dar, als ob sie nichts weiter als Statuen waren. Skulpturen in den abstraktesten Positionen. Eine mit gekrümmten Rücken und eine andere mit dem Gesicht gen Himmel gestreckt, die krallenartigen Finger in ihre eigenen Oberarme gekrallt. Abgesehen von der verschlissenen Tracht hatten sie nur die geschlossenen Augen gemeinsam.

„Hey...“, entrann es Brice. Sie wirkten zu echt, zu menschlich. Aber weder erhielt eine Antwort, noch rührte sich eine von ihnen.

Mit Vorsicht und auf leisen Sohlen schob er sich an einer Frau vorbei und somit weiter in den Kreis der erstarrten Gestalten hinein. Neben einer hielt er inne und besah sich die, die bis auf die schmale Nase und die vollen Lippen genauso wie Angela Ryans aussah. Ihr schwarzes Haar war zerzaust, ihre Haut bleich und... abbröckelnd.

Der Anblick drehte ihm den Magen um und er zwang sich zu einem Lächeln, um den Würgereflex zu unterdrücken. Seinen Blick von ihr lösend wanderte er stattdessen umher, um auch die anderen Frauen auf dem Platz in Augenschein zu nehmen. Dabei blieb ihm beinahe das Herz stehen, als er tatsächlich in Angela Ryans’ Gesicht sah.

Jegliche Panik, die nackte Angst, die ihn seit ihrem Tod verfolgt hatte, war zurück. Sie kam über ihn hineingekracht wie eine Flutwelle und ertränkte die innere Ruhe.

Mit raschen Schritten hatte er den Abstand zwischen ihnen überbrückt und die Frau an den Schultern gepackt, als musste er sicher gehen, dass sie nicht nur eine Illusion war. Er wollte sie schütteln und anbrüllen und... anflehen - doch er erstarrte, als sich ihre Lider öffneten.

Sie gaben milchigweiße Augen preis, die keine Pupille hatten und deren Blick sich dennoch durch seine Haut, sein Fleisch und seine Knochen zu fressen schien wie Säure.

Brice taumelte rückwärts und stieß gegen eine andere Frau, worauf er das Gleichgewicht verlor und im Gras landete.

Inzwischen hatten auch die anderen ihre blinden Augen geöffnet und richteten ihre passiven Gesichter in seine Richtung.

Schweigen erfüllte die Luft. Keine Briese bewegte sie, kein Vogel sang und keine Grille zirpte. Niemand gab ein Laut von sich, da war nur das Geräusch von rauschendem Blut in Brice’ Ohren.

Im nächsten Augenblick begannen sie auf ihn zuzuhumpeln. Ihre Bewegungen abgehakt, ruckartig, stockend.

Mit aufgerissenen Augen versuchte Brice wegzukrabbeln, doch er befand sich direkt in ihrer Mitte. Sie kreisten ihn ein, immer dichter und dichter, bis kaum noch Luft zum Atmen war. Selbst die nahmen sie Brice, bis seine Welt aus blanken Fratzen mit milchigen Augen und Schmerz bestand, als sie über ihn herfielen wie ausgehungerte Raubtiere.

Die Totenstille war nur von einem Schrei unterbrochen, während eine bleiche Gestalt mit einem bizarren Früchtehut in der Ferne unbewegt zusah. Ihr Kopf neigte sich viel zu weit zur Seite, so dass ihre Schläfe ihre Schulter berührte.
 


 

XIV
 

Wie es sich im Herbst gehörte, jagte der Wind die bunten Blätter über die Wiesen, Gehwege und Straßen von Fairburrow. Auch vor dem lokalen Friedhof machten sie nicht Halt, sondern raschelten zwischen den Grabsteinen hin und her und verfingen sich in den Blumen, die gebracht wurden.

Auch Susan trug einen Strauß Rosen im Arm, der dieselbe Farbe wie ihre Haare hatte. Da sie noch nie einen Friedhof besucht hatte, hatte sie auch nicht gewusst, welche Blumen sie bringen sollte. Gott, sie hatte noch nicht einmal gewusst, welche Blumen Brice mochte. Wahrscheinlich wäre ihm das gleich gewesen, doch sie hatte genauso wenig mit leeren Händen erscheinen wollen.

Nach Brice’ Tod hatte sie noch mal seine Wohnung besucht und ihr waren Dinge aufgefallen, die sie vorher nie bemerkt hatte. Zum Beispiel, dass Brice keine einzige Pflanze hatte oder er einen Stapel Comicbücher in seiner Kommode aufbewahrte. Sie hatte auch ein Tagebuch unter eben jenem Schrank gefunden, das sie einfach eingesteckt hatte und auch jetzt noch ungelesen in der Tasche trug.

Merkwürdig, wie einem die Details manchmal zu spät auffielen. Sie hätte ihre Zeit mit Brice mehr genießen sollen, anstatt unnötige Diskussionen mit ihm zu führen.

Sie schluckte den Klos in ihrem Hals herunter, als sie sich vor dem Grab hinhockte und den Blumenstrauß ablegte. Der Grabstein war nichts besonderes, doch der eingravierte Satz unter den Daten rief noch immer Irritation in Susan hervor. Zwar war sie diejenige gewesen, die ihn in Auftrag gegeben hatte, doch nur aufgrund des Zettels, den sie ebenfalls in Brice’ Wohnung gefunden hatte. In einer krickeligen Handschrift, die nicht Brice gehörte, aber mit einem von Brice hässlichen Magneten an seinem Kühlschrank gehangen hatte. Sie wusste weder woher er kam, noch seit wann er dort gehangen hatte. Aber bei dem ersten Blick darauf hatte das Gefühl von ihr Besitz ergriffen, dass es sich dabei um etwas Wichtiges handelte. Es musste eine Bedeutung haben, die Susan einfach nicht verstand.

Für Leute wie uns gibt es kein Happy End.

„Lass uns gehen, Susan...“, meldete sich Mandy zum ersten Mal zur Wort. Sie hielt den schwarzweißen Regenschirm über ihrer beider Köpfe, wahrend der Wind ihn ihr aus den Fingern zu zerren versuchte.

„In Ordnung.“ Susan presste einen Kuss auf ihre Fingerspitzen und drückte diese anschließend auf den Grabstein mit dem Namen ‚Brice Lamar’.

„Ich habe doch gesagt, dass dein Job dich irgendwann umbringen wird, Baby.“

Sie erhob sich gerade, als ihre Augen über den tristen Platz wanderten und an der Gestalt nahe einiger kahlen Eichen hängen blieb.

Sie stand halb hinter einem der Stämme, so dass Susan nur eine Gesichtshälfte erkennen konnte. Es war eine Frau mit einem seltsamen Hut auf dem Kopf und blasses Haut. Ihr sichtbarer Mundwinkel zog sich in die Höhe, mehr Grimasse als Lächeln.

Instinktiv stieß sie Mandy einen Ellenbogen in die Seite und warf ihr einen knappen Blick zu.

„Guck’ mal-“, begann sie.

Der Satz blieb jedoch unbeendet, da die Frau spurlos verschwunden war, als sie abermals zu dem Platz mit den Eichen schaute.

„Was?“

„N-Nichts.“ Susan schüttelte den Kopf, sah sich aber noch lange um. Auch als Mandy sie am Arm sanft von dem Grab wegzog.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  CharleyQueens
2011-04-05T12:55:38+00:00 05.04.2011 14:55
wirklich genial... echt, ich liebe solche thriller-sachen und deine geschichte ist atemberaubend.
ich liebe die spannung, den nervenkitzel, und du hast das wirklich gut und detaillreichbeschrieben, der os ist genial geworden. mann, aus dem sollte man nen film machen, nur mal so nebenbei.
die story ist wirklich super. auch das mit dem offenen ende steigert den nervenkitzel.
super gelungen, mach weiter so!
*Daumen heb*
LG, Lilim
Von:  Wintersoldier
2011-04-03T19:39:18+00:00 03.04.2011 21:39
Hach ja, ich finde es immer toll, wenn du etwas Thriller/Crime-mäßiges schreibst, weil ich finde, dass du die Atmospähre in solchen Geschichten immer sehr schön aufbaust, wirklich, wirklich toll. (Mir fällt auch gerade auf, dass ich mich nur an Geschichten von dir erinnern kann, in denen eine Pistole auftauchte. Vielleicht habe ich aber auch erst die gelesen, in denen eine auftaucht...)

Im Großen und Ganzen kann ich mich auch nur meinen Vorrednerinnen anschließen. Der Aufbau der Geschichte und die Struktur mit den römischen Zahlen passte wirklich sehr schön und gab eine angenehme Szenenunterteilung. Deinen Schreibstil mag ich einfach, mehr kann ich da gar nicht zu sagen.

Brice tut mir irgendwie Leid - auch wenn es sein Job war, Menschen zu töten. Allerdings frage ich mich, genau wie Chimiko, warum ihn die Tatsache, dass sein letztes Opfer schwanger war, so mitgenommen hat? (Oder lag das mehr an der Erscheinung der Frau?) Oder warum er überhaupt tötet? Aber das hätte wahrscheinlich nicht wirklich in die Geschichte gepasst...

Was den Zusammenhang mit dem Titel angeht... irgendwie fehlt mir da auch ein wenig die Verbindung. Ich habe zwar nichts dagegen, wenn Titel nur indirekt eingebracht werden oder es nicht allzu offensichtlich ist und man vielleicht noch einmal darüber nachdenken muss, was hinter dem Titel steckt, aber hier ist es doch schon ziemlich weit weg. Dein gewählter Kapiteltitel wäre dagegen ein viel offensichtlicherer Titel.

Joah, alles in allem gefällt mir die Geschichte aber sehr gut. Sie reißt einen mit und ist gut geschrieben und ich persönlich musste auch, als ich angefangen habe, einfach weiterlesen und das ist ja immer schon ein sehr gutes Zeichen. :D

Liebe Grüße
Aya
Von:  Chimi-mimi
2011-04-03T12:04:22+00:00 03.04.2011 14:04
Wow, inhaltlich wirklich eine unglaublich gute Geschichte. Ein richtig guter Thriller, der einem Gänsehaut verpasst, zumindest mir. Zum Inhalt kann ich eigentlich nicht viel mehr sagen, weil er mir einfach gut gefallen hat: Die Idee mit den Frauen, insbesondere auch die am Ende, die Brice attackieren. Sehr gut.
Trotz allem muss ich Suki zustimmen, mir fehlt auch ein bisschen die Verbindung zu dem Titel. Die Frauen am Ende greifen Brice zwar an und kämpfen gegen ihn, für mich persönlich ist das aber zu wenig, insbesondere, wenn es um eine Titelvorgabe geht.
Stilistisch gesehen fand ich die Aufteilung in einzelne Kapitel durch die römischen Ziffern gut. Klar strukturiert und dadurch den Szenenwechsel vereinfach und kenntlich gemacht.
Auch die Einschübe mit den Tagebucheinträgen fand ich gut, sie haben einiges über Angela und ihre Gedanken geklärt.
Um bei den Charakteren zu bleiben, da würden sich bei mir noch einige Fragen stellen: Warum sollte Angela ermordet werden? Warum ist Brice Killer? Und warum berührt ihn ausgerechnet die Schwangerschaft so sehr? Mich würde auch interessieren, warum sich bei der Bank niemand wundert, dass ein "Nachtwächter" so viel einzahlt. Das war für mich ein etwas unlogischer Punkt.
An einigen Stellen hattest du insbesondere am Anfang grammatikalisch Probleme, z.B. hier: Er war das Monster, das unter dem Bett hockte und wartete, bis das Kind über ihm eingeschlafen war, um ihn bei lebendigen Leibe fressen zu können.
-> um ES bei lebendigem Leib fressen zu können
Gerade am Anfang gibt es wirklich ein paar Stellen, bei denen ich etwas verwirrt war, weil du mit Pronomen und Dativ/Akkusativ und dem ganzen Zeug Probleme hattest. Im Verlauf der Geschichte hat sich das allerdings gelegt.

Also: Grundsätzlich schöne Geschichte, insbesondere der Inhalt. Ich finde es auch schwer, einen Thriller zu schreiben und stilistisch spannend zu gestalten, was dir aber gut gelungen ist. Da bin ich immer etwas kritisch, aber es hat mir echt gefallen.
Einige kleinere grammatikalische Fehlerchen gab es, aber mehr am Anfang.
Dann ist da noch die Sache mit dem Titel: Die Bezeichnung, die du dem Kapitel gegeben hast, war meiner Ansicht nach der eigentliche Titel. Daher hast du die Aufgabe eigentlich nicht ganz erfüllt, auch wenn, wie schon gesagt, der Inhalt sehr gänsehautmäßig war.

Liebe Grüße
-Chimiko-
Von:  MoonlightWhisper
2011-04-01T19:25:02+00:00 01.04.2011 21:25
Ich muss sagen ich mag dei Geschichte
Sie ist gut geschrieben und reißt einen mit.
Die Unterteilung der Abschnitte mit den römischen Ziffern fand ich auch gut
Die Story war sehr interessant und der Aufbau ist gut gestaltete, die Stelle mit dem Tagebuch war gut.
Ich persönlich kann nur leider den Titel 'Warrior Women' nicht so recht mit der Geschichte verbinden.

lg
Suki
Von: Arianrhod-
2011-03-31T08:54:38+00:00 31.03.2011 10:54
Ich hab dir ja schon mehrfach gesagt, dass ich die Story absolut toll finde. Ich sag's aber gern nochmal. :D
Sie ist echt klasse. *nod*

Übrigens gefällt mir die Aufteilung, wie du das mit den Abschnitten & den römischen Ziffern und so gemacht hast. :) Das hab ich glaub noch gar nicht gesagt... War aber sehr passend und ich mag das irgendwie sowieso (v. a. wenn es passt.) ^^

Brice tut mir leid. Angela tut mir leid. Susan tut mir auch leid.
Irgendwie tun mir grad alle deine Charaktere in dieser Story leid. *drop*

Der neue Tagebucheintrag ist übrigens gut und bringt ein wenig Klarheit. Definitiv besser als vorher. :)
(Nur ... hat die Frau ihre Mutter umgebracht oder hat die Mutter die Frau umgebracht? @__@ Das ist irgendwie nicht so deutlich.)

Das meiste hab ich dir ja schon gesagt und viel kann ich jetzt auch gar nicht sagen (bin nämlich auf Arbeit. ^^"), darum mach ich jetzt einfach mal Schluss.

Gruß
Sorca~


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