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Der Zirkusjunge

Von Seiltänzern und schwarzen Haaren ...
von

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Von verunglückten Katzen und kleinen Schwestern

„Daniel, das ist nicht dein Ernst!“

Skeptisch begutachtet Cleo meine Zeichnung.

Sie zeigt einen Baum auf dessen Ast ein Vogel sitzt, der ursprünglich eine Katze hatte werden sollen – so viel gleich zu Anfang zu meinen Zeichenkünsten.

„Du weißt, dass wir inspirierende Bilder malen sollten, ja?“

„Was denn?“, frage ich zurück und drehe das Blatt Papier auf den Kopf. „Ich finde, sorum ist es sehr inspirierend …“

„Ja, für jemanden, der im Wörterbuch nachschlagen muss um herauszufinden, was Inspiration überhaupt bedeutet!“

Um das mal eben festzuhalten: Cleo muss sich ums Zeichnen nie Gedanken machen. Ihre Hand fängt immer wie von selbst an und befördert irgendwelche Wunderwerke zu Papier, bei denen selbst Van Gogh vor Neid erblasst wäre.

Und auch mit Inspiration hat sie äußerst wenige Probleme. Während ich bei solchen Dingen ungefähr so kreativ bin wie ein Stück Toastbrot, scheint Cleo ihre Ideen geradezu mit Löffeln zu essen. Ob zeichnen, schreiben, schneidern, tanzen … Sie kann alles.

Kopfschüttelnd greift meine beste Freundin mich am Ellenbogen und zieht mich in Richtung Kunstraum, vorbei an einigen Mitschülern, die uns seltsam mustern.

Klar. Man sieht es nicht jeden Tag, dass ein 16-jähriger Emo von seiner besten Freundin durch die Gegend geschleift wird – und hey, geschleift meine ich ernst. Immerhin besuche ich mein Hassfach noch immer nicht freiwillig.
 

„Guten Morgen.“

Frau Bregt, eine Referendarin, stellt ihre Tasche auf dem Pult ab und wendet sich dann an unsere Klasse.

Ihr hellbraunes Haar trägt sie zu einem Zopf nach hinten geflochten, die dunklen Augen mustern jeden von uns einzeln und ihre schlanke Figur lehnt leicht am Holz.

So ziemlich jeder Mann bezeichnet sie als gut aussehend. – Sogar ich, und ich bin schwul.

Hab ich bisher auch noch nicht erwähnt, oder?

„Wie ihr wisst, werdet ihr heute eure Bilder zum Thema Inspiration abgeben. Ihr habt jetzt noch eine halbe Stunde Zeit, den Bildern den letzten Schliff zu verpassen, dann bringt ihr sie bitte nach vorn.“

Na super. Ich freue mich schon außerordentlich auf meine Note. Wirklich, kann’s kaum erwarten.

„Die ist schon süß, oder?“, flüstert Jamil mir ins Ohr. Jamil ist seit Kindergartenzeiten mein bester Freund und kann meine „etwas andere Orientierung“ zum Glück vollkommen akzeptieren – obwohl er sie nicht teilt.

„Vielleicht. Am besten fragst du das nicht mich … Ich hab da so ein bischen andere Ansichten.“

„Stimmt.“

Nur zwei Sekunden später höre ich, wie er dieselbe Frage Jacob stellt, der hinter ihm sitzt.

Neben mir beginnt Cleo zu kichern.

„War ja klar. Jamil hat nichts Besseres zu tun als Lehrerinnen auszuspannen!“

„Hatte er doch noch nie“, gebe ich leise zurück, unterdrücke selbst ein Grinsen und lege meine missglückte Katzenzeichnung neben das Bild von Cleo.

Es zeigt einen Waldweg, bedeckt von trockenen Blättern und umgeben von knorrigen alten Bäumen. Ein Pärchen spaziert daher, die Hände fast schüchtern ineinander verschlungen.

Inspiration pur.

In diesem Moment spüre ich, wie sich jemand von hinten über meinen Rücken beugt.

„Also, daran kann man aber noch so einiges verbessern, findest du nicht?“, fragt eine freundliche Stimme dicht neben meinem Kopf. Frau Bregt.

„Nein“, erwidere ich ebenso freundlich, versucht, das komische Gefühl herunterzuschlucken, das man nun mal bekommt, wenn eine Lehrerin freundlicher wird, als sie sollte, „ich wüsste nicht wie. Meiner Meinung nach ist das sehr inspirierend.“

„Und in wie fern?“

Gerade öffne ich den Mund, um ihr zu antworten, als Cleo für mich antwortet: „Sie müssen es umdrehen, Frau Bregt. Daniel meint, dann wäre es ein wahres Kunstwerk.“

Die Ironie in ihrer Stimme ist nicht zu überhören – sie hat noch nie viel von meiner verqueren Denkweise gehalten.

Unsere Lehrerin jedoch dreht das Blatt zu meiner Überraschung tatsächlich auf den Kopf, betrachtet den Katzenvogel eine Weile und meint schließlich: „Daniel, ich würde sagen, da hast du der Kunst einen ganz neuen Weg geboten. Wirklich erstaunlich, wie du deinen Gedanken Luft machst und was für Ideen du freisetzt …“

Verwirrt sehen Cleo und ich uns an, beißen uns fast synchron auf die Unterlippe, um einen Lachanfall zu verhindern.

„… Meiner Meinung ist dieses Bild eine Drei wert – sehr interessant, was für Unterschiede es bei deinen Leistungen gibt. Demnächst werde ich alle Bilder erst umdrehen, bevor ich sie zensiere.“

Noch immer ein wenig überrascht sehe ich der Referendarin nach, wie sie ihren Weg durch’s Klassenzimmer fortsetzt und blicke dann wieder zu Cleo.

„Der Kunst einen neuen Weg eröffnet?“, frage ich irritiert.

„Tja“, prustet sie, hält sich die Hand vor den Mund, „wenn sie meint …“

In diesem Moment schaltet sich auch noch Jamil ein.

„Das ist ja mies“, stellt er fest, während er sein Gesicht mir zuwendet. „Die Jungs dieser Klasse können allesamt nicht genug von ihr bekommen und sie? Sie steht ausgerechnet auf den Einzigen, bei dem sie null Chance hat – weil er schwul ist.“

„Hä?“

So langsam verliere ich den Überblick.

„Warum sollte sie auf mich stehen?“

„Jetzt mal ehrlich“, setzt Jamil an und deutet bedeutungsschwer auf mein „Wunderwerk der neuen Wege“, das noch immer vor mir auf dem Tisch liegt, „warum sollte sie dieses Gekritzel da sonst einer Drei würdig halten?“

„Danke für dein Vertrauen in meine künstlerischen Fähigkeiten!“, gebe ich gespielt eingeschnappt zurück und verstaue meine bisher beste Kunstnote in meiner Tasche.
 

„Sagt mal“, fragt Jamil, während wir zu dritt in Richtung Mensa laufen, „was macht ihr eigentlich morgen?“

„Ich hab Zeit, wieso?“ Cleo zieht ein Kaugummi aus der Tasche und spielt mit den Lichtreflexen, die die Sonne auf das silbrige Papier wirft. Meine beste Freundin ist wahrscheinlich einer der quirligsten Menschen die ich kenne – abgesehen von meiner kleinen Schwester natürlich – aber mit solchen Kleinigkeiten wie Lichtpunkten auf Kaugummipapier kann sie sich Ewigkeiten beschäftigen.

„Weil ich vorhatte, mit euch beiden wegzufahren, zu meiner Cousine. Die hat mich eingeladen und ehrlich gesagt halt ich es nicht mit dieser Quasseltasse alleine aus.“

Jamil grinst uns schief an und sieht in diesem Moment so hilflos aus, dass ich mir regelrecht vorstellen kann, wie er sich hilflos ausgeliefert einem Mädchen gegenüber sieht, das förmlich Wasserfälle brabbelt. Der Arme kann es nicht leiden, wenn es nie ruhige Momente gibt – was unter anderem auch der Grund dafür ist, dass er sich zwischenzeitlich gerne mal mit Cleo in die Haare kriegt.

„Ich kann leider nicht“, seufze ich, während ich mich gegen die dunkelgrüne Mensatür werfe, die so aussieht, als könne sie eine Erneuerung äußerst gut gebrauchen.

„Meine Schwester hat mich dazu genötigt, am Wochenende, Samstag um genau zu sein, mit ihr in den Zirkus zu fahren.“

„Zirkus? Ich dachte, Jessi ist dreizehn.“

„Ist sie ja auch.“

Meine Tasche landet mit einem Klatschen auf dem Boden, schlittert ein Weilchen und bleibt dann, direkt neben meinem Stammstuhl, liegen.

Treffer.

Es erfordert, ob man’s glaubt oder nicht, einiges an Übung, genau aus der richtigen Entfernung mit genau der richtigen Kraft zu werfen, damit die Tasche so landet, wie sie soll.

Ja, das klingt jetzt komisch, aber ich hebe es doch tatsächlich wochenlang geübt.

„Und dann will sie noch in den Zirkus?“

„Hab ich je behauptet, dass meine Schwester sich wie dreizehn verhält?“

Cleo grinst. „Nein, hast du nie.

„Siehst du?“

„Hey, jetzt mal langsam.“ Typisch Jamil. Immer muss er jeden in Schutz nehmen. … Ja, okay, ich gebe zu, ganz so schlimm ist meine Schwester auch nicht. Sie ist süß, sie ist lieb, aber leider manchmal sehr kindisch – nicht, das ich das nicht auch kann; kindisch sein, meine ich.

„So schrecklich ist Jessi jetzt auch nicht. Meinem Erachten nach ist sie ein Mädchen, das einfach an seiner Kindheit hängt und gerne daran zurückdenkt.“
 

… Was ich schon wieder feststelle, während ich die Wohnungstür aufschließe und mich augenblicklich in Jessis Armen wieder finde.

„Da bist du ja endlich!!“

„Ähm, ja … Da bin ich.“

Meine kleine Schwester löst sich von mir, strahlt, und zieht mich am Handgelenk in die Küche.

„Weißt du, ich hab nämlich schon gekocht. Es gibt Nudelauflauf.“

Oh, das habe ich bisher auch vergessen: Jessi, genauer gesagt Jessica, ist eine begnadete Köchin, trotz ihres jungen Alters.

„Wie schön“, lasse ich mich auf einen Küchentisch fallen und piekse mit der Gabel in den Auflauf, der bereits vor meiner Nase steht. Gerade war meine Laune noch im Tiefpunkt gewesen, doch der Geruch von Nudeln, der sich jetzt langsam einen Weg in mein Geruchsorgan bahnt, bessert sie augenblicklich.

„Weißt du“, erzählt Jessi fröhlich, während sie auf ihren Nudeln herumkaut, „ich freu mich schon auf morgen. Das wird bestimmt lustig!“

Ich nicke geistesabwesend, bin nicht besonders überzeugt.

Um ehrlich zu sein, habe ich die Vorstellung, dass sich der morgige Tag hinziehen wird wie ein Gummiband, das man bis zum Anschlag spannt.

„Sag mal, guckst du mit mir Vorstadtkrokodile?“

„Was?“

„Du hast mich sehr wohl verstanden“, schmollt meine kleine Schwester und deutet mit der Gabel auf meine Brust.

„Guckst du mit mir Vorstadtkrokodile?“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Weil ich sechzehn bin und noch dazu nicht viel von diesem rosaroten Kinderfilm halte.“

„Was heißt hier rosarot? Der Film ist genauso ernst, wie der Mist, den du immer guckst!“

„Ich gucke keinen Mist!“

„Doch, tust du wohl!“

„Nein tue ich nicht!“
 

… Tue ich anscheinend doch. Leider besitzt meine liebe kleine Unschuldsschwester die Fähigkeit, mich zu allem zu überreden – ansonsten würde ich wohl nicht mit ihr in den Zirkus tapern.

Und so sitze ich jetzt mit Jessi auf dem Sofa im Wohnzimmer und sehe den Vorstadtkrokodilen dabei zu, wie sie versuchen, den Bruder eines gewissen Franks in den Knast zu bringen.

Na super! Mein Wochenende verspricht lang zu werden.

Überraschungspost

Samstagmorgen.

Hölle, ich komme.

Ehrlich gesagt würde ich mir gerade gerne die Decke wieder über den Kopf ziehen, mich in meiner kleinen Welt verkriechen und vergessen, dass meine Schwester mich heute dazu verdammen würde, zwei Stunden mit ihr in einer Zirkusvorstellung zu sitzen.

Apropos Zirkus.

Den veranstaltet die Kleine wahrscheinlich, wenn ich nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten bei ihr auf der Matte stehe.

„Daniel!!“

Na, was hab ich eben gesagt?

Die zunehmende Lautstärke der Hand, die gegen meine Zimmertür klopft, beginnt mich bereits nach einigen Sekunden zu nerven.

Und zwar massiv.

Erbarmungslos blenden mich die Sonnenstrahlen, während ich, noch immer taumelig vor verschlafener Morgenmuffellaune, tapse. Der flauschige Teppich schmiegt sich an die nackten Sohlen meiner Füße und verstärkt mein Bedürfnis, wieder im Bett zu verschwinden.

Das Klacken des Schlosses explodiert in meinen Ohren, während ich den Schlüssel umdrehe und die Tür öffne.

„Na endlich! Mein Gott, Daniel, du musst dich beeilen! So wie ich dich kenne brauchst du eine halbe Ewigkeit im Bad und die Vorstellung beginnt in zwei Stunden.“

Zwei Stunden?! Heilige Scheiße! Na super, Jessi hatte Recht. Würde ich mich nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten ins Bad begeben, hätte mein Aussehen heute schwer zu leiden – ohne Haarspray sah meine Frisur aus, als hätte ein verrückter Professor – hähem, mein Chemielehrer – seine Experimente auf meinen Kopf durchgeführt. Nicht besonders hübsch, wie man sich vorstellen kann.

Unsanft schiebe ich meine kleine Schwester mit dem Arm beiseite und tapere ins Bad.

Tür aus, Daniel rein, Tür zu – Abschließen nicht vergessen -, taps, taps, taps, Blick zum Spiegel – Nervenzusammenbruch.

Okay, das ist übertrieben, aber was mich da vom Spiegel her hämisch angrinst, sieht absolut inakzeptabel aus.

Es wäre untertrieben zu sagen, meine Haare ständen in alle Himmelsrichtungen ab. Ich persönlich glaube, sie stehen teilweise in Richtungen ab, die nicht einmal einen Namen haben.

Klarer Fall: Ich. Muss. Duschen.

Ganz dringend.
 

Eine Viertelstunde später stehe ich vor dem Spiegel und versuche, meine Haarpracht – falls man dieses Chaos so bezeichnen kann – mit Hilfe von Haarspray, Föhn und Glätteisen in Form zu bringen. Ein Unterfangen, das bei mir Ewigkeiten dauern kann. An dieser Stelle beneide ich meine kleine Schwester. Ihre Strähnchen sitzen innerhalb von fünf Minuten perfekt und daran ist auch den ganzen Tag nicht zu ändern. Pah, Glätteisen! Die tippt sich mit dem Finger vor die Stirn, wenn ich ihr mit so was komme! Ernsthaft.

„Da-ni-el!!!!! Jetzt mach hinne, wir müssen noch essen und du musst dir noch was anziehen und …“

„Ist ja gut, ich komme.“

Ungeschickt und noch immer etwas verschlafen schlinge ich mir ein Handtuch um die Hüften, schließe die Badezimmertür auf, schiebe Jessi schon zum zweiten Mal an diesem Tag beiseite und bleibe erst stehen, als ich vor meinem Kleiderschrank stehen geblieben bin, aus dem mir bereits die interessantesten Teile entgegengrinsen. Zum Beispiel der Pullover in rot-schwarz, oder diese wirklich verboten enge – zu meiner Verteidigung, sie ist beim Waschen eingelaufen – blaue Hose, die auf der Straße auffällt wie ein schwarzer Fleck auf weißer Wand.

… Ach, und dann wäre da noch dieses Sweatshirt, das ich mir erst diese Woche zugelegt und noch nie getragen habe. Cleo hat zwar gesagt, mein ohnehin schon optisch auffallendes Ich würde dadurch nur noch unübersehbarer, aber ich mag’s. (Obwohl ich eigentlich nicht der Typ bin, der besonders gerne auffällt. Ganz im Gegenteil.)

Schlussendlich trage ich besagtes Sweatshirt und eine schwarze Hose, die der Blauen allerdings vom Schnitt her sehr ähnlich ist … nur nicht ganz so eng. Sagen wir’s so: sie klemmt einem nicht – ähm – gewisse Dinge ein.

Na ja, jedenfalls stehe ich nun voll bekleidet in der Küche und mustere irritier das Monsterfrühstück, das Jessi auf unseren Tisch gezaubert hat.

„Äh, Jessi …“ Unsicher deute ich auf den Tisch. „Sollten wir uns nicht beeilen??“

„Was heißt hier wir? DU solltest dich beeilen. Immerhin hab ich mit einem Badaufenthalt von einer Stunde gerechnet … Da es je glücklicherweise nur eine halbe war, haben wir noch Zeit zum Essen. Würde der Herr sich bitte setzen?“

Seufzend setze ich mich an den Tisch und greife nach dem Kakaopulver, um es in meiner Tasse Milch zu versenken, die Jessi mir fürsorglich wie sie ist bereits eingegossen hat.

„Das macht fett“, stellt meine kleine Schwester fest, während sie sich mir gegenüber hinsetzt und mir ihrem Messer auf mein Lieblingsgetränk.

Typisch. Das ist so unglaublich typisch kleine Schwester.

„Danke“ erwidere ich, „das aber auch.“

Mein Messer deutet auf das Glas Nutella vor ihrer Nase.

„Ich weiß.“

Sie grinst hämisch und beginnt ihr Brot zu bestreichen.

„Aber ich kann’s mir leisten.“

„Ha, ha. Sehr lustig. Ich lach mich tot.“

„Wäre nur zu schön. Dein Zimmer hätte ich schon ganz gern …“

Kleine Schwester. So süß und doch so mies.

„Ja, schon klar. Sag mal, hast du schon in den Briefkasten geguckt?“

„Jap!“ Jessis Augen leuchten auf, als sie sich hinabbückt und schließlich mit einem dicken bunten Päckchen wieder auftaucht.

Es ist rot, gesprenkelt mir grünen, gelben und blauen Punkten. So farbenfroh, dass er mich unvermittelt an Sommer erinnert. Die geschwungene Handschrift, ordentlich als ich sie in Erinnerung habe, löst eine kleine Explosion in meinem Innern aus. Eine kleine Freudenexplosion, wenn man es genau nahm. Wie lange ist der letzte Brief her? Einen Monat? Zwei?

So ungeduldig, dass mir meine eigenen Finger im Weg sind, ziehe und zerre ich an dem Klebeband, bis es aufreißt und der Inhalt sich auf dem Boden verteilt.

Zettel, ein Packen Fotos und zwei kleine Lederbändchen liegen dort auf den Fliesen. Ein Stück von einem anderen Leben, einem, von dem ich kaum etwas weiß.

Post von meinem Vater. Endlich.

Freudig setze ich mich auf den Boden und fühle mich auf einmal wie ein kleines Kind, vielleicht fünf Jahre alt, und greife nach dem Papier, auf dem feinsäuberlich die Namen Jessi und Daniel geschrieben worden sind.

„Hallo, meine beiden Lieben zu Hause.

Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich freue, euch wieder schreiben zu können, nachdem meine letzte Safari die letzten drei Wochen eingenommen hat.

Momentan befinde ich mich, wie ihr vielleicht wisst, in Afrika. Genauer gesagt in einer kleinen Stadt, in der es nicht viel mehr gibt als einen Supermarkt, eine Poststelle, ein billiges Hotel und ein paar Wohnhäuschen. Nichts für euch, das könnt ihr mir glauben.

Ich vermisse Münster. Jede Sekunde, die ich hier sitze, vermisse ich meine Stadt, mein Haus und natürlich euch. Ich hoffe, euch beiden geht es gut und ihr passt schön auf Mama auf. Arbeitet sie immer noch so viel? Ist sie noch immer so gestresst von ihrem Chef?

Sollte dem so sein, so sagt ihr bitte von mir, dass sie sich nicht überanstrengen darf, ja? Und, tut ihr mir den Gefallen, legt ihr ihren Brief von mir auf’s Kopfkissen, ja? Das wird sie sicherlich freuen.

Übrigens wurden die beiden Lederbänder von afrikanischen Straßenkindern geflochten. Als ich an dem Stand vorbeikam, musste ich sie einfach mitnehmen. Ich dachte mir, dass diese wunderbaren Kunstwerkchen wunderbar an die Handgelenke meiner wunderbaren Kinder passen würden. Hoffentlich habt ihr Freude daran.

Die Fotos, die diesem Päckchen beiliegen, stammen von den letzten Fototouren, die ich unternommen habe. Wenn ihr euch ein paar davon ins Wohnzimmer hängt, dann fühlt ihr euch garantiert, als wäret ihr selbst hier gewesen.

Übrigens komme ich euch in einem Monat besuchen.

Ich freue mich auf euch und wünsche euch noch eine schöne Zeit ohne mich.

Genießt sie.

Lieben Gruß,

Papa
 

PS: Daniel, übe schön weiter Englisch, ja?

PPS: Und Jessi? Halt dich von der Keksdose fern!“
 

Ich hebe meinen Blick und schaue in die strahlenden Augen meiner kleinen Schwester, die meinen Blick nur kurz erwidert, bevor sie eines der beiden Lederbändchen an ihrem Handgelenk befestigt.

Sie sind wirklich schön; sehr schön sogar. Kunstvoll geflochten und mit hübschen, ungewöhnlich angefertigten Mustern, von denen ich mich wundere, wie sie sich in ein einfaches Flechtmuster einbauen lassen.

Meine Hand hingegen greift zuerst nach dem Fotopacken. Mein Faible für Papas Fotos zieht sich schon durch mein ganzes Leben. Bereits als kleines Kind habe ich sie mir unheimlich gern angesehen und versucht, die Geschichte hinter dem Bild zu entdecken, während Jessi die Fotos zwar schön findet, mit ihnen jedoch nicht so viel anfangen kann.

Das erste Kunstwerk zeigt einen alten Baum. Einen einzelnen Baum in trockener Umgebung, mit verschlungenem Stamm und knorrigen Ästen.

Auf dem nächsten ist ein Bachlauf zu sehen, wild und schön, in einer Landschaft, wie man sie in Deutschland unter keinen Umständen finden könnte.

Ewig hätte ich so weitermachen können, doch eine entsetzte Jessi reißt mich ungestüm aus meinen Gedanken.

„Scheiße, Daniel! Die Vorstellung! Wir müssen los!!“

Ohne weiter zu warten, springt meine kleine Schwester auf, jagt zur Tür und beginnt hektisch damit, sich die Schnürsenkel zuzubinden.
 

Eine Minute später schlägt die Hautür zu und ich folge Jessi, die bereits einige Meter voraus rennt.

„Beeil und, Daniel!! Wenn du schnell läufst, trainierst du dir vielleicht sogar den ganzen Kakao wieder ab!“

„Ha, ha!“, schreie ich, während ich meine Füße dazu ansporne, schneller zu werden, um den Bus noch zu erreichen, der uns hoffentlich zu dieser schrecklichen Zirkusvorstellung bringen wird.
 

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würde mich sehr über rückmeldung freuen ... *grins*

Traumtänzer mit schwarzem Haar

Endlich!!

Ich habe es geschahaaafft! Neues Kaptiel und endlich die langersehte erste Begegnung ^^

Viel Spaß beim Lesen! *grins*
 

lg,

lady
 

PS: DANKESCHÖN AN MEINE LIEBEN KOMMENTARSCHREIBERINNEN!! <3 *euch beide lieb drück*
 

PPS: Über Rückmeldung würde ich mich wirklich freuen! :D
 

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Traumtänzer mit schwarzem Haar
 

Das Zelt riecht nach Popcorn und diese schrecklich laute, unglaublich geschmacklose Zirkus-Trallala-Musik, die ich schon seit Menschengedenken nicht leiden kann, dröhnt mir in den Ohren. Klar, früher habe ich, wie wohl jedes Kind, Zirkusvorstellungen geliebt, bis ich hinter diese ganze Tierquälereigeschichte gekommen bin und fand, dass dieses Herumgehüpfe von kleinen Ponys recht komisch aussah, aber die Musik, die habe ich schon immer gehasst. Viel zu laut, viel zu fröhlich, viel zu eintönig. Langweilig.

Ich seufze leise, als Jessi mich freudig am Arm packt und mich zu einer Bank auf den Tribünen zieht. „Weißt du“, erzählt sie, während sie mich auf die angesteuerte Bank drückt, „ich glaube, wir werden heute sehr viel Spaß haben.“

Ja, der Meinung bin ich auch. Aber total.
 

Erleichtert fahre ich mir durch’s Haar, als die Hunde die Manege verlassen und der Zirkusdirektor eine „kleine Pause“ ankündigt. Es geht doch.

„Siehst du“, Jessi zieht lachend die Schultern hoch, zieht mich mit sich zum Popcornstand, „so schlimm ist es doch gar nicht!“

„Doch! Ich weiß echt nicht, was du daran findest, hier herumzusitzen und armen kleinen Tierchen bei mühevoll eingetrichterten Kunststücken zuzuschauen.“

Während ich meiner Schwester einen Geldschein für das Popcorn in die Hand drücke, beobachte ich eine Handvoll Artisten, die gerade dabei sind, Trapez und Seil für die Seiltanznummer aufzubauen. Eine Nummer, auf die ich mich schon die ganze Zeit insgeheim gefreut habe … nicht, dass mich ein plötzlich ein Sinneswandel ereilt hätte, nein, aber es hat nichts mit Tieren zu tun, und auch diese übertrieben laute Musik wird endlich gedämpft.

Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dagestanden habe, um die Menschen in der Manege zu betrachten, jedenfalls habe ich nicht gemerkt, dass sie sie verlassen haben.

„Kommst du?“ Ich fahre regelrecht zusammen, als Jessi mir auf die Schulter tippt. „Es geht weiter.“

Das Leuchten in den Augen meiner kleinen Schwester ist unübersehbar. Wahrscheinlich sieht es so aus, wenn man Sterne hinter ihren Augen verstecken würde.

Seufzend lasse ich mich von ihr mitziehen und vielleicht sogar ein Stück weit von ihrer Vorfreude anstecken.

Die Manege wird dunkel, ein einzelner Scheinwerfer huscht durch das Publikum, heftet sich nur kurz an einem Punkt fest, springt dann weiter. Ich kann nicht sagen, wann sie dazu gekommen sind, doch irgendwann fängt der Lichtstrahl immer wieder Menschen in weißen Kostümen ein, die an verschiedensten Punkten des Zeltes stehen und sich immer vorwärtsbewegen, sobald das Licht sie nicht mehr fokussiert. Es dauert nicht lange und der erste Artist steht in der Manege, grade, ohne irgendetwas zu tun. Es ist ein Junge, auf den ersten Blick würde ich ihn auf neunzehn schätzen – aber ich bin ziemlich schlecht darin, das Alter anderer Menschen einzuschätzen (eine Bekannte von mir habe ich beim ersten Treffen auf vierzehn geschätzt … leider hätte ich noch drei Jahre draufsetzen müssen). Auf seinen Wangen scheinen schwarze Bemalungen zu tanzen. Ich kann nicht erkennen, was sie darstellen sollen, aber sie harmonieren mit seinem gleichfarbigen Haar und bilden einen hübschen Kontrast zu seinem Bühnenoutfit. Es ist weiß, schneeweiß, als hätte man jegliche Farbe aus dem Stoff gesogen. Er steht einfach da, im Scheinwerferlicht, bewegt sich nicht, wartet. Wartet auf die anderen, die sich langsam dazugesellen, bis sie schließlich zu sechst sind.

Und dann beginnt die wohl faszinierendste Viertelstunde meines Lebens. Völlig gefesselt folge ich den Bewegungen der Artisten, vor allem der Junge zieht mich in seinen Bann. Seine Füße schweben so leicht über das dünne Drahtseil, als wäre dort nicht das Drahtseil, sondern fester Boden und er bewegt sich unglaublich geschmeidig, wie eine Katze, die jemandem um die Beine streift. Auf seinem weißen Kostüm befinden sich Glitzersteine, die im Scheinwerferlicht zu glitzern beginnen, kleine Lichtfänger, auf die sich meine Augen heften. Die Musi rückt immer weiter in den Hintergrund, während ich gebannt zusehe, wie zwei Trapeze hinabgelassen werden. Langsam, ganz langsam sinken sie herab und auf einem sitzt, wie ein kleiner Engel, ein junges Mädchen. Es trägt ein weißes Kleid, ist barfuß. Auch sie hat schwarzes Haar, ihr Pony fällt ihr in die Augen. Ihre Gesichtszüge sind fein, sie verschwinden fast in dem Gewirr aus Haarpracht und einzelne Strähnen glänzen im Licht. Hinter mir höre ich einen Jungen einen leisen, anerkennenden Pfiff ausstoßen und verdrehe die Augen. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und gefragt, wie er es wagen kann, meine Träumerei zu durchbrechen, doch ich bleibe still, da ich weiß, dass jedes Wort von mir alles nur noch weiter zerstört hätte. Stattdessen verfolge ich, wie die Trapeze, das eine mittlerweile von dem Jungen besetzt, in Schwingung geraten. Hin und her, hin und her, immer schneller, bis die beiden Personen auf den Trapezen in eine verschlungene Choreographie verfallen. Es wirkt wie ein Tanz in der Luft, getragen von unsichtbaren Flügeln oder einfach der Überzeugung, fliegen zu können. Ich bilde mir sogar ein, weiße, leuchtende Flügel auf ihren Rücken zu sehen, erleuchtet von den Glitzersteinchen auf dem Stoff ihrer Kostüme.

Das Ende kommt viel zu schnell, die Artisten verschwinden, doch ich sitze noch immer wie paralysiert auf meinem Platz und habe nicht einmal die Kraft, mich über die folgenden Tiernummern aufzuregen, starre in die Manege. Nummer um Nummer zieht an mir vorbei und ich komme erst wieder zu mir, als Jessi mich unsanft an der Schulter rüttelt.

„Daniel? Daaaniel?!“ Schlaff schwingt mein Körper unter ihrer Berührung

Von einer Seite zu anderen. „DANIEL!“

„Was?“ Ich fahre so erschrocken zusammen, als hätte man mir einen Eimer mit kaltem Wasser über dem Kopf ausgeschüttet.

„Kommst du? Die Vorstellung ist zu Ende und ich will noch zu den Tieren!“ Leicht verdattert lasse ich mich von meiner kleinen Schwester am Handgelenk packen und mitziehen. Auf dem Weg zu den Tiergehegen trete ich in mindestens drei Maulwurfshügel und will mich gerade über die unnötige Verdreckung meiner Schuhe ärgern, als ich wie angewurzelt stehen bleibe und an anderen Zirkusbesuchern vorbei, den Artistenjungen entdecke, wie er zärtlich ein Stückchen Stroh aus der Mähne eines Pferdes entfernt. Neben ihm steht das Mädchen, fährt federleicht mit der Bürste über das Fell des Tiers. Die beiden stehen nah beieinander und als ihre Hände sich berühren, zieht sich etwas in meinem Magen zusammen, obwohl ich nicht weiß was und wieso. Betroffen widerstehe ich dem Impuls, die Hand auf meinen Bauch zu legen und halte stattdessen lieber Jessis skeptischem Blick stand, bevor sie den Kopf schüttelt und weiterläuft.
 

„Gib es zu, der Seiltänzer hat dir gefallen!“ Grinsend schielt meine Schwester mich über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Sie hat uns Tee gekocht und jetzt sitzen wir auf der alten Ledercouch in unserem Wohnzimmer und zappen ziellos durch die Fernsehprogramme, den Ton ausgeschaltet. Das machen wir häufig. Es ist lustig, mit Jessi zusammen die Lippen der Menschen in irgendwelchen Action-Filmen oder in Nachrichtensendungen zu lesen und teilweise die seltsamsten Übersetzungen herauszubekommen.

Eigentlich hätte ich nichts dagegen gehabt, das auch heute zu tun, aber Jessi scheint da anderer Meinung.

Seufzend lege ich den Kopf in den Nacken. „Nein, kleine Schwester. Hör auf, immer alles Mögliche in mich hineinzuinterpretieren!“

„Mann, Daniel! Ich kenne dich jetzt die letzten 13 Jahre deines Lebens. Mir kannst du so schnell nichts vormachen. Also, gib es zu!“

Resigniert schließe ich die Augen, verschränke die Hände auf meinem Schoß und nicke, nur ganz leicht, aber ich weiß, dass meine Schwester es bemerkt hat. Ich habe schon sehr häufig versucht, ihr irgendwas zu verschweigen, es hat noch nie funktioniert. Sogar in ihren jungen Jahren – ich rede hier von der Zeitspanne von ihrem vierten bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, wohlgemerkt – hat sie bemerkt, wenn es mir nicht gut ging und ich ihren Trost gebrauchen konnte.

Einmal, nach einem Streit mit Jamil, habe mich auf unser Sofa gesetzt, teilnahmslos eine Sendung auf KI.KA geschaut, und Schokolade gegessen, als hätte ich vor, in den nächsten Wochen mindestens 100 Kilo mehr auf die Wage zu bringen. Damals ist Jessi zu mir gekommen, hat sich an mich gekuschelt, die Schokolade beiseitegelegt und den Fernseher ausgeschaltet. Wir haben lange da gesessen, ohne Worte, ich habe sie an mich gedrückt und irgendwann ist sie eingeschlafen. Erst dann habe ich angefangen, zu erzählen. Von dem Streit mir Jamil, von dem Gefühl allein zu sein und der Angst, dass sich das nicht mehr einrenken würde. Und obwohl sie geschlafen hat, habe ich mich verstanden gefühlt. Kurz gesagt: Jessi ist – so nervig, unreif und sprunghaft sie auch sein mag – der beste Mensch, der auf diesem ganzen Planeten existiert.

„Uuiiiii, wie süß! Daniel ist verliebt!!“ Freudig klatscht sie in die Hände, lacht, fällt mir überschwänglich um den Hals.

Verliebt. Ob das das richtige Wort ist? Ich war erst einmal verliebt, in der achten Klasse … in Jamil. Das war so ungefähr die schlimmste Zeit meines Lebens, ich konnte schließlich nicht mit ihm reden, eigentlich konnte ich mit niemandem reden. Nicht einmal mit Jessi, immerhin war sie damals elf und hatte ein so loses Mundwerk, dass meine Gefühle in Windeseile bei Jamil angekommen wären. Ich weiß nicht – und will im Übrigen gar nicht wissen – wie viele Herzchen mit seinem Namen ich damals auf Zettel oder in meinen Block gekritzelt habe.

Und genauso wenig weiß ich, ob das damalige Gefühl mit dem vergleichen kann, was in mir gewachsen ist, während ich heute die Vorstellung beobachtet habe.

„Ob Liebe jetzt das richtige Wort ist …“, sage ich zögernd, während ich das vor Freude zappelnde Etwas in meinen Armen ein bisschen von mir schiebe.

„Aber natürlich ist es das! Liebe ist die Antwort auf alles.“ Sie lacht fröhlich und wirkt dabei so überzeugend, dass ich ihr fast glaube.
 

Einige Stunden später liege ich allein in meinem Bett und starre an die Decke. Auf die Leuchtsternchen, die da hängen, seit ich ein kleines Kind bin. Doch dieses Mal können sogar die mir nicht helfen, herauszufinden, was ich wissen will.

Ich habe keine Ahnung, wie lange genau ich einfach so dagelegen habe, aber irgendwann taste ich nach meinem Handy und wähle die Nummer, die ich in den letzten Jahren wahrscheinlich am häufigsten gewählt habe.

Es tutet lange, sehr lange, doch ich weiß, dass er abheben wird. Er nimmt immer ab, wenn ich ihn anrufe.

„Daniel?“, ertönt eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung.

Ich gebe keinen Ton von mir.

„Haaaallo? Daniel? Warum rufst du mich um halb zwei morgens an?“

Wieder sage ich nichts.

„Bist du überhaupt dran? … Daniel?“

Stille.

„Ist es wichtig oder soll ich auflegen?“

Ich hole tief Luft, bevor ich rede. „… Nein! Nicht auflegen! Jamil?!“

„Daniel?“

„Ja, ich bin’s. … Sag mal, was genau ist eigentlich Liebe auf den ersten Blick?“

Gänseblümchen und Kastanienbäume

Gänseblümchen und Kastanienbäume
 

Röchelnd geht Cleo vor mir in die Knie, presst sich die rechte Hand auf’s Herz. Ihr Atem geht unregelmäßig, sie zittert, rollt sich auf dem Boden zusammen. Ein kleines Husten verlässt ihre Kehle, wird zu einem Anfall. Tränen laufen über ihre Wangen, während sie sich unnatürlich verkrampft, noch einmal einen rasselnden Atemzug nimmt und dann bewegungslos auf dem grauen Schulboden liegen bleibt.

Ungläubig starre ich Cleo an, blinzle kurz um sicherzugehen, dass ich mich nicht verguckt habe.

„Und, bin ich eindrucksvoll gestorben?“, fragt meine beste Freundin lachend, die sich aufsetzt und mir die Hand entgegenstreckt. Ich grinse und ziehe sie hoch. Wir beide haben heute Pausenaufsicht, was bedeutet, dass wir – oh wie schön – die Pause im Gebäude verbringen, um sicherzugehen, dass die kleinen aus den Fünften sich auch ja nach draußen verkrümeln. Doch anstatt unserer Pflicht nachzugehen, hat Cleo mich in einen leeren Klassenraum geschleift, um mir eine Theaterszene vorzuspielen. Irgend so ein Skript, das die Theatergruppe geschrieben hat, in der sie außerhalb der Schule spielt. Ich habe schon einige Stücke von den ‚Gänseblümchen‘ (fragt mich nicht, wer auf diesen Namen gekommen ist) gesehen und muss zugeben, dass sie alle wahnsinnig talentiert sind. … Das fand vor zwei Jahren auch ein gewisser Herr Zwiebelknecht, der seither dafür sorgt, dass die Truppe regelmäßig in einem kleinen Theater in der Stadt spielt.

„Ja, bist du. Also die können echt froh sein, dich die Hauptrolle spielen zu lassen!“ Cleo grinst, klopft sich den Staub von der Hose und schaut dann auf ihre Uhr.

„Upsi, wir müssen los. Die nächste Stunde beginnt in genau … vier Minuten. Hopp, Danni!“

Meine Schultasche trifft mich beinahe am Kopf, als meine beste Freundin sie mir entgegenwirft. Danke Süße, ich liebe dich auch. Kopfschüttelnd folge ich ihr durch die hellgrün gestrichenen Flure und versuche verzweifelt mit ihr Schritt zu halten. Dazu muss man sagen, dass mein wöchentlicher Sport sich darauf beschränkt, einmal pro Woche mit Jamil und Cleo joggen zu gehen – eine Stunde lang, mit Pausen. Sprich: Meine Kondition ist nicht die beste. Während Jamil sich mit dem beliebtesten Sport aller Jungen (Na, wer hat es erraten? Richtig … Fußball.) fit hält und Cleo so viel tanzt, dass ich mich wundere, dass sie nicht ihr ganzes Leben in eine Choreografie verwandelt, verstehe ich unter Sport so was wie ‚Mord in Turnschuhen‘.

„Nun mach schon! Ich hab echt keine Lust auf Stress mit dem Heinzl!“

Heinzel ist unser Bio-Lehrer Herr Hinsemann, der seinen Spitznamen seiner Körpergröße zu verdanken hat. Unsere ganze Klasse schätzt ihn auf höchstens 1,50m. Auf ihn passt „Klein aber oho“ recht gut … allerdings sollte man vielleicht besser sagen: „Kleine aber giftig!“

Ich wette in seinen Adern fließt ein Gift, das selbst eine schwarze Witwe zum Sterben bringen würde. Außerdem hat er ein Gesicht, das mich stark an die Trolle aus den norwegischen Legenden erinnert, die ich gelesen habe, als ich am Anfang meiner Fantasy-Leidenschaft stand. Ich liebe alles was mit Trollen – abgesehen von Herrn Hinsemann versteht sich – Elfen, Zentauren und so weiter zu tun hat. Nur bitte, bitte, bitte verschont mich mit Vampiren – die im Übrigen in den Bereich ‚Mystery‘ gehören.
 

Schnaufend, und gerade noch rechtzeitig, hetzen wir in den Bio-Raum und lassen uns auf unsere Stühle fallen. Heinzl steht an der Tafel, die Augenbrauen hochgezogen, die Lippen geschürzt. Seine kleinen flinken Augen kleben unangenehm auf meinem Gesicht. Während er versucht, Cleo und mich gleichzeitig böse anzufunkeln.

„Die beiden Herrschaften“, sagt er spitz, „bereiten uns ja doch noch die Freude ihres Besuchs … Fein, fein.“ Kleine Bemerkung am Rande: Heinzl sagt gerne ‚fein, fein‘. „Darf man nach dem Grund für die Verspätung fragen?“

Immer kleiner werde ich auf meinem Stuhl, rutsche langsam gen Boden. Erde, tu mir den Gefallen und tu dich auf! Verschone mich vor solcher Schmach!

„Herr Hinsemann ich glaube, das wollen Sie gar nicht wissen!“, erwidert Cleo frech und bei dem Funkeln in ihren Augen werde ich unwillkürlich rot, die Klasse beginnt zu kichern. Danke Cleo …

Doch wenigstens wendet Heinzl sich endlich von uns ab, wenn auch mit vernehmlichem Räuspern. Erleichtert krame ich meinen Haufen an unleserlichem Gekritzel auf Papier heraus, das meine Hausaufgabe darstellt und hoffe, dass Herr Hinsemann heute ausnahmsweise vergisst, mich in den schrecklichsten Situationen dranzunehmen.

Doch noch bevor ich dazu komme zu Ende zu hoffen, klopft es an der Tür. Abrupt wendet Heinzel sich dem Störgeräusch zu, runzelt missbilligend die Stirn und ruft dann schließlich ein spitzes „Herein“.

Schwungvoll stößt jemand die Tür auf, dann übertritt ein schwarz-rot karierter Chuck die Schwelle, ihm folgt ein zweiter. Die Hose, an der mein Blick heraufgleitet ist schwarz und die oberen beiden Knöpfe des ebenfalls karierten Hemdes stehen offen.

Dann komme ich beim Gesicht an.

… Oh scheiße!

Geschockt weiten sich meine Augen, mein Mund hätte sich um Haaresbreite auf Reise Richtung Fußboden gemacht. Shit! Es war so klar! Es war klar, dass ich ihn wiedertreffen würde! Bei meinem Glück hätte es mich wundern müssen, wenn weitere Begegnungen ausgeblieben wären.

„Hey, ich bin Jerome.“ Mehr sagt er nicht, nickt aber fast freundlich und setzt sich dann, ohne Heinzl eine Erklärung abzugeben, auf den freien Platz zwei Reihen vor mir. Auf seiner linken Schulter befindet sich ein kleiner Flicken in Form eines gelben Sternchens, doch er wirkt irgendwie nicht fehl am Platz, nicht kindlich … sondern passend. Es verleiht meinem schwarzhaarigen Artisten etwas Nahbares – zumal Sternchen mich generell begeistern, man denke an meinen persönlichen Sternenhimmel.

Cleos spitzer Ellenbogen trifft mich hart zwischen die Rippen.

„Aua!“ Erschrocken zucke ich zusammen und starre meine beste Freundin an, als hätte sie mir soeben gestanden, dass ihr Vater demnächst beim Mezger anfangen … Was wirklich abwegig ist, wenn man bedenkt, dass er seit Jahren Vegetarier ist und mir jedes Mal, wenn ich Cleo besuche, einen Vortrag über die armen Scheinchen und Kühchen hält, die regelmäßig zu Wurst verarbeitet werden.

Sie grinst. „Du siehst aus, als hättest du ne Flasche Wodka geext.“

Haha, wie liebenswert die Beste heute doch wieder ist.

„Danke Süße, ich habe ich lieb.“

„Nein, mal ehrlich: Was ist los??“

In diesem Moment dreht Heinzl sich mit einem gereizten Schnauben zu uns um. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern funkeln so böse, dass ich beinahe das Gefühl habe, die Blitze zu sehen, die sie versprühen.

Betroffen beiße ich mir auf die Lippe, schaue möglichst konzentriert auf meine Aufzeichnungen. Welch Wunder, dass Hinsemanns Blick meine Haare nicht verkokeln lässt.

„Cleopatra, Daniel. Es ist wirklich schön, so ein Interesse an meinem Unterricht verfolgen zu dürfen. Wenn ihr schon so engagiert seid, bitte kümmert euch die nächsten fünf Wochen um die Vorbereitung der anstehenden Experimente. Ich werde euch das nötige Material frühzeitig zukommen lassen, dankeschön.“

Im Normalfall hätte ich jetzt wahrscheinlich ein bisschen mehr wie Cleo reagiert, die wie immer nicht daran denkt, den Lehrer Lehrer sein zu lassen und auf ihn zu hören, sondern auf der Stelle aufspringt um sich lauthals zu beschweren, doch heute heben wir keinen Normalfall. Ich kann mich nicht mal auf die Rede meiner besten Freundin konzentrieren (Irgendwas mit jugendschädigenden Methoden, die das lebensnotwendige Selbstbewusstsein verletzen und somit die Weiterentwicklung pubertärer Menschen einschränken oder so ähnlich.), denn der Zirkusjunge hat sich zu mir – oder wahrscheinlich eher zu der hochaufgebrachten Cleo – umgedreht und ich kann das erste Mal seine Gesichtszüge vollständig in Augenschein nehmen: Seine Augen sind so gut wie schwarz, die Haut blass, die Nase gerade und die Lippen voll. Am meisten jedoch fasziniert mich dieses schmale Gesicht, das gleichzeitig nicht so wahnsinnig weiblich wirkt. Außerdem fehlen die geschminkten Augen, mit denen man beinahe automatisch rechnet, wenn man einen Menschen wie ihn trifft.

Ich finde, diesen Moment müsste man eigentlich in Zeitlupe abspielen, um es mit den berühmten ‚Zooooooom‘-Geräusch zu unterstreichen, wenn ihr versteht, wovon ich rede. So ein bisschen Die-Zeit-vergeht-ganz-automatisch-langsamer-Moment, den man so gerne mit ‚Es ist, als würde die Welt stehen bleiben‘ beschreibt … obwohl man sagen muss, dass diese Formulierung mehr als nur ausgelutscht ist.

Nur langsam kehrt Cleos Stimme in mein Bewusstsein zurück, die noch immer selbstsicher auf den Heinzl einschimpft. Wie war das noch, als sie sagte, sie hätte keine Lust auf Stress? … Versteh einer meine beste Freundin. Für mich ist Cleo manchmal wie ein Buch mit mehr als nur sieben Siegeln. Zwar kann sie sich stundenlang nur über ihre Gefühle und Situationen auslassen, aber wirklich verstehen, kann man sie nicht. Ich habe keine Ahnung warum. Vielleicht bin ich sogar einer der wenigen, die nicht mitkommen, wenn Cleo wie ein Wasserfall mit Metaphern und Wörtern um sich wirft und einen nachher anguckt, als wäre es völlig logisch, dass man jetzt alles mitbekommen hat.

Je länger meine Beste auf unseren Bio-Lehrer einredet, desto deutlicher zeichnet sich die Falte zwischen dessen Augenbrauen ab. Doch während ich mich ängstlich immer weiter auf meinem Stuhl zurücklehne, setzt Cleo allem noch die Krone auf, indem sie ihren Vortrag beendet mit: „Wenn Sie mich fragen, sind Sie ein sehr schlechter Lehrer, wenn es um die Entwicklung von pubertären Schülern geht!“

… Ups, die Falte ist noch tiefer geworden.

„Vielen Dank für deine Meinungsäußerung, Cleopatra. Aber ich glaube nicht, dass ich jungedschädigend wirke. Stattdessen bitte ich dich, um dein Verantwortungsbewusstsein ein wenig zu steigern, die Verantwortung für die Tafel zu übernehmen.“

Steif grinsend wendet Herr Hinsemann sich wieder besagter Tafel zu.
 

Vor der nächsten Pause beobachte ich, wie Jerome gemächlich seine Sachen verstaut, als gäbe es keine Cafeteria, die sich innerhalb von Minuten bis zum Platzen füllt und in der man sich – schrecklich, schrecklich – unbedingt etwas zu Essen besorgen muss.

„Na der hat ja Zeit …“, bemerkt Jamil neben mir und lächelt leicht.

Ich grinse gequält. „Siehste, der ist halt ein bisschen so wie du.“

Anscheinend habe ich das etwas lauter gesagt als beabsichtigt, denn Jerome dreht sich zu uns um und fragt amüsiert: „Ist was?“

Eigentlich habe ich vor den Kopf zu schütteln, aber die liebe Cleo hat da andere Pläne. Lächelnd stellt sie sich neben ihn und erwidert: „Jap. Wir haben mehrere Fragen. Erstens: Wo kommst du her? Zweitens: Warum kommst du in unsere Klasse? Und drittens: Warum traust du dich, gleich am ersten Tag einen Riesenstress mit unserem Heinzl zu riskieren?“

Ich habe erwartet, Jerome würde sich genervt wegdrehen und die Klasse verlassen, doch stattdessen grinst er lediglich und läuft langsam neben Cleo her zur Tür.

„Ich komme aus dem Zirkus, der momentan hier gastiert. Wir bleiben drei Monate. Zwei davon mit Vorstellungen, der Rest ist eine kleinere Pause, weil unser Feuerspucker im Krankenhaus liegt – Nein, es war kein Betriebsunfall – und um Frage zwei zu beantworten: Was denkst du, wie wir Zirkuskinder lernen? Sobald wir länger an einem Ort bleiben, gehen wir auch dort zur Schule, damit die Anderen ungestört trainieren können. Tja, und euren Hinsemann kannte ich ja nicht. Hätte ich gewusst, dass ich Experimentvorbereitung riskiert hab, hätte ich mich vielleicht gleich erklärt.“

Er lacht leise und tippt sich an einen imaginären Hut, bevor er uns abhängt und sich bei einem schwarzhaarigen Mädchen einhakt, das ich ohne große Schwierigkeiten als seine Partnerin in der Seiltanznummer wiedererkenne.

Ich erstarre, als ich sehe, wie er ihr einen Kuss auf die Wange drückt, während sie lachend den Flur in Richtung Schulhof herunterlaufen. Der kleine Kloß in meinem Hals schnürt mir (Hallo Klischeeformulierung!) die Kehle zu. Ich merke nicht einmal, dass ich die ganze Zeit unbewegt in die Richtung starre, in die sie verschwunden sind.

„Danni, die Wodkaflasche!“, erinnert Cleo mich, wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. Die Farben ihrer schwarz-weiß gestreiften fingerlosen Handschuhe verschwimmen vor meinen Augen zu einem undeutlichen Grau, dann höre ich mich leise sagen: „Das ist der Seiltänzer.“

„Hä?“

Ganz ehrlich, könntet ihr den Gesichtsausdruck meiner besten Freundin gerade sehen, ihr würdet so lachen … Aber mir ist momentan weniger nach Lachen zumute.

„Gestern im Zirkus, da war eine Seiltanznummer. Und er ist der Seiltänzer. Und das Mädchen ist seine Partnerin.“

Ich fange Jamils Blick auf und bemerke sofort, dass er verstanden hat. Dass er verstanden hat, wegen wem ich ihn gestern Nacht angerufen habe. In diesem Moment bin ich unglaublich froh, dass mein Freund nicht alles, was er herausfindet, in die Welt hinausposaunen muss, sondern auch gerne mal einfach gar nichts sagt. Er nickt lediglich verstehend, greift dann nach Cleos Hand uns zieht das vor sich hinplappernde Mädchen somit zur Cafeteria. Ein kleines Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Er hat sogar meine stumme Bitte verstanden, mich allein zu lassen. Soviel zu der These, die viele Neue aufstellen, Jamil sei ein Macho. Jedes Mal, wenn ich jemanden das sagen höre, könnte ich mich vor Lachen auf dem Boden kugeln. Ausgerechnet Jamil, der so ziemlich einfühlsamste Mensch, den ich je kennengelernt habe und der nie im Leben auch nur einziges Mädchen verarschen würde – was für mich übrigens ein wichtiges Merkmal für einen Macho ist. Verführen, ficken, abschieben is bei ihm nicht. Soweit ich weiß, wartet mein bester Freund schon seit eigentlich Immer auf die Frau seines Lebens, aber bis auf ein paar kleine Schwärmereien war da nie was. Nie verliebt. Autsch. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob das jetzt mieser ist, als das Gefühl zu lieben, ohne zurückgeliebt zu werden. Oder, um es mal präziser auszudrücken: Wer von uns beiden es schwerer hat, wenn es um das Thema Liebe geht.

Langsam schleiche ich nach draußen und lasse mich auf eine Bank unter dem Kastanienbaum auf unserem Schulhof fallen. Unter diesem Baum habe ich schon häufiger allein gesessen. Eigentlich ist er ein beliebtes Ziel, doch wenn ich erst mal hier sitze, bleibe ich meistens allein. Denn wer mich kennt – Sprich: So ziemlich alle, abgesehen von meiner Klasse und ein paar Leuten aus meinem Jahrgang – macht sicherheitshalber einen Bogen um ‚den komischen Emo da‘. Danke auch … Obwohl, theoretisch muss ich mich heute wirklich dafür bedanken.

Ein leiser Wind streicht durch die Blätter über mir, es säuselt leise und ich hätte lange, sehr lange, hier sitzen können, hätte es nicht zur nächsten Stunde geläutet.
 

Die folgenden Stunden vergehen langsamer als tausend Jahre in Zeitlupe. Schrecklich lahm kriecht der Sekundenzeiger über die Uhr, als hätte man ihm ein Betäubungsmittel verabreicht – oder vielleicht gibt die Batterie den Geist auf?

Eigentlich ist es mir auch recht egal, es ist nur schlimm hier zu sitzen und sich zu fragen, was man tun soll in so einer absurden Situation. Zumindest fragt sich das ein Mensch wie ich, der Fantasie zwar liebt, aber selbst das personifizierte Gegenteil von Kreativität ist und sich schon überfordert fühlt, wenn man ihn bittet, ein tiefsinniges Bild zu malen (in diesem Fall sage ich aber ganz gern: Tiefsinn ist subjektiv).

Als die Schulglocke uns endlich erlöst und den wohlverdienten Schulschluss ankündigt, sind die meisten schneller weg als Cleo einen Zungenbrecher aufsagen kann. (Sprich: Sehr schnell.)

Ich hingegen lasse mir ein wenig mehr Zeit, während ich beobachte, wie auch Jerome bedächtig ein Heft nach dem anderen einpackt. Seine Hände sind schlank, aber dennoch nicht feingliedrig, ein gutes Mittelmaß aus Kraft und Eleganz. Passend zu seinem Auftreten. Auch das wirkt gleichzeig selbstbewusst und kräftig, jedoch genauso geprägt von einer unbestimmten Eleganz, die ich schon so geliebt habe, als ich ihn vorgestern im Zirkus gesehen habe.

„Du guckst mich schon wieder so komisch an“, stellt er fest, was mich wieder klar denken lässt.

Verlegen presse ich die Lippen aufeinander und suche den Raum nach Jamil und Cleo ab. Nicht da. Super.

„Entschuldige“, gebe ich leise von mir, sehe ihn unsicher an, versuche zu verhindern, die Farbe einer überreifen Tomate anzunehmen. Unsicher spielen meine Finger mit dem Saum meines T-Shirts, während mein Herz vom Hals zu den Zehen springt und zurück. Scheiße, Jamil hat Recht. Gestern hat erzählt, was er sich unter ‚Liebe auf den ersten Blick‘ vorstellt.

‚Liebe auf den ersten Blick ist etwas Plötzliches. Etwas, das deine Gedanken abstellt und eine Welle durch deinen Körper schickt.‘

Manchmal hasse ich es, wenn Jamil genau das Richtige sagt. Denn jetzt bin ich mir ziemlich sicher, wirklich verliebt zu sein – oder verknallt, das weiß ich noch nicht so ganz genau.

Jerome schließt seine Tasche mit einem lauten Klicken, bevor er mich anlächelt: „Kein Problem, ich fasse sowas generell als Kompliment auf. Sag mal, kann es sein, dass wir uns schon einmal gesehen haben?“

Ein kurzes Lachen verlässt meinen Mund, das zu meinem Leidwesen klingt, als wäre ich soeben aus der Irrenanstalt entflohen. „Meinst du?“

„Ja … warst du in einer Vorstellung von uns?“

„Ähm … ja.“

„Mit so einem Mädel, circa zehn? Ihr ward nachher noch bei den Tieren, stimmt’s? Da hab ich euch gesehen, bei den Hunden.“

Er hat mich gesehen? Meine rote Tomatenbrine wird noch dunkler, während ich zaghaft nicke.

„Wer ist das Mädchen?“

„Meine Schwester. Aber sie ist nicht zehn, sondern 13.“

„Oh, das …“

„Ja, sie sieht nicht so aus, ich weiß.“

Jeromes linker Mundwinkel schießt in die Höhe, dann legt er sich den Henkel seiner Schultasche die Schultern und läuft in Richtung Tür, wo er allerdings nochmal stehen bleibt.

„Kommt sie immer so gut mit Hunden klar?“

Ja, das tut sie. Ich kann mich noch genau erinnern, wie Jamil das erste Mal mit Fina bei uns aufkreuzte. Die Hündin hat meine kleine Schwester von der ersten Sekunde an innig geliebt und in ihr einen super Spielpartnerersatz für Jamil gefunden – ähm, was heißt Ersatz. Eigentlich ist sie eher ein zusätzlicher Spielpartner. Es vergehen Nachmittage, an denen ich mich zwar mit Jamil treffe, ihn aber kaum spreche, da er mit Jessi im Garten steht und Bällchen durch die Gegend wirft, um sein kleines Schätzelchen zu beschäftigen.

„Mhm …“

Aus dem Hochziehen eines Mundwinkels wird ein freudiges Strahlen.

„Echt? Du, könntest du sie heute vielleicht mal zu uns bringen?“

Dann ist er verschwunden.
 

_________
 

sooo, neues kapitel!

bitte verzeiht meine fehlerchen ... *hehe*
 

momentan wirkt jerome noch zu gut gelaunt, oder?

...

ich muss mal schauen, wie ich seine launische art und weise gut reinbekomme :D
 

wir lesen uns!

lg,

lady
 

Übrigens ein Dankeeeee für die bisherige Rückmeldung und (natürlich auf keinen Fall zu vergesen) die Favos :D.

Ich habe euch lieb <3

Brüder, kleine Hunde und Lagerfeuer

Brüder, kleine Hunde und Lagerfeuer
 

Als ich die Tür aufstoße, steigt mir bereits der Duft von selbstgebackener Pizza in die Nase.

„Jessi?“, rufe ich überrascht durch den Flur, meine ich doch zu wissen, dass sie heute eine Stunde mehr hat als ich.

Leise Schritte ertönen in der Küche. Seltsam, so läuft meine kleine Schwester eigentlich nicht. Normalerweise hat sie eine hektische, schnelle Art zu gehen, nicht leise und langsam. So läuft nur …

„Hallo, Daniel.“

„… Mama?“ Entsetzt starre ich sie an. „Was zum Teufel machst du denn schon hier?“

Ein mattes Lächeln streicht über ihr Gesicht, während sie sich mit zitternden Fingern eine Strähne hinters Ohr steckt. Das letzte Mal, dass ich sie so fertig gesehen habe, ist bereit ein Jahr her.

„Ich bin im Krankenhaus zusammengeklappt. Der Chef meinte, ich sollte in den nächsten Tagen vielleicht besser nicht arbeiten und hat mich nach Hause geschickt.“

Moment, eine Sekunde. Zusammengeklappt? Nach Hause geschickt?

„Gott, Mama!“ Schnell lasse ich meine Schultasche von der Schulter gleiten, lasse meine Jacke auf einen der Stühle im Flur fallen und laufe auf meine Mutter zu, um sie zu umarmen. „Jessi und ich sagen doch schon immer, dass du dich nicht überanstrengen darfst! Das ist überhaupt nicht gut für die Gesundheit! Und Papa sagt das auch!“

Das stimmt. Schon vor einem Jahr hatte meine Mutter einen Totalausfall, war zwei Wochen krankgeschrieben. In dieser Zeit hatten Jessi und ich noch mehr zu tun als sonst: Nicht nur, dass wir selbst unsere Aktivitäten organisieren mussten, uns um Haushalt und Kochen gekümmert haben, nein, zudem lag auch noch eine völlig überforderte Mutter im Bett, der schlecht wurde, wenn sie nur an das Wort ‚Arbeit‘ dachte. Damals habe ich mir nicht viele Gedanken darum gemacht, warum meine Mutter sich so in ihre Arbeit reinhängt. Habe gedacht, vielleicht will sie, das von Grund auf gütige Wesen, einfach nur helfen. Aber in den letzten Monaten ist mir mehr und mehr in den Sinn gekommen, dass es daran liegt, dass meine Ma keinen Partner hat, der da ist. Seit Dad fast permanent unterwegs ist, ist sie irgendwie unglücklicher geworden. Hat viel gearbeitet, viel Zeit in die Beziehung zu ihrem Chef gesteckt, die sich um einiges gebessert hat – sonst hätte er ihr nie erlaubt, nach Hause zu fahren.

„Ich weiß, ich weiß. Aber jetzt haben wir mal ein bisschen mehr Zeit füreinander, das ist doch schön, oder nicht? Und jetzt komm erst mal rein, sonst wird die Pizza noch ganz kalt. Wann kommt Jessi?“

Typisch. Wie immer hat Ma keine Ahnung von unserem Leben. Neulich hat sie sogar Cleos Namen vergessen und mich gefragt, zu wem ich denn bitte gefahren bin, als sie den Zettel mit der Aufschrift ‚Hi, Mama. Ich komme ein bisschen später, bin bei Cleo.‘ gefunden hat. Auch von meiner kleinen Schwester weiß sie mittlerweile nicht mehr viel. Noch vor ein paar Jahren hat sie genau gewusst, wer von uns beiden wann Schulschluss hat, welche Freunde an welchem Tag zu Besuch kommen und welches Hobby uns an dem und dem Nachmittag erwartet. Heute können wir uns freuen, wenn unsere Mutter nicht vergisst, dass sie zumindest sonntags mit uns Essen kann und nicht in die komische Kantine der Mitarbeiter des Krankenhauses muss.

„Die kommt in ungefähr einer Stunde“, sage ich leise, noch ganz in Gedanken, und folge meiner Mutter in die Küche. Der Tisch ist auffällig hübsch gedeckt, in der Mitte steht eine kleine Ansammlung grüner Kerzen, die mit einem Päckchen von meinem Vater gekommen sind. Er hat sie zu Mamas Geburtstag geschickt, konnte aber keine vernünftiges Geschenkt mitschicken, zu teuer. Dafür hat er den Kerzen einige Bilder von sich und seinem besten Freund Benjamin beigelegt, mit dem er häufig unterwegs ist. Die beiden haben schon in ihrer Kindheit ein gutes Team abgegeben.

„Magst du dich nicht setzen?“, fragt sie und lächelt mich schief an, deutet dann auf einen Küchenstuhl. Ich nicke und setze mich. Seltsam, wie fremd es sich anfühlen kann, mit der Mutter zu Mittag zu essen. Ich hätte nie gedacht, dass ich in absehbarer Zeit hier sitze und mir nichts sehnlicher wünsche, als dass sie bitte, bitte zur Arbeit gehen möge, damit ich nicht völlig wortlos vor mich sitzen muss. Meine Mutter kommt mir vor wie ein stummes etwas, das darauf wartet, unterhalten zu werden und das dich anschaut, bis du dich unter dem Blick windest, weil du nicht weißt, was du tun sollst.

Schweigend piekse ich in meine Pizza, trenne sorgfältig ein Stück ab, schiebe es mir in den Mund. Sie schmeckt gut, fast so gut wie Jessis, aber nur fast. Kein Wunder. Wenn meine Ma mal da ist, essen wir meist Fertiggerichte oder meine kleine Schwester kocht, weil Mama zu überarbeitet und müde ist. Man kann ihr dann einfach nicht zumuten, auch noch für Essen zu sorgen.

„Du, Mama. Hast eigentlich Papas Brief gelesen?“, frage ich, nur um die Stille aufzulösen, da ich weiß, dass die Frage vollkommen überflüssig ist. Natürlich hat sie! Sie liest jeden Brief, tausend mal raus und runter. Sowohl das Blatt, das immer an Jessi und mich gerichtet ist, als auch das, das Papa direkt an sie schreibt.

Sie lächelt noch ein wenig mehr. „Ja, habe ich. Es ist schön, dass er uns besuchen kommen will, nicht?“

„Ja, ist es.“

„Wie läuft es in der Schule?“

„Geht so. Heinzl nervt ein bisschen.“

„Heinzl? Ist das Herr Hinsemann?“

„Mhm …“

So läuft das immer, wenn Mama da ist, auch am Wochenende. Gespräche ohne Hintergrund, unwichtiges Zeug, nie irgendwas wichtiges, ohne die eigenen Gefühle einzubringen. Ich kenne Leute – unter anderem Jamil und Cleo – die mit ihren Eltern über alles und jeden reden, sogar mit ihnen lästern können. Es fällt ihnen nicht schwer, mit dem Vater ein tiefgründiges Gespräch zu führen oder, in Jamils Fall, mit der Mutter einen Nachmittag im Schwimmbad zu verbringen. Jessi und ich hingegen sind sowas überhaupt nicht gewohnt. Wir hängen immer zusammen, wenn wir jemanden zum Reden brauchen, wenden wir uns an den anderen oder an Freunde. Unternehmungen mit der Familie heißt bei uns so viel wie: Jessi und ich gehen ins Kino, schlendern zur nächsten Eisdiele oder shoppen gemeinsam. Nie ist Mama dabei.

Verkrampft konzentriere ich mich auf meine Pizza, esse extra langsam, um nicht reden zu müssen. Meine Hände schneiden wie in Trance ein kleines Stückchen nach dem anderen ab, schieben diese unschlüssig auf dem Teller herum. Irgendwie ist mein Appetit ein bisschen in Mitleidenschaft gezogen worden.
 

Ich weiß nicht, wie lange ich schweigend vor meiner Mutter gesessen habe, aber wie so oft rettet mich meine kleine Schwester.

„Halloooooo!“, schreit sie bereits, als sie die Haustür aufzieht. Anschließend fliegen ihre Schuhe in die Ecke, ihnen folgen ihre Schultasche und die Jacke, dann poltert sie in Richtung Küche. „Tut mir wahnsinnig leid, dass ich gestern nicht mehr gekocht hab! Ich hatte echt keine Zeit mehr! Aber wie rieche, hast du- … Mama?“

Mit offenem Mund steht meine kleine Schwester in der Küchentür, sieht irritiert zwischen mir, mit der mittlerweile kalten Pizza, und unserer Mutter hin und her.

„Hallo, meine Süße.“ Noch immer liegt ein Lächeln auf ihren Lippen – wie immer.

„Hallo, Mama. Was machst du denn schon hier? Und wieso hast du Pizza gemacht? Das ist doch viel zu anstrengend! Wenn du schon mal hier bist, dann lässt du dich doch bitte auch bekochen!“

Aufgeregt weiterplappernd fischt Jessi sich einen Teller aus dem Schrank und lässt sich dann auf den Stuhl neben mir plumpsen. In ihrem Gesicht prangt ein so sorgloses Strahlen, dass sie mich wie so häufig an ein fünfjähriges Kleinkind erinnert. Sie freut sich immer, wenn Mama da ist, trotz der Tatsache, dass wir uns nicht mehr wirklich nahestehen. Vielleicht liegt es daran, dass sie im Gegensatz zu mir schafft mit Appetit zu essen.

„Was habt ihr zwei Lieben denn heute so vor?“

Eigentlich habe ich bereits auf Durchzug geschaltet, aber dieser Satz weckt mein Interesse … Da war doch irgendwas.

„Keine Ah-“

„Doch“, unterbreche ich sie schnell, als es mir wieder einfällt, „du hast eine Ahnung! Wie müssen zum Zirkus!“

Hach, wie herrlich, wenn man Leute zum Lachen bringen kann! Denn genau das tue ich gerade. Meine kleine Schwester guckt mich irritiert an, dann beginnt sie haltlos zu lachen.

„Was denn?“

„Du?! Zirkus?? Freiwillig?! Willst du mich verarschen??“

Sich krümmend vor Lachen hält sie sich an der Tischkante fest, ignoriert Mamas bösen Blick angesichts des ‚bösen Wortes‘.

„Äh … ne, das meine ich ernst.“

„Echt jetzt?“ Ihr Lachen hört schlagartig auf. „Was ist denn dann kaputt?“

„Nichts, ich möchte da einfach noch einmal hin.“ Möglichst unschuldig lächle ich in die Runde, räume mein Geschirr weg und gehe, den Kopf hoch erhoben, in mein Zimmer.
 

Als Jessi mein Zimmer betritt, bemerke ich sie erst gar nicht. Erst, als sie sich stumpf auf meine Beine fallen lässt, schrecke ich zusammen.

„Mann, Dani! Sitzt du schon die ganze Zeit hier und starrst die Wand an?“

Nicken meinerseits.

„Ganz ehrlich mal: Warum willst du zum Zirkus?“

Ich seufze, diese Frage musste schließlich kommen.

„Is halt so …“

Meine kleine Schwester grinst und zieht die Augenbrauen hoch. „Es ist wegen dem Seiltänzer, stimmts?“

Unbewusst beginne ich, mich auf meinem Stuhl zu winden. Der berühmte Aal im Anzug ergreift von mir Besitz, während sich in mir alles um sich selbst dreht. Wie ein Wirbelsturm. Herum und herum und herum, immer wieder.

„Ja“, gebe ich schließlich leise zu, „auch. Ich … er ist in meiner Klasse, seit heute.“

„Echt jetzt? Oi, wie cool is das denn?!“ Beinahe bekomme ich ihre Hände gegen den Kopf, als sie fröhlich in die Hände klatscht. „Das ist ja mal ein cooler Zufall! Ich hab jetzt auch ein Zirkuskind in der Klasse. Sie heißt Linda.“ Kurz strahlt sie mich noch an, bevor sie merkt, dass ich ihre überschwängliche Begeisterung nicht so ganz teilen kann.

„Aber jetzt mal ehrlich: Du willst wegen ihm mit mir da hin, oder?“

„Wie gesagt, auch. Er hat mich nur gefragt, ob du immer so gut mit Tieren umgehen kannst … Ja, und da hab ich halt ja gesagt. Und dann meinte er, dass wir halt mal vorbeikommen sollen …“

Mit den letzten Worten ist meine Stimme zu einem unverständlichen, leisen Genuschel mutiert, meine Wangen färben sich rot, Hitze steigt in meinen Kopf. Sie pulsiert in meinem Kopf und ich fühle mich, als wäre er jederzeit explosionsgefährdet. Peinlich. Scheiße, ist das peinlich! Hätte ich gewusst, dass es einem selbst vor der eigenen Schwester peinlich ist, zuzugeben, dass man eventuell ein Auge auf jemanden geworfen hat, hätte ich jetzt sicherlich schön den Mund gehalten.

Glücklicherweise sagt Jessi nichts, steht allerdings auf und deutet auffordernd in Richtung Tür.
 

„Mama? Wir gehen dann mal!“, schreit Jessi, bereits im Türrahmen stehend, die Jacke über dem Arm.

Mama liegt mittlerweile im Wohnzimmer und liest ein Buch, das Papa mal geschickt hat. Irgendeinen Reiseführer über Australien. Unsere Mutter liebt Australien seit einigen Jahren, wünscht sich nichts sehnlicher, als ein einziges Mal mit Jessi, Paps und mir in einen Flieger Richtung Sydney zu fliegen.

„Viel Spaß, ihr zwei Süßen! Ich mache Abendessen, also seid bitte früh genug wieder da, ja?“

„Jaaaa“, geben wir einstimmig Antwort, dann fällt die Tür hinter uns zu.
 

Das Mädchen mit den rotblonden Haaren – die im Übrigen schon beinahe orange sind – und den vielen Sommersprossen, das wir in der Manege treffen, ist allem Anschein nach Linda … ich bezweifle, dass es meiner kleinen Schwester sonst begeistert um den Hals gefallen wäre. Denn: Wer würde das, abgesehen von mir, tun, nach mehr als einer Stunde mit ihr in einem Raum? Mein Verdacht wird bestätigt, als Jessi das Mädchen freundlich mit dem Namen Linda begrüßt und mich anschließend als „ihren großen Bruder“ vorstellt, was ich freundlicherweise noch

mit meinem Namen ergänze.
 

„Hey, hi. Freut mich dich kennenzulernen, Daniel. Jessi hat dich schon beschrieben … Hat dich ganz gut getroffen.“ Sie grinst freundlich und strahlt mich aus ihren blauen Augen an. Das Licht fängt sich in dem kleinen Kreuzanhänger um ihren Hals und die Sommersprossen tanzen fröhlich

über ihre Wangen. Ja, wäre ich nicht am anderen Geschlecht interessiert, dann würde ich sie sicherlich sehr attraktiv finden – abgesehen davon, dass ich nicht unbedingt mit einem Mädchen in Jessis Alter zusammen sein wollen würde. „Darf ich fragen, was ihr zwei hier macht?“

„Jaaa, das ist irgendwie ein wenig seltsam …“, beginne ich und spüre, wie meine Wangen wieder rot werden. „Da ist dieser Typ, der hier auch wohnt. Jerome. Er ist jetzt in meiner Klasse und meinte, Jessi und ich sollten doch bitte heute vorbeikommen und-“

„Aaach, dann hat Jeri von Jessi geredet, als er meinte, er hätte unsere Aushilfe gefunden!“

In diesem Moment sieht meine kleine Schwester aus, als hätte man sie mit offenem Mund eingefroren. Ich sehe wahrscheinlich auch nicht besser aus: Sperrangelweit geöffneter Mund, weit aufgerissene Augen und ein so planloser Ausdruck, dass selbst ein Auto vor Neid erblasst wäre.

„A- Aushilfe?“, fragt Jessi verwirrt.

„Du weißt das gar nicht?“ Überrascht zieht Linda eine Augenbraue hoch, dann winkt sie lässig ab.

„Ach, das ist mal wieder typisch Jeri. Er mag es, Leute zu überrumpeln. Aber egal. So wie ich das verstanden habe, wollte er dich bitten, uns beim Versorgen der Tiere zu helfen. Drei Monate sind echt lang, wenn man die Zeit nur auf einer einzigen Wiese verbringt und damit die Tiere genügend Abwechslung bekommen, brauchen wir Hilfe. Hunde ausführen, mit den Pferden aufs Land fahren, so was halt … Jeri meinte, du kannst gut mit Tieren umgehen und deswegen stehst du auf unserer Liste der potentiellen Helfer ganz oben.“

„Schön, dass ich das auch mal weiß …“, stellt Jessi fest, schaut zwei Sekunden extrem beleidigt drein, bevor sie über das ganze Gesicht zu strahlenbeginnt. „Oh mann, das ist aber ja mal das geilste Angebot, dass ich je bekommen hab! Wann soll ich anfangen?“

„Jetzt. Komm mit, ich stell dir die Tiere vor!“

Und schon sind sie weg. Super! Und was mach ich jetzt?

„Äääh, hallo?“, rufe ich unsicher durch das leere Zirkuszelt. „Ist hier noch wer?“

„Jahaaaa, einen Moment. Ich kommeeee!“

Es dauert ein Weilchen, bis ich die Richtung ausgemacht habe, aus der jetzt Schritte ertönen, doch als ich die Person schließlich erblicke, weiß ich sofort, wen ich da vor mir habe. Ihr langes schwarzes Haar hat sie zurückgebunden, ihr Körper steckt in bunten Trainingsklamotten und sie ist, nicht wie in

der Schule, ungeschminkt.

„Bist du wegen der Pflergerstelle hier?“, fragt sie interessiert und will mir gerade ihre Hand hinhalten, als sie die schwarzen Flecken auf ihren Handflächen bemerkt.

„Oh, entschuldige bitte“, grinst sie peinlich berührt, während sie versucht, sich das Zeug an ihrer Hose abzuwischen, „das Gerüst mit den Bänken ist ein kaputt und ich muss da so ein bisschen was reparieren – da bleiben meine Hände leider nicht ganz verschont.“

„Kein Problem“, gebe ich ein wenig unsicher zurück.

„Und, bist du jetzt hier wegen der Stelle hier?“

„Indirekt.“

„Wie jetzt?“

„Ja, dein komischer Freund hat meine Schwester ohne ihr Wissen engagiert … sozusagen. Also er hat sie und mich eher hier herbestellt und deswegen stehe ich jetzt desorientiert in eurem Zirkuszelt.“

Obwohl ich dachte, mich klar ausgedrückt zu haben, sieht Jeromes Freundin noch viel verdatterter aus als vorher.

„Mein … Freund?“ Irritiert zieht sie eine Augenbraue hoch. „Eeeeh, ich hab keinen Freund, sorry. Sag mal, bist du nicht einer aus der Übergangsklasse von meinem Bruder?“

Die Alarmglöckchen in meinem Kopf beginnen so laut zu schrillen, dass ich mir beinahe an die Schläfen gefasst hätte. Ihr Bruder? Ihr Bruder?! Ich verdammter Idiot!! Jerome ist gar nicht … ihr Freund, sondern ihr … Bruder? Na klasse! Fettnäpfchen.

„Oh mein Gott, das ist jetzt peinlich.“ Noch während ich das sage, wird mein Kopf feuerrot.

Sie beginnt, wissend zu grinsen. „Achsooo, verstehe. Der Herr Bruder hat sich mal wieder einen Kerl angelacht und der denkt jetzt, ich wär seine Freundin … Aber ich kann dich beruhigen: Jerome ist single. … Gott, der hat aber wirklich ziemlich Talent dafür, es sich mit allen zu verderben …“

Halt, stopp! Zu viele Informationen! Nochmal von vorne: Jerome hat eine Schwester, die nicht seine Freundin ist – logischerweise – und er ist … schwul? Bi? Und zur Krönung ist das Mädel da auch noch der Überzeugung, Jerome hätte mich – äh – angelacht? Gott ey, jetzt bin ich endgültig überfordert!

„Das verwirrt dich jetzt, was? Übrigens, wenn ich mich mal kurz vorstellen darf, muss mich doch Jeris Zukünftigem vorstellen, ich bin Vanessa. Du kannst dir aussuchen, ob du mich Nessa oder Nessi nennen willst.“

Fröhlich lacht sie mich an, ich starre völlig verdattert zurück. Noch ein Stück Info zu viel mehr.

Himmel, ich dreh hier noch durch!

Schüchtern sehe ich sie an, dann hole ich Luft, um einiges klarzustellen: „Äääääh, ich glaubeeee, du hast so ein bisschen was falsch verstanden … Jerome hat mich nicht ‚angelacht‘ oder so … er ist nur in

meiner Klasse.“

„Oh, scheiße! Dann seid ihr gar nicht …?“

Seufzend lässt sie sich in die Holzspäne der Manege fallen und schlägt sich resigniert die Hand vor den Kopf.

„Verdammt! Ich rede einfach zu viel, was? Oh Gott, Jeri sagt immer, ich soll nicht bei jedem erstbesten Typen, der nach ihm fragt, erzählen, dass er schwul ist … auf die Gefahr hin, dass ich damit mal wieder den falschen erwischt hab. Das tut mir jetzt echt leid, wirklich! Aber ich freu mich immer für ihn, wenn er eventuell wen gefunden hat, weil er sonst immer so allein … Ach, ist je auch egal. Jetzt hab ichs wieder vermasselt … Entschuldige … Wie heißt du überhaupt?“

Ich sehe sie an, als hätte sie mir gerade eröffnet, dass gleich Florian Silbereisen hereinspazieren und mich auf eine Reise durch die wundervolle Welt der Schlager mitnehmen wird. Sprich: Vollkommen entsetzt.

„Ähm …“ Hirn, bitte geht an, ich brauche dich! Hallooooo? Ist da was bei mir oben drin? Haaaallo? …

Anscheinend nicht. Schöne Scheiße aber auch!

„Du heißt Ähm? Schöner Name, hab ich ja noch nie gehört.“

„N- nein, also … ich bin Daniel Sch- schön, dich kennen zu lernen.“

Nessi lächelt. „Okay. Hi, Daniel. … Falls du willst, zeig ich dir mal, wo deine Schwester ist.“ Fragend sieht sie mich an, lächelt freundlich, doch ich merke, dass sie sich innerlich noch immer eine Ohrfeige

nach der anderen verpasst.

„Klar, danke.“

„Na dann komm mal mit.“

Nervös folge ich Jeromes Schwester nach draußen, werde von ihr zu mehreren gelben Zelten geführt, während sie die ganze Zeit vor sich hin brabbelt. Je näher wir dem ersten Zelt kommen, desto unruhiger werde ich. Was, wenn Jerome auch da ist? Wenn ich ihm jetzt gleich begegne? Ja, er weiß nichts von dem Gespräch mit Vanessa, aber es wäre mir wirklich trotzdem wahnsinnig peinlich.

Vielleicht, weil ich gar nichts dagegen gehabt hätte, hätte er mich wirklich angelacht, um es mit den Worten seiner Schwester auszudrücken.

„Dani, da bist du ja!“, ruft Jessi freudig, als wir in den ersten ‚Stall‘ eintreten, mir mit einem Hundewelpen auf dem Arm entgegenrennt. „Guck mal, das hier ist Milky. Ist er nicht total süß??“

„Ja, ja, das ist er.“ Verträumt streiche ich durch das Fell das kleinen Golden Retrievers und bin plötzlich sehr erleichtert, dass meine Schwester noch immer nur mit Linda hier ist.

„Und stell dir mal vor, sie können ihn hier nicht behalten! Sag mal, können wir ihn nicht behalten? Er ist soooo niedlich!“

Ich seufze leise. Damit hätte wirklich rechnen können. Jessi ist ein sehr tierlieber und vor allem hundebegeisterter Mensch. Als Jamil das erste Mal mit Fina angerückt ist, ist sie dem Hund um den Hals gefallen, bevor sie meinen besten Freund begrüßt hat.

„Vielleicht …“

„Daaaankeschön!“ Dieses Mal umarmt sie mich wirklich – allerdings nur mit einem Arm, auf dem anderen hängt immer noch Milky.

Hinter mir ertönt ein leises Lachen, dann spüre ich warmen Atem in meinem Nacken. Nur ein leichtes, weiches Streichen, doch ich spüre es trotzdem so intensiv, als würde mir eine Windböe unter den Kragen kriechen. Ein Schauer rennt über meinen Rücken, noch bevor ich mich umdrehe, um zu sehen, wer da hinter mir steht – auch, wenn ich es eigentlich bereits weiß. … Und ich liege sogar richtig. Es ist niemand anderes als Jerome. Er trägt ein weißes Shirt, das über uns über mit Farbklecksen übersäht ist und eine ausgewaschene blaue Jeans. Es ist ein Wunder, dass er es trotzdem schafft wahnsinnig gut auszusehen.

„Sieht aus, als müssten wir uns zumindest um Milky keine Sorgen mehr machen.“

„Hey“, unterbrach ich seine Freude, „ich sagte vielleicht!“

„Ach was, das ist doch schon ein halbes Ja! Und wenn du Milky besser kennst, wirst du ihn behalten müssen!“
 

Einige Stunden später sitzen wir alle – heißt: Jessi, Jerome, Nessi, Linda, ich und einige andere Artisten – um ein großes Lagerfeuer herum. Wir haben unsere Ma angerufen und angekündigt, dass Es etwas später werden könnte. Tja, und jetzt sitze ich hier, dicht eingequetscht zwischen Linda und Jerome und habe Angst mich zu bewegen, weil ich dann eventuell gegen den Jungen an meiner Seite

Stoßen könnte.

„Du, Daniel?“ Ich zucke zusammen, als ich Jeromes Stimme neben meinem Ohr höre. „Ich wollte mal fragen, wie es dir hier gefällt.“

„Es ist schön hier, warum?“

„Also erlaubst du deiner Schwester hierher zu kommen?“ Er grinst mich freundlich an, die Flammen spielen auf seinem Gesicht. Ja, er ist schön. Ich komme nicht umhin, das festzustellen.

„Ja klar.“

„Kommst du dann auch mal mit?“

„Ja, warum nicht?“

„Das ist schön.“
 

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Hayoooo!

Neues Kapitel! <3

Ich hoffe, ihr hattet euren Spaß.
 

Uuuund, hrhr, Jerome freut sich auf Daniel ^^

Wer weiß, wer weiß, was daraus so wird :D
 

Nocheinmal ein rieeesiges Danke an meine Favo-Leute und die Kommentar-Feen <3

Herzlichstes Dankeschön, wirkich!

Es sit immer toll, Rückmeldungen zu seinem "Baby" zu bekommen.

Vielen, vielen Dank!
 

Ganz lieben Gruß,

lady

Zettelchen

Und weiter gehts :)

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Zettelchen
 

Fina bellt lautstark und zerrt an der Leine. Ihr Schwanz wedelt freudig hin und her, als sie Jessi, Linda und Jerome mit den Zirkushunden auf sich zukommen sieht.

„Heyooo“, ruft Jessi und winkt, während sie von einem schwarzen Pudel fast von den Füßen gerissen wird – ja, ich rede von den Riesenpudelviechern, nicht von den kleinen, süßen mit den Knopfaugen. „Na, wie geht’s?“

Neben mir fasst Jamil die Leine fester und versucht, seine Hündin zurück zu halten, die Jessis Pudel freudig entgegenhüpft.

„Alles gut, und bei euch?“, erwidert mein bester Freund lächelnd, der erst meine Schwester und dann Linda und Jerome begrüßt, die hinter ihr herdackeln.

Mein neuer Klassenkamerad lächelt und lässt sich von Fina einmal quer über die Wange lecken: „Och, ganz in Ordnung, solange dein Liebling mich nicht noch umbringt.“

„Keine Sorge, so böse war sie noch nie. Sonst wäre ich schon lange tot“, grinse ich.

Allgemeines Gelächter, dann machen wir uns auf den Weg zum Park.
 

„Neeein, gib sie her!!“

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, meine Angst vor öffentlicher Blamage innerhalb von ein paar Minuten zu überwinden, aber anscheinend habe ich es geschafft – immerhin renne ich gerade meine Tasche jagend hinter Jerome her und schreie dabei ungefähr so laut wie Jessi, wenn ich sie durchkitzele. Das ernsthafteste Problem an der ganzen Sache ist allerdings, dass ich die Kondition einer Kartoffel habe und daher auch nach zehn Minuten meine Tasche nicht zurückerobern kann. Himmel, ich sollte mir …

„Daniel, du solltest dir mal Gedanken um deine sportlichen Aktivitäten machen!“, lacht Jerome, bevor er gnädigerweise stehen bleibt, um mir mein Eigentum zurückzugeben.

Hechelnd stemme ich mich mit den Händen auf den Knien ab. „Hahahaha, du … du hast ja auch ständig … Training! Nich jeder … macht … ständig Sport … wie du!“

„Merk ich!“

Zu meinem Leidwesen nicht nennenswert auf der Puste, lässt Jerome sich neben Jamil auf den Boden fallen, der Linda und Jessi zuguckt, die sich seit ungefähr einer Stunde damit beschäftigen, die Hunde zu unterhalten. Sprich: Die rennen lachend und stöckchenwerfend durch die Gegend und sehen dabei noch bescheuerter aus als ich auf Taschenjagd.

„Vielleicht solltest du mal mit mir mittrainieren.“

„… Bitte was?“ Entsetzt starre ich ihn an. Ich? Training? Zirkus? … Der will mich jetzt verarschen, oder? Ich sehe auch so aus, als könnte ich Ewigkeiten an Trapezen baumeln und mich so verknoten, dass ich letztendlich akrobatisch ansehlich in der Luft hänge. Ooooder – noch besser – auf dünnen Seilen drei Meter über dem Boden durch die Manege rennen. Sicherlich. „Ähm … nee?“

„Warum nicht?“

„Hast du nicht grad selbst indirekt gesagt, dass meine Kondition ziemlich am Arsch ist? Und wenn du dann auch noch mit einbeziehst, wie viel Erfahrung ich voraussichtlich mit Akrobatik habe, dann weißt du, warum ich ein Training mit dir nie überleben würde.“

„Ach Quatsch, so schlimm ist das gar nicht.“ Er lacht spitzbübisch, lehnt sich nach hinter und legt sich ins Gras. „Du würdest das schaffen. Also, machst du mit?“

Aaach, das war jetzt wirklich sein Ernst?? Meine letzte Hoffnung, er könnte mich gerade echt verarscht haben, wird erst verschwindend gering und dann verschwindet sie komplett, als er leise auflacht. „Ja, bevor du was sagst, ich meinte das ernst.“

Wuaah, er kann meine Gedanken lesen! … Grusel.

Hilfesuchend werfe ich einen Blick auf Jamil, der nur mit den Schultern zuckt und mich angrinst. Toller bester Freund, wirklich. Da denke ich immer, er kann mir aus der Patsche helfen, wenn ich ihn brauche und was macht er, wenn ich tatsächlich in der Patsche hocke? Er zuckt mit den Schultern und grinst. Super. Bravo. Daniel, du musst dich jetzt selbst um deine Rettung küm-

„Ich glaube, er würde ganz gerne mal mitmachen.“

What the fuck?? Aha, ist klar: Erst hilft er mir nicht und dann reitet er mich noch mehr in die Scheiße … So langsam frage ich mich tatsächlich, warum ich nochmal mit diesem Menschen so bedingungslos befreundet bin.

Jerome setzt sich auf, strahlt erst Jamil, dann mich an. „Echt jetzt? Cool!“

Ich mache gerade den Mund auf, als mir das Wort abgeschnitten wird, noch bevor ich auch nur einen Ton gesagt habe: „Boaaah, ich kann nicht mehr! Himmel, die sind so anstrengend!“

Dramatisch seufzend lehnt Jessi sich gegen meine Schulter und hält sich die Seiten. Sie klingt, als wäre sie gerade zu Fuß die Strecke der Tour de France abgelaufen – innerhalb von drei Stunden. Ihre Haare sind gespickt mit Blättern, die sie sich zugezogen hat, während sie durch Büsche und Gestrüpp des münstereigenen Dschungels gehopst ist und sie hat vor Anstregung ungefähr die Farbe, die mein Gesicht annimmt, wenn ich mit irgendwem mit unbekanntes reden soll. „Was redet ihr denn gerade so Schönes?“

„Das würde mich auch mal interessieren!“ Lina kniet sich zu uns und krault Fina hinter den Ohren, die mit Jessi zu uns gestoßen ist.

„Es geht um Daniel und seine Sportfreudigkeit. Jessi, könntest du ihm bitte sagen, dass ihm ein Training mit mir definitiv gut tun würde?“

Neeein, frag sie nicht! Ich weiß doch, dass sie sich nie auf meine Seite schlagen wird – ist sie doch der Meinung, mich oft zu meinem Glück zwingen zu müssen. Und hier stehen sogar gleich zwei Glückserlebnisse in Aussicht: Einerseits helfe ich meiner Fitness auf die Sprünge und zweitens verhilft mir dieses Training zu einem Nachmittag mit Jerome. Warum also zögern? Hmm … lass mich überlegen … Weil ich mich komplett zum Affen machen werde? Weil ich nach diesem Tag nie wieder in der Lage sein werde, Jerome in die Augen zu sehen, ohne rot anzulaufen? Aber wie ich meine kleine Schwester kenne, kümmern sie solche „Nichtigkeiten“ wenig.
 

Hahahahahahaha, wie schön. Was habe ich prophezeit? Man hat es wirklich geschafft! Ich sitze in der Manege, in Sportkleidung, und warte darauf, dass Jerome vom Klo zurückkommt. Warum habe ich mich bloß auf diese schreckliche Blamage eingelassen? Ich sehe es schon kommen: Am Ende dieses Tages sitze ich deprimiert und schokoladefressend auf meinem Bett und habe keine Ahnung, wie ich je aus dieser Schmach wieder auftauchen kann.

„Los, aufstehen. Wir müssen uns aufwärmen, bevor wie anfangen!“ Unsanft werde ich hochgerissen und vergesse, irritiert von der plötzliche schlechten Laune Jeromes, beinahe, meinen Stand zu stabilisieren.

„Was?“, keuche ich erschrocken, doch anstatt einem freundliche Lächeln erhalte ich nur einen kalten Blick.

„Du hast mich verstanden. Also hopp!“

Ich ziehe unsicher die Schultern hoch und schiele aus dem Augenwinkel in der Manege umher, auf der Suche nach jemandem, der mich aus dieser Situation befreien könnte, doch hier ist niemand. Die Manege liegt da, leer, wie eine Pralinenschachtel, die jemand leergegessen hat und die ohne neuen Inhalt wenig attraktiv wirkt.

„Wir fangen an mit ein paar Dehnübungen.“
 

Dehnübungen sind gut! Was er da mit mir veranstaltet, ist eher ein Programm, das man mit Sträflingen oder Soldaten durchführen würde, nicht mit einem armen, unschuldigen Jungen wie mir. Ich habe ja nichts dagegen, meine Handgelenke kreisen zu lassen – mit den Armen ist das ja auch kein wirkliches Problem. Schrecklich anstrengend wird es erst, wenn man mich dazu zwingt, mit gestreckten Beinen die Handflächen auf den Boden zu drücken, Bauchmuskeln zu stärken, während ich auf dem Boden liegend die Beine anhebe und so weiter, und so weiter. Jetzt gerade verzweifle ich daran, mit gegrätschten Beinen in der Manege sitzend den Oberkörper auf dem Boden abzulegen. Es ist zum Mäusemelken, wenn man sich dagegen Jerome ansieht, der mit dieser Übung keinerlei Probleme zu haben scheint: Seine Bewegungen sind geschmeidig wie die einer Katze, er wirkt nicht einmal angestrengt. Ganz im Gegenteil. Es sieht beinahe so aus, als würde es ihn langweilen. Seine Gesichtszüge sind völlig entspannt, seine Augen sind geschlossen, dünne schwarze Strähnchen fallen ihm ins Gesicht. Mein Gedanke, dass Jerome wunderschön ist, klingelt leise in meinem Kopf herum und hätte ich nicht schon gewusst, dass ich ihn verknallt/verliebt bin, hätte ich mir mindestens eine Ohrfeige verpasst. Ich beobachte ihn verträumt, wie sein Haar unter seinem Atem leicht bebt, ein kleines Lächeln zieht meine Mundwinkel nach oben – und dann öffnet Jerome die Augen. Schneller als iBlali das Wort ‚Hallo‘ aussprechen kann, schießt mir das Blut in den Kopf. Peinlich! Verdammt peinlich!

„Ist was?“

Neeeein, er hat es bemerkt! Scheiße!

„Ähm … nein … Ist nichts.“

„Schön. Ich hab das Seil vorerst nur einen Meter über dem Boden gespannt, damit du dir nicht alle Knochen brichst.“

Oh Mann, zum Glück, wenigstens das bleibt mir erspart. Unsicher trete ich von einem Fuß auf den anderen, weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich unwichtig, verstehe nicht, was Jerome auf einmal hat. Vorgestern im Park war er fröhlich, nett und zum Spaß haben aufgelegt. Heute ist er missmutig und unfreundlich, als hätte er überhaupt keinen Bock auf mich. Was soll das bloß? Es war doch seine Idee, mit mir zu trainieren! … Hab ich irgendwas falsch gemacht, ihn verärgert, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe?

„Sobald du auf dem Seil stehst, darfst du nicht mehr nach unten gucken, sonst ist der Kopf nicht mehr gerade und du kommst aus dem Gleichgewicht. Stattdessen such dir einen Punkt am anderen Ende, am besten in Augenhöhe. Und Körperspannung nicht vergessen.“

Ich beobachte interessiert, wie Jerome auf das Seil tritt, nicht eine Sekunde den Blick senkt, sondern geradeaus läuft, ohne auch nur ein Fitzelchen zu wackeln. Wow. Okay, mein ohnehin schon sehr angeknackstes Selbstbewusstsein erleidet nun den endgültigen Bruch, wenn ich das mal anmerken darf.

„Jetzt du.“ Eine Augenbraue erwartungsvoll hochgezogen sieht er mich an, scheint noch immer wenig begeistert von unserem gemeinsamen Training.

Das Drahtseil zittert schon, bevor ich mit einem Fuß vollständig stehe, doch ich schlucke das bekannte Gefühl der Unsicherheit herunter und beginne, mein Gewicht zu verlagern. Weiter, weiter, weiter … Kaum stehe ich auf einem Fuß, ziehe ich automatisch den zweiten nach, beginne zu schwanken, rudere wild mit den Armen – und lande auf dem Hintern, mitten in den Sägespänen.

Hinter mir ertönt ein spöttisches Lachen, Jerome packt mich unter den Achseln, zieht mich hoch.

„Kleiner, so wird das nichts. Du darfst nur einen Fuß auf dem Seil haben, dann hast du mehr Möglichkeiten die Gleichgewichtsveränderung auszugleichen. Verstehst du?“

Zum ersten Mal meine ich, ein winziges Heben seines linken Mundwinkels entdeckt zu haben, traue mich jedoch nicht, ihn darauf anzusprechen. Stattdessen nicke ich eifrig und beiße mir auf die Unterlippe, während ich es nochmal versuche. Dieses Mal konzentriere ich mich auf mein Gewicht, bemühe mich, nicht zu viel auf einmal zu verlagern, sondern ausgeglichen und langsam „aufzusteigen“. Und siehe da: Es klappt! Die Arme als Hilfestellung benutzend und einen Punkt in den Zuschauerreihen fixierend, schaffe ich es tatsächlich ohne Absprung über das Seil.

Jerome taucht neben mir auf. „Nicht schlecht, Kleiner. Noch ein bisschen öfter und wir können höher werden.“

„Meinst du?“

„Ich rede von ungefähr 50 Zentimetern, also ja, ich meine.“ Dieses Mal lächelt er wirklich.
 

Eine Stunde später bin ich völlig fertig, während Jerome noch nicht einmal wirklich Anstrengung an den Tag legt – jedoch wesentlich bessere Laune hat – und habe meinen Gleichgewichtssinn erheblich aufgebessert. Jetzt habe ich gerade geduscht und sitze Jerome gegenüber in seinem Wohnwagen. In der Mitte des kleinen Tischs steht eine Schale mit Gummibärchen, ich trinke gerade mein drittes Glas Wasser.

„Na, so schlimm? Immer noch nicht wieder auf der Höhe?“

„Nich so ganz, nee“, murmele ich und schütte des letzten Schluck in meinen Rachen. „Aber es macht Spaß.“

Selbstzufrieden verschränkt mein Gegenüber die Arme vor der Brust. „Ich hab gesagt, dass es dir gut tun wird.“

„Jetzt weiß ich’s ja.“

„Weißt du, was ich jetzt weiß?“

„Nein?“

„Du bist gar nicht so extrem schüchtern, wie ich dachte.“

Bin ich nicht? Ohh, doch, bin ich. Glaube mir, mein Lieber, könntest du gerade meine Nervosität messen, dein Messgerät würde vor Überlastung zerspringen.

„Sag mal“, fährt er fort, was hältst du von einem Film?“

Er sieht mich fragend an und ich habe fast das Gefühl, es ist keine Frage, sondern eher eine Bitte. Wenn auch eine nicht offensichtliche, sehr unterschwellige Bitte.

„Wieso Film?“, gebe ich zurück und schaue meinerseits fragend zurück.

„Keine Ahnung. Ist so schön entspannend nach dem Training.“ Er grinst. Haaaaha, jetzt muss ich aber lachen. Als wenn er sich entspannen muss! Er ist ja nicht mal angespannt, der Arsch! … Okay, Jerome ist kein Arsch, das nehme ich zurück, aber trotzdem.

„Okay, meinetwegen, aber ich such aus!“

„Alles klar, Kleiner.“

Gespielt entrüstet ziehe ich einen Flunsch. „Und hör endlich auf, mich so zu nennen.“

„Ich wird mir bei Gelegenheit was Besseres einfallen lassen!“ Lachend deutet er in Richtung Schrank. „DVDs sind da drin!“

Ich habe mich für ‚Mr. and Mrs Smith‘ entschieden und lehne jetzt an einem der Fenster, ein Kissen im Rücken. Jerome liegt neben mir, achtet jedoch so wenig auf mich, dass ich mich zu mindestens 100% überflüssig fühle. Wie ein paar kleine Sauerstoff-Atömchen im großen, weiten Universum. Ein richtig tolles Feeling, echt. Schüsse fallen, die beiden werten Ehepartner schreien sich an, und ich? Ich hocke da, starre auf den Bildschirm und versuche zu ignorieren, dass ich gerade neben meinem neusten Traummann sitze – was mir eher schlecht als recht gelingt.

Eine Pointe kommt, Jerome lacht kurz, ich spüre das Beben seines Körpers an meiner Seite. Er hört auf, der Film ist das einzig Laute in diesem Raum, aber ich höre nicht zu. Ich fühle nur, habe kein Ohr für Laute, alles ist leise, ganz leise.

„Du lachst ja gar nicht. Ist irgendwas?“

Erschrocken fahre ich aus meiner Traumwelt auf, schüttele automatisch den Kopf. „N- nein, es ist nichts. Wirklich.“

„Gut. Sonst sagst du Bescheid, ja?“

„Klar.“

Ich würde nichts sagen müssen. Wie sollte ich in so einer angenehmen Situation auch nur auf die Idee kommen, den Moment zu zerstören?
 

Der nächste Morgen beginnt damit, dass ich im Klassenzimmer auf Cleo treffe, die Jamil kurzerhand missbraucht, um sich über Sabrina lustig zu machen, die an unserer Schule die Rolle übernimmt, die man sonst für das totale Klischee hält: Das Biest. Die arrogante Zicke mit meterdicken Schminkschichten und einem Augenaufschlag, der jeden Typen, der über einen IQ in der Höhe eines Brötchens verfügt und sich davon irritieren lässt, dass kalte Augen manchmal so verdammt lieb wirken können.

Meine beste Freundin jedenfalls ist das personifizierte Grauen für unsere Lieblingszicke: Sie ist außergewöhnlich, beliebt und hat mehr Talente als Lady GaGa Outfits im Kleiderschrank. Und das ist auch einer der vielen Gründe, aus denen die beiden sich gerne bekriegen. Zwar sind sie nicht mehr so kindisch, dass sie sich Streiche spielen oder irgendwelche Gerüchte streuen, aber hinterrücks lassen sie kein gutes Haar an der anderen.

„Mfg, mit freundlichen Grüßen“, piepst Cleo gerade so hoch, dass sie ein nahestehendes Glas hochwahrscheinlich zerstört hätte, „die Welt liegt mir zu Füßen, denn ich steh drauf!“

Mit einer affigen Handbewegung wirft sie sich das Haar über die Schulter, dann hakt sie sich übertrieben lächelnd bei Jamil ein. „Komm Kevin, wir müssen unbedingt in die Stadt, damit du wieder meine ganzen Tüten tragen kannst. Außerdem muss ich unbedingt zu diesem tollen Laden, der Müllsackkleider verkauft! Das wird nämlich die allerheißeste neue Mode des Jahres, weißt du?“

Kevin ist Sabrinas Zwillingsbruder und meist ihr männliches Ebenbild. Auch er ist eingebildet, nur mindestens zehnmal so intelligent wie seine Schwester.

„Oh, hallo Patrizia!“ Zuckersüß lachend und mit gekonntem Hüftschwung tänzelt Cleo auf mich zu und haucht mit Küsschen auf die Wangen. „Schön dich zu sehen. Hast du schon gehört? Müllsäcke sind gerade ganz weit oben auf der Mode-Hot-List!“

Ich grinse, lege meine Schultasche ab und erwidere gespielt erstaunt: „Ach wirklich, Sabrina? Das klingt aber, als hätten wir eine Verabredung mit der Müllkippe. Second-hand ist ja immer billiger.“

Jamil beißt sich auf die Unterlippe, um einen Lachanfall zu verhindern, Jerome taucht hinter Cleo auf und schlingt ihr die Arme um den Bauch.

„Okay, okay, ich glaub dir das mit der Schauspielerei! Du kannst wieder Cleo werden, Süße!“

„Ich heiße nicht Cleo, Jeri, mein Name ist Sabrina!“

Aha, interessant, meine beste Freundin ist schon dazu übergegangen, ihn bei seinem Spitznamen zu nennen! Gut zu wissen …

„Habe ich eben meinen Namen gehört?“

Die Stimme kommt aus meinem Rücken und den Worten folgt der süßliche Geruch nach Fruchtshampoo. Ich kann die klimpernden, stark geschminkten Augen schon vor mir sehen, noch bevor ich mich umdrehe – und augenblicklich zurückweiche, als ich bemerke, dass Ms Mode so dicht hinter mir steht, dass meine Nase beinahe ihren Busen berührt. Sie trägt ein babyblaues Kleidchen, das mir für die Schule ein bisschen sehr knapp vorkommt, zusammen mit beigefarbenen Römersandalen. In ihren Ohren stecken goldene Kreolen und ihr schulterlanges haselnussbraunes Haar hängt ihr in Fransen in die Stirn, eine schneeweiße Jacke hängt über ihrem Arm.

„Ja, wir haben uns gefragt, mit wie vielen Lehrern du wohl schon das Bett geteilt hast, um nicht hängen zu bleiben.“ Mit einem bittersüßen Lächeln setzt Cleo sich auf einen Tisch, baumelt mit den Beinen. „Vielleicht könnte ich das ja auch mal ausprobieren, in Mathe steht meine Note ziemlich auf der Kippe.“

Sabrina erwidert das Lächeln ebenso scheinheilig. „An sich ist das wirklich keine schlechte Methode, aber für ein Mädchen von gutem Hause, wie ich es bin, wäre das lediglich eine bösartige Rufschädigung. Aber eine kleine Emo-Schlampe im Bett, das könntest du Herrn Werner sicher anbieten. Der mag es EMOtional.“

„Interessant. Schön, dass du das weißt, wenn du selbst noch nie mit ihm Bett warst.“ Daraufhin klappt Sabrinas Mund auf, ihre Augen weiten sich und ich bin mir beinahe sicher, dass sie gleich an die Decke geht. Meine beste Freundin allerdings grinst nur. „Überleg dir, wie scharf du aufs eigene Tor schießt, Zuckerpüppchen.“

Elegant hüpft Cleo von dem Tisch und läuft zu ihrem Sitzplatz hinüber, genau in dem Moment, in dem Herr Werner, einer unserer liebenswerten Referendare, das Klassenzimmer betritt.

Während ich in meiner Tasche nach meinen Mathe-Sachen suche, bemerke ich, dass die halbe Klasse mit einem unterdrückten Lachanfall kämpf – wahrscheinlich haben sie mitgehört, was bei der Lautstärke eben nicht verwunderlich ist.

„Guten Morgen allerseits“, begrüßt uns Herr Werner und streicht sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar. „Bitte nehmt eure Hausaufgaben raus, wir haben heute Einiges zu tun.“

Sabrina hebt die Hand.

„Ja, Sabrina?“

Lächelnd streicht sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Sind sie eigentlich ein sehr emotionaler Mensch?“

Wie vorhin betont sie die Silbe ‚emo‘ mehr als deutlich, doch ihr Lächeln wirkt ein wenig menschenfreundlicher als das honigsüße Falschgrinsen im Gespräch mit Cleo.

„Sabrina, ich wüsste nicht, was dich das angeht, aber wenn du möchtest, darfst du gerne die erste Aufgabe vortragen.“

Einen Schmollmund ziehend gehorcht Sabrina, trägt die Aufgabe vor und widmet sich anschließend einem angeregten Gespräch mit Lisa Marie. Ich hingegen beobachte so unauffällig wie möglich Jerome, der sogar aufzupassen scheint. Interessiert macht er sich Notizen, blättert in seinem Buch herum und immer wenn er sich meldet und Herr Werner ihn drannimmt, versinke ich in den Klängen seiner melodischen Stimme. Ja, ich bin verschossen, verliebt, verknallt. Nennt es, wie ihr wollt! Egal was, man kann ein fettes VERDAMMT davor setzen. Verdammt verschossen, verdammt verliebt und verdammt verknallt! Gerade lacht er über eine Bemerkung Antons und sein ganzer Körper bebt leicht, das dunkle Haar fällt ihm in die Augen. Ich weiß, dass das extrem kitschig klingt, aber er ist so schön, dass ich sterben könnte. Auf der Stelle. Einfach umkippen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was das bringen würde.

Verträumt zeichne ich mit meinem Bleistift Kreise und Spiralen auf kariertes Papier. Mal kleinere, mal größere, im Hintergrund murmelt Herr Werner irgendeinen Mischmasch aus unverständlichen Silben, viel zu leise, als dass ich ihn verstehen könnte.

„Daniel? Heeheey, Daniel!“ Jemand rüttelt mich an der Schulter, ich schrecke auf und wende mich Jamil zu, der mich wissend anlächelt. „Na, am Träumen von Mr Right? Ich glaub, der hat dir ein Zettelchen geschickt. Hier.“

Mein bester Freund drückt mir einen kleinen weißen Zettel in die Hand, bevor er sich wieder seinem Heft widmet. Meine Finger zittern leicht, als ich das Stück Papier auseinanderfalte.

Hey, du :)

Training gestern war lustig. Wiederholungsbedarf?

Muss gleich nach der Stunde zum Arzt, kann mich nicht mit dir unterhalten.

Ruf mich an: 0152 22538508

Freu mich, Jerome :D

Mein Herz setzt kurz aus, dann beginnt es, einen Hampelmann nach dem anderen zu machen. Es zappelt in meiner Brust herum, als ob es sich selbstständig machen wollte. Schnell schnappe ich mir einen Stift, drehe den Zettel um und schreibe meine Antwort:

Alles klar, mach ich.

Ich ruf dich nach der Schule an, okay?

Bis dann,

Daniel

„Und?“, fragt Jamil, sobald er den Zettel auf den Weg zurück geschickt hat. „Was wollte er?“

Ich muss strahlen wie ein Honigkuchenpferd, denn mein bester Freund beginnt wohlwollend zu lächeln, noch bevor ich ihm von dem Inhalt der Nachricht erzählt habe.

„Er will sich mit mir treffen. Ein zweites Training! Jamil, das ist sowas wie ein Date!“ Zu meinem Glück schaffe ich es sogar, relativ leise zu bleiben, ansonsten hätte ich mich wohl ziemlich zum Affen gemacht.

„Glückwunsch, Kleiner! Und pass ja auf, dass du mir nicht zum blauäugen Liebestrottel.“

Schnell wuschelt er mir einmal durchs Haar, dann guckt er wieder nach vorn.
 

_____________________________
 

Hallo, ihr Lieben!!

Ich hoffe, ihr hattet Spaß an diesem Kapitel und hinterlasst mir ein paar klene Sätzchen. Es würde mich natürlich sehr interessieren, was ihr für gut haltet und wo ihr noch Verbesserungsbedarf seht.
 

Übrigens will ich mich jetzt mal eineln bei jedem bedanken, der die Geschichte favorisiert hat und gegebenenfalls auch einen Kommentar hinterlassen hat. Bisher hab ich mich ja nur "oberflächlich" bedankt.

Also, gaaaanz liebes Dankeschön an:

- -Black-Pearl

- -Karma-

- Alix

- Azalee

- ChocolateDream

- eden-los

- Jeschi

- Kaito-

- Regenwurm

- Salix

- Shunya

- twain

- Twilight_of_Darkness

- xXMomokoXx

und PsychoCulture

<3
 

Und ein noch viel größeres extra Dankeschön an Salix, da sie mir so viele Infos zukommen lässt, was Seiltanzen und Zirkus angeht!! <3 <3
 

Lieben Gruß,

lady

Verständnis(los)

Viel Spaß!! :D
 

__________
 

Verständnis(los)
 

Cleo lacht und legt mir einen Arm um die Schultern. „Das ist sooo genial! Wirst schon sehen, der ist besser als Yannik!“ Yannik, das ist mein Ex. Ich habe ihn damals beim Tennis kennen gelernt (ein scheiß Schnupperkurs, bei dem ich festgestellt habe, dass Sport nicht die richtige Freizeitbeschäftigung für mich ist) und im Prinzip hab ich nie vorgehabt, mich zu verlieben – und wenn ich ehrlich bin, war ich es auch gar nicht. Ich habe es mir nur eingeredet, wollte verliebt sein, wollte mich geborgen fühlen. Wollte all das, was mir gefehlt hat. Und Yannik war einfach da und so verdammt lieb, dass ich nicht anders konnte, als mich – na ja – in ihn zu „verlieben“. Jessi war in dieser Situation auch nicht gerade die Riesenhilfe, sondern eher die, die mich in x-tausend Dates reingeritten hat.

„Cleo, jetzt mach mal halblang. Noch ist rein gar nichts gelaufen“, versuche ich, meine beste Freundin zu beruhigen, während ich mit ihr den Weg zu ihr nach Hause einschlage. Sie will irgendein Kleidungsstück an mir abstecken, so fern ich das richtig verstanden habe.

Anstatt ernsthaft über meinen Einwand nachzudenken, schüttelt Cleo den Kopf und grinst: „Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Ein spitzbübisches Augenzwinkern, ich verdrehe die Augen, dann laufen wir weiter durch die Sommerhitze in Richtung Mittagessen.
 

Mittagessen. Wie wunderbar das klingt, wenn man während des Denkens in eine Wohnung geht, die nach selbstgemachter Lasagne duftet. Herrlich! Ich kenne neben meiner Mutter und meiner Schwester nur noch einen Menschen, der so gut kochen kann: Cleos Vater.

„Hallo, Papa!“, schreit Cleo, nimmt mir den Rucksack vom Rücken und stellt sie, zusammen mit ihrer Tasche auf die Treppe, die nach oben führt.

„Ach, la Mademoiselle! Cleo, bevor du essen kommst, geh doch bitte ins Wohnzimmer und räum deinen Mist da weg! Man kommt so schlecht zur Staffelei durch, wenn dein Nähkrams Apokalypse spielt!“

Cleo zieht entschuldigend die Schultern hoch. „Sorry, Paps, die trainieren schon für 2012, ich konnte sie nicht davon abhalten. Ne, im Ernst: Ich musste heut Morgen noch was ausbessern, sonst könnte Danni das gleich nicht anziehen.“

Ich grinse. Das ist typisch für meine beste Freundin: Bis spät in die Nacht irgendwas mit schrecklicher Präzision voranzutreiben, dann nicht fertig werden und sich den Wecker eine Stunde früher stellen, um noch zum Ende zu kommen – was meist auch nicht funktioniert. „Kann ich nicht nach den Essen aufräumen? Also, gestärkt und so?“

„Nix da. Schick den kleinen Pups hier rein, der hilft mir Tisch decken und du machst dein Zeug fertig. Du weißt, dass das Bild für meinen Kunden übermorgen fertig sein muss.“

Pups. Jaaa, mal kurz zur Erklärung dieses Namens: In der ersten Klasse bin ich zum ersten Mal zu Cleo mit nach Hause gekommen und leider Gottes hab ich irgendwas Blähungenverursachendes gegessen … Was zum Ausdruck kam, als ich Andreas Imker die Hand gab. Erklärt sich der Rest von selbst? … Bitte, die Sache ist mir nämlich echt peinlich genug.

Schmollend stampft meine beste Freundin an mir vorbei in Richtung Wohnzimmer, ich trete lächelnd in die Küche, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Andreas grinst mich an, streicht sich mit dem Handrücken eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Es ist wirklich unglaublich, wie jung er aussieht. Nicht, dass 35 als alt zu bezeichnen ist, doch wenn man 35 ist und wie 25 aussieht, dann ist es wirklich unglaublich, wie jung er aussieht.

„Hallo, kleiner Pups. Weißt ja, wo alles steht, also hopp, hopp, bevor Mademoiselle fertig ist. Nicht, dass wir uns einen Vortrag darüber anhören dürfen, wie unfähig das männliche Geschlecht ist, wenn es um Tischdecken geht.“ Fröhlich zwinkert er mir zu, während er mit einem beängstigend großen Messer hantiert, um die Lasagne in vertilgbare Teile zu zerstückeln. Seufzend mache ich mich daran, Teller, Besteck und ähnlich notwendige Utensilien zur Zufriedenheit meiner besten Freundin auf dem Tisch zu verteilen.

‚Mademoiselle‘ kommt zehn Minuten später – ich bezweifle, dass sie das Wohnzimmer von der vorgezogenen Apokalypse vollkommen befreit hat – und setzt sich, direkt nach Messer und Gabel greifend, neben mich.

„So, und jetzt lasst mich essen, ich hab Hunger!“, schnaubt sie, nimmt sich ein großes Stück Lasagne und starrt ihren Vater mit halbherziger Feindseligkeit an.

„Schon gut, Mademoiselle! Iss du mal … Aber willst du nach deinem gestrigen Vortrag über die Unfähigkeit von Männern in der Küche nicht etwas zur ausgezeichneten Tischdeckleistung vom kleinen Pups sagen?“

Oh je, ich fühl mich überflüssig. So langsam kann ich die Aussagen von Cleos Dad ganz gut entschlüsseln. Das hier bedeutet: Fräuleinchen du bedankst dich jetzt sofort, oder es gibt Ärger, wenn dein kleiner Freund weg ist! Er ist ein Meister darin, Kritik freundlich klingen zu lassen und denkt noch immer, ich würde nicht ahnen, was er sagt. Er denkt, nur seine Tochter, deren Denkweise mit der seinen zu mindestens 99% übereinstimmt, versteht ihn. Tja, Fehlanzeige.

Meine beste Freundin scheint allerdings wenig begeistert, sie grunzt lediglich etwas Unverständliches und schiebt sich anschließend einen großen Bissen Lasagne in den Mund. Ihr Vater wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und beginnt dann, ebenfalls zu essen. Ich grinse, schüttle den Kopf, bevor ich mich als Letzter meinem Essen widme.
 

„So“, meint Cleo fachmännisch und hält mir einen Stapel Klamotten entgegen, „hoffen wir mal, dass du beim Mittagessen nicht zugenommen hast! Das sind die Kleidungsstücke, die ihr präsentieren werdet, Jamil und du, auf dem Fotos für meinen nächsten Wettbewerb tragen. Stell dir vor: Man gewinnt einen Eintrag ein Shooting mit … und einen Eintrag im Blog von …“ (Man setze für „…“ einen Namen ein, den ich mir im Redeschwall Cleos leider nicht merken konnte.)

„Hmhm“, nicke ich abwesend und frage mich, warum zum Teufel ich unbedingt mit einer angehenden Künstlerin auf höchstem Niveau befreundet sein muss. Model, ich … Öhm … Ehrlich gesagt habe ich immer Zweifel an meiner Fotogenität, aber meine beste Freundin sieht das als reichlich wenig dramatisch an – ich zitiere: „Dein Vater ist Fotograf, da wirst du doch wohl auch zu irgendwas in diesem Bereich zu gebrauchen sein!“ Dass fotografieren und fotografiert werden ein riesiger Unterschied ist, will sie sich leider nicht sagen lassen.

„Daniel! Mach hinne und zieh dich um!“

Erschrocken zucke ich zusammen, gehorche aber. Langsam ziehe ich mein Hemd über den Kopf, tausche es gegen einen Pullover aus weichem Stoff aus. Er ist schwarz, bestickt mit rot und so fein ausgearbeitet, wie es das Werk einer jungen Perfektionistin nun mal ist.

Cleo beginnt, an mit herumzuzippeln, hier und da Nadeln anzusetzen und mich in für sie brauchbare Positionen zu schieben, während ich den Kopf vorerst abschalte. Ich hab diese Prozedur schon unendliche Male hinter mir und jedes Mal hat sie ungefähr eine Stunde kein Wort mit mir gewechselt, egal, ob ich versucht habe mit ihr zu reden, oder nicht.

„Daniel! Könntest du deinen Körper vielleicht wenigstens ein Bisschen anspannen? Wenn du mir hier zusammensackst, dauert das alles nur noch länger oder du musst Morgen nochmal kommen, da ist nämlich Jamil dran.“

„Oh nein, bitte nicht. Ich mach alles was du willst, nur nicht noch ´ne Stunde!“

„Dann halt die Körperspannung!“

Seufzend richte ich mich auf und hebe die Schultern. Es hilft ja doch nichts: Cleo ist Cleo und Cleo kennt kein Pardon, wenn es um ihre Entwürfe oder – oh mein Gott – gar um ihre zahlreichen Wettbewerbe geht.

„Sehr schön, es geht doch. Braver Daniel.“ Sie lächelt zufrieden und streicht mir über die Schulter. Noch ein bisschen Gezippel hier, eine Nadel da, dann meint sie, sie könne zu den Hosen übergehen. Den Hosen. Na das klingt ja verheißungsvoll … Und ich dachte schon, eine Hose würde reichen.
 

Erschöpft lasse ich mich eine Stunde später auf den Matratzenstapel in Cleos Zimmer fallen, der ihr als Bett dient. Im Prinzip ist es so eine Art Kuschelecke und Bett gleichzeitig, bestehend aus vier dicken, weichen Matratzen, sowie Decke und Kissen, nebenbei noch einige andere kleinere kuschelige Dinge, die den ganzen Fleck Zimmer zu etwas machen, das man am liebsten nie wieder verlassen möchte.

„Cleo?“, stöhne ich und vergrabe mein Gesicht in einem Kuschelhündchen. „Ich hoffe du bist dir im Klaren darüber, dass ich dich umbringe, wenn du bei diesem scheiß Wettbewerb nicht unter die ersten drei kommst!“

„Hmhm“, erwidert meine beste Freundin, die sich neben mich legt und die Nase in meinem Oberteil vergräbt. „Gut, dass du dazu viel zu lieb bist.“

„Pff, sag das nicht!“ Gespielt drohend setze ich mich auf, beuge mich über ihr Gesicht. „Ich kann sehr, sehr böse werden …“ Ohne Vorwarnung drehe ich sie auf den Rücken, hocke mich auf ihren Hintern und beginne, sie durch zu kitzeln. Haha, ich bin nämlich nicht der einzige, der in unserem Trio kitzelempfindlich ist!! Während Jamil sich von so was überhaupt gar nicht beeindrucken lässt, ja nicht einmal mit der Wimper zuckt, reagiert Cleo hochsensibel: Sie kreischt, zappelt mit den Beinen, versucht, mich mit ihren Armen zu erreichen, doch ich weiche ihr aus – wofür ich meine winziges Vermögen an Geschicklichkeit glücklicherweise nicht einsetzen muss. Stattdessen kann ich mich voll und ganz darauf konzentrieren, mich für die Quälerei eines stundenlangen Anprobeprozesses rächen – und nebenbei noch beweisen, dass ich böse sein kann.

„Hör auf!! Bitte, hör auf! Kitzeln ist ein- … einfach voll … mies!!“ Lachend bäumt Cleo den Oberkörper auf, versucht, mich abzuschütteln – ich halte überrascht inne: Ein kleines Stück Papier lugt aus der Tasche ihrer Sweatshirtjacke heraus.

„Nanu“, grinse ist, schnappe ihn mir und falte ihn auseinander. „Was haben wir denn da?“

„Hey, das geht dich gar nichts an, gib her!“

„Hmm … Wer ist denn Mo, Cleo?“ Interessiert mustere ich die Handynummer, die auf dem Zettel notiert ist, umgeben von einer seltsam schnörkeligen Zeichnung, in der man den Namen erkennen kann, den ich soeben als mit unbekannt identifiziert habe: Mo. Wer ist Mo?

Unbewusst rutsche ich ein wenig zur Seite, sodass meine beste Freundin sich befreien und mir die mysteriöse Nachricht abnehmen kann. „Mo ist jemand, der viel mehr Ahnung von Kreativem hat, als du je haben wirst!“ Schmollend hockt sie sich in den Schneidersitz vor mich und verzieht den Mund. „Er hätte aus deinem Vogel nie eine Katze gemacht.“

„Aha. Also ein begabter Zeichner?“

„Ja.“

„Sonst noch begabt? Schreiben vielleicht? Oder Musik?“

Kopfschüttelnd grinst Cleo mich an, ihre Augenbrauen ziehen sich spitzbübisch nach oben. „Vergiss es, Danni. Ich weiß, was du vorhast. Du willst, dass ich dir alles über ihn erzähle, aber das werde ich nicht. Niemals. Ich hab keine Lust darauf, dass mein bester Freund versucht, ihm sonst was anzudrehen! Mittlerweile kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass so ziemlich alles, was du in Sachen Liebe anfasst, mehr als schief geht.“

„Das stimmt nicht!“ … Okay, doch. Die Beziehung mit Yannik ist in die Brüche gegangen und das letzte Mal, dass Cleo mir erzählt hat, sie sei verliebt, hab ich ihr das Ganze ein bisschen sehr schwer gemacht mit meinen Verkupplungsversuchen – Jamil hat mich schon gewarnt: Sollte es je so weit sein, dass er sich verliebt, will er mich keinesfalls als Datevermittler. Verständlich. Ihr wollt die ganze Geschichte nicht kennen, wirklich nicht.

„Man sieht dir an, dass du mir zustimmst.“

„Jaaaa, okay, vielleicht hast du Recht. Aber wissen will ich’s trotzdem: Wer ist Mo?“

„Niemand, der Interesse an meinem besten Freund hätte!“

„Okay, Präzisierung der Frage: Woher kennst du Mo und warum hast du seine Handynummer?“

Cleo seufzt, antwortet mir jedoch nicht. Stattdessen steht sie auf uns stellt sich ans Fenster.

„Cleo, ich mein das ernst!“

„Ich auch.“ Sie dreht sich wieder um, hockt sich auf ihren Schreibtisch. „Es geht nicht gegen dich, Daniel, aber es ist mir lieber, wenn du dich da raushältst. Die Sache ist mir echt wichtig. Du lernst ihn noch früh genug kennen, okay?“

Danke für so viel Vertrauen in meine Person … Aber ihre Zweifel sind – wie bereits erwähnt – sehr berechtigt.

„Okay.“
 

Der nächste Morgen beginnt nicht, wie erwartet, mit meinem Wecker, sondern mit meiner kleinen Schwester, die mich an der Schulter rüttelt.

„Daniel!“, ruft sie, „Hey, großer Bruder!“

„Laaaass mich schlafen, Jessi, bitte!“, gebe ich zurück und versuche, ihre Hand abzuschütteln. Was will die denn von mir, so früh am Morgen? Mein Wecker hat doch noch gar nicht geklingelt … Grummel, kleine Schwestern können echt nerven!

„Würde ich tun, wäre ich nicht einer von den netten Menschen, die ihre Brüder wecken, wenn sie ihren Wecker überschlafen! Der Bus kommt in einer Viertelstunde, Daniel!“

WAS?? Oh scheiße! Wie von der Tarantel gestochen schieße ich in die Senkrechte, bevor ich noch halb schlafend die Beine aus dem Bett schwinge. Meine Güte, als wenn ein Mensch wie ich innerhalb von einer Viertelstunde im Bad fertig wird! Vom Anziehen und Frühstücken ganz zu schweigen!

Dieser Tag fängt ja schon mal genial an.
 

… Und er geht genauso genial weiter. Als ich das Klassenzimmer betrete, heute ausnahmsweise mal ungeschminkt aufgrund des Zeitmangels, suche ich als erstes nach Jerome – mit Erfolg. Er hockt auf Jamils Tisch und baumelt mit den Beinen. Ich grinse, gehe auf die beiden zu.

„Guten Morgen!“ Meine Tasche rutscht von meiner Schulter auf den Boden, strahlend setze ich mich auf meinen Platz. Lächelnd nicke ich erst Jamil zu, dann Jerome, der mich ansieht, als wäre ich die böse Hexer (oder, der Richtigkeit halber: der böse Hexer), die (beziehungsweise der) ihm soeben den Tag versaut hat. Huch? … Was ist denn jetzt los?

„Jerome?“, frage ich irritiert, „Ist alles in Ordnung?“

Er antwortet nicht. Stattdessen wirft er mir einen Blick zu, der mich um ein Haar erdolcht hätte, schiebt er sich von Jamils Tisch, dreht sich um und geht.

Verstörte Stille – zumindest seitens Jamil und mir.

Dann mein bester Freund: „Hab ich was verpasst?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Verwirrt beobachte ich, wie Jerome sich aus seinen Platz setzt und beginnt, seine Schulsachen auf den Tisch zu legen. Kann mir vielleicht irgendwer sagen, was passiert ist, dass er mich nicht einmal eines Wortes würdig empfindet? „Ich hab keine Ahnung, was passiert ist … Ach, ist ja auch egal, ich rede in der Pause mit ihm.“ – Sofern er sich bis dahin ein bisschen abgeregt hat.

„Daniel, lüg nicht. Dir ist das absolut gar nicht egal!“

Stimmt. Und wie wenig es mir egal ist, dass der Mensch, der es geschafft hat, mir so extrem den Kopf zu verdrehen, nicht mehr mit mir redet!

„Tut weh, was?“, fragt Jamil leise.

Ich nicke. Ziemlich. Es fühlt sich an wie ein kleines bissiges Vieh, das beginnt, an deinem Herzen zu nagen. Ein kleines bissiges Vieh mit verdammt scharfen Zähnen.
 

Ich starre auf meinen Block. In zwei Minuten wird es zur Pause klingeln und ich habe keine Ahnung, ob ich Angst haben oder mich freuen soll. Freuen, weil ich die Chance dazu habe, Jeromes ungeklärtes Problem mit mir aus dem Weg zu räumen, oder Angst haben, weil eben das ziemlich in die Hose gehen könnte. Ich hab ja nicht einmal eine Ahnung, worum es geht. Unserem Politiklehrer höre ich schon eine geraume Zeit lang nicht mehr zu. Seine Stimme ist nur ein unverständliches Gebrummel irgendwo in meinen Ohren, viel zu leise, um meine lauten Gedanken zu übertönen. Auf dem Blatt vor meiner Nase überlappen sich eine Vielzahl von Fragezeichne, die ich, zusammen mit kleinen Herzchen, während der Stunde darauf verteilt habe. Wäre mir jetzt danach, würde ich mich in Gedanken darüber freuen, dass es sogar ein bisschen nach Kunst aussieht und Cleo unter die Nase reiben, die nichts von meiner künstlerischen Ader hält. Apropos Cleo: Wo ist die überhaupt?

Suchend sehe ich mich im Klassenraum um, obwohl es beinahe unmöglich ist, dass ich sie einfach übersehen habe.

„Hey“, flüstere ich schließlich in Jamils Richtung, „weißt du, wo Cleo ist?“

Mein bester Freund wendet seinen Blick von der Tafel ab. „Ja, laut ihrer SMS hat sie die ganze Nacht für an ihren Entwürfen gearbeitet und hat sich von ihrem Vater entschuldigen lassen … Ihre Kopfschmerzen wären wirklich unglaublich gewesen.“ Er zwinkert mir zu, schreibt die Hausaufgaben von der Tafel ab und beginnt gerade, sein Zeug einzuräumen, als es klingelt.

… Angst haben oder freuen? Angst haben oder freuen? … Angesichts der Tatsache, dass ich gerne immer vom Schlimmsten ausgehe, entscheide ich mich schließlich für letzteres und beobachte, wie Jerome langsam seine Mappe einpackt. In diesem Fall ist es wirklich praktisch, dass er immer der Letzte ist, der die Klasse verlässt: Meine Chancen, allein und in Ruhe mit ihm reden zu können, steigen dadurch immens. Fragt sich nur, ob das jetzt gut oder schlecht ist. Soll ich ausnahmsweise mal vom Besten ausgehen? Okay, dann ist es gut.

„Jerome?“, frage ich leise, als nur noch wir beide uns im Raum befinden. Langsam sieht er von seiner Tasche auf, sein Blick prallt so hart gegen meine Haut, dass ich mich wundere, keinen Schmerz zu verspüren.

„Was willst du?“

„Wissen, was mit dir los ist.“

„Was soll sein?“

Ich schlucke. Oh, wie ich solche Situationen hasse! Mittlerweile sollte allen bekannt sein, dass ich nicht unbedingt der mutigste Mensch bin und mich am liebsten vor all den unangenehmen Dingen dieser Welt verstecken würde. Und so wie ich das sehe, gehört zu einem Gespräch wie diesem eine gehörige Portion Mut.

„Ich … Ich … Warum bist du so sauer?“ Meine Stimme klingt wie die eines Geistes: Zerbrechlich, leise und zittrig, als könnte man sie mühelos in den Händen zerdrücken, würde man es nur versuchen.

„Ich bin nicht sauer.“ Mit einer schwungvollen Bewegung nimmt er seine Tasche hoch. „Nur ein bisschen enttäuscht. Ich ruf dich nach der Schule an, okay? Erinnerst du dich? Hast du mir geschrieben, gestern. Hast du angerufen? Nein, hast du nicht.“

Ach ja, der Anruf … Scheiße. Das hab ich über die ganze Klamotten-Anprobe und Mo-Geschichte total vergessen!! Aber … ist er jetzt ernsthaft sauer, nur weil nicht angerufen hab?

Unsicher sehe ich ihn an, ziehe die Schultern hoch, ohne es zu merken.

„Und deswegen bist du sauer?“, spreche ich meinen Gedanken aus.

Jerome legt den Kopf schief, tut so, als würde er ganz schart nachdenken. „Lass mich überlegen … ja!“

Überlegen sieht er mich an, dreht sich um und geht – ohne über den offenen Schnürsenkel seines linken Schuhs zu stolpern.
 

„Und?“, fragt Jamil, als ich auf den Schulhof trete – anscheinend hat er bereits auf mich gewartet. „Was hat er gesagt?“

Resigniert schüttele ich den Kopf, trotte neben meinem besten Freund her zu einer der Bänke auf unserem Schulhof. Meine Laune ist auf dem Tiefpunkt angekommen. Oder besser: Von dem kleinen bisschen Wolke sechs, dass von dem Training mit Jerome noch übrig ist, bin ich soeben recht unsanft auf den Boden geknallt – ja, Wolke sechs, nicht sieben. Das ist Absicht. Wolke sieben bedeutet für mich „Friede, Freude, Eierkuchen“ und anscheinend trifft das auf meine Situation nicht zu. Oder besser: Ziemlich eindeutig trifft das auf meine Situation nicht zu.

Resigniert lasse ich meinen Kopf auf Jamils Schulter sinken. „Er hat gar nichts gesagt … Also doch, schon. Er meinte, er wäre sauer, weil ich ihn gestern nicht angerufen hab.“

Ich kann mir den irritierten Gesichtsausdruck meines besten Freundes mehr als nur gut vorstellen, als er neben mir leise schnaubt. „Du hast ihn nicht angerufen und deswegen … Jetzt ehrlich?“

„Ja.“

„Oh Mann … Das ist doch … ein bisschen sehr übertrieben!“ Aufmunternd streicht er mir über den Oberarm. „Hör mal, Kleiner. Jerome wird schon merken, dass seine Reaktion unangebracht war. Wirst schon sehen, der kriegt sich wieder ein. Und dann kommt der nur so bei dir angekrochen, weil er den Menschen wiederhaben will, nach dem er sich Nacht für Nacht verzehrt!“ Jamil zwinkert mir zu und obwohl mir gerade so gar nicht danach ist, muss ich grinsen.

„Bestimmt“, murmele ich leise, schließe die Augen und lehne mich auf der Bank zurück. Wahrscheinlich hat Jamil Recht. Eigentlich kommt Jerome mir nicht wie die Hypersensibilität in Person vor – dafür bin eher ich zuständig, zumindest meistens. Also, warum nicht mal ausnahmsweise positiv denken? – Vielleicht weil du kein durch und durch nicht positiver Mensch bist, Daniel? … Fresse Hirn! Alles wird gut. Bestimmt.

„Daniel?“ Erschrocken zucke ich zusammen, öffne die Augen. Vor mir steht Vanessa, ich kann ihr Gesicht gegen die Sonne nur schemenhaft erkennen. „Kann ich kurz mit dir reden?“

Oh ja, will ich das wissen?

„Ja, klar. Worum geht’s?“

Jamil steht auf. „Ich geh mal, ne? Daniel, wir sehen uns gleich.“ Ich nicke, wende mich dann Jeromes Schwester zu.

„Also, worum geht’s?“

„… Um Jerome.“ Okay, hab ich mir denken können. „Du, ich weiß, was du von ihm denken musst.“

„Weißt du nicht“, erwidere ich so leise, dass es eigentlich mehr an mich selbst, als an Nessa gerichtet ist.

„Doch, weiß ich. Ich kenne meinen Bruder und ich weiß, wie anstrengend er sein kann.“ Sie sieht mich so mitleidig an, als wäre ich das kleine, unwissende Schäfchen, das vom großen Meister lernen muss. Normalerweise hätte mich das gestört, aber momentan bin ich ehrlich gesagt ein bisschen zu verwirrt im Oberstübchen, um mich gedanklich gegen irgendwas zur Wehr zu setzen. „Aber du musst mir glauben, wenn ich sage, dass er das nicht macht, weil er dich nicht leiden kann. Oder weil er eine Mimose ist. Ich bin mir ganz sicher, dass Jerome sich spätestens morgen bei dir entschuldigen wird … Bitte nimm die Entschuldigung an, ja? Es ist echt wichtig für ihn … Für euch. Irgendwann wirst du das verstehen.“

… Jetzt klingt sie wirklich wie die alte Lehrmeisterin mit Hexenbuch und Zaubertrank. „Irgendwann wirst du das verstehen.“ Was verstehen? Was soll ich daran verstehen, dass Jerome ausrastet, nur weil ich ihn nicht angerufen habe?

„Bis dann“, lächelt Nessa, streicht mir einmal kurz über den Rücken und steht auf. Ich sehe ihr nach, wie sie, die Haare von einer sanften Briese zur Seite geweht, den Schulhof entlangschreitet. Wie ein Friedensengel, denke ich, und frage mich, ob dieser Frieden tatsächlich eintreffen wird.
 


 

___________________
 

Irgendwann wirst du das verstehen ...
 

Ich mag den Satz nicht, ehrlich gesagt. Der sit so ... So, als würde man einem nicht zutrauen, etwas nachvollziehen zu können. Aber er passt irgendwie zu der gesamten Situation, finde ich.
 

Na ja, überlasse ich die Beurteilung dieses Kapitels lieber euch und kümmere mich darum, ein paar neue Favo-Leute herzlichst zu begrüßen:

- Chiru_Fusuka

- Fi_

- KillHannah

- Orisha

- Tshioni

- klene-Nachtelfe (Jeey, wir haben sie auch wieder im Boot <3)

Ich freue mich sehr darüber, dass ihr anscheinend Spaß an Daniel&Co habt und danke euch für's Favorisieren!! <3 <3

(Übrigens bitte ich, eventuelle Rechtschreibfehler in den Namen zu entschuldigen, solte ich sie noch nicht behoben haben, wenn ihr das hier lest ... Wenn ihr noch welche findet: Sie werden behoben, versprochen!!)
 

Und dankööööö für die lieben Kommis!! :D <3
 

LG an euch,

lady

Familie

Viel Spaß! :)
 

_________________________________________________________________________________
 

Familie
 

Der nächste Morgen beginnt mit Kopfschmerzen. Hinter mir liegt ein Albtraum und das Shirt, das ich zum Schlafen trage, klebt schweißnass an meinem Oberkörper. Scheiße. Ich fürchte, eine Kopfschmerztablette lässt sich wohl nicht vermeiden. Von dem Traum weiß ich nichts mehr, nur noch, dass ein Monster mit Scheren statt Händen darin vorkam. Welch schöne Erinnerung an die letzte Nacht …

Seufzend schwinge ich die Beine aus dem Bett, kneife die Lider zusammen, als mir kurz schwarz vor Augen wird, und laufe dann in Richtung Bad. Ohne in den Spiegel zu schauen, streife ich mir die Klamotten vom Leib, drehe die Dusche auf und stelle mich darunter. Mein Gesicht muss aussehen wie Sau, wenn man bedenkt, dass ich nicht nur schlecht geschlafen, sondern auch noch festgestallt hab, dass ich gestern vergessen habe, mich abzuschminken.

Das Wasser tut gut, doch es reicht nicht, um mich komplett auf den harten Boden der Realität den weichen Teppich zu legen, den ich jetzt echt gebrauchen kann – eigentlich. Müde torkle ich in mein Zimmer zurück, ziehe mehr oder weniger wahllos eine Ansammlung von Klamotten aus meinem Schrank. Vielleicht sollte ich mir Gedanken darum machen, dass wahllose Outfits meist ungefähr die modische Qualität eines Müllsackkleides (obwohl das laut Sabrina aka Cleo ja wirklich der letzte Schrei ist) hat, doch ich bin so verwirrt in den oberen Körperregionen, dass ich das Wort „nachdenken“ momentan wahrscheinlich im Duden nachschlagen müsste, würde es mir überhaupt in den Sinn kommen.

Auf dem Weg in die Küche renne ich beinahe gegen den Türrahmen, stolpere anschließend über meine eigenen Füße und kann mich gerade noch abfangen, bevor ich mit dem Kinn auf dem Tisch aufschlage. Aua, das war knapp! Vor meinen Augen liegt verloren und klein ein gelbes Klebezettelchen auf dem ich mehr oder weniger lesbar Jessis Handschrift erkennen kann:

Gut, wenn du das hier liest, bist du wenigstens wach. Solltest du noch Zeit fürs Frühstück haben: Mama hat Brötchen gekauft (Gott weiß, wann sie das gemacht hat); stehen neben dem Toaster. Guten Appetit und bis nachher.

Grinsend schüttele ich den Kopf und werfe einen Blick auf die Uhr über dem Kühlschrank. Wenn man bedenkt, dass meine erste Stunde heute ausfällt und die zweite als „Vertretung ohne Lehrer“ auf dem Vertretungsplan steht, dann hab ich noch so ungefähr 20 Minuten, bevor ich mich auf den Weg machen muss, um den letzt möglichen Bus zu kriegen. Himmel, wie lange schlafe ich eigentlich! Ich seufze und greife neben den Toaster. In der Tüte sind noch zwei kleine Brötchen zu finden, die nicht gerade aussehen, als ob sie einen halbwegs normal essenden Menschen satt bekommen würden – welch ein Glück, dass ich so gut wie keinen Hunger habe.

Mein Essen verläuft schneller als ich es je für möglich gehalten hätte und so verlasse ich das Haus fünf Minuten bevor es problematisch mit dem Bus geworden wäre. Ich sehe auf meine Füße, auf die weißen Kappen meiner giftgrünen Turnschuhe. Cleo hat sie irgendwann mal vollgekritzelt, jetzt grinst einen ein Edding-Grinsekatzen-Gesicht an, das dem Original aus Alice im Wunderland erstaunlich ähnlich sieht. Seit meine beste Freundin diesen Film gesehen hat, kann sie gar nicht genug von Fantasy bekommen, obwohl sie vorher nicht besonders viel damit anfangen konnte.

Ich gähne und stelle fest, dass es viel zu kühl ist dafür, dass wir rasant auf die Sommerferien zusteuern. Der erste Tag seit Längerem, wenn ich mir das recht überlege. Innerlich danke ich der Macht, die sich irgendwo da oben ganz eventuell ums Wetter kümmert, noch mehr Hitze wäre unerträglich. Es reicht mir vollkommen, einen Jerome mit übertriebener Reaktion, eine beste Freundin mit Modewettbewerb und eine kleine Schwester mit rosaroten Fantasien in meinem Leben zu haben – auch, wenn besagte Fantasien sich momentan ein wenig abkühlen.
 

Jerome würdigt mich keines Blickes, als er an mir voreiläuft und sich zu Cleo auf die Fensterbank setzt.

„Guten Morgen“, grüße ich freundlich, woraufhin er verächtlich schnaubt und seine Stirn gegen die Scheibe lehnt. Anscheinend hat er wenig Lust, unsere Probleme aus dem Weg zu räumen.

Jamil, der neben mir steht, zieht eine Augenbrauche hoch und nickt fragend in Jeromes Richtung. Ich zucke die Schultern. Was weiß ich, was der hat. Wenn weder er noch Nessa mit mir redet, kann ich dazu auch nichts sagen … Leider. Es ist wirklich unglaublich. Morgen ist es genau eine Woche her, dass ich ihn im Zirkus zum ersten Mal gesehen habe – eine sehr ereignisreiche Woche. Wer hätte gedacht, dass sie so endet? Mit einem Streit. Wegen gar nichts. Wegen einer Sache, die so unwichtig ist, dass man es schon fast als lächerlich bezeichnen könnte. Fast, wenn ich mich nicht Hals über Kopf in diesen Jungen verliebt hätte. Selbst jetzt, wo er kein Wort mit mir wechselt, kann ich nicht anders, als ihn toll zu finden. Mein Herz flattert wie ein Schmetterling auf Speed und am liebsten – würde ich eine höhere Wahrscheinlichkeit sehen, meinen Kopf nach dieser Aktion noch behalten zu dürfen – würde ich ihm um den Hals fliegen.

Letztendlich ist es Cleo, die die peinliche Stille zwischen uns löst: „Sagt mal Jungs, was macht ihr denn so am Wochenende?“

Jerome reagiert nicht, doch Jamil grinst. „Keine Ahnung, mal sehen, was sich so ergibt. Sag bloß, du hast uns schon wieder für eines deiner tollen Modeprojekte eingeplant!“

„Neeein, darum geht’s echt nicht …“, meine beste Freundin macht eine bedeutungsschwere Pause, „… viel eher möchte ich euch jemanden vorstellen.“

Bei dem Wort ‚jemanden‘ werde ich hellhörig. Geht es bei diesem ominösen ‚jemand‘ vielleicht um diesen. „… Er heißt Mo“, bestätigt Cleo meinen Verdacht. Oho, spannend, spannend.

Ich grinse breit und frage: „Ach, woher der plötzliche Sinneswandel?“

Meine beste Freundin seufzt resigniert und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich hatte Unrecht, als ich gesagt habe, er hätte kein Interesse daran, euch kennen zu lernen. Ganz im Gegenteil: Er meint, ihr wärt ein wichtiger Teil von mir, den er sich nicht entgehen lassen dürfe.“

Man sieht ihr deutlich an, wie sehr ihr dieser Umstand wiederspricht. Mein Grinsen wird noch eine Spur breiter. Ehrlich gesagt kann ich sie sogar ein bisschen verstehen – wie ihr bereits wisst, bin ich nicht die Person, die man seinem Schwarm vorstellen sollte. Und Jamil? Jamil wahrscheinlich auch nicht. Er ist zwar weniger peinlich, aber manchmal ist sein Humor etwas eigenwillig. Ich weiß noch, wie er Yannik damals alle möglichen Scherzfragen gestellt hat, über die nur er wirklich lachen konnte. Yannik hat mich anschließend gefragt, was ich denn für seltsame Freunde hätte. Aber peinlich hin oder her: Ich will diesem Mo unter allen Umständen treffen – immerhin geht es hier um den potentiellen ersten Freund meiner besten Freundin seit zwei Jahren! Und ihre letzte Beziehung hat (nicht zuletzt wegen mir, Schande über mein Haupt) gerade mal einen Monat angehalten.

„Also ich“, meint Jamil, „hab wohl Zeit. Wann denn?“

„Morgen. Morgen um fünf. Wir treffen uns bei mir und holen ihn dann ab. Daniel, was ist mit dir? Hast du auch Zeit?“

Ich, Zeit? Was für eine Frage! Natürlich habe ich Zeit! „Klar.“

„Sehr gut, dann ist das ja …“ Cleo bricht mitten im Satz ab und wendet sich ein wenig zur Seite. „Sag mal, Jerome, willst du auch mitkommen?“

Der Angesprochene hebt den Kopf, scheint kurz Cleos Worte in seinem Hirn verarbeiten zu müssen, verneint dann aber. „Ne, lass mal. Ich habe keine große Lust, irgendwelche Mos kennen zu lernen.“

Zwar kann man es aus seinem Tonfall nicht heraushören, doch an dem vernichtenden Blick, den er mir zuwirft, ist unschwer zu erkennen, dass wohl eher ich der Grund bin, aus dem er ein Treffen verweigert. War ja klar. Diese Erkenntnis versetzt mir einen Stick ins Herz, der sich anfühlt, als hätte man mir eine von Cleos fiesen riesigen Nähnadeln mitten hineingerammt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, versucht, den inneren Schmerz auf meine Lippe zu konzentrieren, um die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen zu sammeln drohen. Nicht heulen, Daniel, nicht heulen. Vollkommen unnötig, bisher hast du’s auch überstanden!

„Schade …“ Cleo zieht einen Flunsch, zuckt dann aber die Achseln und rutscht von der Fensterbank. Im gleichen Moment ertönt hinter mir die Stimme unseres Religionslehrers.
 

Constantin beugt sich zu ihm herüber, deutet auf irgendeinen Satz in unserem Musikbuch. Jerome lacht, streicht sich mit einer Hand ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich beobachte, wie er die feingliedrigen Finger an den Mund legt, um sein Lachen abzudämpfen. So verdammt schön! Man glaubt nicht, was ich gerade dafür geben würde, mich direkt vor ihn setzen zu dürfen, nur um das Funkeln in seinen Augen beobachten zu können, das immer da ist, wenn er lächelt, lacht oder grinst.

Vorne steht unsere Musiklehrerin Frau Winter und holt gerade einen Stapel Zettel aus ihrer Tasche. „So“, sagt sie fröhlich, hebt den Kopf und strahlt uns an, „da ich in euch eine so besonders singstarke Klasse gefunden habe, dachte ich mir, wir könnten uns heute mal einen Song aus der modernen Musikszene aussuchen.“ Oh je, was diese Frau unter modern versteht, empfinge ich schon seit Längerem als fragwürdig. Ich meine, jetzt mal ganz ehrlich: So ein paar Jährchen haben die Songs von Paul Simon und Bryan Adams jetzt auch schon auf dem Buckel. Der Zettelstapel mit dem ‚modernen‘ Song kommt bei mir an, desinteressiert greife ich mir einen – und stutze. Welcome To My Life, Simple Plan. Okay, das ist jetzt mal echt modern – zumindest so ziemlich … Wer zum Teufel ist das da vorne und was hat sie mit Frau Winter gemacht?? Anscheinend bin ich nicht der Einzige, den diese Songwahl verdutzt, denn die Hälfte der Klasse starrt ungläubig nach vorn. Eine Freundin von Sabrina fängt sich als erstes wieder und quietscht begeistert auf, ihr folgen weitere und innerhalb weniger Sekunden steht Frau Winter vor einer vollauf begeisterten Klasse. Glückwunsch an sie, das hat sie bisher noch nie geschafft!

Ihrem strahlenden Lächeln nach zu urteilen, ist ihr das auch sehr wohl bewusst.

„Wunderbar“, freut unsere Lehrerin sich und klatscht in die Hände. Ihr Blick streift langsam über die Klasse, wandert durch die Reihen – und bleibt an mir hängen. Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder! Alles, nur das nicht. „Daniel!“ Oh nein, bitte, bitte … „Wie wär’s wenn du deinen Mitschülern zeigst, wie man das anständig zu singen hat?“

Fuck! Kurz überlege ich, ob ich einen Rückzieher machen kann, indem ich behaupte, Aliens hätten mir gestern Nacht meine Stimmbänder geklaut, doch leider bräuchte ich allein dafür besagte Stimmbänder. Und wenn ich einfach so tue, als wäre ich heiser?

Ja, das wäre bestimmt eine gute … „Klar, das macht er doch gerne!“, meldet sich Cleo neben mir zu Wort und augenblicklich steigt das dringende Bedürfnis in mir auf, ihr den Hals umzudrehen. So richtig schön mit ganz viel Schwung, damit …

„Na dann komm doch mal nach vorne, Daniel.“

Sag mal, kann man hier nicht mal seine Gedanken zu Ende führen?! Resigniert stehe ich auf, werfe Cleo einen vernichtenden Blick zu, woraufhin sie mir lediglich verschwörerisch zuzwinkert und mir die Zunge rausstreckt. Super. Hab ich erwähnt, dass ich sie gerade umbringen könnte?

Unsicher trete ich neben die vor Freude strahlende Frau Winter, die Schultern hochgezogen. Die Blicke der kompletten Klasse kleben förmlich auf mir, als ich mich räuspere, jedoch keine Anstalten mache, zu singen zu beginnen. Eigentlich war es echt klar, dass wiedermal ich hier lande. Seit unsere werte Frau Musiklehrerin nämlich von meinem Singtalent erfahren hat, war sie hellauf begeistert. Ich bin ihr Vorzeigeschüler, wenn es darum geht, sich vor irgendwen zu stellen und diesen gewissen irgendwen mit einer engelsgleichen Stimme vom Hocker zu hauen – obwohl ich nicht klinge wie ein Engel, sondern eher wie geschmirgeltes Schmirgelpapier, vorausgesetzt natürlich, sowas existiert. Ums kurz zu machen: Gott und die Welt ist davon überzeugt, ich kann wunderbar singen, abgesehen von mir selbst. (Insgeheim weiß ich aber, dass Gott und die Welt Recht haben: Ich kann singen, jedoch bin ich einer der Menschen, die das nicht unbedingt Gott und der Welt unter die Nase reißen müssen.)

„Daniel?“ Ich zucke erschrocken zusammen, schüttele kurz den Kopf und sehe meine Lehrerin verwirrt an.

„Öhm … ja?“

„Würdest du dann anfangen?“

Frau Winter setzt sich ans Klavier, lächelt mich aufmunternd an und beginnt zu spielen – und ich? Ja, ich beginne zu singen:

„Do you ever feel like breaking down?

Do you ever feel out of place?

Like somehow you just don't belong

And no one understands you“

Mein Blick wandert durch die Klasse. Cleo sieht mich verträumt an, tippt im Takt auf ihren Tisch, Jamil hat einen Mundwinkel nach oben gezogen. Ein Teil der Jungs hockt kopfschüttelnd und völlig offensichtlich gelangweilt an, Sabrina lackiert sich die Fingernägel. Wow, sind die alle respektvoll und aufmerksam …

„Do you ever want to run away?

Do you lock yourself in your room?

With the radio on turned up so loud

That no one hears you screaming“

… Und wie aufmerksam! Sabrina pustet gerade ihre Nägel trocken, ihre Freundin Lisa kritzelt gedankenverloren auf ihrem Block herum.

„No you don't know what it's like

When nothing feels alright

You don't know what it's like

To be like me...“

Okay, reg dich nicht über sie auf, Daniel. Sing einfach. Du willst doch nicht einmal, dass sie dir zuhören. Jetzt kommt der Refrain, aufpassen!

„To be hurt, to feel lost

To be left out in the dark

To be kicked when you're down …“

Und jetzt begehe ich den entscheidenden Fehler: Ich wage es, zu Jerome hinüber zu schielen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht, dass er mich verächtlich ansieht. Vielleicht, dass er wie Lisa auf seinem Block rumkritzelt. Aber das, was er wirklich tut, tut noch viel mehr weh: Er sieht mich nicht an, sein Blick richtet sich auf eines der Fenster, und in dem mir zugewandten Ohr steckt ein Ohrstöpsel seines iPods. Mein Herz pulsiert schmerzhaft, meine Augen beginnen zu brennen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, ignoriere, dass Frau Winter noch immer die Melodie weiterspielt. Erst, als mir die erste winzige Träne aus dem Augenwinkel rinnt und der Refrain zu Ende geklimpert ist, hat meine Lehrerin anscheinend bemerkt, dass ich nicht mehr singe. Überrascht hält sie inne, zieht eine Augenbraue und sieht mich an. „… Daniel?“

Ich antworte nicht. Stattdessen schüttele ich den Kopf und gehe an Sabrina vorbei, die mittlerweile auch festgestellt hat, dass die Nägellackierstunde hiermit beendet ist, die missbilligend schnaubt und setze mich auf meinen Platz. Ich beobachte, wie Jerome seinen Kopf nach vorn wendet, in einer flüssigen Bewegung sein Ohr von dem Ohrstöpsel befreit. Schluckend versuche ich, Frau Winter zu ignorieren, die mich mit einer nicht enden wollenden Wortkette belabert, die ich weder hören noch verstehen will. Was er wohl gehört hat? Gehört hat statt mir?
 

„Das ist so respektlos!“ Erbost funkelt Cleo mich an, als wäre ich Jerome, an den sich diese Schimpftirade eigentlich richtet. Zu meinem Leidwesen hat meine beste Freundin den Ohrstöpsel nämlich auch gesehen und – siehe da, welch Überraschung – muss ihrer neu erworbenen schlechten Meinung Luft machen. Und da der Auslöser zurzeit nicht zur Verfügung steht, bin ich halt der Arme. Dabei habe ich eigentlich wenig Lust, mich mit dem Thema Jerome auseinander zu setzen. Ganz im Gegenteil: Jedes Wort über ihn ist ein weiteres Salzkorn in der offenen Wunde. „Wie kann er nur? Erst versteht ihr euch so toll und dann ist er sauer, WEIL DU VERGESSEN HAST, IHN ANZURUFEN?! Und dann, obwohl das je eigentlich schon alles schlimm genug ist, hört er auch noch einfach Musik?! Viel beschissener kann man doch gar nicht zeigen, dass man einem am Arsch vorbeigeht!“

Danke, Cleo … Das war jetzt verdammt aufmunternd. Anscheinend hat sie ihren Fehler auch bemerkt, denn sie lächelt mich schief an und setzt hinzu: „Nicht, dass du ihm am Arsch vorbeigehst. Er mag dich, echt.“

Wenig überzeugt ziehe ich eine Augenbraue hoch. Davon habe ich wirklich viel gemerkt – vor allem heute. Anscheinend bemerkt sie meine Skepsis, denn ihre Augen werden noch eine Spur größer und ihr zweiter Mundwinkel biegt sich auch noch nach oben, sodass das Lächeln mehr oder weniger gerade wirkt; „Daniel, ich mein das ernst! Er mag dich, glaub mir!“

Aufmunternd klopft sie mir auf die Schulter und setzt sich in Bewegung, ich folge ihr. Wir haben beschlossen, dass ich sie nach Hause bringe und anschließend weiterlaufe zu mir. Zwar ist das für mich ein Umweg, doch was tut man nicht alles für die beste Freundin?

„Und woher willst du das wissen?“, frage ich, als ich Cleo endlich eingeholt habe, doch ich erhalte keine Antwort.
 

Bereits als ich die Haustür öffne und mich in den Flur schiebe, kommt mir Jessi entgegen, einen Finger auf die Lippen gepresst. Mit der freien Hand balanciert sie einen Teller mit Pfannkuchen.

„Schhhhht!“, zischt sie mir entgegen, „Leise! Mama ist da und …“

Überrascht runzle ich die Stirn, während ich meine Schultonne von der Schulter gleiten lasse. „Mama ist da? Schon wieder?“

Meine kleine Schwester nickt, doch anstatt eine gewisse Freude in ihren Augen zu lesen, dass unsere Mutter endlich mehr Zeit für uns zu haben scheint, lese ich eher Besorgnis und Verzweiflung aus ihrem Blick.

„Ja“, bestätigt sie mit erstickter Stimme. „Gott, Daniel, ich bin so froh, dass du da bist!“

Erschrocken bemerke ich die kleinen Tränen aus Jessis Augen lösen und wie kleine wässrige Diamanten ihre Wangen hinunter Richtung Kinn rinnen. Etwas verwirrt nehme ich meine kleine Schwester in die Arme, streiche ihr leicht über den Rücken.

„Was ist denn los?“

„Sie … sie hat geweint! Mama hat geweint! Und ich … ich weiß nicht wieso … Ich … sie wollte nicht, … dass ich es sehe und hat … im Wohnzimmer gesessen. Sie dachte … ich … ich wäre auf meinem Zimmer und …“

„Hey, beruhig dich erst mal.“ Ich schiebe Jessi ein Stück von mir weg und sehe in ihre verheulten Augen.

„Beruhigen?“, fragt sie ungläubig. „Mama hat geweint! Sie hat noch nie geweint!“

„Jessi, wir kriegen das hin, okay? Wir reden mit ihr.“ Meine kleine Schwester hat Recht: Meine Mutter hat noch nie geweint – nicht, dass ich mich erinnern könnte. Bestimmt hat sie in den letzten Jahren mal geweint, aber wenn, dann haben wir beiden Kinder davon nie irgendwas mitbekommen. Der Umstand, dass sie es getan hat, ist also wirklich ein großer Grund zur Sorge … Super. Das fehlt mir noch! Stress mit Jerome, eine verpatzte Musikstunde und jetzt auch noch das! „Vielleicht ist sie ja einfach nur überarbeitet. Da werden Menschen empfindlich, reizbar und emotional.“

„Und wenn es doch was Schlimmes ist?! Wenn Papa was passiert ist oder sie ihren Job verloren hat?“

Oh bitte, Jessi, jetzt pflanz mir nicht solche Gedanken ein! Bitte!

„Jetzt mal mal nicht den Teufel an die Wand! Das wüssten wir längst – zumindest, wenn’s um Papa geht. Und wenn sie ihren Job verloren hätte, hätte sie zumindest dir das schon erzählt. Hör auch, dir Sorgen zu machen. Ich rede mit ihr. Wo ist sie?“

„Sie ist mit Anette verabredet und hat gesagt, sie kommt erst heute Abend wieder.“

Anette. Anette ist die so ziemlich einzige Freundin meiner Mutter, von der ich weiß. Mama ist kein besonders kontaktfreudiger Mensch, und wenn man so drüber nachdenkt, ist es schon ein Wunder, dass sie so jemanden wie meinen Vater gefunden und sich in ihn verliebt hat. In eine der kommunikationsfreundlichstesn, aufgeschlossensten und abenteuerlustigsten Personen, die mir je untergekommen sind.

„Okay, dann rede ich heute Abend mit ihr.“
 

… Das ist leichter gesagt, als getan. Ich stehe vor der Wohnzimmertür und traue mich partout nicht einzutreten. Es ist, als wäre vor mir eine große, böse, imaginäre Wand aufgebaut, die ich weder sehen, noch überschreiten kann. Ich weiß, dass sie da ist, habe aber keine Ahnung, was ich gegen sie tun kann. Mama sitzt auf dem Sofa, ein Buch auf den Knien, im Fernsehen läuft irgendeine Castingshow, die ich noch nie gesehen habe. Ihre dünnen Beine hat sie angewinkelt und eine Decke darüber gelegt, ihre Augen springen zwischen den Buchseiten und dem Fernseher hin und her, zwischendurch schiebt sie sich ein Gummibärchen aus der Tüte auf dem Tisch in den Mund.

„Daniel“, sage ich leise zu mir selbst. „Du hast es Jessi versprochen! Jetzt geh da rein und rede mit ihr, du wirst schon nicht krepieren! Immerhin ist das deine Mutter!“

Noch einmal atme ich tief durch, dann gebe ich mir einen Ruck und trete in den Raum.

„Hi, Mama.“

Überrascht sieht sie hoch, streicht sich mit einer müden Bewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Lächeln wirkt mehr schlecht als recht. „Ach, hallo Daniel. Schön, dass ich dich heute auch noch sehe, als ich von Anette kam, warst du schon oben … Wie war dein Tag so?“

Gute Frage. Hätte ich ehrlich geantwortet, hätte ich ihr jetzt wahrscheinlich einen ganzen Vortrag gehalten. Doch erstens habe ich wenig Lust auf Erklärungen und zweitens weiß ich nur zu gut, dass meine Mutter ihre eigenen Probleme hat und nicht die Zeit, mir mit meinen zu helfen – obwohl ich das im Übrigens auch gar nicht wollen würde. Diese Frau ist auf keinen Fall der richtige Mensch, um mit pubertärem Liebeskummer aufzukreuzen. Stattdessen beschränke ich mich lieber auf die altbewährte Methode: „Och, ganz gut. Schule halt. Und dir?“

Zu meinem Glück fragt sie nicht weiter nach und nickt nur bedächtig. Fast erwarte ich, dass sie jetzt mir einer ihrer alten Geschichten kommt, wie sie es früher getan hat, doch sie schaut mich nur an und sagt: „Dann ist ja gut. Bei mir ist auch alles in Ordnung. Die Arbeit ist nur ein bisschen stressig.“

Unsicher, was sie nun tun soll, sieht Mama zum Fernseher hinüber, als könne er ihr aus dieser misslichen Lage helfen. Doch diese Hoffnung zerstöre ich schnell, indem ich mir die Fernbedienung greife und die Flimmerkiste kurzerhand abschalte. Ich habe mir vorgenommen, mit ihr zu reden und jetzt ziehe ich das auch durch. Als das Bild schwarz wird, zuckt meine Mutter zusammen, damit hat sie anscheinend nicht gerechnet. Ihr Blick wirkt wie der eines verschreckten Rehs, als sie mich ansieht und in derselben Bewegung ihr Buch zuschlägt.

„Mama“, sage ich leise, „ich muss mit dir reden.“

Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, als würde jemand versuchen, ihn zusammenzuschnüren.

„Was gibt es denn?“ Ihre dünnen Finger tasten nach dem Schalter der Leselampe neben dem Sofa, die bisher ausgeschaltet war – weiß Gott, wie sie so gelesen hat – und Licht flammt aus. Dieses gemütliche Schummer-Wohnzimmer-Licht, das normalerweise immer eine gemütliche Samstagabendatmosphäre schafft und augenblicklich bewirkt, dass man sich wohlfühlt. Nur fühle ich mich nicht wohl. Ganz im Gegenteil: Heute erscheint mir das Licht kalt, erdrückend und dunkel.

Kurz beiße ich mir auf der Lippe herum, dann beschließe ich, mit der Tür ins Haus zu fallen, weniger aus taktischen Gründen, eher, weil ich keine Ahnung habe, wie ich sonst in die richtige Richtung kommen soll. „Du siehst nicht gut aus in letzter Zeit.“

„Ich weiß.“ Träge fährt meine Mutter sich mit dem Handrücken über die Stirn und lächelt matt. „Momentan gibt es sehr viel zu tun und …“

„Wir machen uns Sorgen, Mama. Jessi hat dich heute im Wohnzimmer gesehen – du hast geweint.“

In Sekundenschnelle weiten sich ihre Augen verräterisch, sie atmete hart ein. „Das .. das war nicht wichtig.“

„Es muss aber wichtig gewesen sein. Du weinst sonst nie.“

Dieses Argument scheint Mama ziemlich aus dem Konzept zu bringen. Sie schluckt, spielt mit den Seiten ihres Buchs herum. „Daniel, es ist alles in Ordnung. Du und Jessi, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“

Zweifelnd hebe ich eine Augenbraue. „Und du bist dir sicher, dass da nichts ist? Kein Unfall bei Papa, deinen Job hast du noch …“

„Mein Gott, ja! Natürlich habe ich meinen Job noch!! Und mit Papa ist auch alles in Ordnung!“

„Dann sag mir endlich, was wirklich los ist!“, schnaube ich wütend, bin kurz davor, die geöffnete Gümmibärchentüte gegen die Wand zu pfeffern.

„Also gut …“ Mama schluckt noch einmal, lächelt dann und verkündet: „Das, was Jessi gesehen hat, waren nichts anderes als Freudentränen. … Euer Vater kommt früher als erwartet wieder, nächste Woche Samstag landet sein Flieger. Ich freue mich einfach so, verstehst du?“

Ich nicke, obwohl mir glasklar ist, dass sie lügt. Jessi wird wohl noch Trauer von Freude auseinanderhalten und Mamas Lächeln sah auch mal besser aus. Ich fürchte, da habe ich noch einiges herauszufinden.
 


 


 

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Ich entschuldige mich vielmals für die lange Wartezeit und hoffe, ihr hattet jetzt Spaß beim Lesen!

Das nächste Kapitel wird nicht ganz so lang hin ein da ich selbst sehr gespannt bin, wie ihr auf zwei sehr interessante neue Charaktere reagieren werdet ;)
 

Ich glaaaaube das war's dann auch schon wieder von meiner Seite :D
 

Über Rückmeldung eurerseits würde ich mich sehr freuen, immerhin seid ihr es, die das hier lesen, ich schreibe ja nicht ausschließlich für mich selbst :)
 

... Und genau das beweisen mir auch ein paar Favo-Leute mehr! Dankeeee!! <3 :

- -karuto-

- AngelHB

- Eminimu

- eunhae

- Hi-chaan

- Lizerce

- mayu-saya

- Nubiee
 

Und jetzt noch - nicht zu vergessen - meine Kommentarbeantwortung (oder wie auch immer man das nennen soll :P):
 

@ Jeschi: Das mit dem schnell hat nciht so ganz geklappt ... Was unter anderem mit den erwähnten Veränderungen zu tun hat, die ich in die Geschichte einbauen musste - wovon ihr nichts mitbekommen werdet, aber in meinem Kopf hat das einiges wieder durcheinandergeworfen.
 

@klene-Nachtelfe: Freut mich wie immer, dass du begeistert bist :)

Tjaaa, das mit Jeromes Verhalten löst sich noch auf - irgendwann ... ^^ :D
 

Ganz lieben Gruß und bis zum nächsten Mal!!

LG,

lady <3

Mo

Viel Spaß! <3
 

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Mo
 

Die Nacht verlief nicht besonders gut. Ich habe kein Auge zubekommen, mich nur ständig hin und her gewälzt und mir überlegt, wie ich herausfinden könnte, was hier gerade so entscheidend schiefläuft. Was ist los mit meiner Mutter, mit Jerome, ja, eigentlich schon meiner ganzen Welt? Ob das wohl Schicksal ist? Gibt es sowas überhaupt, und wenn ja: Warum ist es dann so mies?
 

Jetzt sitze ich auf meinem Fensterbrett, die Zimmertür abgeschlossen. Wenn gestern die Freude, dass Papa kommt, übertüncht wurde von Sorge, so ist sie jetzt umso präsenter. Ich habe ihn ewig nicht gesehen! Ewig! Allerdings bedeutet präsent noch nicht, dass ich gute Laune habe. Ganz im Gegenteil: Meine Nerven sind zum Zerreißen angespannt. Alle paar Minuten schwankt meine Stimmung zwischen Euphorie und der schwer zu beschreibenden Traurigkeit von gestern Abend und der vergangenen Nacht. Zusammen mit dem schlechten Schlaf ergibt das einen unberechenbaren Stimmungscocktail, den ich wirklich niemandem wünsche – und wehe dem, der ihn auf einer Party trinkt! Ich zucke zusammen, als es an meiner Zimmertür klopft.

„Daniel?“ Ein weiteres Mal hämmert Jessis Faust gegen das Holz. „Daniel?? Wir wollen frühstücken!“

„Ich bin wach, Jessi! Du kannst aufhören, die halbe Welt auf unser Frühstück aufmerksam zu machen!“ Langsam schlurfe ich zur Tür, öffne sie und stehe vor meiner lächelnden kleinen Schwester. Unwillkürlich frage ich mich, wie sie es schafft, so gute Laune zu haben, obwohl sie es gestern war, die mir heulend um den Hals gefallen ist.

„Guten Morgen, Da-“

„Jessi, hör auf mit der guten Laune!“, schneide ich ihr scharf das Wort ab. „Wenn du schon nicht über gestern reden willst, dann lass wenigstens mir meine schlechte Laune, okay?“

Ihr Lächeln erstirbt auf der Stelle. „Du hast wirklich mit ihr gesprochen, oder?“

„Ja, habe ich.“

„Und?“

„Nach dem Frühstück“, beschließe ich und stapfe an Jessi vorbei die Treppe runter in die Küche.

Mama sitzt schon da, den Kopf auf der linken Faust abgestützt, mit der anderen Hand rührte sie gedankenverloren in ihrem Kaffee herum.

„Morgen, Mama“, sage ich kühl, lasse mich auf meinen Stammplatz setze und beginne, mein Brötchen mit Himbeermarmelade zu beschmieren. Jessi setzt sich neben mich und fängt ebenfalls an zu frühstücken. Das Schweigen ist beinahe unerträglich. Diese Mauer, die man nicht sehen kann, beinahe wie gestern Abend, nur bin ich mir dieses Mal sicher, dass ich es nicht schaffen werde, sie zu übertreten. Nicht dieses Mal. Heute hat Jessi mich nicht darum gebeten.

Auch der Rest des Frühstücks verläuft schweigend. Zwar versucht meine kleine Schwester mehr als einmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch sie scheitert an der fehlenden Redebereitschaft seitens Mama und mir. Irgendwann stehe ich auf, eine Tasse heiße Schokolade in der Hand und verlasse die Küche. Die Mauer ist schrecklich, schlimmer als das Monster, das 1989 gefallen ist – zumindest für mich. … Obwohl das jetzt vielleicht ein schlechter Vergleich ist, immerhin ist diese Mauer gefallen. Unsere hingegen wird eher höher durch all das, was wir nicht sagen, aber sagen könnten, als dass sie einreißt.

Langsam steige ich die Treppe hinauf, starre in meinen Kakao und wäre um ein Haar an einer Stufe hängen geblieben, doch ich fange mich gerade noch rechtzeitig, um mir mein T-Shirt nicht zu versauen. Wenn der Rest des Tages auch so beschissen läuft, dann tut mir Jessi mir mit ihrem Vorhaben, uns Mo vorzustellen, jetzt schon leid.

Seufzend stoße ich die Tür zu meinem Zimmer auf, schließe sie hinter mir und hocke mich auf meine Fensterbank. Draußen auf dem Bürgersteig hüpft ein Spatz, ein anderer sitzt in dem Baum, der in unserem Vorgarten steht. Er zwitschert fröhlich und sieht dabei so glücklich aus, dass ich ihm am liebsten erzählt hätte, dass nicht alle so viel Glück haben wie er. Nicht jeder kann fliegen und sich da oben zwischen den Wolken die Gedanken aus dem Kopf pusten lassen. Nicht jeder kann von oben herab auf den weltlichen Irrgarten blicken, um herauszufinden, wie man den Weg nach draußen findet. Und nicht jeder kann sich in einer niedlichen Zwitschersprache unterhalten, die klingt wie Japanisch rückwärts und verzerrt. Leider.
 

Cleo telefoniert schon seit einer halben Stunde mit mir. Und genauso lange erzählt sie mir schon, wie sehr sie sich nicht darauf freut, mir in Kürze Mo vorzustellen. Ungefähr fünfmal hat sie bisher mindestens zehn verschiedene Szenarien vorgestellt, die nicht eintreten dürfen – allerdings klingt kein einziges in irgendeiner Weise wahrscheinlich (was ich ihr selbstverständlich nicht erzähle, sonst wäre ich tot). Vollkommen hysterisch erklärt meine beste Freundin mir gerade, dass es passieren könnte, dass Jamil Mo mit seinen unlustigen Witzen so sehr nervt, dass … Ach, keine Ahnung, ich hab vor ungefähr 27 Minuten aufgehört zuzuhören. Stattdessen konzentriere ich mich angestrengt darauf, meine Haare in Ordnung zu bringen, die sich leider schon vor Ewigkeiten von ihrer Vernunft verabschiedet haben.

„Blablablabla … DANIEL?? Hörst du mir überhaupt zu??“

Hä, was? Oh … verdammt … „Klar, alles ist schrecklich und furchtbar. Aber glaub mir Cleo, das Meiste wird immer nur halb so schlimm, wie man denkt.“

„Sagt der Richtige! Du hast’s dir mit Yannik auch ziemlich verbockt!“

„Das war aber auch nicht so schlimm, ich habe ihn schließlich nicht geliebt.“ – Sondern Jamil, hust.

„Aber du hast es geglaubt.“

Stimmt. Punkt für Cleo. Verdammt! Seufzend schlage ich mir eine Hand vor den Kopf und wünsche mit inständig, sie könnte es sehen.

„Tja, ich hab halt Recht, Danni. Es kann aaaaalles passieren. Alles! … Es wäre ja auch furchtbar, wenn …“

Und bäm, ich bin wieder weg, kneife stattdessen skeptisch die Augen zusammen in dem Versuch herauszufinden, ob die eine widerspenstige Haarsträhne jetzt nach links oder nach recht gehört – ich entscheide mich letztendlich für rechts, was sich allerdings als genauso wenig als richtig herausstellt wie links. Damn! Ich seh’s schon kommen: Wir stehen vor Mos Haustür und das erste was er tut, wenn er mich sieht, ist lachen. … Aufgrund unaussprechlich schlimm aussehender Haare.
 

Glücklicherweise habe ich es schlussendlich doch noch geschafft, wie Jamil mir bestätigt, als ich ihn vor Cleos Haustür treffe. Er grinst und drückt auf die Klingel. Allerdings schafft er es gar nicht, den Knopf ganz durchzudrücken, da ihm die Tür zuvor beinahe gegen den Kopf fliegt.

„Da seid ihr ja!“, begrüßt uns Cleo nervös, kommt zu uns nach draußen und läuft los. „Jetzt kommt schon! Wir sind spät dran!“

Während wir ihr durch x-tausend Straßen folgen und uns fragen, wo zum Teufel dieser Mo bloß wohnt, redet sie durchgehend auf uns ein und ich muss erschrocken feststellen, dass seit unserem Gespräch noch mindestens drei andere Schreckensszenarien dazugekommen sind. Da sieht man mal: Kreativität kann auch ein Fluch sein!

Beinahe renne ich in Cleo hinein, als sie abrupt stehen bleibt und sich auf die Unterlippe beißt. „Wie sind da.“

Skeptisch runzle ich die Stirn. Das mehrstöckige Haus, vor dem wir stehen, wirkt irgendwie verfallen, obwohl ich nicht wirklich festmachen kann, weshalb. Es sieht dunkel aus, trotz der beigen Außenwand. Vielleicht, weil sie schrecklich verschmutzt ist.

„Sieht nicht besonders einladend aus“, spricht Jamil meinen Gedanken aus und schiebt die Hände in die Hosentaschen.

Missbilligend verschränkt Cleo die Arme vor der Brust. „Das hat ja wohl nichts mit Mo zu tun.“

„Hab ich das gesagt?“

„Nein, aber gedacht.“

„Woher willst du das wissen?“

„Weil jeder so was denkt, der so was sagt!“

Kopfschüttelnd trete ich auf das Haus zu. Das ist typisch. Jamil und Cleo haben einen Heidenspaß daran, sich in die Haare zu kriegen, nur um sich nachher doch wieder lieb zu haben. Suchend betrachte ich die Klingelschilder, ohne zu wissen, nach wem ich suche. Mo … Moritz. Moritz und wie weiter?

„Leute?“, rufe ich über die Schulter nach hinten, „Wie heißt der weiter?“

Meine beiden besten Freunde tauchen aus ihrem kleinen Streit aus und sehen mich verdutzt an.

„Wie heißt Mo weiter?“, wiederhole ich meine Frage, woraufhin Cleo zu mir kommen, einen Klingelknopf drückt und mich angrinst. „Seiler. Moritz Seiler.“

Das Summen, das verkündet, dass wir eintreten können, ertönt, Cleo drückt die Tür auf. Jamil und ich folgen ihr in ein düsteres Treppenhaus, die Wände besprüht mit Graffiti, jedoch kann ich bei diesem Dämmerlicht erkennen, ob künstlerisch oder willkürlich. – Ich tippe auf Letzteres.

Nachdem wir geschätzte 10.000 Treppenstufen hinaufgestiegen sind, bleiben wir stehen … oder besser: Cleo bleibt stehen und wir rennen zum zweiten Mal fast in sie hinein.

Sie hebt die Hand und klopft an eine Tür, von der uns ein teuflisch aussehender Smiley angrinst, den offensichtlich irgendwer erschaffen hat, der ziemlich gut mit Graffiti umgehen kann.

Drinnen ertönt ein Poltern, dann Schritte, gefolgt von einem weiteren Poltern und einem lautstarken „Scheiße!“, dann geht die Tür auf – und vor uns steht ein Junge mit dunklem Haar und spitzer Nase.

Ein wenig irritiert sieht er Jamil und mich an, bleibt dann aber mit den Augen an Cleo hängen und lächelt leicht. „Hallo, Cleopatra.“

„Hi, Mo“, erwidert meine beste Freundin und strahlt, als hätte man ihr gerade den Nobel-Preis für irgendwas verliehen.

„Sind das da Jamil und Daniel?“

„Ja, sind sie.“

„Aha.“ Wow, klingt, als wäre er wahnsinnig begeistert, uns kennen zu lernen. „Na dann kommt mal rein.“

Danke, ich bin auch sehr erfreut, dich kennen zu lernen. Wie freundlich, dass du uns so nett empfängst. Mit einem Seitenblick auf Jamil stelle ich fest, dass er anscheinend genau dasselbe denkt und grinse, während ich Mo und Cleo durch den vollgestellten Flur in ein kleines Wohnzimmer folge, das wirkt, als müsste diese Familie das Wort ‚aufräumen‘ im Fremdwörterlexikon nachschlagen: Kisten mit undefinierbarem Inhalt stapeln sich an den Wänden, das Sofa ist halb vergraben unter bunten Decken, der ganze Raum wirkt wenig einladend mit dem fleckigen grauen Teppich und den halb zugezogenen, schwarzen Vorhängen an den Fenstern. Auf dem Tisch steht ein Teller, auf dem noch deutlich die Reste einer Tomatensoße erkennbar sind und daneben liegt eine geöffnete Chips-Tüte. Ist es verständlich, wenn ich jetzt schon beschließe, dass ich finde, Cleo sollte diesen Kerl in Frieden lassen? Oder Dieser Kerl Cleo? Ich glaube nicht. Und nein, ich habe keine Vorurteile, aber das hier finde ich dann doch ein bisschen arg an der Grenze zum Ekelhaften.

„Setzt euch ruhig“, sagt Mo und deutet auf das Sofa, „ich besorg uns was zu trinken.“ Und damit ist er verschwunden. Schweigen breitet sich aus. Jamil starrt skeptisch auf die Tomatensoße, Cleo spielt nervös mit ihren Fingern herum und ich versuche mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich in der Wohnung eines Menschen sitze, der jemanden wie meine beste Freundin definitiv nicht verdient hat.

„Ach, Cleo. Kommst du dieses Mal mit Anhang?“

Erschrocken fahre ich zusammen und wende mich in Richtung Tür … Ach. Du. Scheiße! Wer zum Teufel ist das?? Entgeistert starre ich den jungen Mann an, der im Türrahmen lehnt. Er ist groß, schlank und – gewöhnungsbedürftig. Zumindest sehe ich ein Auftreten als außergewöhnlich an: Freier Oberkörper, enge Lederhose und drei kleine tätowierte Sterne knapp unter dem rechten Schlüsselbein. Sein Grinsen ist auf eine Weise lasziv, die zwar nicht offensiv aber doch irgendwie offensichtlich ist und der Ausdruck in seinen Augen ist schwer zu deuten. Wenn ihr mich fragt, ist der Kerl gruselig. Mit lässigen, großen Schritten kommt er auf uns zu, setzt sich hin und sieht meine beste Freundin erwartungsvoll an. „Willst du mich nicht vorstellen?“

„Öhm … Ja … also“, man sieht ihr an, dass diese Situation ihr ziemlich missfällt, „Das sind Jamil und Daniel, meine besten Freunde. … Ja, das hier ist Nathan, Mos Bruder.“

„Freut mich sehr.“

„Gleichfalls“, erwidert Jamil, doch ich sehe ihm an, dass er am liebsten anders geantwortet hätte.

Ich nicke als Antwort lediglich und ziehe unbehaglich die Schultern hoch. Ich will hier raus, so schnell wie möglich. Mir schaudert schon bei dem Gedanken, hier noch mehr Zeit verbringen zu müssen und wir sind gerade mal ein paar Minuten hier! Verdrossen sehe ich auf den Boden und kaue auf meiner Unterlippe herum, kann regelrecht Nathans Blick über mich wandern spüren, als würde er versuchen, mich mit den Augen zu röntgen. Meine Muskeln spannen sich an, ich beginne, mit den Fingern über das Sofa zu streichen.

„So, da bin ich wieder.“ Mo steht neben uns, ein Tablett mit Bechern und mehreren Getränken in den Händen. „Was möchtet ihr trinken?“

Cleo scheint sichtlich erleichtert, dass ihr potentieller Freund – Oooh, ich werde sie noch von ihm abbringen! – endlich wieder aufgekreuzt ist. „Orangensaft“, sagt sie und lächelt.

„Okay. Jamil?“

„Wasser, danke.“

„Daniel?“

„Gar nichts“, presse ich zwischen möglichst geschlossenen Lippen hervor.

„Wenn du meinst … Nathan?“

„Auch nichts, Bruderherz“, lächelt Nathan, „ich muss los. Meine Schichte beginnt in drei Stunden und ich nehme seit Neustem auch private Aufträge entgegen – unglaublich, wann die dich so antanzen lassen. Aber … was tut man nicht alles für den heiligen Job?“ Grinsend zieht er eine Augenbraue hoch, lässt eine seiner Hände über den Oberschenkel seines Bruders gleiten und leckt sich provokant über die Lippen. Mir wird schlecht. Oh mein Gott, ich will gar nicht wissen, was der von Beruf ist! – Obwohl ich’s mir denken kann.

Nathan nickt uns nochmal zu, geht dann in Richtung Tür. „Ach und Mo? Weißt du, wo ich das Kunstblut gelassen habe?“

Kunstblut?!

„Ich glaube ich hab’s das letzte Mal in der Schublade der Kommode im Flur gesehen!“ Mo dreht sich zu uns um, legt einen Arm um Cleo, die sich verträumt gegen seine Schulter schmiegt. Ihm scheint das Verhalten seines Bruders wenig auszumachen, allerdings bemerkt er wohl, dass Jamil und ich ein wenig ratlos sind. „Nathan arbeitet als Stripper. … Heute hat er anscheinend wieder einen dieser seltsamen Kunden, die auf Abgefahrenes stehen.“ … Ich glaub ich kotz gleich. „Mein Bruder versteht sich mit denen am besten. Ihr könnt mir glauben: Seine Vorlieben sind auch weniger normal.“

Oh. Mein. Gott. Ich will es gar nicht wissen!

„Tschühüüüss!“, ertönt es aus dem Flur, kurz darauf schlägt die Haustür zu.

Auf was hat Cleo sich mit denen bloß eingelassen?
 

„Auf was hast du dich da bloß eingelassen?“, fragt Jamil seufzend, als wir mitten in der Nacht in Cleos Zimmer sitzen. Nach dem Besuch bei Mo war es bereits so spät, dass wir beschlossen haben, bei ihr zu übernachten. … Ja, wir haben tatsächlich noch mehrere Stunden herumgesessen, Jamil hat – ebenso wie ich – kaum gesprochen, nur unsere beste Freundin hatte ganz offensichtlich Spaß. Na ja, wenigstens kann sie uns nicht vorwerfen, wir hätten sie mit peinlichen Aussagen bis auf die Knochen blamiert.

„Auf eine Beziehung. Oder besser: Auf etwas in diese Richtung.“

„Ja“, stellt Jamil fest, „auf eine Beziehung mit einem Kerl, der drei Jahre älter ist als du und einem strippenden Bruder. Nenne ich super Aussichten …“

„Jamil, jetzt mach aber mal ´nen Punkt! Du bist doch sonst nicht so scheiße oberflächlich!!“

„Oberflächlich? Cleo, ich stelle lediglich fest, was für einen komischen Kerl du dir da angelacht hast.“

„Ja, danke. Daniel, was sagst du dazu?“

Oh scheiße. Ich dachte schon ich würde ohne Statement davonkommen … „Cleo, ich … ich glaube, Jamil hat schon irgendwie Recht. Ich meine …“

„Ach, du auch?!“ Wütend funkelt meine beste Freundin mich durch das Dunkel ihres Zimmers hindurch an, ich Blick scheint beinahe zu glühen. „Und ich dachte, ich hab mir tolle beste Freunde ausgesucht, die mich unterstützen. Mich und den Jungen, den ich für richtig halte! Wisst ihr was? Scheiß Freunde seid ihr, wenn ihr meint, ihr könntet Mo und Nathan einfach abtun, nur weil sie vielleicht anders Leben als ihr! Ja, okay, sie haben nicht viel Geld, aber sie arbeiten dran. Mo ist Gitarrist einer Band und kellnert jedes Wochenende. Und Nathan? Denkt ihr, der zieht sich nur zum Spaß aus, oder was?“

Ja … irgendwie schon. Den scheint die Seltsamkeit seines Jobs wenig zu kratzen …

Schimpfend springt Cleo aus ihrem Bett aus, wirft uns mit Kissen und Kuscheltieren ab. Jedes einzelne ihrer Worte ist so laut, dass ich fürchte, die ganze Nachbarschaft schlägt gleich Alarm und wir dürfen den Rest der Nacht wegen Ruhestörung auf dem Polizeirevier verbringen.

„Hey, reg dich mal ab“, versucht Jamil, sie zu beschwichtigen, doch er erreicht das Gegenteil: „Mich abregen! Euch ist klar, dass ihr meinen Freund gerade völlig unberechtigt zum Assi verurteilt?!“

Es tut mir leid, aber ich komme nicht umhin festzustellen, dass sie ihn wirklich als ihren ‚Freund‘ bezeichnet. Anscheinend haben Jamil und ich mehr Überzeugungsarbeit vor uns als gedacht.

„Cleo“, greife ich nun ein, „wir wollen lediglich, dass du die Sache überdenkst. Keiner hat Mo als Assi bezeichnet, aber du musst uns doch verstehen: Du willst uns jemanden vorstellen, für den du dich interessierst und wir landen in einer schäbigen Wohnung, das ganze Treppenhaus ist zugeschmiert und Mos Bruder arbeitet im Rotlichtmilieu … Da kann man doch keine Begeisterung erwarten!“

„Aber wenigstens Verständnis!“

Jamil öffnet den Mund, um etwas zu sagen, als die Zimmertür aufgeht und Cleos Vater den Kopf hereinsteckt. Mit einem trägen Gähnen lehnt er sich gegen den Türrahmen. „Was ist denn hier los? Hat der Nähkram euch von der nahenden Apokalypse überzeugt oder warum schreit ihr hier so hysterisch rum – mitten in der Nacht?“

„Nein, keine Apokalypse“, schüttelt Cleo den Kopf, „Aber hier wird es gleich leise, Jamil und Daniel wollten gerade gehen!“

Verwirrt tauschen mein bester Freund und ich einen Blick. Wir wollen gehen? Meint sie das ernst? Anscheinend ist Cleos Vater genauso verständnislos wie wir (oder einfach nur zu müde, um sich Gedanken zu machen): „Was, jetzt? Mitten in der Nacht? Es ist euch schon klar, dass es drei Uhr morgens ist, Jungs?“

Wir nicken synchron und starren abwechselnd unsere beste Freundin und ihren Vater an. So fern wir die beiden bei diesem fahlen Mondlicht anstarren können, versteht sich. Ehrlich gesagt habe ich Cleo schon lange nicht mehr dermaßen wütend gesehen. Klar, sie regt sich gern mal auf, und das auch recht stark, aber so schlimm ist es wirklich selten gewesen, vielleicht drei bis vier Mal, seit ich sie kenne. So wie es aussieht, haben wir sie wirklich ziemlich verletzt. Und jetzt müssen wir dafür büßen!

„Ja, das wissen sie. Aber sie wollen trotzdem gehen! Na los, Jungs, Marsch die Treppe runter!“ Entschlossen sammelt sie unsere Klamotten vom Boden auf, die wir zum Schlafen ausgezogen haben und drückt sie uns in die Arme. Zögernd stehe ich auf und bedeute Jamil, es mir gleichzutun. So wie ich Cleo kenne, rastet sie komplett, wenn wir uns jetzt weigern, ihr Zimmer zu verlassen. Wie geprügelte Hunde schleichen wir – gefolgt von Cleo – durch die Tür die Treppe herunter und landen zwei Minuten später draußen auf der Straße. Augenblicklich bildet sich Gänsehaut auf meinen Armen, kleine Steinchan auf dem Asphalt stechen mit in die bloßen Fußsohlen. Na bravo, das haben wir ja super hinbekommen!

„Gute Nacht!“, keift Cleo noch, bevor sie die Tür zudonnert.

Neben mir seufzt Jamil auf und fährt sich durch die Haare. „Gehen wir zu mir?“

Ich nicke, bevor ich resigniert neben ihm her über die dunkle Straße trotte.
 

_________________________________________________________________________________
 

Oh ja, Cleo kann böse werden ...

Was haltet ihr von Mo und seinem Bruder?
 

Vielen Dank an die neuen Favo-Leute und <3-lich willkommen im Zirjusjungen-Leserkreis :)

- Chiriney

- Deedochan

- eagle

- fireflys

- Froubbi

- Isilein12

- JamieLinder

- Lizerce

- manu39

- Ruca-Kuro
 

@klene-Nachtelfe: Tjaaaaa, was ist wohl mit Daniels Ma los? Hmmm, wann sich das wohl aufklärt .... xD
 

LG,

lady



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Kommentare zu dieser Fanfic (27)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Blacksad
2013-10-17T22:56:07+00:00 18.10.2013 00:56
Es wäre untertrieben zu sagen, meine Haare ständen in alle Himmelsrichtungen ab. Ich persönlich glaube, sie stehen teilweise in Richtungen ab, die nicht einmal einen Namen haben. <- OMG ich sterbe gleich XD

Dein Schreibstil ist immernoch die reinste Marschmallowparade ich bin weiterhin entzückt *fähnchen schwenk*

LG
Blackii <- Gerade leider nicht fähig konstruktive Kritik anzubringen
Antwort von:  -ladylike-
26.10.2013 00:33
NEEEEEEEEEEIN, nicht sterben!! Ich hab gehört das ist ungesund!

Marshmallowparade? *Augen leucht* Darf ich die nachher aufessen?? *nom nom*

lg,
Lady

... das mit der Kritik ist nicht so schlimm, passiert mir selbst häufig genug ;)
Von:  Blacksad
2013-10-17T22:43:58+00:00 18.10.2013 00:43
*giggelt albern rum* ich mag deinen Schreibstil der ist irgendwie...fluffig? Ja fluffig trifft es glaube ich ganz gut. Ich amüsiere mich auf jeden Fall prächtig XD Ich hatte übrigens mal nen Kunstlehrer der tatsächlich auch ohne auf einen abzufahren abartig schlechte Bilder super benotet hat solange man nur genug scheiße über die nicht vorhanden Aussage des "kunstwerks" zusammengesülzt hat. XD

LG
Blackii
Antwort von:  -ladylike-
26.10.2013 00:30
fluffig? :D
das nenne ich mal eine interessante Bezeichnung meines schreibstils *lach* - kann ich aber nachvollziehen, wenn ich so drüber nachdenke.

... ernsthaft? oh mann, so nen kunstlehrer hätte ich auch gern gehabt :D meine waren bisher alle akzeptabel, aber nie so freundlich (ich meine, ich bin auch nicht schlecht in Kunst, ich muss mir eigentlich nichts zusammenkratzen, aber trotzdem wär's schön gewesen.). mein coolster kunstlehrer war noch der typ mir zu viel Selbstbewusstsein und schlechten witzen, der uns immer beleidigt hat. Ich zitiere: "Jetzt kommen wir zu den Selbstportraits - den Flaschen!" Hahaha ... sehr lustig ... nicht. Aber ich bin mit ihm klargekommen :)

Grüßelchen,
lady
Von:  Verath
2012-05-26T23:37:29+00:00 27.05.2012 01:37
Deine Geschichte ist wirklich schön. Ich mag Daniel sehr gerne, genauso wie Jamil, Cleo und Jerome. Ich hoffe, letzterer kriegt sich bald wieder ein, weil es mir richtig weh tut, wenn Jerome Daniel so gemein ignoriert. Und jetzt ist Cleo auch noch sauer und irgendwas mit Daniels Mum ist auch noch! Der arme Junge. Hoffentlich wird das alles wieder!
So schreibst du wirklich flüssig und angenehm, aber einen kleinen Kritikpunkt gibt es:

Du hast immer wieder Schreibfehler in deiner Geschichte. Also nicht nur mal ein e am Schluss zu viel, sondern einmal hast du Cleo und Jessi vertauscht, du verwechselst einige Wörter (zB mir und mit) miteinander und des Öfteren fehlen ganze Wörter. Vielleicht solltest du deine Kapitel vor dem Hochladen noch einmal Korrektur lesen. Das ist immer sehr hilfreich.^^ Mache ich genauso und es hilft wirklich.
Falls du das schon tust oder so, würde ich dir vielleicht raten, einen Beta-Leser zu suchen. Davon gibt es viele, die sich anbieten und die helfen gerne.
Sonst ist die Geschichte wirklich toll und ich freue mich schon sehr auf das nächste Kapitel :)

LG
Verath
Von:  klene-Nachtelfe
2012-05-17T20:33:52+00:00 17.05.2012 22:33
Hmmm....also ich find Mo´s Bruder ja schon komisch.....aber hey...was solls =)
Ich bin gespannt ob die sich wieder zusammenraufen können....aber ich denke mal das die das schaffen...des weiteren bin ich gespannt wie es mit Damiel und Jerome weiter gehen wird...und überhaupt...Tolle Story!!!
WEITER SO!!!
LG -^.^-
Von:  Inan
2012-05-17T19:00:05+00:00 17.05.2012 21:00
Also ich find Mos Bruder nett, er ist jemand, den man in Erinnerung behält :D
Allerdings verstehe ich auch, dass Daniel und Jamil für Chloe nur das Beste wollen, immerhin ist sie ihre beste Freundin, bestimmt sehen sie aber trotzdem noch ein, dass es die Hauptsache ist, dass sie glücklich ist, schon allein, weil sie sonst mysteriöserweise umkommen würden xD
Super Kapitel x3
Von:  Lizerce
2012-05-17T09:31:22+00:00 17.05.2012 11:31
Hey,
hab mal deine Story ein bisschen "durchgeblättert", eher wohl sehr schnell und flüssig durchlesen können...
Auf jeden Fall: Nathan ist nicht merkwürdig- ne auch nicht komisch... sondern hat so eine Seite, die ich sogar sehr sympatisch finde xD
Zu Mo kann ich nicht wirklich was sagen, da hatte er noch nicht einen bleibenden Eindruck verlassen. (Für mich, muss man sagen)
Ich weiß auch nicht was ich von Jerome halten soll? Seine Stimmungsschwankungen sind ja schlimmer als bei mir! Und auch viel plötzlicher und unbegründeter vor alle dem. Mag ich! Das gibt viele Chancen für abrupte Wendungen, sowie Tiefen und Höhen in Daniels Leben verusachen oAo

Liz
Von:  Deedochan
2012-05-16T22:33:15+00:00 17.05.2012 00:33
Bin grad über deine Story gestolpert und finde sie bis jetzt richtig putzig, muss ich sagen. Recht mysteriös ... was Jerome wohl wirklich hat, ob sich Cleo wieder einkriegt (und ich muss sagen, ich finde Mo nicht unsympathisch ^^ und es soll wirklich Leute geben, die gerne strippen, sollen sie doch... ^^) usw. usf. - bin richtig neugierig ^^ ich hoffe, demnächst geht es schneller weiter als bisher (hab mir angeschaut, wann du Kapitel hochstellst ^^), weil ich bin sooooooooooooooooo ungeduldig und ich mag alle Leutz aus deiner Story so gern :P
glg und bis bald!
Deedo
Von:  klene-Nachtelfe
2012-04-22T20:06:52+00:00 22.04.2012 22:06
Ich liebe es!!!
Einfach genial!!!
Sehr aufwülend!
Bin unglaublich gespannt was aus Jerome Daniel wird....und was mit Daniels Mama ist und und und und überhaupt....einfach toll!!!
WEITER SO!!!
LG -^.^-
Von:  Jeschi
2012-01-26T18:20:06+00:00 26.01.2012 19:20
Oh weh~ das macht ja jetzt echt Lust auf mehr.
Wo er jetzt beleidigt ist. Oder wo allgemein sein Verhalten so komisch ist.
Da will ich jetzt wissen, was sie meinte mit: Irwnan wirst du es verstehen! °O°
Also los, schreib schnell weiter. xD
lg
Von:  klene-Nachtelfe
2012-01-25T20:48:01+00:00 25.01.2012 21:48
*quietsch*
Ich liebe diese Story!!!
Ich bin wirklich gespannt was aus Daniel und Jerome noch wird....die beiden sind süß, aber Jeromes Verhalten war ja schon komisch...naja wir werden sehen *freu*
Insgesamt ist es einfach schön das lesen zu dürfen und es macht mir wirklich sehr viel Spaß!!!
WEITER SO!!!!
LG -^.^-


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