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Zeitlos -♠-

100 Storys -1-
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Memoria

»W-Was ist d-das?«, frage ich und fahre sanft mit den Fingerspitzen über die Einkerbungen im Beton, während Doktor Jacobs meinen Rollstuhl langsam vorwärts schiebt.

»Das sind Namen, sehen Sie, Mr. Evans?«, sagt der Doktor und deutet auf die beinah unlesbaren Buchstaben, die zusammen das Wort >Steve< ergeben. Ich betrachte >Steve< aufmerksam, sehe die Kerben im Beton, die diesen Namen ergeben. Dann sehe ich auf.

Die anderen Patienten, die ebenfalls an diesem kleinen Ausflug teilnehmen, sind teilweise verwirrt, teilweise verängstigt und teilweise wütend auf etwas, das ich nicht erkennen kann. Einer steht neben mir und schreit >Steve< an. Doch schnell kümmert sich ein Arzt um ihn und er verschwindet aus meinem Blickfeld.

Warum stehen all diese Namen da?, will ich in Erfahrung bringen, aber die Worte kommen nur abgehackt und falsch aus meinem Mund. Doch weil Jacobs ein guter Doktor ist, weiß er, was ich sagen will und antwortet deshalb: »Wissen Sie, dies ist eine Gedenkstätte. Im Krieg starben hier einst viele Menschen. Und zur Erinnerung haben die Angehörigen die Namen der Verstorbenen in diese Tafel geritzt, damit sie für die Ewigkeit bestehen bleiben.«

Er lässt mir ein paar Minuten, um darüber nachzudenken und das Gesagte zu verarbeiten. Mein Hirn ist nicht mehr das Beste. Dann schiebt er mich ein Stück weiter, sodass ich hinter die Wand aus Beton sehen kann, hinter die Wand der Millionen Namen.

»Und dies«, setzte Jacobs fort, indem er auf die unzähligen blauen Blumen zeigt, die sich vor mir auftun, »gehört ebenfalls zu dem Denkmal. Denn zu jedem Namen gehört auch eine dieser Blumen. Insgesamt werden hier also Tod, Leben und Ewigkeit miteinander vereint: Die Blume lebt, wird aber irgendwann verwelken. Aber die Namen auf dem Beton, die bleiben für immer. Und für immer ist auch die Erinnerung an all diese Menschen, die den Krieg nicht überlebten. Und man sagt ja schließlich, dass ein Mensch erst dann wirklich stirbt, wenn er vergessen wird. Und wie Sie sehen, Mr. Evans, vergessen wir nicht so schnell.«

Er wirft mir ein Lächeln zu, weil er weiß, dass ich der einzige Patient bin, der noch genug Verstand besitzt, um zu begreifen, was er sagt.

»Das ist saurig«, sagte ich, obwohl ich traurig meine.

Jacobs nickt, betont aber noch einmal, wie wunderschön die Gedenkstätte ist und macht noch einmal auf die Ewigkeit der Namen aufmerksam, bevor er mich weiter schiebt, fort von dem Betonklotz der Erinnerung. Ich sehe die anderen Patienten geordnet und gesittet durch die Parkanlage gehen, sich umsehen und sogar lachen. Aber mir steckt ein Kloß im Hals, denn ich weiß etwas, was all die anderen Patienten nicht wissen und von dem Doktor Jacobs nicht weiß, dass ich es weiß. Denn selbst wenn Menschen erst sterben, wenn sie vergessen werden, wenn nichts mehr auf ihre Existenz hinweist – eines Tages wird auch der Betonklotz nicht mehr sein und somit die Namen und die Leben mit sich reißen.

Hätte Jacobs gewusst, dass ich noch genug Verstand besitze um das zu begreifen, hätte er mir diese Geschichte niemals erzählt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2012-12-08T13:51:48+00:00 08.12.2012 14:51
Eine sehr interessante und dennoch traurige Kurzgeschichte.
Der Gedanke vergessen zu werden, noch bevor man stirbt ist schon schlimm genug.
Ich finde, du hast das Thema recht gut beschrieben.
Die Idee, dass ein Ausflug von diesen Leuten unternommen wird und einer doch noch bei klarem Verstand ist ist sehr interessant.
Und auch, dass der Doktor das auch noch versteht. Doch ist es wiederum traurig, dass dieser nicht weiß, dass einer seiner Patienten noch so klar bei Verstand ist, dass er über dies sogar noch hinaus denken kann.

Deshalb ... interssant aber traurig.
Ich lobe dich also hier, weil du es gut verpackt hast.
Und nun genug herum geschwafelt von mir. =)

MfG abgemeldet
✖✐✖


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