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Venia Legendi Eudaimonía

Die Erlaubnis zu lehren wie man glücklich ist
von

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Es ist ein Hotelzimmer. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, in welcher Stadt er wirklich wohnt, welchem Beruf er wirklich nachgeht, wie er wirklich heißt. Aber all das spielt momentan keine Rolle.

„Zieh dich aus.“

Blaue Augen sehen ihn baff an. Dieser Ausdruck steht ihm, muss Alexander feststellen.

„Was ist? Weißt du nicht, wie das geht, dich ausziehen? Soll ich dir helfen?“

Er wartet keine Antwort ab, sondern zieht den jungen Mann zu sich auf den Schoß. Er packt ihn am Hinterkopf und vergräbt seine Hand in den schwarzen Locken.

Als er ihn küsst, muss er an den Studenten denken, der so wunderbar sündhafte Lippen hatte.

Bei jeder Berührung, bei jedem Kuss auf die blasse Haut, die er aufdeckt, muss er an ihn denken.

„Weiter…hn – bitte, mach weiter…“

„Dreh dich um.“

Er gehorcht, und Alexander küsst seinen nackten Rücken, den Nacken, den Haaransatz. Er hat ihn an Schneewittchen erinnert, jetzt ist es ihm eingefallen.

„Hah – nn, Alex…“

Es ist die falsche Stimme. Seine klang heller, weicher, nicht ansatzweise nach Rauch. Unschuldig. Ob sie genauso brüchig klingen würde, wenn er ihn hier unter sich hätte?

Als Alexander schließlich schweißgebadet auf der Matratze liegt und sich vom anderen wegdreht, womit er ihm deutlich macht, dass er keinerlei Interesse an irgendwelchen weiteren Aktivitäten hat, muss er feststellen, dass er zwar erschöpft, aber in keiner Weise befriedigt ist.

„Ich dachte, wir werden vor Drei nicht fertig?“

„Wenn du nicht genug hast, such dir jemand andres.“, gibt Alexander grummelnd von sich.

„Aha, bist du immer so mies gelaunt, nachdem du Sex hattest?“

„Wenn nicht, muss es wohl an dir liegen, hm?!“

Er hört nur noch, wie der andere beleidigt die Luft ausstößt und seine Sachen zusammensucht, bevor er das Zimmer mit knallender Tür verlässt.

Ihm wäre jetzt nach einem donnernden Frustschrei zumute, aber er will die anderen Hotelgäste nicht unnötig wecken.
 

„Du- du bist ja pünktlich, Alexander!“

„Konnte nicht schlafen.“ Wie ein Verdurstender klammert er sich an die bereitstehende Kaffeetasse.

Wilhelm sieht ihn entzückt überrascht an.

„Wie ist das denn möglich, Bruder? Bist du übers Wochenende keusch geworden?“

Alexander stützt seinen Kopf auf die Hände und massiert seine Schläfen.

„Es ist passiert, Wilhelm.“, sagt er.

Der Universitätsleiter legt seinen Stift nieder.

„Was…was ist passiert?“

„Ich…“

Er bricht ab, als ihm klar wird, was er da gerade im Begriff ist zu tun. Seinem Bruder, seinem besserwisserischem, korrekten, hochheiligen Bruder erzählen, dass endlich das eingetroffen ist, wovor ihn dieser unfehlbar schlaue Mensch seit Ewigkeiten gewarnt hat?!?

Nein. Das geht nicht.

„Ich habe beschlossen, meine wochenendlichen Ausflüge nach Berlin in Zukunft zu unterlassen.“, verkündet er stattdessen, was auch der Wahrheit entspricht. Jedenfalls sieht seine momentane Gemütslage gerade danach aus.

Als er aufschaut, grinst ihn Wilhelm glücklich an.

Das ist ein kluger Gedanke! Ich bin stolz auf dich. Du wandelst dich nicht etwa zu deinem Besseren?“

Alexander verdreht die Augen.

„Wenn „besser“ für dich heterosexuell bedeutet, dann lautet die Antwort: Nein.“

Da bedenkt Wilhelm seinen Bruder mit einem prüfenden Blick.

„Eggebrecht hat mir am Freitag erzählt, dass er dich nach deiner Vorlesung am Donnerstag mit einer Studentin gesehen hat…“

„Oh, ich werde oft mit Studentinnen gesehen“, meint Alexander, bevor er einen Schluck Kaffee nimmt.

„Laufen ja einige auf dem Campus rum.“

Wilhelm seufzt übertrieben.

„Nicht doch so. Er sprach von einer…sehr intimen Situation.“

„Huch.“ Gespielt entsetzt blickt Alexander seinen Bruder an.

„Sie stand…na ja, ziemlich dicht…zwischen deinen Beinen.“

Alexander muss gehässig lachen.

„Schön“, meint er.

„Da hat Eggebrecht doch ein richtig anständiges Bild von mir. Kein schwuler Pädophiler, sondern ein verständnisvoller Universitätsprofessor, der den jungen Studentinnen die Chance gibt, auch mit außerkurrikularen Aktivitäten ihren Schnitt aufzubessern.“

„Alexander!“

„Ist es nicht so?! Ist es nicht überall auf dieser Welt so, egal wie fortschrittlich manche Gesellschaften vorgeben zu sein, dass Homosexualität immer noch ein Tabuthema ist?!?“

„Alexander, bitte– “

„Schweig!“ Jetzt hat er sich in Rage geredet, jetzt ist er nicht mehr zu bremsen.

„Du, mein Bruder, genau du bist das Musterbeispiel für einen weltoffenen, toleranten Bürger Deutschlands, der allem und jedem gegenüber tolerant ist – ohja, die Steuern sind so hoch, natürlich, hat ja nur sein Gutes; das Mädel haut ihrem Geschwisterchen mit der Schaufel auf den Kopf, nicht schlimm, sie weiß es ja nicht besser; die Nachbarn meinen, sie müssen bis in die Puppen feiern, der Herr Promi-Opa betrügt seine Familie und geht mit ner Sechzehnjährigen ins Bett – ist doch alles nicht schlimm! Aber wenn ein Mann mit einem anderen Mann Sex haben will, weil er ihn attraktiv findet, oder er ihn womöglich sogar noch liebt, das kann man natürlich nicht tolerieren, weil es die verwerflichste Todsünde der Welt ist!“

Mit festem Blick bleibt Alexander mitten im Büro stehen, starrt seinen älteren Bruder an, der nur beschwichtigend die Hände hebt.

„Alexander, du weißt doch, dass ich nicht so denke…“

„Ha!“, meint der dazu.

„Genau so reden sie alle. Du bist nicht anders, Wilhelm, aber, hey, ich nehm’s dir nicht übel. Du bist mein Bruder, machst dir doch nur Sorgen um mich.“

Er hängt sich seine Tasche um und zwingt sich zu einem Lächeln.

„Das eben war keineswegs böse gemeint, ich hab nur noch einmal die Tatsachen klargestellt. Bis morgen, ich muss zum Unterricht. Grüß mir deine Frau.“

Als er das Büro verlässt, vermeidet er es, die Tür zu schließen, damit er sie nicht zu fest zuwirft.
 

So. Das hat er gut gemacht. Nicht die privaten Sachen mit in den Seminarsaal nehmen. Was können denn die Studenten dafür, dass ihn das schwere Los der Homosexualität getroffen hat.

Er lacht kurz an einer Stelle, an der es im Vortrag eigentlich nicht angebracht wäre, und verwirrt so vielleicht einige.

Was soll’s, er ist zufrieden mit seinem Leben. Mit seinem Beruf, mit seinem Einkommen – mit der Erbschaft, die ihn und seinen Bruder vor vier Jahren glücklicherweise getroffen hat. Auch mit seinem Liebesleben ist er zufrieden.

Gut, da gibt es diesen Studenten, eigentlich den ersten in seiner Laufbahn als Professor, mit dem er sich nicht nur vorstellen kann, ins Bett zu gehen, sondern dies auch liebendgerne tun würde, aber das sollte kein Problem darstellen.

Er kann den Jungen ja einfach ignorieren.

Sein Blick huscht in die letzte Reihe, wo blaue Augen zurückschauen.

Na ja, ignorieren wird schwer werden.

Aber er könnte sich doch einfach eine Grenze setzen. Genau. Wenn nicht anschauen nicht geht, dann eben nicht mit ihm reden.

„Nächstes Mal dann mehr über Platon, den wir heute nur kurz erwähnt haben. Manche Kollegen mögen das zwar seltsam finden, dass wir mit den römischen Philosophenschulen begonnen haben, aber da ich die griechischen Ursprünge für anspruchsvoller halte, sei mir diese Reihenfolge verziehen.“

Es kommen ein paar zustimmende Seufzer des weiblichen Publikums, bevor sich die allgemeine Aufbruchsstimmung unter den Studenten breit macht.

Janette-Jasmin-Johanna macht sich als erste davon. Sie ist wohl enttäuscht, dass er so spät wie üblich zum Unterricht gekommen ist, und sie somit umsonst eine halbe Stunde vorher schon, seines Kommentars vom letzten Mal wegen, vor dem Saal gewartet hat. Was hat sie sich aber auch erhofft?!

Gerade hat Alexander seine Sachen beisammen und macht sich auf den Weg zur Tür, da muss er feststellen, dass der letzte, der langsam die Stufen im Hörsaal hinuntersteigt, der Junge ist, der ihm am Wochenende den Schlaf geraubt hat.

Wie von selbst bleiben Alexanders Füße stehen, hören nicht mehr auf ihn.

„Na?“ – Wie war das mit der Grenze?!

Der Junge schaut nur zu ihm auf.

„Ich wollte mich für letzten Donnerstag entschuldigen.“, sagt er – spricht mit ihm, das soll er doch lassen!

„Das war nicht beleidigend oder so gemeint. Es sollte…lediglich ein Scherz sein, verstehst du?“

Der Junge nickt langsam, und Alexander glaubt zu sehen, wie sich seine Mundwinkel ein wenig heben.

„Willst du vielleicht – ich könnte dich als Entschuldigung auf einen Kaffee oder ein Eis einladen.“ – Haaaalt! Ganz falsch! Verdammt, was tut er da?!?

Doch da blinzeln ihn schon die blauen Augen an, und das hübsche Köpfchen nickt verhalten.

„Das wäre…nett.“

„Gut, dann…wann hast du heute Schluss? Ich könnte so gegen Sieben.“

„Ja, da hab ich – ist ja dann fertig. Um Sieben geht.“

„Dann um Sieben im Café hier auf dem Campus.“

„Danke.“ Der Junge nickt noch einmal höflich, macht aber keinerlei Anstalten, voraus zu laufen, sondern steht nur weiter da vor ihm.

Also reißt sich Alexander zusammen und verlässt den Saal.

Na, bravo! Das hat er ganz toll gemacht. Nicht mit ihm reden…Grenze Eins erfolgreich überschritten.

Gut. Er kann doch eigentlich so viel mit ihm reden, wie er will. Wenn es nur über die Uni geht und nicht zu privat wird, ist doch alles kein Problem.

Genau.

Das nimmt er sich für heute Abend vor: Eine neue Grenze, die es einzuhalten gilt. Und dieses Mal wirklich einzuhalten!



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