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Schneetreiben

von

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Schneetreiben

by Dime
 

Der Wecker klingelte.
 

Schon wieder.
 

Leander streckte den Arm über den Kopf und drückte erneut auf den Snooze-Knopf. In fünf Minuten würde der Wecker erneut klingeln... In fünf Minuten... Wie oft hatte er jetzt schon auf den Knopf gedrückt?
 

Freitag Morgen war das Schlimmste, was er sich dieses Semester angetan hatte. Die ganze Woche erst um zehn oder gar erst nachmittags Uni, aber am Freitag Uni schon um Acht.
 

Warum nochmal hatte er sich das ausgesucht? Ach ja: Weil das Seminar *interessant* schien.
 

Er schnaubte.
 

Langsam drehte er sich im Bett um und quetschte ein Auge auf. Zwanzig vor Acht. Naaaa super.
 

In dem Moment, als er sich aufsetzte, klopfte es an der Türe.
 

"Bin wach!", grummelte er vage. "Geh aber ruhig schon vor!"
 

Sein Mitbewohner hatte einen ähnlichen Stundenplan wie er und war wohl besorgt, dass er nicht rechtzeitig aufstand. Hm. Eigentlich nett von Karl. Blöd nur, dass Leander generell zu spät kam.
 

In der Küche ihrer kleinen WG hörte er Karl und Johannes aufgeregt schnattern wie zwei Mädchen, aber es kamen keine Worte durch. Dafür aber die hohen Stimmen... Manchmal benahmen sich die zwei echt wie Bilderbuch-Klischeeschwule.
 

Wie konnte man nur schon morgens so aktiv sein? Noch dazu im Winter – es wurde ja grade erst hell!
 

Missmutig tappte Leander zum Fenster, zog den Vorhang beiseite - und erstarrte.
 

Ungläubig rieb er sich die Augen. Was sollte denn das jetzt? Es war doch grade erst November. Vor zwei Wochen war es sogar nochmal sommerlich warm geworden!
 

Und jetzt – Schnee?!
 

Er riss die Balkontüre weit auf und trat hinaus. Der kalte Stein biss in seine nackten Füße und die eisige Luft klirrte auf seiner Haut.
 

Es ließ sich nicht leugnen: Schnee. Tatsächlich. Gute dreißig Zentimeter purer, weißester Schnee waren über Nacht gefallen und hüllten die ganze Stadt in ein weißes Gewand. Weiße Hüte auf Fahradsätteln und Lenkern, ein weißer Zopf, der über die Dachkante herabhing, haufenweise weißer Schnee auf allen Ästen und Grashalmen.
 

Der Winter war hereingebrochen, mit jeder Menge wunderschönstem, herrlich weißem Schnee.
 

Leander hasste Schnee.
 


 

---
 

Das Seminar war wirklich interessant, aber Leander bekam an diesem Morgen kaum etwas davon mit. Wie in Trance verließ er die Uni, vorbei an ausgelassen wie die Kinder im Schnee tobenden Studenten. Ein Schneeball flog haarscharf an seinem Kopf vorbei, doch er registrierte es kaum.
 

"Ey Leo, was ist denn los?"
 

Am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, wie Karl die Frage für ihn beantwortete: "Lass ihn, Alex. Du weißt doch, letzten Winter..."
 

Dann war er aber auch schon aus der Hörweite der beiden verschwunden und steuerte sein Fahrrad an. Manchmal war er froh um seinen neu erworbenen Sinn für Sicherheit. Heute war der Fahrradhelm, den er seit knapp einem Jahr besaß, extrem nützlich auf dem steilen Weg von der Uni hinunter, über die schlecht geräumten Wege im Park Richtung Stadt. Doch auch der Balanceakt zwischen Eis, Schnee und Matsch gelang ihm wie in Trance.
 

Wie im Schlaf, dachte er bitter, als er sich seiner geistigen Abwesenheit für einen Moment bewusst wurde. Dann schaltete er bewusst wieder ab. Er wollte jetzt nicht denken. Er hatte ein ganzes, ödes Wochenende vor sich, an dem er grübeln und brüten konnte. Das wollte er nicht!
 

Also schaltete er bewusst wieder auf Autopilot, ließ seine Hände und Beine einfach machen und ließ sich treiben.
 

Er war überrascht, als er sich eine Weile später am Bahnhof wiederfand. Erschrocken starrte er auf den Automaten, genauer gesagt, auf das Ziel, welches er eingetippt hatte:
 

Wildhaus.
 

Perplex stierte er darauf, bis der Automat sich verabschiedete. Dann erwachte er aus seiner Starre.
 

Warum eigentlich nicht?
 

Erneut tippte er sein Ziel ein, überprüfte die Abfahrtszeit, ging Geld wechseln und setzte sich dann noch eine halbe Stunde in das Café am Bahnhof.
 

Es war schon praktisch, direkt an der schweizer Grenze zu wohnen. In nicht mal zwei Stunden war man in den Alpen. Deshalb gab es von Seiten des Uni-Sports auch jedes Jahr wieder eine Ski-Hütte.
 

Bisher war er da immer dabei gewesen, aber dieses Jahr lag ihm nichts ferner.
 

Dennoch, im Moment zog es ihn nach Wildhaus. Dorthin, wo letztes Jahr...
 


 

---
 

"Ach Mensch, komm doch mit! Das ist total toll!"
 

Adrian sah ihn zweifelnd an. "Ich weiß nicht..."
 

Leander verstand es nicht. "Was ist los mit dir? Du fährst gerne Snowboard, das weiß ich sicher! Wir waren doch schon öfter zusammen weg."
 

"Aber das waren alles Tagesausflüge."
 

"Ja und?"
 

Adrian verstummte, sah ihn aber weiterhin unglücklich an.
 

"Ist es dir zu teuer?"
 

"Nein, das ist es nicht..."
 

"Ja, was ist es denn dann?"
 

Adrian schwieg.
 

-
 

Ein paar Tage später brachte Adrian selbst das Thema erneut zur Sprache.
 

"Ich... ich komm mit."
 

"Echt?" Leander strahlte. "Das ist genial! Aber wie kommt es zu dem plötzlichen Meinungswechsel?"
 

Adrian tappte einen Schritt näher und umarmte Leander. "Wir machen so wenig zusammen. Ich übernachte nie bei dir, gehe nicht mit in den Pub, wir treffen uns nur alle paar Tage außerhalb der Uni. Und wenn, dann immer mit meinen Freunden, meine Hobbys.... Ich weiß, wie wichtig dir die Skihütte ist. Und ich fühle mich so egoistisch! Also... also komm ich mit."

Leander sah Adrian verliebt an und gab ihm einen langen Kuss. "Du bist so klasse, das hab ich gar nicht verdient!"
 

Er drückte Adrian fest an sich. Dessen unsicheren Gesichtsausdruck sah er nicht.
 

-
 

"Woah, ist das hier genial!"
 

"Guck mal, ein echter Kamin!"
 

"Ich nehm das obere Bett!"
 

Die ganze Hütte hallte wider vom Geschrei der zwanzig Studenten, welche sie gerade in Besitz nahmen. Adrian und Leander lächelten einander an und drückten sich kurz die Hände, bevor sie den anderen die Treppe hinauf folgten. Oben angekommen stockte Adrian.
 

"Die Schlafzimmer sind im ersten Stock?"
 

"Ja, ist doch prima", sagte Leander. "Dann können wir abends gemütlich unten am Kamin sitzen, Glühwein trinken und Karten zocken bis spät in die Nacht, ohne die Leute zu stören, die schon bei Sonnenaufgang auf der Piste stehen wollen."
 

"Aber die Treppe..."

"Was, bist du faul?", fragte Leander schalkhaft.
 

"Nein... ach, was soll's."
 

Leander wurde ernst. "Irgendwas hast du doch. Komm, spuck's aus."
 

"Ich... naja... ach nein, das ist peinlich. Hey, willst du das obere Bett? Ich nehm das hier unten in der Ecke!"
 

Leander warf ihm einen scharfen Blick zu, doch Adrian ließ sich nicht von seiner neu entdeckten Munterkeit abbringen.
 

"Hey, wollen wir eine Schneeballschlacht machen?"
 

-
 

Der Hüttenurlaub wurde alles und mehr, als sich Leander versprochen hatte. Tagsüber mit Adrian zusammen über die Pisten tollen, mit den anderen Wettrennen veranstalten oder über die Schanzen springen. Abends am Feuer sitzen, Adrian im Arm halten und stundenlang Poker oder Skat zocken. Und hin und wieder sich mit Adrian nach oben verkrümeln und ein wenig kuscheln, oder auch mehr. Die Türe war angenehmerweise abschließbar.
 

Was auch immer Adrians anfängliche Sorgen gewesen waren, sie schienen sich mit der Zeit zu verlaufen, er taute auf und lachte und alberte genauso viel wie alle anderen.
 

Es war der beste Skiurlaub aller Zeiten.
 

Bis zum letzten Tag.
 

-
 

Weil sie am nächsten Tag schon abreisen würden, ließen alle abends nochmal so richtig die Sau raus. Adrian trank wie immer nicht mit, er mochte keinen Alkohol. Sagte er.
 

Als die Party langsam ausartete, verabschiedete sich der doch eher korrekte junge Mann dann auch nach oben und legte sich schlafen.
 

Leander blieb noch eine Weile unten, er war grade mitten in einer berauschenden Runde Ligretto und wollte jetzt noch nicht aufhören.
 

Erst Stunden später torkelte er die Treppe hoch Richtung Bett.
 

Er kraxelte die Stufen der Leiter empor, hielt inne, stieg wieder hinunter und guckte.
 

Wieso lag Adrian nicht in seinem Bett?
 

Selbst im Vollrausch nachts um Vier nahm er noch wahr, dass das irgendwie nicht richtig sein konnte.

"Adrian?"
 

Er setzte sich auf das Bett seines Freundes und sah sich um.
 

"Adrian, wo bist'n du? Adrian!"
 

Vielleicht war er auf dem Klo...?
 

Leander stand auf und begann zu suchen. Er suchte im Bad, in der Küche, im Gemeinschaftsraum. Er öffnete ungeschickt eine Schlafzimmertüre nach der anderen und zog sich jede Menge böser Kommentare zu. Bald war das ganze Haus wach und noch immer keine Spur von Adrian.
 

Schließlich öffnete Leander die Haustüre.
 

Dort, auf dem frisch gefallenen Schnee, waren Spuren. Nicht etwa von Stiefeln, sondern von nackten, schutzlosen Füßen.
 


 

---
 

Adrian hatte nie erzählt, dass er Schlafwandler war.
 

Seine Mutter vertraute Leander bei der Trauerfeier an, dass Adrian nur ganz selten schlafwandelte, etwa wenn er Alkohol getrunken hatte, oder wenn er emotional verwirrt war. Doch ein, zwei Mal hätte er sich in sehr unangenehme Situationen geschlafwandelt, war im Schlafanzug in die Schule gegangen oder hatte sich ihre Röcke angezogen.
 

Es war ihm peinlich gewesen.
 

Darum hatte er nie ein Wort gesagt.
 

Und darum hatte es stundenlang niemand gemerkt, als er durch die Haustüre hinaus in den Schnee gelaufen und dort erforen war.
 


 

---
 

Leander stieg aus dem Zug und sah sich um. Mit dem Bus waren sie damals viel schneller gewesen, der Zug hatte doch einiges an Zeit verbummelt. Es war schon gleich Mittag, wenn er noch eine halbe Stunde wartete, konnte er den Halbtagespass kaufen.
 

Wieder saß er in einem Café und blickte stumm vor sich hin, eine Tasse heißen Kakao vor sich auf dem Tisch. Seit letztem Winter trank er keinen Tropfen Alkohol mehr.
 

Wie könnte er denn auch?
 

Adrian war seinetwegen gestorben.
 

Er hatte ihn überredet, doch mit auf die Hütte zu fahren. Er hatte sich so sehr betrunken, dass er nicht mehr auf seinen Freund geachtet hatte. Und er war es gewesen, der... der... Er wusste auch nicht, was er noch getan haben könnte. Egal. Irgendwie war er schuld.
 

Eine Stunde später stand Leander oben an der schwarzen Piste.
 

Was tat er hier?
 

Er wusste es immer noch nicht. Ziel- und planlos war er zunächst die Hauptroute auf seinem gemieteten Board hinuntergependelt, doch etwas hatte ihn nach hier oben gerufen.
 

Mit einem kleinen Satz startete er.
 

Er fuhr gut, selbst die schwarze Piste verlangte ihm kaum Konzentration ab. Genau wie Adrian...
 

Wieder driftete er in Gedanken ab. Sein Körper manövrierte das Board die Piste hinunter, doch sein Geist ließ sich einfach treiben.
 

Adrian, wo bist du?
 

Leander war so einsam seitdem, so ziellos. Was brachte das Leben denn schon, ohne Adrian? Was tat er eigentlich hier?
 

Adrian, was soll ich nur tun? Bitte, gib mir doch ein Zei-
 

Scheiße, wo kommt denn auf einmal die Schanze her?!?
 


 

---
 

Eine Woche später wurden Leander und sein gegipstes Bein wieder aus dem Krankenhaus entlassen.
 

Äußerlich missmutig stapfte er durch den immer noch knöchelhohen Schnee.
 

Doch innerlich lachte er.
 

Ein Zeichen?
 

Hah!
 

In dem Moment, als seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren, war Adrenalin durch Leanders ganzen Körper geschossen. Panik setzte ein, Instinkte wurden wach und er wollte nur noch eines: Leben!
 

Danke, Adrian. Ist schon klar. Ich pass' in Zukunft besser auf mich auf.
 


 

~ Anfang ~
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  me-luna
2010-12-29T21:59:36+00:00 29.12.2010 22:59
Schnief, diese Geschichte nimmt einen ganz schön mit. Sehr eindringlich geschildert, das Ende verbreitet auf ganz unkonventionelle Weise neuen Lebensmut und Lebensfreude. Gehe jetzt trotzdem erst mal die Tempos suchen.

lg
Von:  Allmacht
2010-12-24T15:05:55+00:00 24.12.2010 16:05
Hi!

Da du ja etwas geschrieben hast, hier also mein Kommi. *jubel* Es hat mir sehr gefallen, auch wenn es eine sehr traurige Geschichte ist. Das mit dem früh aufstehen kann ich nicht nachvollziehen, da ich selber sehr früh aufstehen (gegen halb sieben meist), doch der Rest ist mir sehr klar. Ich habe auch ein paar Jahre geschlafwandelt, doch Gott sei Dank hat mich die abgeschlossenen Haustüre und meine Eltern immer aufgehalten. Dennoch ist der Schluss genau das, worauf es ankommt: egal was passiert, man selber sollte LEBEN.

Nochmals schöne besinnliche Weihnachten.

lg
Von:  Allmacht
2010-12-24T15:05:46+00:00 24.12.2010 16:05
Hi!

Da du ja etwas geschrieben hast, hier also mein Kommi. *jubel* Es hat mir sehr gefallen, auch wenn es eine sehr traurige Geschichte ist. Das mit dem früh aufstehen kann ich nicht nachvollziehen, da ich selber sehr früh aufstehen (gegen halb sieben meist), doch der Rest ist mir sehr klar. Ich habe auch ein paar Jahre geschlafwandelt, doch Gott sei Dank hat mich die abgeschlossenen Haustüre und meine Eltern immer aufgehalten. Dennoch ist der Schluss genau das, worauf es ankommt: egal was passiert, man selber sollte LEBEN.

Nochmals schöne besinnliche Weihnachten.

lg
Von:  Tesla
2010-12-01T13:03:47+00:00 01.12.2010 14:03
Klasse story traurig aber auch schön mit einen aufbauenden schluss. cih weiß nur noch nicht ob man das Zecherisch umsetzten kann, aber zumindest war es wirklich fesselnd und ich hab die Charad gut vor mir gesehen*knddel* Danke für deine beitrag
Von:  eden-los
2010-11-29T20:16:21+00:00 29.11.2010 21:16
klasse geschichte, ging mir unter die haut. mir gefällt auch dein stil.
freu mich auf mehr.

lg eden ^^


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