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春の夜 - Haru no yoru

Frühlingsnacht
von

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春の夜


 

Haru no yoru - Frühlingsnacht
 

Ernst ist der Frühling, seine Träume

Sind traurig, jede Blume schaut

Von Schmerz bewegt, es bebt geheime

Wehmuth im Nachtigallenlaut.

(…)*
 

+
 

Grob schloss sich ein Paar Hände um seine fragilen Arme, zog ihn zu sich, drückte ihn gegen die Matratze, hielt ihn dort für ein paar Sekunden, liebkoste sanft seine Schultern. Die Hände vergruben sich in Sakitos Haaren und zogen ihn erneut zu einem Kuss heran. Sakito ließ es geschehen. Er ließ sich küssen und von den lästigen Kleidungstücken befreien. Half seinem Gegenüber, sich dem letzten Rest Kleidung zu entledigen. Klammerte sich an ihn, als Niya ihn unter seinem Körper vergrub.
 

Außer dem hektischen Atmen der beiden und dem gelegentlichen Rascheln der Bettwäsche war es still im Raum. Das Rauschen des Windes in den saftig grünen Blättern der Kastanienbäume drang nur gedämpft durch das geschlossene Fenster.
 

+
 

„Wenn du mit dem Rauchen aufhören würdest, könntest du eine Menge Geld sparen.“
 

Demonstrativ nahm Niya einen tiefen Zug von seiner Zigarette. „Warum sollte ich das wollen?“
 

„Wir könnten durch das Land reisen von dem Geld. Nach dem Abschluss, meine ich. Wir könnten uns Tickets für den Schnellzug kaufen und runter nach Kyoto fahren. Und von dort aus trampen wir dann weiter, wenn wir genug von der Stadt gesehen haben.“
 

„Du spinnst.“ Niya wollte ernst bleiben, aber ein Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. „Du rauchst doch mindestens genauso viel wie ich.“
 

„Wenn du auch aufhörst, würde es mir sicher leicht fallen.“
 

Sakito, der zuvor auf der Bettkante gesessen hatte, kroch erneut unter die warme Decke und schmiegte seinen Kopf an Niyas Schulter. Blonde Haare kitzelten seine Stirn. Umständlich langte er mit der Hand über den anderen Körper nach der Zigarette, aber Niya zog rechtzeitig seine Hand weg. „Nicht mal ein paar Sekunden hältst es ohne Kippe aus, wenn die Rede davon ist.“ Er lachte. Sakito schmollte ein wenig und startete einen neuen Versuch. Diesmal ließ ihn Niya gewähren.
 

„Du hast doch selbst gesagt, dass du gerne einmal dorthin möchtest.“
 

„Nach Kyoto? …aber nicht bei diesem Opfer.“
 

Sakito gab die Zigarette seinem rechtmäßigen Besitzer zurück und rollte sich auf den Rücken. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Eine Weile beobachtete er, wie vorbeifahrende Autos immer neue Schattenbilder an die Decke projizierten. Bäume, Tempel, Hochhäuser… Er hatte beinahe vergessen, worüber sie geredet hatten, als Niya ihn wieder aus seinen Gedanken riss.
 

„Außerdem… womöglich wochenlang alleine mit dir am anderen Ende des Landes gefangen sein. Das würde ich nicht mal wollen, wenn man mir Geld dafür anbieten würde.“ Erneut nahm er einen tiefen Zug von seiner Zigarette, bevor er sie ausdrückte.
 

Sakito wusste wie er war. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass auf die gemeinsten Äußerungen stets die zärtlichsten Gesten folgten. Und andersherum. Heute zumindest würde er ihn nicht nach Hause schicken, da war er sich sicher. Er würde ihn in eine Umarmung ziehen und bis zum nächsten Morgen nicht mehr loslassen. Nicht weil er es musste, die beiden hatten einander gegenüber keine Verpflichtungen. Niya tat das, weil er es wollte. Weil sie sich nahe standen, weil beide zu erschöpft waren, um danach aufzustehen und sich anzuziehen. Weil es gut tat, nicht alleine zu sein.
 

+
 


 

Von einer Liebesbeziehung zu reden, wäre wohl zu viel gewesen. Wenn sie sich morgens vor der Schule trafen waren sie Freunde. Vermutlich das, was man beste Freunde nennen würde. Wenn sie sich abends trafen, dann waren sie möglicherweise mehr. Möglicherweise weniger. Für beide war das kein fauler Kompromiss. Sakito wollte es so. Davon war er jedenfalls überzeugt.
 

Generell hatte er schon immer ziemlich genau gewusst, was er wollte. Niya beispielsweise. Nicht in seinem Bett, versteht sich, sondern als Freund. Vorerst zumindest.
 

Bewusst geworden war er sich dessen bereits an ihrem ersten Tag auf der Mittelschule. Er hatte ihn in der Sporthalle gesehen, eigentlich im Vorbeigehen. Niya hatte Sportkleidung getragen und bei ein paar anderen Jungen gestanden, allesamt mit einem Basketball unter dem Arm. Sie hatten herumgealbert, den Mädchen in ihren kurzen Hosen am anderen Ende der Halle hinterher geguckt, Körbe geworfen, sich aneinander gemessen. Natürlich war Niya der Beste unter ihnen gewesen. Das hatte sich bis heute nicht geändert: Wenn er in etwas gut war, würde ihn so schnell niemand darin schlagen. Es sei denn, er wollte es.
 

Sakito war damals stehen geblieben, um sie eine Weile beim Spielen zu beobachten. Zugegebenermaßen war er schon immer leicht zu begeistern gewesen, aber bei Niya war das etwas anderes. Wahrscheinlich kann man sagen, dass er selbst sich bis zu diesem Zeitpunkt als Kind betrachtet hatte. Niya hingegen erschien schon in diesem Alter viel erwachsener. Männlicher. Völlig selbstsicher. Er konnte nicht anders als ihn zu bewundern.
 

Vielleicht hätte Niya ihn für seltsam gehalten, wenn er ihn damals gesehen hätte. Einen schmächtigen 13-jährigen, der stundenlang mit offenem Mund einigen gleichaltrigen Jungen beim Sport zusah. Zu Sakitos Glück war dies nicht der Fall gewesen.
 

Er selbst hatte kein besonderes Talent für Basketball (oder irgendeine andere Form von Ballsport). Den Basketball-Club hatte er seit Beginn der High-School nicht mehr besucht, Niya und er waren zu dieser Zeit schon lange Freunde gewesen. Inzwischen sah er ihn nur noch ab und an während des Sportunterrichts Körbe werfen.
 

Heute ging es allerdings um Krafttraining. Beide saßen auf einer der Bänke, während ihr Lehrer die Übungen demonstrierte. Von allen Fächern war Niya hier für gewöhnlich noch am konzentriertesten, heute aber gab er sich offenkundig keine Mühe.
 

„Vielleich breche ich die Schule ab. Such mir einen Job und so.“ Niyas Flüstern war nur halbherzig, sodass sich nicht nur Sakitos Kopf zu ihm umdrehte. „Studieren könnte ich ohnehin nicht, es sei denn meine Familie entschließt sich plötzlich, reich zu werden.“ Er streckte sich und gähnte, als hätte er etwas Beiläufiges gesagt.
 

„Red keinen Scheiß…“
 

„Ich meins ernst.“ Einige Sekunden erwiderte Sakito gar nichts, gab vor, dem Unterricht zu folgen. „Du willst mich alleine den Abschluss machen lassen?“
 

„Nein. Nicht alleine, nur mit hundert anderen Vollpfosten“, lachte er. Als fühlten sie sich ertappt, wandten sich einige ihrer Mitschüler wieder ab. Wie so oft fiel es Sakito in diesem Moment schwer, die Ernsthaftigkeit seines Freundes einzuschätzen. Genauso gut hätte Niya sich im nächsten Moment umdrehen und über seine Leichtgläubigkeit lustig machen können. Der erhoffte Spott blieb jedoch aus.
 

Natürlich würde Niyas Vater ihm kein Studium finanzieren können, aber abgesehen davon war er auch meilenweit davon entfernt, die Aufnahmeprüfung für eine der Universitäten zu bestehen. Wenn man ihn kannte, wusste man auch, dass er sich nicht für theoretische Dinge begeistern konnte, weder für Geistes- noch für Naturwissenschaften und trotzdem. Er war nicht der Typ Mensch, der so wenige Monate vor dem Ziel einfach aufgeben würde.
 

„Bist du sicher, dass du das willst? Ich meine, denk doch mal an die Chancen die du dir damit…“, doch Niyas Aufmerksamkeit hatte sich längst auf etwas anderes gerichtet. Ihr Lehrer hatte einige Schüler nach vorne gerufen, um sie der Klasse verschiedene Übungen vorführen zu lassen. Als Yui sich für ein paar Liegestütze nach vorne beugte, klappte nicht nur Niya der Unterkiefer herunter. Ihr Top war deutlich zu tief ausgeschnitten und ihre Brüste… groß, um es vorsichtig zu formulieren. Sakito kam nicht umhin, die Augen zu verdrehen als er den Grund für Niyas Abgelenktheit bemerkte.
 

„Niya. Hörst du mir zu?“
 

„Mh? …was? Siehst du die Kleine da mit den langen Haaren? Wie war ihr Name, Yuki?“ Diesmal flüsterte er wirklich, darauf bedacht, dass ihre Mitschüler dem Gespräch nicht weiter folgen konnten.
 

„Schwer zu übersehen. Sie heißt Yui.“, erwiderte Sakito trocken. Er ahnte, worauf dieses Gespräch hinaus lief.
 

„Richtig, Yui. Wie auch immer. Letzte Woche hat sie mir ihre Nummer zugesteckt. Ich hab sie für langweilig gehalten. Du weißt schon, sie ist im Literatur-Club, schreibt Gedichte in ihrer Freizeit, bla bla bla. Hab ihre Nummer direkt weggeworfen. Aber verdammt, heute ist sie… heiß. Vielleicht sollte ich nachher mal zu ihr gehen und ihr von meinem Missgeschick erzählen.“ Es fiel ihm spürbar schwer, den Blick von ihr abzuwenden.
 

Dass Niya bei den Mädchen an ihrer Schule beliebt war, war nichts Neues. Vielleicht war es gerade seine abweisende Art, die ihn für andere Menschen interessant machte. Ab und an nahm er eine von ihnen mit zu sich nach Hause, das würde bei Yui nicht anders sein. Doch um sie machte Sakito sich keine Sorgen. Musste er sich keine Sorgen machen. Sobald jemand mehr Interesse an ihm hatte, als er an ihr, verlor die Sache für Niya jeglichen Reiz. Und sein einziges Interesse in dieser Hinsicht war Sex, ergo würde er Yui spätestens Anfang nächster Woche in den Wind schießen.
 

Sakito war natürlich ausgenommen von dieser Regel. Mit ihm würde er schlafen und seine Gesellschaft am Ende trotzdem noch schätzen. Meistens zumindest…
 

„Hi~i!“ Yui lief an ihnen vorbei und warf Niya einen vielsagenden Blick zu. Ihre Stimme war quietschiger, als er sie in Erinnerung hatte.
 

+
 

Als er die Tür hinter sich zuzog, bemerkte sofort wie still es in der Wohnung war. Verdächtig still. Es schien niemand zuhause zu sein. Sakito legte seine Schlüssel ab und schritt auf sein Zimmer zu, um sich seiner Schulsachen zu entledigen, als er seine Mutter am Küchentisch sitzen sah. Sie war völlig bewegungslos, ihr Blick auf den Boden gerichtet. Sie hätte das Geräusch des Türschlosses hören müssen. Auch als er im Türrahmen stehen blieb, zeigte sie keine Reaktion. Irgendetwas stimmte hier nicht.
 

„Hey…“ Zögernd schritt er auf sie zu. „Alles in Ordnung? Ist irgendwas passiert?“ Sie blickte ihn an. Bei näherer Betrachtung fiel ihm erst auf, dass ihre Mascara völlig verschmiert war. Sie hatte Tränen in den Augen. „Was…?“
 

„Es ist deine Schuld, Sakito. Sie weint wegen dir.“ Er zuckte zusammen, als er hinter sich die Stimme seines Vaters vernahm. Dieser hatte zuvor wortlos an der Küchenzeile gestanden. „Sieh dir an, was du getan hast. Sie ist völlig aufgelöst. Wie willst du das erklären?“
 

Sakito antwortete nicht. Stattdessen beugte er sich zu seiner Mutter herunter, wollte sie in den Arm nehmen, doch sie drückte ihn von sich, wich seinem Blick aus. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht, um sich das Veilchen genauer anzusehen, das nun ihre Schläfe zierte. Eine wirklich freie Interpretation von ‚meine Schuld‘...
 

„Und was genau habe ich gemacht?“ fragte er mit schwacher Stimme, seinem Vater immer noch den Rücken zugewandt. Dieser legte zwei geöffnete Briefumschläge vor ihn auf den Tisch, sodass er die Absender erkennen konnte. Sie waren an ihn adressiert. „Hattest du nicht gesagt, dass du dich um ein Stipendium kümmern würdest? Das sind lauter Absagen.“
 

„Du öffnest meine Briefe?“ Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Die Sache war schon jetzt aus dem Ruder gelaufen, er musste es nicht noch schlimmer machen.
 

„Antworte auf die Frage!“, fuhr er Sakito an. Er war deutlich lauter geworden. Seine Mutter hatte den Blick wieder auf den Boden gerichtet und schniefte alle paar Sekunden leise. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre einfach wieder zu Tür hinausgegangen. Er wusste, dass es in diesem Moment nichts gab, das er sagen oder tun könnte, um seinen Vater zu besänftigen.
 

„Ich habe getan, was ich tun konnte. Jede Stiftung nimmt höchstens hundert Bewerber an. Aus dem ganzen Land. Das sind tausende von …“ Er spürte, wie sich Finger schmerzhaft in seinen Oberarm bohrten und ihn gewaltsam herumdrehten. „Sieh mich an, wenn du mit mir redest!“ Er versuchte stark zu bleiben, die Tränen herunterzuschlucken und sich nicht die Blöße zu geben. Am Ende war er offensichtlich doch nicht aus dem Stoff, aus dem Helden gemacht wurden.
 

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Nicht lange nachdem er eingeschlafen war, klingelte sein Handy. Er erkannte schon an der Melodie des Klingeltons, dass es Niya war, der ihn aufgeweckt hatte. Andernfalls hätte er sich wohl kaum die Mühe gemacht, aufzustehen und nach dem kleinen Störenfried zu suchen. Es war dunkel im Raum und er stolperte zunächst über einen Stapel Schulbücher, den er am Abend zuvor achtlos auf dem Boden hatte liegen lassen, bevor er das Mobiltelefon in aufhob und abnahm. „Niya?“, fragte er schlaftrunken.
 

„100 Punkte für die attraktive Brünette auf der anderen Seite der Leitung!“ Es war mitten in der Nacht. Sakito hätte verärgert sein sollen. Jeder normale Mensch hätte vermutlich aufgelegt und weitergeschlafen. Und in jeder normalen Nacht hätte er wohl das gleiche getan. Aber heute konnte er so nicht denken, er war froh, die Stimme seines besten Freundes hören. „Du hast doch nicht etwa schon geschlafen?“
 

„Nein, bin noch wach. Was gibt’s?“
 

„Mein Vater kommt morgen Abend von seiner Geschäftsreise aus Yokohama wieder. Heute habe ich die Wohnung noch für mich, also falls du rüberkommen willst…“ Sakito willigte ein. Die Nächte in denen Niya alleine in der Wohnung war, waren weitaus zahlreicher als die, in denen sein Vater oder gar sein Bruder zuhause waren. In Wirklichkeit hätte er ihn praktisch fast jede Nacht einladen können, aber Sakito ging nicht weiter darauf ein. Die Ausrede kam ihm gelegen.
 

Ein kurzer Blick auf die Uhr: Halb eins… Er hoffte inständig, dass seine Eltern schon schliefen. Schnell kramte er ein paar Schulsachen und Kleidungsstücke zusammen, bevor er die Haustür so leise wie möglich hinter sich schloss.
 

Es war windig, die kalte Nachtluft brannte auf seiner Haut. Er steckte sich eine Zigarette an und machte sich auf den Weg. Zu Fuß war es nur einige Meter bis zu Niyas Wohnung, aber heute kam es ihm vor, als würde er durch Wasser laufen. Er wollte so schnell wie möglich weg, sich in Sicherheit bringen, auch wenn er wusste, dass er längst außer Gefahr war, von seinen Eltern entdeckt zu werden. Sein Schritt wurde schneller und schneller und trotzdem hatte er nicht das Gefühl, sich weiterzubewegen. Fast als würde er auf der Stelle laufen.
 

+
 

Sakito lag nackt neben ihm. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und Niya war sich nicht sicher, ob er schlief oder noch wach war. Die Decke, mit der sie sich danach zugedeckt hatten, ließ inzwischen mehr von Sakitos Haut frei als sie verbarg. Sachte fuhr er mit seinen Fingern an der Seite seines schmalen Körpers entlang, zeichnete die Körperformen nach, versuchte sich den Anblick einzuprägen.
 

Ein leises Seufzen. Er war wach. Seine Hand fand den Weg zu Niyas, die immer noch auf seiner Taille ruhte. Niya rückte näher an ihn ran, küsste seinen Hals, seine Ohrmuschel. „Ni-… wir müssen bald aufstehen. Wir sollten wirklich schlafen.“ Er konnte Sakitos Stimmlage anhören, dass er selbst nicht schlafen konnte und vermutlich auch nicht schlafen wollte. „Egal. Alles Egal.“, flüsterte er ihm ins Ohr. Noch einmal zog er ihn näher an sich heran, schlang die Arme um ihn und vergrub die Nase in seinen karamellfarbenen Haaren.
 

Sie rochen blumig wie immer, aber nicht wie die Haare der Mädchen, mit denen er sonst schlief. Weniger fruchtig und aufdringlich. Viel angenehmer, wenn es nach ihm ging. Eher wie… blühender Rhododendron. Wie Frühling. Niya musste unwillkürlich lachen. Der Schlafmangel tat ihm scheinbar wirklich nicht gut. „Mh?“ Sakito, dem sein Lachen nicht entgangen war, hatte sich zu ihm umgedreht. Zur Antwort schüttelte Niya nur den Kopf, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen.
 

„Ist irgendwas los? Du hast heute gar nichts gesagt.“ Niya verstand nicht.
 

„…keine ironischen Kommentare. Nicht einer. Du musst krank sein.“ Er grinste, während er das sagte und fühlte Niyas Stirn. „Mh. Fieber ist es zumindest nicht.“
 

Niya wurde plötzlich ernst. Eine Weile sagte keiner von beiden ein Wort. „Saki…“ Man konnte ihm ansehen, dass dieser sich ertappt fühlte. „Die Flecken an deinen Armen waren nicht zu übersehen.“ Instinktiv fuhr sich Sakito über die Arme, nahm eine Schutzhaltung an.
 

„Hör zu… im Grunde geht es mich ja auch nichts an-„
 

„Da hast du recht.“
 

„Saki…“
 

Ja. Vielleicht hatte er wirklich recht. Vielleicht war es sinnvoller, sich nicht weiter einzumischen. Eigentlich war Niya dieser Diskussion auch müde geworden. Er wusste, dass er im Grunde nichts ausrichten konnte.
 

Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass das Thema aufkam. Sakito war deswegen nie selbst zu ihm gekommen, aber wie heute waren die Spuren auf seinem Körper meist zu offensichtlich gewesen, als dass Niya sie hätte ignorieren können. Manchmal fragte er sich auch, ob Sakito sich überhaupt Mühe gab, sie vor ihm zu verstecken.
 

Oft genug hatte er ihn aufgefordert, sich zu wehren, seinen Vater anzuzeigen oder zumindest von zuhause auszuziehen, aber er hatte jedes Mal abgelehnt. Am Ende war es wohl seine Mutter, die ihn dort hielt. Er hatte Angst, sie alleine mit ihm zu lassen.
 

Selbst, wenn sie ihr eigenes Grab schaufelt…
 

„Du musst selbst wissen, was du tust. Mach was du willst.“ Auch im Zwielicht der Morgendämmerung konnte er Sakitos Gesicht ansehen, dass er mit etwas anderem gerechnet hatte. Wahrscheinlich auch auf etwas anderes gehofft hatte. Er erwiderte nichts.
 

Erste Sonnenstrahlen brachen sich in den Baumkronen vor dem Fenster und ließen den Raum in einem schummrigen Licht erstrahlen.
 

Niya war bereits fast wieder eingeschlafen, als er merkte, wie eine Hand unter der Decke nach seiner suchte. Er ließ sie gewähren.
 

+
 

„Sehen wir uns am Wochenende? Hina feiert ihren Geburtstag nach und meinte, du kannst auch kommen, wenn du willst.“
 

„Mhmh.“
 

Was Hina damit wohl eigentlich gemeint hatte war: Du darfst auch kommen, wenn du Niya mitbringst. Aber das war ihm egal. Er wusste, dass sein Freund kein Interesse an ihr hegte. Zu blond.
 

Sie saßen auf einer Mauer vor dem Schulgelände. Der Unterricht war längst vorbei und nur vereinzelt kamen noch Schüler aus dem Gebäude. Niya war inzwischen bei seiner dritten Zigarette.
 

Der Jüngere hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Trotz mehrerer Schichten Make-up, mit denen er versucht hatte, die Augenringe zu überdecken, konnte man ihm die Strapazen der letzten Nacht noch ansehen. Niya hingegen hatte sich am Morgen nicht die Mühe gemacht, früh aufzustehen. Pünktlich zur Mittagspause war er schließlich in der Schule erschienen.
 

„Am Wochenende ist ein wichtiges Spiel. Mein Trainer bringt mich um, wenn ich nicht hingehe. Wir spielen drüben in Natori, ich glaub nicht, dass ich es danach noch schaffe.“
 

Vereinzelt war Vogelgezwitscher zu hören. Es kam ihm unwirklich vor, bildete einen starken Kontrast zu seinem Blick auf die grauen Plattenbauten der gegenüberliegenden Straßenseite.
 

Sakito streckte seine langen Beine auf der Mauer aus und ließ den Kopf auf Niyas Schoß fallen. Für gewöhnlich störte dieser sich daran, wenn Sakito das tat. Er hielt das für weibisch, wahrscheinlich auch für schwul, auch wenn er das nie laut aussprach. Heute sagte er nichts, auch nicht als Passanten an ihnen vorbeikamen.
 

„Schon okay.“ Sakito hatte die Augen wieder geschlossen. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages prickelten auf seiner Haut. Es war wohl Ironie des Schicksals, dass er es schaffte hier und jetzt einzuschlafen, obwohl er in der vorangegangenen Nacht kaum ein Auge hatte zumachen können.
 

+
 

Die Woche war zu Ende gegangen und der Samstag hatte seinen Lauf genommen. Abgesehen von einer SMS Sakitos, in der er Niya viel Glück für sein anstehendes Basketballspiel wünschte, hatten die beiden nicht mehr miteinander geredet.
 

Es war schon weit nach Mitternacht, als Niya das Klopfen bemerkte. Er versuchte zunächst, es zu ignorieren, in seinen Traum einzubauen, aber als es lauter und eindringlicher wurde, richtete er sich schließlich mit einem Stöhnen auf, um dem nervtötenden Geräusch ein Ende zu setzen. Kraftlos zog er sich eine Trainingshose über und bewegte er sich zur Haustür, die er öffnete, ohne vorher nachzusehen, mit wem er es zu tun hatte.
 

„Was willst du denn hier?“ Vor ihm stand Sakito. Dass sein Gesicht ein riesiges blaues Auge zierte, bemerkte er zu spät. Er hatte den Kopf gesenkt, seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
 

„Kann ich heute Nacht hier bleiben?“ Was auch sonst. Instinktiv wollte Niya bereits einen Schritt beiseite gehen, um ihn in die Wohnung zu lassen, er hielt jedoch inne und dachte angestrengt nach.
 

„Muss das sein? Heute ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt-“
 

„Nii… es ist mitten in der Nacht. Ich kann nicht nach Hause.“ Sein Blick war eindringlich. Bittend. So hatte er ihn selten gesehen.
 

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Natürlich, Niya wusste was bei ihm zuhause passierte, aber das hier war etwas anderes. Sakito war vorher nie zu dieser Uhrzeit ohne Ankündigung bei ihm aufgekreuzt. Erst recht nicht in diesem Zustand. Lethargisch massierte er seine Schläfen. Sakito hatte die Ärmel seines Oberteils über die Hände gezogen und die Arme vor seinem Körper verschränkt. Er zitterte kaum merklich.
 

„In Ordnung.“ Zögerlich ließ er ihn herein. „Du wartest hier.“ Mit einem dumpfen Geräusch fiel die Tür ins Schloss. Niya ging in sein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Zunächst dachte Sakito, seine Ohren würden ihm einen Streich spielen, aber nach ein paar Sekunden war er sich sicher, dass er mehr als nur die Stimme seines Freundes aus dem Zimmer hörte.
 

Er versuchte den Gedanken beiseite zu schieben, die Wortfetzen zu überhören, die er verstand und sich nicht vorzustellen, was gerade in dem Zimmer vor ihm passierte. …wieviel Uhr es ist? Was denkst… gesagt, dass ich hier… nur um mich ins Bett…
 

Sakito kniff die Augen zu. Ihre Stimme war eindeutig zu schrill. Unmöglich, nicht zu erkennen, um wen es sich handelte. Er hätte es ahnen müssen. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, herzukommen. Aber seine Alternativen waren begrenzt.
 

Also blieb er. Wartete.
 

Auch nach fünf Minuten waren die beiden noch nicht aus dem Raum gekommen. Mit einem Seufzen ließ er sich gegen die Wohnungstür fallen, dabei streifte sein Blick den Spiegel. Sein Gesicht sah schrecklich aus, schlimmer noch als es sich anfühlte. Mit seinem Ärmel fuhr er sich über die Wangen und versuchte die Spuren des Vorhergegangenen verschwinden zu lassen. Er hatte nicht gemerkt, dass seine Nase angefangen hatte zu bluten.
 

Schließlich öffnete sich die Tür und Yui trat aus dem Schlafzimmer. Sie hatte nur eine Jeans und einen BH an. Ihr Oberteil hielt sie in den Händen und zog es sich über den Kopf, während sie lief. Als sie Sakito bemerkte, warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu. Kein Wort der Begrüßung für ihn, keines zum Abschied für Niya. Sie griff nach ihrer Tasche und ließ die beiden alleine.
 

Niya war im Türrahmen stehen geblieben.
 

„Das schien heute ja ein wirklich wichtiges Spiel gewesen zu sein.“ Sakito klang verbittert.
 

Wortlos ging Niya in sein Zimmer, um mit Decke und Kissen unter seinem Arm wieder herauszukommen. „Hier, du kannst auf der Couch schlafen.“ Er drückte ihm die Bettwäsche in die Hand und deutete auf die Tür zum Wohnzimmer. Eine Weile blieb Sakito regungslos im Flur stehen, während der Ältere wieder in sein Zimmer ging, um sich eine Zigarette anzustecken.
 

„Niya…“ Er ging einen Schritt auf ihn zu. Die Situation überforderte ihn merklich. „Ich habs nicht so gemeint.“ Niya stand am Fenster und hatte ihm den Rücken zugewandt. „Bitte… ich weiß, das war dumm von mir. Ich wollte dich auch nicht stören, das musst du mir glauben. Ich wusste nur nicht wohin und… Ni~, ich will heute Nacht nicht alleine schlafen.“
 

„Und ich möchte heute Nacht nicht mit dir in einem Bett schlafen. Tut mir leid.“
 

Er sagte das mit ruhiger Stimme, hatte sich inzwischen wieder zu ihm umgedreht. Keine Wut, kein Mitleid, da war gar nichts in seinen Augen. Höchstens Müdigkeit. Desinteresse.
 

Tränen würden ihn hier nicht weiter bringen, darüber war sich Sakito im Klaren, doch es fiel ihm trotz allem schwer, sie zu unterdrücken. „Wärst du vor einem halben Jahr auch so zu mir gewesen?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
 

„Was meinst du?“
 

„Als du noch nicht mit mir geschlafen hast.“
 

Niya schwieg. Der Blick des Jüngeren wanderte durch das unnatürlich hell erleuchtete Zimmer. Überall lag Kleidung verstreut, Niyas Jeans, sein T-Shirt, ein Haarband… unverkennbar Yuis. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Kein Zweifel, womit sich Niya den Samstag über beschäftigt hatte.
 

„Vielleicht hätten wir es lassen sollen. Diese ganze Sache, das wächst uns einfach über den Kopf. Vielleicht hätten wir einfach Freunde bleiben sollen-“
 

„Wir SIND einfach Freunde.“, fuhr Niya ihn an.
 

„…verstehe.“ Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Der Rauch, den Niya in regelmäßigen Abständen ausstieß, bildete dichte Wirbel. Er zog eine Mauer zwischen ihnen auf, verbarg ihre Gesichter voreinander.
 

Niya stand weiterhin mit verschränkten Armen vor dem Fenster.
 

„Ich wünschte nur, du würdest mich dann auch so behandeln wie einen Freund. Wie du es früher getan hättest. Jetzt gerade brauche ich nämlich meinen besten Freund.“
 

„Wenn du nicht mehr mit mir ins Bett willst, reicht ein Wort…“
 

„Darum geht es nicht!“ Der Damm war nun endgültig gebrochen, er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Erschöpft ließ er sich auf dem Boden nieder, vergrub sein Gesicht in dem Kissen, das er immer noch in den Händen hielt. Es dämpfte das Geräusch seiner Schluchzer, doch seine Schultern zuckten unübersehbar.
 

Er hatte es sich nicht auf diese Art gewünscht, aber ein Gefühl von Erleichterung durchzog seinen Körper, als er ein Paar Arme spürte, das die seinen um Niyas Hals legte, ihn hochhob und zum Bett trug. Niya deckte ihn zu und nahm auf der Bettkante neben ihm Platz.
 

Benommen zog Sakito die Beine an und verbarg sein Gesicht in einem der Kissen. Er schämte sich, wollte so nicht von seinem Freund gesehen werden und fürchtete gleichzeitig mehr als alles, dass dieser ihn alleine lassen könnte.
 

Eine Hand fuhr über seinen Rücken, versuchte ihn zu beruhigen. Einige Minuten verharrten sie so. Als das Schluchzen schließlich abnahm, schaltete Niya das Licht aus und ließ sich erschöpft neben ihm auf das Bett fallen.
 

„Tut mir leid. Ich weiß das war… es ist nur… das ist so frustrierend für mich. Ganz im Ernst, wir wussten doch beide, dass dieser Moment irgendwann kommen würde, dass er irgendwann durchdrehen würde und ehrlich gesagt bin ich froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist.“
 

Er wartete, beobachtete seinen Freund, der das Gesicht immer noch in einem Kissen versteckte. Als Sakito auch nach einiger Zeit nichts erwidert hatte, fuhr er fort. „Du hattest so viele Chancen, das zu verhindern. Ich habe dir tausend Mal meine Hilfe angeboten und trotzdem lässt du das alles einfach mit dir machen. Ich verstehs nicht, Saki. Manchmal denke ich wirklich, dass du selbst daran schuld bist. Und das hat nichts damit zu tun, dass wir Sex hatten. Oder haben. Die Dinge sind unverändert, du bedeutest mir nicht mehr oder weniger, nur weil wir es machen. “
 

Die Worte schmerzten und doch brachte Sakito ein annäherndes Nicken zustande.
 

Im schwachen Licht der der Straßenlaterne, das durch das halbgeöffnete Fenster schien, traute sich der Jüngere schließlich, sein Versteck aufzugeben. Mit angezogenen Knien saß er auf dem Bett und beobachtete die Insekten, die um die Lichtquelle tanzten. Für gewöhnlich würde er sich besser fühlen, nachdem er geweint hatte. Heute aber wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen.
 

„Willst dus mir sagen? …was passiert ist?“, fragte Niya sanft. Er hatte sich auch aufgerichtet, aber es war zu dunkel, um mehr als seine Silhouette erkennen zu können. Vorsichtig fuhr er mit den Fingern über das geschundene Gesicht. Es war befremdlich, ihn nun plötzlich so zärtlich zu sehen. Einige Sekunden vergingen.
 

„Er weiß es Niya.“ Sakito schluckte. „Er hat Dinge gefunden… Emails gelesen. Er weiß, dass ich Sex mit Männern hatte.“
 

„Ich habe dir keine Emails geschrieben, was…“
 

Er hielt inne. „Von mir hast du keine Emails bekommen.“, sagte er, dieses Mal leiser.
 

Erkenntnis.
 

Auch im Halbdunkeln konnte Sakito erkennen, dass er den Blick abgewandt hatte. Sein Lachen war bitter.
 

„Wie viele Männer waren es neben mir denn noch?“
 

„Spielt das eine Rolle? “
 

„Ja.“ Das Gespräch nahm eine Richtung an, die Sakito nicht dafür vorgesehen hatte.
 

„Keiner von ihnen hat mir etwas bedeutet, also-„
 

„Ich wusste nicht, dass du die letzten Monate damit verbracht hast, sämtliche Schlafzimmer der Stadt zu besichtigen. Ich finde, ich habe ein Recht es zu erfahren.“
 

„Ni, bitte…“
 

Aufgebracht fuhr dieser sich durch die Haare. „Ich fass es nicht. Die ganze Zeit hast du hinter meinem Rücken Dinge mit dir machen lassen… Das ist so… ich verstehs nicht.“ Er verzog sein Gesicht.
 

„Du vögelst in der Weltgeschichte rum und bist sauer, wenn ich nicht monogam lebe? Das kann nicht dein Ernst sein.“
 

„Das ist etwas anderes. Das waren-…Du wusstest davon.“
 

„So wie heute? Sei ehrlich. Es gab kein Basketball-Spiel, oder?“
 

Niya ließ sich wieder zurück auf das Bett fallen, vergrub das Gesicht in den Händen. Er musste sich beruhigen. Dringend.
 

„Ist das nicht das, was du wolltest? Keine Beziehung, keine Verpflichtungen… Das waren doch deine Worte, oder?“
 

Er schüttelte andeutungsweise den Kopf, sagte jedoch nichts. Er sagte für den Rest der Nacht nichts mehr und auch als Sakito am nächsten Morgen die Wohnung verließ, sagte er kein Wort.
 

+
 

Dass es sich in dieser Nacht nicht um einen gewöhnlichen Streit gehandelt hat, hatte er geahnt. In der Regel stritten sie nie lange.
 

Meist sahen sich die beiden spätestens am nächsten Wochentag in der Schule wieder und rauften sich zusammen. Sakito sorgte jedes Mal dafür, dass sie sich zusammenrauften. Dieses Mal würde dem nicht so sein.
 

Niya war nicht mehr zur Schule gekommen, weder am nächsten Montag, noch an einem anderen Tag der folgenden drei Wochen. Es war keine Seltenheit, dass er einige Tage hintereinander fehlte, Niyas Arbeitsmoral, was die Schule betraf, war im Laufe der High-School auf ein Minimum zurückgegangen, aber als die Lehrer gegen Ende der Woche begannen, Niyas Namen bei der Anwesenheitskontrolle zu übergehen, ahnte er, was passiert war.
 

Er reagierte auch nicht auf Sakitos Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten. Seine E-Mails blieben unbeantwortet und wenn er anrief, ging in jedem Fall höchstens die Mailbox ran. Sakito wusste, dass er nichts tun könnte. Niyas Entscheidung schien gefallen. Und wenn dieser es nicht wollte, würde er ihn auch nicht zur Rede stellen können. Die meiste Zeit über war Sakito sich nicht sicher, ob die Sache ihn wütend oder schuldbewusst stimmte. Niya zumindest schien ihm die Ereignisse mehr als übel zu nehmen, das allein war Grund genug für ihn, um zu bereuen.
 

Er war gerade auf dem Heimweg von seinem Juku**, als er ihn zum ersten Mal wiedersah. Die Aufnahmeprüfungen standen bevor und auf die eine oder andere Art war er froh, die meiste Zeit mit Lernen ausgelastet zu sein. Es lenkte ihn von seinem Leben ab und ließ die immer länger werdenden Tage erträglicher erscheinen.
 

Anders als sein Schulweg führte ihn dieser Weg durch Niyas Wohngegend. Er hatte oft geklingelt, in der Hoffnung, er würde ihm die Tür öffnen und erklären, dass es für alles einen logischen Grund gab; dass bei ihnen im Haus seit Wochen jeglicher Strom ausgefallen war und er deswegen seine Emails nicht abrufen konnte. Dass er unter Pfeiffrischem Drüsenfieber litt und das Haus nicht mehr hatte verlassen können. Dass sein Handy geklaut wurde. Und dass er jemanden beauftragt hatte, Sakito Bescheid zu geben, der die Sache vergessen hatte und Niya nun im Glauben war, er wüsste was passiert war. Natürlich öffnete sich die Tür nie.
 

An jenem Abend probierte er es nicht. Auf Dauer war es einfach zu frustrierend. Auch sein letzter Anruf war bereits einige Tage her. Er hatte begriffen, dass er warten musste, bis Niya auf ihn zukam. Hoffen musste, dass er es tun würde. Erzwingen konnte er zumindest nichts.
 

Die Straßen waren menschenleer. Es war noch hell, aber die Kinder, die hier nachmittags spielten, waren vermutlich bereits zum Abendessen nach Hause zurückgekehrt. Auf seinem Weg kam er an einem Sportplatz vorbei, er konnte die einzelne Person auf dem Platz bereits aus der Ferne sehen. Fast hätte er ihn nicht erkannt, seine Haare waren dunkel. Das letzte Mal hatte er sie so vor über einem Jahr getragen.
 

In Händen hielt er einen Ball, dribbelte, warf etwas lustlos Körbe. Sakitos fühlte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Die ganze Zeit hatte er ihn zur Rede stellen wollen, aber nun, da er die Möglichkeit hatte, wollte er am liebsten wegrennen. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich vor der Absperrung des Platzes stehen.
 

Zunächst bemerkte Niya ihn nicht, beschäftigte sich unbeirrt mit seinem Ball. Sakito musste lächeln, er wirkte kindlich, wie er sich über jeden gelungenen Treffer freute. Ihre Blicke trafen sich, als er sich umdrehte, um einen Schluck aus seiner Wasserflasche zu nehmen. Sofort wich das Grinsen einem besorgten Gesichtsausdruck. Aus dieser Entfernung konnte er Niya zwar nicht hören, aber er hätte schwören können, das ‚Shit…‘ seinen Lippen ablesen zu können. Er kam langsam auf ihn zu und blieb auf der anderen Seite der Absperrung stehen.
 

„…hey.“
 

Niya nickte nur zur Begrüßung. Er hatte den Ball immer noch unter dem einen Arm, hielt die Flasche, aus der er getrunken hatte, in der anderen.
 

„Hör mal, ich hab gesehen, dass du versucht hast mich anzurufen.“
 

„Geschätzte fünfmillionen Mal, ja…“
 

„Aber ich habe im Moment viel zu tun. Mit der Arbeit und allem. Wenn ich nach Hause komme, falle ich meist todmüde ins Bett und hab keine Lust mehr lange zu telefonieren.“
 

„Ein einfaches ‚Ich lebe noch‘ hätte es auch getan.“
 

Niya nickte nur.
 

Kein Pfeiffrisches Drüsenfieber. Nicht mal ein kaputtes Handy…
 

„Du arbeitest?“
 

„Ja. Im Moment im 7-Eleven, aber ich hab vor, mir was Besseres zu suchen. Die Firma meines Bruders sucht noch Leute…“
 

Deswegen die dunklen Haare.
 

„Was ist mit Schule?“
 

„Scheiß auf Schule. Wenn ich die Leute da noch einen Tag länger hätte ertragen müssen, wär ich durchgedreht.“ Er lachte. Sakitos Blick zeigte deutlich, wie ihn diese Äußerung traf. Er klammerte sich fester an die Schulbücher, die er in den Händen hielt. Es fiel ihm schwer, solche Äußerungen nicht persönlich zu nehmen, auch wenn er wusste, dass Niya es nicht so meinte. Für den Moment zwang er sich, seine Enttäuschung herunterzuschlucken.
 

„Ich wohne jetzt bei meiner Cousine. Nur bis ich mit der Schule fertig bin, danach kann ich mir eine eigene Wohnung nehmen. Ich hab ein Vollstipendium bekommen.“
 

Niya nickte und sah auf den Boden. „Ich weiß.“
 

Auf Sakitos fragenden Gesichtsausdruck hin, fuhr er fort: „Deine Cousine hat mir einen Besuch abgestattet. Vor ein paar Tagen.“
 

„Oh wow. Ihr hast du die Tür aufgemacht?“
 

Er ging nicht näher darauf ein. „Ich bin froh, dass du da weg bist. Ich hatte fast nicht mehr damit gerechnet.“
 

„Du warst doch live dabei, als ich da weg bin. Überrascht es dich wirklich, dass nicht wieder zurück nach Hause gegangen bin?“
 

„Um ehrlich zu sein, ja. Ein bisschen.“
 

„Glaub mir Niya, wenn es die Möglichkeit für mich gegeben hätte, noch einmal zurückzukehren, wäre ich in dieser Nacht nicht bei dir geblieben…“ Er blieb gefasst, als er das sagte. Die Zeit, in der ihn allein der Gedanke an jenen Tag zum heulen gebracht hätte, war vorbei. Gott sei Dank.
 

„Und deine Mutter…?“
 

„Hat mir selbst ins Gesicht gesagt, dass ich nicht wieder zurückkommen brauche.“
 

Man konnte Niya ansehen, dass er nicht recht wusste, was er sagen sollte. Dass er im Grunde nicht dort sein und mit ihm reden wollte.
 

„Was den Streit angeht-“, setzte Sakito an.
 

„Vergessen wir das.“
 

„…?“
 

„Es war bescheuert von dir, es mir nicht zu sagen. Und es war noch bescheuerter von mir, deswegen so auszuflippen, also was solls. Wenn man etwas Negatives mit etwas Negativem addiert ergibt das doch immer etwas Positives, oder?“
 

„Nein eigentlich ist es…“ Sakito musste lachen. „Ja. So ähnlich.“
 

Er sah Niya in die Augen und hörte seine Wort, und für den Moment tat es auch gut, sie zu hören, sich der Illusion hinzugeben, alles könne wie früher werden, aber unterbewusst war er sich darüber im Klaren, dass in diesem Fall mehr dazu gehörte, als ein paar Worte.
 

„Sehen wir uns nächste Woche?“
 

Niya überlegte. „Kann sein, dass ich keine Zeit habe. Die teilen den Neuen immer die schlimmsten Schichten zu, vorgestern musste ich 10 Stunden am Stück arbeiten.“ Er hatte seine Flasche auf den Boden gestellt, war ein Stück zurückgegangen und dribbelte den Ball, während er Sakito ansah. „Musst du nicht auch lernen?“ Er deutete mit der freien Hand auf die Bücher in Sakitos Händen.
 

„Mh. Ließe sich glaube ich aufschieben.“
 

„Fang lieber erst gar nicht damit an. An wie vielen Unis bewirbst du dich noch gleich, zweihundert? Du willst doch bestehen.“ Sakito verdrehte die Augen, konnte ein Lächeln aber nicht ganz verkneifen.
 

Niya sah auf die Uhr. „Ist schon spät, ich muss noch ein paar Sachen erledigen.“ Er packte den Ball und die Flasche in seine Tasche, die er etwas abseits abgelegt hatte.
 

„Wann können wir uns denn treffen? Um mal in Ruhe über alles zu reden.“
 

„Was gibt es denn zu reden?“ Er kletterte unter dem Geländer hindurch und stand nun neben ihm. „Hör zu, in nächster Zeit ist es bei mir wirklich schlecht. Ich kann dich ja anrufen, falls ich kurzfristig mal frei bekommen sollte.“
 

„Niya…“ Zügig ging dieser über die Straße, die Hände in die Taschen seines Sweatshirts gesteckt. Sakito lief ihm zögernd hinterher. „Ich vermisse dich.“ Niya blieb nicht stehen.
 

+
 

Abschlusszeremonien hatten für Sakito schon immer etwas Magisches gehabt. Beinahe das ganze Leben hatte man damit verbracht, täglich zur Schule zu gehen, die immer gleichen Leute zu treffen und plötzlich sollte dieser Teil des eigenen Lebens vorbei sein. Auch heute noch war dieser Gedanke für ihn unvorstellbar.
 

Früher hatte er sich an solchen Tagen manchmal in die Sporthalle geschlichen, um die Zeugnisvergabe der höheren Jahrgänge zu beobachten. Die Absolventen schienen damals völlig losgelöst von allen Sorgen um Prüfungen, Noten und die Zulassung für Universitäten, die sonst ihre Gesichter gezeichnet hatten. Sie lachten und lagen in den Armen ihrer Freunde und Familien.
 

Er hatte sich den Tag, an dem er selbst seinen Schulabschluss zelebrieren würde, oft vorgestellt. An seiner Seite würde in seiner Fantasie immer Niya stehen. Nicht, dass er nicht auch andere Freunde hatte, im Gegensatz zu seinem Freund verstand er es, andere Menschen nicht gleich beim ersten Kontakt zu vergraulen. Aber er wusste, dass er jeden einzelnen von ihnen ohne weiteres vergessen könnte, vergessen würde, wenn sie nach dem Ende der Schulzeit von zuhause auszogen, an unterschiedlichen Universitäten studierten oder gar Familien gründen würden.
 

Bei Niya war das anders. Ihn würde er ohne weiteres in jede Art von Fantasie einbauen können, und damit meinte er wirklich jede. Selbst in die über sein Rentnerdasein, das er je nach Stimmungslage auf Okinawa oder in einer Kleinstadt nahe Tokyo verbachte, die er aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Natürlich konnte er sich gerade den Abschluss nicht ohne ihn vorstellen, nicht nachdem er sich seit dem ersten Schultag kaum etwas mehr gewünscht hatte, als so neben ihm stehen zu können. Als sein bester Freund, sein engster Vertrauter.
 

Die Realität jedoch sah anders aus.
 

Am Ende waren nicht mal seine Eltern gekommen. Er war sich nicht sicher, ob er das überhaupt gewollt hätte, aber für den Moment fühlte er sich so alleine, dass er sich einbildete, es zu wollen. Er stand bei seinen Klassenkameraden, wusste er würde sich nie wieder über mathematische Probleme und Japanisch-Interpretationen den Kopf zerschlagen müssen und dennoch. Keine Sorglosigkeit, kein unbeschwertes Lachen… kein Niya.
 

Für einen Moment bildete er sich ein, den blonden Haarschopf seines Freundes am Ende der Halle entdeckt zu haben, bevor ihn die Erkenntnis überkam, dass dieser nicht länger blond war. Er war in vielerlei Hinsicht nicht mehr der Freund aus seiner Erinnerung. Der Niya von damals hätte ihn vermutlich die letzten Wochen nicht ohne ein Lebenszeichen alleine gelassen.
 

Aber vielleicht ging es gerade darum. Sakito war für ihn wohl auch nicht mehr der, für den er ihn gehalten hatte.
 

Nach der Zeugnisvergabe begannen die inoffiziellen Feierlichkeiten. Sakito blieb auf der Feier, bis es anfing zu dämmern. Vor allem aus Höflichkeit und weil er ein schlechtes Gefühl dabei gehabt hätte, wenn er nicht auf seiner eigenen Abschlussparty gewesen wäre. Die Stimmung war ausgelassen, der Alkoholpegel hoch und seine Noten gut. An einem anderen Tag, wäre er vermutlich geblieben, aber heute wollte er nur noch schlafen, nicht mehr über die letzten Wochen nachdenken müssen.
 

Die klare Luft, die seine Lungen durchströmte, als er die Tür zur Halle hinter sich schloss, tat gut. Sie machte seinen Kopf frei. Er zog seine Anzugjacke aus und schob die Ärmel seines Hemds an den zierlichen Armen hoch. Anstatt sofort nach Hause zu gehen, entschloss er sich spontan, einen Umweg zu laufen.
 

Dieses Mal erkannte er ihn sofort. Niya saß auf einer Mauer wenige Meter vom Ort ihrer letzten Begegnung entfernt. Die Zigarettenstummel auf dem Boden vor seinen Füßen verrieten, dass er schon länger dort sitzen musste. Schnell drückte er den angefangenen Glimmstängel in seiner Hand neben sich aus, als er Sakito bemerkte. Er richtete sich auf.
 

„Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.“
 

Er hatte auf ihn gewartet?
 

„Ein Anruf hätte es auch getan… Ist nur Zufall, dass ich hier vorbeigekommen bin.“
 

„Wie war die Feier?“
 

„Nicht der Rede wert.“
 

„Und dein Zeugnis? Sicher nur Einsen…?“
 

„Ja.“
 

Eine unangenehme Stille machte sich zwischen ihnen breit. Sakito wusste, wie ironisch es war, dass er sich vor weniger als einer Stunde nichts mehr gewünscht hätte, als Niyas Anwesenheit, aber er jetzt, wo er ihm gegenüber stand, nicht versöhnlich sein konnte. Er wollte nicht wie der verbitterte Verflossene wirken und doch hatten ihn die letzten Wochen zu sehr verletzt, als dass er all das einfach so hätte hinnehmen könnte. Im Grunde war er ja auch nichts anderes, er war der verbitterte Verflossene.
 

Niya brach das Schweigen. „Verstehe. Sakito, ich hab nachgedacht.“
 

In seinen Augen lag etwas Entschiedenes. Der Jüngere wusste, was kommen musste. Alleine weil Niya sich nicht bis an sein Lebensende Ausreden dafür einfallen lassen konnte, warum er sich nicht mit ihm treffen würde. Es wäre so viel einfacher für ihn, die Sache – wie auch immer man sie bezeichnen wollte – ein für alle Mal zu beenden. Einen sauberen Schlussstrich zu ziehen.
 

Beim bloßen Gedanken daran zog sich alles in ihm schmerzhaft zusammen. Er wollte das nicht hören.
 

„So kann das mit uns nicht weitergehen.“
 

Nein. Nein nein. Er ging einen Schritt zurück, konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Ich kann nicht bleiben. Ich hab noch zu tun. Ich meine… ich bin verabredet. Mit jemandem. Mit einem Mann.“
 

Das saß.
 

Für einen Moment stockte Niya. „Gib mir zwei Minuten. Wenn du dann noch gehen willst, werde ich dich nicht aufhalten.“
 

Eigentlich war er alles andere als einverstanden, doch welche Wahl hatte er am Ende? Es würde kommen, wie es kommen musste. Also blieb er stehen, gab Niya zu verstehen, dass er gewillt war zuzuhören.
 

Niya griff in seine hintere Hosentasche und zog einen schlichten weißen Umschlag hervor. Er war in der Mitte geknickt, damit er in die Tasche passte. Vorsichtig faltete er ihn auf, strich ihn glatt und reichte ihn dem Braunhaarigen. „Dein Geschenk zum Abschluss.“
 

Wortlos nahm er den Umschlag, er war nicht zugeklebt. Seine Finger langten zögernd hinein und schlossen sich um den Flachen Inhalt, zogen ihn heraus. Es waren Zugfahrkarten. Zwei Stück. Hastig huschten Sakitos Augen über die Tickets. Sie waren für den Schnellzug nach Kyoto, beide auf den morgigen Tag datiert. Ungläubig sah er Niya an.
 

„Niya… was soll das?“
 

„Ich hab doch gesagt, das ist mein Abschlussgeschenk für dich. Ich nehme an, von deiner Familie hast du nichts bekommen...?“
 

Noch einmal betrachtete er die Tickets genauer.
 

„Du spinnst. Weißt du eigentlich wie teuer die hier sind?“
 

Niya grinste. „Ja, das weiß ich ziemlich genau.“ Er konnte seinen Stolz nicht verbergen.
 

Eine passende Erwiderung fiel Sakito nicht ein. Wieder und wieder überflog er die Papierstreifen in seiner Hand.
 

„Deine Cousine hat mir erzählt, dass du in Kyoto angenommen wurdest.“
 

„Diese Tratschtante.“
 

„Hast du dich schon entschieden, was du machen willst?“
 

„Kyoto ist wirklich weit weg, ich weiß nicht…“
 

„Weit weg von was?“ Ihre Blicke begegneten sich. „Was hält dich hier?“ Sakito dachte an die Karten, die er in den Fingern hielt. Da waren zwei. Zwei Stück.
 

„Kyoto ist nicht die einzige Universität, die infrage kommt. Hier in der Nähe wären die Mietpreise auch viel billiger.“
 

„Ich kenne jemanden dort, der mir einen Job besorgt hat. Ich könnte nächste Woche anfangen. Um Geld musst du dir keine Sorgen machen.“
 

„Du willst… meinst du das ernst? Beim Gedanken an Urlaub mit mir bekommst du kalte Füße, aber das…? So einfach geht das nicht, Niya. Nicht nach allem, was passiert ist.“
 

Niya trat näher an ihn heran, steckte die Hände in die Hosentaschen. „Du hast Recht.“ Seine Stimme war leiser, er wirkte zunehmend nervös. „Es ist wirklich nicht so einfach.“ Inzwischen war die Sonne beinahe gänzlich verschwunden. Aus der Ferne bildete er sich ein, die Musik der Feier hören zu können. Im Schutz der Dunkelheit nahm Niya schließlich seinen Mut zusammen, ließ die Fassade fallen. „Vielleicht hatte ich unrecht mit dem, was ich gesagt habe. Vielleicht will ich eigentlich Verpflichtungen.“
 

„…aha.“ Sein Verstand arbeitete zu langsam, um in Echtzeit antworten zu können.
 

„Ich habs wirklich versucht in den letzten Wochen, aber ich kann nicht ohne dich leben. Es ist nur. Mit dir kann ich auch nicht. Wenn du da bist und mit mir sprichst und ich daran denken muss, was diese Typen… dass sie dich genauso anfassen, wie ich. Das ertrage ich nicht.“
 

Er verstand nicht, worauf er hinaus wollte. „Ich…was hat das damit zu tun?“ Sakito hielt den Umschlag hoch.
 

„Komm mit mir.“
 

„…“
 

„Ich weiß, dass dein Leben im Moment die reinste Hölle ist und von meinem will ich erst gar nicht reden. Aber wir könnten da neu anfangen.“
 

„Könnten wir das nicht auch hier? Ich will ja, dass es wie früher wird. Und ich vermisse dich… oh Ni, ich vermisse dich so sehr-“
 

„Verletzt es dich nicht, wenn ich mit anderen Mädchen schlafe?“
 

Sakitos Augen füllten sich mit Tränen. Eine halbe Ewigkeit verging, bis er heiser antwortete: „Sicher.“
 

„Dann kann es nie wieder sein wie früher werden. Und das will ich eigentlich auch nicht…“
 

Das nächste was er fühlte waren Niyas Hände, die ihn an der Taille näher zu ihm zogen. Sie waren kühl, ließen ihn schaudern. Leise sprach Niya weiter: „Du musst weg von hier, den ganzen Scheiß mit deinen Eltern hinter dir lassen. Und ich will nicht ohne dich hier bleiben. Ich… ich will nie mehr ohne dich irgendwo sein.“
 

Er verfluchte sich selbst dafür, aber ein weiteres Mal konnte er die Tränen nicht aufhalten. Seine Versuche, sie aus seinem Gesicht zu wischen, waren zum Scheitern verurteilt, sie kamen schneller nach, als er mit seinen zittrigen Händen stoppen konnte.
 

Kalte Finger auf heißer Haut. Sie kühlten ihn ab, beruhigten ihn. Mit den Daumen fuhr Niya immer wieder über seine Wangen. Sakito klammerte sich in den Stoff von Niyas T-shirt. Er wollte sich von seiner Echtheit überzeugen, sicher gehen, dass er wirklich da war, wirklich mit ihm sprach. Dass es nicht nur eine verrückte Art von Wunschdenken war, die ihn sagen ließ, was er hören wollte. Was er möglicherweise das letzte halbe Jahr hatte hören wollen.
 

Als er ihn losließ, war es stockdunkel. Einzig sein zerknittertes, weißes Hemd leuchtete in der Dunkelheit. Niya atmete tief durch. „Also… falls du jetzt zu wem auch immer gehen möchtest-“
 

„Es gibt niemanden. Ich habe mich mit niemandem getroffen seit… seit der Sache.“, unterbrach er ihn, immer noch mit tränenerstickter Stimme.
 

Ein vorsichtiger Blick. Niyas Lächeln war bitter und doch war ihm die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. „Heißt das, du bleibst noch, wenn ich dich darum bitte?“ Eine Hand umfasste sein Handgelenk, zog ihn zaghaft zu sich. Ihre Gesichter waren nur Millimeter voneinander entfernt, als er wisperte: „Das heißt, wenn du willst, gehe ich jetzt nach Hause, um meine Sachen zu packen…“
 

Warme Lippen trafen aufeinander. Vom einen auf den anderen Moment fiel die Unsicherheit von ihnen ab. Sie krallten sich an der Kleidung des anderen fest und zogen einander näher. Die Umarmung war innig, sehnsüchtig. Niya küsste den Rest seiner Tränen von seinen Wangen, als wolle er wieder gut machen, was vorgefallen war. Es war eine stumme Entschuldigung, nur Sakito konnte sie entschlüsseln, aber er verstand jedes einzelne Wort klar und deutlich. Heißer Atem traf auf nackte Haut. Erzeugt eine Gänsehaut in seinem Nacken.
 

„Ich will, dass du mir gehörst. Ganz allein mir…“
 

Die sich einstellende Kälte war nur ein Grund mehr für die beiden, sich fester aneinander zu klammern.
 

Bald würde der Frühling vorbei sein. Die Tage und Nächte würden wärmer werden und die Hoffnungen auf Sommer erfüllt werden. Sakito überkam die Erkenntnis, dass Frühling alleine niemanden glücklich machen konnte, ihn am wenigsten. Das Schönste an dieser Zeit war die Gewissheit, dass die Kälte ein Ende finden würde und auf einen Winter schließlich auch immer ein Sommer folgen musste. Was die Menschen am meisten genossen, war meist nicht der Frühling als solcher, sondern vielmehr die Vorfreude auf das was kam.
 

Von Hoffnung alleine jedoch konnte auf Dauer niemanden leben. Sein persönlicher Frühling dauerte schon deutlich zu lange an. Er war froh zu wissen, dass der Sommer kommen würde.
 

Durch seine geschlossenen Augen bildete er sich ein, den blauen Himmel bereits sehen zu können.
 


 

+
 


 

Ernst ist der Frühling, seine Träume

Sind traurig, jede Blume schaut

Von Schmerz bewegt, es bebt geheime

Wehmuth im Nachtigallenlaut.

O lächle nicht, geliebte Schöne,

So freundlich heiter, lächle nicht!

O, weine lieber, eine Thräne

Küß’ ich so gern dir vom Gesicht.*


 

*„Ernst ist der Frühling, seine Träume“, Heinrich Heine (1844)

**Juku: Japanische Nachhilfeschulen (Näheres dazu kann man auch bei Wikipedia nachlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Juku )



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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von:  myamemo
2015-03-24T18:47:38+00:00 24.03.2015 19:47
Die ff hat mir sehr gut gefallen.
Habe immer richtig mitgelitten.
Zum Glück mit happy end ^^

LG mya
Von:  ChiChii
2012-05-07T18:59:21+00:00 07.05.2012 20:59
Oh Gott ich hätte sicher bei der Story geheult hätte ich nicht auf ein Happy End gehofft!
ich find die Geschichte auch wunderschön!!
man bekommt richtig die Gefühle mit und kann sich das auch total gut vorstellen!!
also bevor ich noch weiter ins Schwärmen gerate:
dir Geschichte ist wirklich WIRKLICH toll und gelungen
ich mag sie total ^^

Von:  ChiChii
2012-05-07T18:57:42+00:00 07.05.2012 20:57
Oh Gott ich hätte sicher bei der Story geheult hätte ich nicht auf ein Happy End gehofft!
ich find die Geschichte auch wunderschön!!
man bekommt richtig die Gefühle mit und kann sich das auch total gut vorstellen!!
also bevor ich noch weiter ins Schwärmen gerate:
dir Geschichte ist wirklich WIRKLICH toll und gelungen
ich mag sie total ^^

Von:  Yoms
2011-12-02T01:12:10+00:00 02.12.2011 02:12
Yay endlich mal wieder ne gute Naito FF
weiter so ;)
[im Moment is es wohl zu spät um ein anständiges Kommi zu schreiben ... aber ...]
Würd mich freuen mehr solcher Storys zu lesen. Schöner schreibstil und schöne Story o.ov
Von:  haru-no-ame
2011-09-14T06:57:47+00:00 14.09.2011 08:57
die ff hat mir super gefallen. du schreibst gut, dein deutsch ist sehr gut (das ist mir wichtig, ich mag keine ffs lesen mit 1 mio grammatik- und rechtschreibfehlern drin, das verschandelt die beste story )
es wäre schön, wenn du noch mehr ffs schreiben würdest. es gibt viel zu wenig wirklich gute ffs ^^
also: großes lob und bitte bitte weiter so!!
Von:  UmbrellaXD
2011-02-27T21:24:25+00:00 27.02.2011 22:24
Meine letzte Nightmare ff, die ich gelesen hab, ist schon ein paar Jahre her, aber ich bin froh, dass ich heute doch einfach mal unter der Band geguckt hab, was es so 'Neues' gibt.
Ich muss sagen, die Story ist unheimlich toll - besonders für mich, weil ich so realistische Sachen halt mag. Genau richtige Menge Herzschmerz et cetera.
Einfach in sich ein toller Oneshot und ich wette, die nächsten ffs, die ich jetzt lese, werden mich nur noch enttäuschen - es sei denn, du hast noch mehr solcher Geschichten^^ (ich werd gleich mal in deinem Archiv gucken ;D)
Von:  Losy
2010-12-07T16:15:49+00:00 07.12.2010 17:15
... wo sind denn die hundert tausend kommis, die das hier würdigen..! gott, wie schön war das zu lesen... mein herz ist so erwärmt, was für ein glück dass sie sich am ende wieder zusammen gefunden haben. sie sind beide wunderbar charakterstark. jeder für sich. die situation, wo ni~ya von sakis männern erfahren hat... mah~ das hatte so viel gewicht, man hat so deutlich gespürt, wie nahe das ni~ya ging.
das ende ist so wunderbar ** vor allem wie ni~ya sich nicht davon abbringen lässt und saki mehr oder weniger überzeugt. (dass er vor allem nicht verletzt das weite sucht, als saki die ausrede mit dem kerl da bringt ><)
es war wirklich sooo schön. kann da nicht noch ein os folgen zu den beiden? in ihrer kyoto-zeit? (aber keiner mit traurigem ende bitte >__< sie gehören zusammen und sie lieben sich doch >.<) das wär wirklich sooo toll... pls ><
LG
Von:  Jiyong
2010-12-03T22:07:58+00:00 03.12.2010 23:07
Eine wirklich ergreifende Geschichte! Sie ist mir ziemlich nahe gegangen und man konnte sich gut in die jeweiligen Charaktere bzw Situationen hinein versetzen. Trotz der eher negativen Stimmung kommt die Romantik nicht zu kurz. Ich hab die Story wirklich gerne gelesen :) es ist beinahe schon schade, dass es nur ein OS ist, aber ich glaube gleichzeitig auch, dass mehr Inhalt nicht gepasst haette. Trotzdem lese ich von so guten Dingen gerne mehr ;)

Von:  Tomonyan
2010-10-21T12:41:08+00:00 21.10.2010 14:41
eine schöne fanfiction wirklich *___*
dein stil ist toll, schlicht, weich und rund.
ich würde gerne mehr solcher schönen ffs lesen ^^


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