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Er sieht dich.

Ein trauriges Märchen
von

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Seelenverwandtschaft

Fassungslos war sie nicht. Auch nicht schockiert. Dieses Gefühl in ihr lag irgendwo zwischen Verständnis und Trauer. Eigentlich konnte sie durch diesen Fund nicht wissen, weshalb er diese Zeitung immer noch aufbewahrte und warum dieser Tag einer besonderen Kennzeichnung in seinem Kalender würdig war. Aber diese Dinge ließen nur einen Schluss zu. Es lag auf der Hand, dass er einen Bezug zu diesem Tag gehabt haben musste. Kein Mensch würde sich aus einem anderen Grund so verhalten.

Ihre Hände, die Zeitung haltend, zitterten. Er war ihr so viel ähnlicher als sie je gedacht hätte. Ein Seelenverwandter. Ausgerechnet er also. Sie hatte sich fest vorgenommen, diese Menschen zu hassen, die für ihr Unglück verantwortlich waren. Sie hatte alles verabscheuen wollen, was seine Finger im Drogengeschäft hatte. Es kam wie jedes Mal, wenn sie sich darauf eingeschossen hatte, ihre Vorurteile beizubehalten. Ihre Engstirnigkeit hatte oftmals genau zum Gegenteil geführt, denn wenn sie einen Blick hinter die Fassaden warf, musste sie immer wieder einsehen, dass sie Menschen nicht nach Belieben in Schubladen stecken konnte.

Nun hätte dies vermutlich der Anfang einer wunderbaren Liebesbeziehung werden können. Zwei junge Menschen, die sich gefunden hatten, mit den gleichen Problemen, den gleichen Ängsten, alleingelassen in einer dunklen, einsamen Welt, die ihnen die Liebe versagte, welche sie so herbeisehnten wie nichts anderes. Es hätte alles perfekt gepasst, wäre da nicht ihr Freund, dessen beinahe verzweifelte Bemühungen, ihr eben diese Liebe zu geben, allesamt vergebens waren, weil sie sich immer allein fühlen würde, egal, wer an ihrer Seite war. Wäre da nicht die tiefe Treue, die sie ihm gegenüber einhalten wollte, jetzt, da er sie immer beobachten konnte und sie ihre Eskapaden nicht weiter hätte vor ihm verheimlichen können, obschon er auch in früheren Zeiten eine Ahnung von ihren Fehltritten hatte. Und wäre da nicht die Tatsache, dass ihre Gefühle sich stets gegen ihren Verstand wehrten und sie ein Herz, das nicht mehr ihr gehörte, nicht einfach einem anderen schenken konnte, selbst wenn es so viel einfacher gewesen wäre, als ihr Schicksal hinzunehmen und ihre Versprechen zu halten.

Es sprach doch alles dagegen, was hätte dagegen sprechen können, sodass nicht einmal sie etwas daran ändern konnte, dass eine Beziehung zu T-Pain in keinem Fall in Betracht kommen, geschweige denn funktionieren würde. Sie brauchte gar nicht erst über den Haufen Probleme, den eine Beziehung mit ihm allgemein unvermeidlich auslösen würde, nachzudenken.

Nein, es kam überhaupt nicht in Frage, und da konnte sie ihn noch so gern haben, lieben würde sie ihn nie.

All diese Gedanken im Kopf, kniete sie an seinem Lager und sah ihm beim Schlafen zu.

Jetzt, da er ruhig atmete und sein Fieber abgeklungen war, wirkte er ganz friedlich, so als könne er keiner Fliege etwas zu leide tun. Seine dunkelblonden Haare waren durcheinander, seine Augen geschlossen, sodass er beinahe unschuldig wirkte.

Vorsichtig schob sie die Decke etwas über seine Schultern. Auch wenn sie sehr behutsam gewesen war und seine Haut kaum berührt hatte, wachte er davon auf.

Das erste, was er von sich gab, war ein Geräusch, mit dem sie bereits gerechnet und deshalb vorsorglich einen Eimer neben das Sofa gestellt hatte, der auch sofort zum Einsatz kam.

„'Tschuldige“, nuschelte er, leicht errötet und sichtlich peinlich berührt. Sie holte ihm ein paar Tücher, mit denen er sich von der unappetitlichen Mischung an seinem Mund befreien konnte, und entleerte den Behälter in die graue Tonne.

„Ist doch nicht schlimm,“, erwiderte sie ruhig, „aber vielleicht solltest du dich besser mal unter die Dusche stellen. Nimm aber kaltes Wasser, das kühlt den Kopf.“

Widerstandslos befolgte er ihren Rat und kam später frisch geduscht und in sauberen Kleidern wieder ins Wohnzimmer. Auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, einfach über die Ereignisse der vergangenen Nacht zu schweigen und ihn mit den beschämenden Vorkommnissen nicht zu belästigen, kam sie dennoch nicht um einige Anmerkungen hin: „Es war überflüssig, dass du die Tabletten geschluckt hast.“

„Ich weiß“, antwortete er leise mit dem Blick zum Boden.

„Als ob es nicht schon gereicht hätte, dass du gesoffen hast wie ein Loch!“

„Ich weiß.“

„Es hätte sonst was passieren können!“

„Ja, ich weiß, verdammt! Du hättest mich ja auch einfach dort liegen lassen können!“ Er klang ziemlich gereizt.

„Um heute zu erfahren, dass du in einem Straßengraben verreckt bist, oder was?!“

„So schlecht ging's mir nicht!“

„Du hättest dich sehen sollen. Dir ging es dreckig. Kein Wunder, wenn du so einen Scheiß machst!“

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Als sie aber seinen wehmütigen Blick bemerkte, wurde auch ihre Miene milder.

„Es muss hart für dich sein“, murmelte sie.

„Wovon redest du?“, fragte er unverständig.

„Heute ist der 8. Dieses Mädchen aus der Zeitung hat sich vor drei Jahren die Brücke runter gestürzt“, sagte sie mit ruhiger Stimme und klang dabei, als würde sie ihm etwas Neues sagen, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass er es wusste. Sein Blick wanderte zum Wohnzimmertisch, wo die alte Zeitung halb aufgeschlagen lag.

„Du hast es im Kalender gesehen und warst so unglücklich, dass du dir das Zeug reingepfiffen hast, nicht wahr?“

T-Pain legte den Nachrichtenanzeiger wieder auf die Ablage, wo er vorher gelegen hatte.

„Das geht dich nichts an. Und überhaupt, was hast du an meinen Sachen zu suchen?“, meinte er bestimmt, aber nicht wirklich wütend. Mit dem Gesicht weg von ihr setzte er sich neben Aiko.

„Willst du mir vielleicht erzählen, was .. damals eigentlich passiert ist?“, fragte sie vorsichtig und lehnte sich leicht an ihn.

Er schwieg dazu, aber sie hatte auch keineswegs eine Antwort erwartet. Umso überraschter war sie, als er plötzlich nach ein paar Minuten Stille anfing, zu erzählen.

„Ich hab in einem Blumenladen gejobbt, zu Fuß so zehn Minuten von hier. Da war ich 14 und weil ich meinen Eltern scheißegal war, musste ich mir halt alles selbst verdienen, was ich gebraucht hab. War ein guter Job, wirklich. Irgendwann ist sie mir dann aufgefallen, weil sie jeden Nachmittag zur gleichen Zeit am Schaufenster vorbeigelaufen ist. Sie war zwar ein paar Jahre älter, aber das war mir ziemlich egal. Ich weiß nicht warum, aber ich hab jeden Tag darauf gewartet, dass sie am Fenster vorbeikam, auch wenn es nur ein paar Sekunden waren, bis sie auch wieder verschwunden war. Einmal ist sie dann sogar in den Laden rein, hat Blumen gekauft. Gelbe Nelken. Sie hatte echt eine süße Stimme, und ich glaube, dass ich ziemlich rot war, aber ich hab natürlich nichts gesagt. Also, abgesehen von „Da haben Sie sich einen schönen Strauß ausgesucht! Sie werden jemandem damit sicher viel Freude bereiten!“, was mein Standardspruch gewesen war, aber insgeheim hab ich mir gewünscht, dass die Blumen nicht für ihren Freund oder sowas waren. Die Besitzerin von dem Blumenladen hat mir später gesagt, dass sie an einer Privatschule so eine Art Stipendium hatte, wo sie ihr Abi machen wollte.“

Sie schluckte, aber möglichst leise, denn sie wollte ihn nicht unterbrechen. Er lehnte sich zurück, ganz so, als wäre die Geschichte, die er erzählen hatte wollen, zu Ende, doch für Aiko war sie das nicht.

„Und... dann?“ Sie versuchte, nicht ungeduldig zu wirken, obwohl es sie sehr interessierte, was er zu sagen hatte.

„Tja. Irgendwann hab ich's dann in der Zeitung gelesen...“, sagte er mit gedämpfter Stimme und deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmertisch.

„Woher wusstest du, dass sie es war?“, fragte sie leise.

„Sie kam nie wieder am Blumenladen vorbei, also war mir irgendwann klar, dass sie es gewesen sein musste.“

Aiko nahm ihn behutsam in den Arm und strich über seinen Rücken. Es ging kaum länger als ein, zwei Minuten, die sie so dasaßen, aber ihr kam es vor wie eine halbe Ewigkeit.

„Eigentlich... ist das ziemlich pussig“, stellte T-Pain fest, während sein Blick in die Leere des Raumes abschweifte.

„Das wäre es, wenn du jetzt heulen würdest“, befand sie mit einem Schmunzeln. Dann schlug sie vor:„Vielleicht sollten wir eine Kerze anzünden.“

Er nickte.

„Vielleicht sollten wir sollten wir das tun“, erwiderte er dann und stand auf, um eine weiße Kerze aus einem voll gestellten Regal zu holen.

„Hast du Feuer?“, fragte er.

„Jap.“ Sie stand ebenfalls auf und kramte ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche. Entgegen ihrer Erwartung entzündete er damit jedoch zunächst nicht die Kerze, sondern zwei Zigaretten aus der Ablagefläche des Wohnzimmertischs. Eine schob er ihr in den Mund. Streng genommen wollte sie nicht mehr rauchen. Aber einmal noch würde sie schon nicht umbringen. Anschließend starrten sie beide abwechselnd auf die flackernde Flamme der Kerze und in das Gesicht des anderen.

„Es ist wirklich schön mit dir, weißt du das?“, lächelte Aiko und nahm einen langen Zug aus der Zigarette, ohne ihn anzusehen. Sie spürte schon im nächsten Moment, dass diese Worte nicht wahr sein sollten. Und doch waren sie es.

Ob er dich dafür hasst? Er sieht sicher gerade zu und hasst dich dafür. Sicher. Du willst dich nicht so fühlen... Du darfst es nicht, du sollst es nicht, es ist falsch! Warum bist du überhaupt hier? Was in aller Welt machst du?! Kein Wunder, wenn er dich hasst! Wer könnte es ihm verübeln? Wie kannst du so treulos sein?! Kleines Miststück!

„Ich finds auch ziemlich...“ T-Pain suchte offensichtlich nach einem Wort für die Stimmung zwischen ihnen, das nicht unmännlich klang.

„...cool.“

Sie sah ihn grinsend an. Ihre Gedanken hatte sie wieder zurück in den Käfig gesperrt, der sie schon seit so vielen Jahren vor der Wahrheit schützte. Sie redeten nur, nichts Verfängliches. Es konnte nicht falsch sein.

„Cool, huh?“, lachte sie laut, zu laut, um natürlich klingen zu können. Einen kurzen Augenblick sah er sie irritiert an, dann neutralisierte sich sein Blick wieder.

„Nicht cool. Du weißt, was ich meine, komm schon!“, murmelte er leicht errötet.

„Ich mag dich eben“, fügte er hinzu.

„Ich mag dich auch“, erwiderte sie leise. Es war nichts Verfängliches, ganz normal. Es war keine Untreue, ganz unschuldig, bloß ein nettes Gespräch. Nicht mehr.

Behutsam fuhr T-Pain mit der Hand an ihrem Arm hoch, ohne seine von den ihren abzuwenden.

Ein plötzliches Brummen, das von Aikos Handtasche ausging, ließ die zunächst so besinnliche Stimmung kippen.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte T-Pain, offensichtlich angesichts der Störung genervt.

„Es wird sowieso nur Sasori sein“, murmelte sie.

Er fischte kurzerhand das Handy aus ihrer Tasche und meldete sich.

„Bei Aiko. Lass sie endlich mal in Ruhe.“

„Tu das nicht!“, zischte sie ihn an und versuchte, ihm das Mobiltelefon wieder zu entwenden. Auch wenn sie sich nicht hätte Sorgen machen müssen, was Sasori jetzt dachte. Denn es war nicht Sasori.

„Wo in aller Welt ist Aiko?! Und wer bist du eigentlich?!“, tönte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Ist da Sasori?“, fragte T-Pain.

„Nein, zur Hölle, hier ist Itachi, und Itachi reißt dir den Arsch auf, wenn du Aiko nicht sofort ihr Handy zurück gibst!“, brüllte er.

„Ist für dich“, erklärte T-Pain und übergab seiner Freundin das Telefon.

„Ja“, sagte sie leise in den Hörer.

„Wo in aller Welt bleibst du? Yukiko und ich warten auf dich!“

„Was? Wo? Wieso? Waren wir etwa verabredet?“ Sie kratzte sich etwas verwirrt am Hinterkopf und zuckte gegenüber T-Pain nur kurz die Schultern.

„Ja, das könnte man so sagen, Aiko! Wir stehen hier vor Madaras Privatkapelle. Du erinnerst dich vielleicht? Ich heirate?“

„Ups. Ähm... Ich bin in einer halben Stunde da, okay? Ich beeil mich!“

Sie legte auf.

„Itachi heiratet heute. Ich hab's komplett verpeilt. Hol ein Taxi!“, rief sie, während sie sich mit seinem Deo einnebelte.

„Und zieh dir was Besseres an! So kannst du nicht mit!“

Er stockte und erwiderte: „Wer sagt denn, dass ich mit will?“

Sie steckte sich eilig die Haare hoch.

„Bitte. Ich will da nicht alleine hin. Und Sasori will ich jetzt grade nicht sehen.“

T-Pain willigte ein und tat, wie ihm befohlen. Eigentlich hatte er keine Lust und wäre lieber weiter mit Aiko auf der Couch gesessen, aber auf eine seltsame Art und Weise wollte er einfach in ihrer Nähe sein, selbst wenn er dazu eben auf eine Hochzeit zweier völlig Fremder zu gehen.

Tatsächlich schafften sie es in relativ kurzer Zeit, die Kapelle zu erreichen, in der Itachi und Yukiko den Bund fürs Leben schließen wollten. Allerdings war sie dem Taxifahrer Ranjit noch das Geld für die Fahrt schuldig geblieben, kam eine dreiviertel Stunde zu spät und sah zudem in ihrem viel zu kurzen Kleid eher unseriös aus. T-Pain war auch nicht unbedingt nach der Kleiderordnung angezogen. Alles in allem würde die Hochzeit demnach eine Katastrophe werden.

„Da bist du ja“, zischte Itachi, der ohnehin über seine Belastungsgrenzen hinaus angespannt war. Aiko zupfte noch kurz seine Fliege zurecht und lächelte ihn kurz an, bevor sie T-Pain auf einen Stuhl in der ersten Reihe drückte und sich neben Sasuke, Itachis kleinen Bruder, stellte.

„Nettes Kleid, Süße“, grinste der nach einer ausgiebigen Musterung ihres unangemessen kurzen Kleides.

Sie ignorierte seinen Kommentar und richtete ihren Blick auf Yukiko, die am Eingang der Kapelle stand und mit ihrem streng wirkenden Vater am Arm auf das Einsetzen der Musik wartete.

Es war eine wirklich schöne Zeremonie wie aus einem Bilderbuch. Yukiko sah zauberhaft aus in ihrem langen wehenden Kleid, Itachis Anzug stand ihm überraschend gut, es gab niemanden, der es für nötig hielt, Einspruch einzulegen, und so gaben sie sich vor märchenhafter Kulisse das Jawort.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Yurina-chan
2012-07-09T14:56:33+00:00 09.07.2012 16:56
Hallöchen erstmal.

Danke, dass du an unserem WB teilgenommen hast. Tut uns leid, dass du so lange auf die Auswertung warten musstest.

Deine Story hat uns von Anfang an eingenommen - und das im wirklichen Sinne des Wortes. Wir haben deine FF als zweites gelesen und konnten nicht mehr damit aufhören. Nur enttäuschend war, dass sie noch nicht fertig ist.
Du hast wirklich einen schönen Schreibstil und vor allem viele Ideen, die du auch richtig einbringst. Die vielen Wendepunkte bewirken, dass man immer weiter lesen will.
Es kommen die unterschiedlichsten Gefühle zum Ausdruck, was die Story bestens für unseren WB geeignet macht.

Liebe Grüße,
Yurina-chan und black_mirror



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