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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Mouches und Desserts

Als Erstes stibitzte William Hardy zwei Gläser Bordeaux und bestand darauf, dass sie auf ihre Freundschaft anstießen. James schien schließlich doch einzulenken. Vielleicht dachte er sich auch, dass, wenn er das nötigste Gerede zügig hinter sich brachte, umso schneller zurück zu seinem Vater kehren konnte. „Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du doch Soldat werden. Was ist aus deinem Plan geworden?“

„Funktioniert. Niemand hielt mich damals auf, und heute bin ich Lieutenant. Obwohl man mich viel lieber in der Navy gesehen hätte, wie dich.“

„Dein Vater?“ James hob zwar die Augenbrauen, schien aber nicht wirklich anteilig zu sein.

Will ließ die Schultern zucken. „So jedenfalls interpretiere ich die Verwirrung des Colonels, als ich fröhlich grinsender und um 200 Pfund leichterer Ensign mich bei ihm vorstellte. Die Army scheint es dieser Tage nicht gewohnt zu sein, Zuwachs zu bekommen.“

„Natürlich nicht“, antwortete James. „Im Gegensatz zu Frankreich, Spanien, dem römischen Reich und vielen weiteren Staaten liegt und herrscht England nahezu allein auf dieser Insel, sodass der einzige Weg, uns anzugreifen, über Wasser führt, dem Verantwortungsbereich der Royal Navy. Innenpolitisch ist die Army lediglich für kleine Bürgeraufstände zu gebrauchen sowie für die Rebellionen der schottischen Clans, aber weder vom einen noch vom anderen geht eine wirkliche Gefahr aus, nachdem Schottland durch Darién und schließlich den Alien Act ruiniert wurde und auf Englands Hilfsbereitschaft angewiesen ist. Alle angehenden Soldaten sehen ihre Zukunft zuweilen in den englischen Kolonien oder im spanischen Krieg, und beides erreicht man ausschließlich per Schiff, wo die Qualifikation eines Mannes noch über dem Gewicht seines Geldbeutels gehandelt wird. Entschuldige, dir das sagen zu müssen, aber deine Entscheidung für die Streitkräfte zu Lande war abenteuerlich.“

„Ich bin zufrieden!“, verteidigte sich Will beleidigt. „Auf Schiffen wird mir immer übel.“ Dann machte er sich daran, ihnen nachzuschenken.

Mir wird übel, wenn ich an die Kosten denke, die das stehende Heer verursacht“, erwähnte James leise und setzte das Glas an die Lippen.

„Monate auf so einer Holzkiste! Nein, das würde ich nicht aushalten. Und die Weiber! Wenn ich mal Abhilfe brauche, dann rase ich einfach ins nächstgelegene Dorf und schnappe mir eine, aber was macht ihr denn? Oder nehmt ihr euch Weiber mit auf das Boot? Sag bloß!“

„Diese Abhilfe, von der du sprichst, ist nichts weiter als eine Schwäche, die es auszumerzen gilt. Es zählt zu den frühesten Lektionen eines Angehörigen der Navy, über den Genuss der Gesellschaft einer Dame hinwegzukommen.“

Will klappte die Kinnlade hinunter. „Ihr treibt es untereinander?!“

James verschluckte sich am Wein; Will aber, da er verstanden hatte, warum, lachte genau wie damals.

„Na ja“, gluckste er, sobald der erste Schwall unschuldiger Vergnügung vorübergezogen war. „Das ist es jedenfalls, was man so hört.“

„Alles Gerüchte und sie entsprechen nicht der Wahrheit!“, beeilte sich Norringtons Sohn klarzustellen und versuchte, mit reibenden Handbewegungen den roten Fleck aus seinem leuchtend weißen Ärmel zu scheuchen. Vergeblich.

„Wenn du das sagst…? Aber halte mir trotzdem deinen After warm und feucht – ja? – wenn wir uns mal wiedersehen.“

Erneut prustete James aus, musste Will aus tiefster Seele lachen.

„Ich liebe diesen geschockten Gesichtsausdruck, den du machst, Jimmy, wann immer ich so prägnant werde!“, hechelte er, bereits mit Tränen in den Augenwinkeln. Sein Gelächter hatte entrüstete, aber auch neugierige Blicke auf sich gezogen. Dieser Junge besaß ganz ohne Frage eine einzigartige Ausstrahlung.

„Das Erste Mal werde ich mir für die wahre Liebe aufheben“, versicherte James ihm würdevoll, und ich stellte mir die Frage, ob er das auch ohne Alkohol im Blut je ausgesprochen hätte. Zumal es eine Lüge war.

„Aber ist das denn nicht etwas zu riskant?“, wandte Will ein, dessen Mund sich offenbar zu einem Dauergrinsen verrenkt hatte. „Mit 60 wirst du kaum noch Manneskraft genug haben, um ein Weib glücklich zu machen.“

„Anders als dir ist mir bereits eine Verlobung angehängt worden.“ Die Entgegnung war getränkt von Bitterkeit, aber der junge Gardist überhörte sie, nahm schwungvoll den letzten Schluck aus seinem Glas, warf seinem Freund den Arm um die Schultern und hielt nach der Bordeaux-Flasche Ausschau, die zwischenzeitlich von einem dienenden Mohren abtransportiert worden war.

„Wenn es hier nicht so gut und gratis zu speisen gäbe, hätte ich dich jetzt in ein Freudenhaus entführt. Weißt du, James? Es gehört zum natürlichen Verlauf des Erwachsenwerdens jedes Mannes, dass sich irgendwann, eines stillen Nachts, ein winziger Teil deines Gehirns abspaltet, durch den Kopf geschleudert wird, durch deinen Körper und am Ende vorne zwischen deinen Hüftknochen landet, nach dieser rasanten Abfahrt erst einmal in dein Bett bricht, sich aber schließlich gut einlebt und ab diesem Moment manchmal zu dir spricht. Wenn also einst eine Frau zu dir sagt, du würdest ja nur mit dem Schwanz denken, dann weißt du, dass du erwachsen geworden bist…“

„Welch lächerlicher Unfug“, schnaubte James.

„Du wirst mir nicht erzählen können, dass es dir nicht auch schon einmal passiert ist.“

„Ich denke nicht, dass dieses Thema hierher gehört.“

„Ach nein? Dann sieh dich doch um!“

„Auf was wartest du, das ich dort erblicke, damit du dein Fehlverhalten rechtfertigen kannst?“

Der junge Mann aus der Gentry, dem Landadel, schob ihre beiden Köpfe dicht aneinander, senkte den seinen tiefer in Richtung der Brust und hob einen weit ausgestreckten Zeigefinger. Dieser wackelte ein wenig, fand jedoch sein Ziel. Von meinem Standpunkt aus konnte ich nicht erkennen, worauf er deutete. Es schien mir, als würde er völlig willkürlich in die Mengen von Gästen weisen, welche sich zusammenfanden, trennten, neu bildeten und wieder auseinandergingen. Elizabeth hielt nach wie vor ein Schwätzchen mit Misses Hardy, die Gillettes waren vom Gastgeber, dem Herzog, konfrontiert worden und Mister Hardy wanderte auf einen Tisch mit Kuchen und Torten zu, die den Eindruck machten, als hätte es über ihnen tagelang Obst, Schokolade, Mandelmasse, Sahne und weitere Lagen Teig geschneit. Alexia trippelte neben der Rockkuppel ihrer Mutter auf der Stelle, stampfte mit ihren winzigen Absatzschuhen auf das Parkett und blieb ignoriert.

„Siehst du jene junge Dame dort in dem himmelblauen Kleid, mit den roten Absätzen und dem tiefen Ausschnitt?“

„Ich sehe die junge Dame in dem himmelblauen Kleid mit den roten Absätzen, ja…“

„Sie ist vergeben.“

James betrachtete ihn, als habe er sich ihm soeben als das Orakel von Delphi entlarvt.

Wieder schwenkte der Hardy-Finger herum. „Und diese da? In Giftgrün, mit dem zerknautschten Gesicht?“

„Noch nicht vergeben…?“, riet er lustlos und ein wenig verärgert.

„Sie würde ohne Umschweife alle Hüllen fallen lassen“, gab Will die Lösung preis und erfreute sich über James’ zu Schlitzen verengte Augen.

„Das weißt du, indem du sie anschaust? Oder möchtest du mir sagen, dass du mit all diesen Damen bereits einmal dein Vergnügen hattest?“

„Schau doch genauer hin! Mouches!“

Ein gewisses Aufmerken überwältigte die Züge meines Schützlings, das sich nur zeigte, wenn man ihm Englische Creme in Aussicht stellte. Allerdings stieß er es im Sekundenbruchteil wieder von dannen.

„Hast du dich nicht gefragt, weshalb auf diesem Ball förmlich jede Frau mindestens ein Muttermal im Gesicht hat? Das sind Pflaster! Die kleben sie sich auf, um versteckte Botschaften zu übermitteln! "Bringe mich zum Lachen", "Versuche, mich zu küssen", "Behandle mich wie eine Königin und ich überlege es mir mit dir"… Ein lustige Koketterie in der Öde des Adels!“

„Verstehe“, antwortete James leise. „Welches muss ich mir aufkleben, das "Verschone mich mit deinem wertlosen Wissen" bedeutet?“

Der freche Frauenheld grunzte. „Ich sah nie einen Mann, der ein mouche trug. Die Damenwelt versucht, durch den schwarzen Punkt im Gesicht einen deutlichen Kontrast zur hellen Haut darzustellen. Eure Sklavin jedoch hätte dafür gar keine Verwendung.“

Plötzlich zuckte ich zusammen, als habe mich ein ellenlanger Dorn aus Eis durchbohrt. William Hardy sah zu mir und lächelte, nicht aber mich an. Ich ging nicht davon aus, dass er sich über mein Lauschen bewusst war.

„Unsere Sklavin?“, fragte James.

„Ja“, gab er zurück, auf einmal selbst nicht weniger verdutzt. „Abda heißt sie doch, oder?“

„Sie ist Gouvernante im Hause meiner Familie“, korrigierte er ihn streng.

„Wie kommst du darauf? Sie ist ein Neger! Sie hat doch gar nicht die Ausbildung und das Wissen einer Gouvernante!“ Er grinste. „Oder schämst du dich etwa, zuzugeben, dass deine Familie Sklaven unterhält?“

„Wir unterhalten keine… Sklaven.“

„Dafür bezahlen wir die Neger doch“, wunderte sich Will, doch da hatte mein Junge bereits das Glas geleert, es ihm in die Hand gezwungen und das Gespräch damit beendet.

Ich musste mich setzen. Mit solch einer Aussage hatte ich niemals gerechnet, nicht von William Hardy. Wieso ergriff sie mich so? Wieso ließ sie in mir die Tränen aufsteigen? Lange hatte ich mich mit meiner Stellung im fortschrittlichen England abgefunden. Es war nur normal, dass der lebenslustige, unterhaltsame Bube in mir nichts weiter als eine Sklavin sah. Abda… Knecht. Stolz hatte ich mich der Familie Norrington mit diesem Namen vorgestellt. Stets hatte ich alle wissen lassen wollen, wer ich war und was, woher ich kam… Wieso fiel es mir nun so schwer zu akzeptieren, dass es auch für einen derart couragierten und aufrichtigen jungen Mann nichts Ungerechtes hatte, einen schwarzen Menschen mit einem Sklaven gleichzusetzen?

Nein. Ich hatte mich nie mit meiner Stellung abgefunden. Es war der Umgang der Norringtons, der mich verwöhnt hatte. Keinem anderen meiner Rasse wurde nur eine ähnlich freundliche Behandlung zuteil. Sie litten. Meine Anverwandten, meine Brüder, meine Schwestern, meinesgleichen müssen leiden. Und ich spioniere hier auf einem Ball des Herzogs zu Buckingham und Normanby, umgeben von himmlischen Düften und Klängen meinem Amming nach und entsetze mich über die scharfen Blicke und Worte der Gesellschaft, die nicht einmal in erster Linie mir gelten.
 

Da ich James das nächste Mal traf, stand er unentschlossen vor einem der Tische und ließ den Blick über dessen gesamte Länge schweifen. Um ihn wuselte ein nervöser Aufwärter mit antrainiertem Lächeln herum, faselte enervierend ausgiebig über jede einzelne Zutat der sich ständig dezimierenden süßen Köstlichkeiten, ohne dass jemand ihn gefragt hätte, und bedrängte den jungen Herrn, doch endlich zuzulangen: „...Oder hier: Diese niedlichen Esel, Ochsen und Ziegen sind ganz aus Marzipan geformt, einem gar exotischen Erlebnis aus karamellisierten, dann abgerösteten Mandeln mit Zucker und Rosenwasser! Sie schmeicheln den Geschmackssinnen von der Zunge über den Gaumen bis in den Rachen. Nicht zu verachten sind auch diese Delikatessen: Lasst Euch verführen von der unmoralischen Übereinkunft saurer Kirschen und Trauben mit heißer, schmelzender Schokolade – ihr Bad in dem Eurem Gesellschaftsstand vorbehaltenen, undenkbar teuren Likör wird Euch den Verzehr nur noch versüßen! Und was das hier anbelangt, so mögen auf dem Ozean die Franzosen unsere Feinde sein; was sie allerdings ihrem Sonnenkönig an Konfekt darbieten, dem sollte sich auch Ihre Majestät nicht zu schade sein, meiner Meinung nach. Zum Beispiel diese mit Schokolade ummantelten Praslins aus Nüssen und Nougat oder kennt Ihr bereits die Calissons? Zwischen ihrer feinen Zuckerschicht überrascht eine traumhafte Harmonie von Bittermandelmasse und unaufdringlicher, aber erfrischender Nuance von kandierten Früchten! Vorzüglich, sage ich Euch, einmalig vorzüglich! Solltet Ihr jedoch die süßen Sünden unseres lieben Vaterlandes bevorzugen, so haben wir hier einfache Crumpets mit aber einer raffinierten Soße aus Milch, Zucker und Vanille, die für Stunden gekocht werden muss, jede Minute davon allerdings durchaus wert ist! Zweifelt ruhig an meinen Worten und probiert nur! Makronen, Trüffel, Toffee, Lebkuchen, gezuckertes Obst und Türkischer Honig; wir haben alles da, was den Mund so richtig schön verklebt! Und habt Ihr die Zähne dann erst einmal überbeansprucht – hier: Buntes, fruchtiges Eis! Ein wahres Geheimnis dieses Hauses! Seine Vielfalt an kalten, nichtsdestotrotz saftigen Aromen wird Euch den Winter lieben lassen! Die noch warmen Waffeln besänftigen die Kühle des Eises, wenn sie Euch zu bezwingen droht. Greift zu, Sir, solange es noch zu haben ist! Der Herzog setzt bereits zum Befehl an, die Hauptspeisen zu servieren! Und ist Euch bereits unser Custard aufgefallen? Nichts Ungewöhnliches, mögt Ihr vielleicht denken, doch mit Verlaub: Ihr irrt! Zunächst verrühre man Eigelb und Zucker mit kräftiger Hand, dann gebe man dem die Milch hinzu. In Wasser wird sie abgeschlagen, bis sie ihre berühmte Konsistenz erhält. Man muss viel Feingefühl aufbringen, damit sie gelingt. Eine Delikatesse wie eine gute Dame, anspruchsvoll und betörend – fürwahr – ich spreche aus eigener, unbereuter Erfahrung! Unsere Englische Creme wird nach einem seit Generationen über Generationen in der Familie des Herzogs überlieferten Rezept hergestellt! Durch Vanille und Honig verfeinert, mit Kirschen und besonders viel Zucker! Kostet nur, lasst Euch das nicht entgehen! Rasch!“

Ich beschloss, James mit seinen Süßigkeiten allein zu lassen. Unter dem Druck schwermütiger Gedanken, welche weder den Ball, seine Verlobung noch die mich ansonsten verzückende Christnacht beinhalteten, schlich ich zurück zu Elizabeth, die momentan all ihre Kraft aufbringen musste, um Alexia zu beruhigen, ihr die Hand auf den erdbeerroten Mund zu drücken, damit sie nicht aus vollem Halse quengeln konnte.

„Sie möchte nach Hause“, erklärte sie mir und krümmte sich verhalten unter einem Schlag des Kinderfäustchens, der eine ungeahnte Wucht entwickeln konnte, welche die Göre gewiss aus denselben Anlagen bezog wie auch das goldene Haar und die hellen Augen. Und die stetige Unruhe. Wir mussten mit ihr kämpfen, bis das Orchester ein Menuett anstimmte, die Tische zu den Seiten von ihren zuckerüberladenen Gerichten befreit wurden und sich die Paare zusammenfanden. „Ich tanze mit Jamie!“, rief sie da nämlich, tauschte ihr Dämonengesicht schnurstracks mit dem eines Engels aus und brauste davon.

„Der sollte nun eigentlich mit der Tochter des Herzogs tanzen“, murmelte Elizabeth. „Wo hält er sich überhaupt auf? Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.“

Da erschien der Admiral in dem sich auflösenden Gemenge von Kleidern und Köpfen wie zwischen einem sich teilenden Meer, die Schöße der gewichtigen Uniform schleppten sich träge und mit geneigtem Hochmut zu seinen Flanken, wie das Kielwasser einem Schiff folgte, und fuhr den Hafen seiner Heimat an, den Hafen seiner Ruhe, seines Loslassenkönnens. Könnens, wenn er nur gewollt hätte. Elizabeth Grace Norrington hätte ihre Arme ausgestreckt und ihn aufgefangen, jederzeit, ungeachtet allem anderen; sie wäre auch jetzt noch dazu bereit gewesen, aber Lawrence würde bis zum Schluss von Stolz und Angst in andere Richtungen geweht werden, wieder und wieder auf den unüberschaubar großen, unvorstellbar tiefen Ozean hinaus, weit, sehr weit weg von ihr. Keine Blumen würden auf seinem Grab wachsen können, doch sie würde ihm immer wieder so nahe kommen, wie sie nur konnte, würde am Rande des Hafens stehen und jedes Mal eine Blume auf die abweisende Wasseroberfläche werfen, auch wenn sie ihn niemals erreichen würde, so wie zu seinen Lebzeiten ihn zu erreichen schon nichts imstande war.

Sie war sich dessen gewahr, umso stärker war ihr Glück über jede zärtliche Geste, welche ihr dieser unantastbare Halbgott zukommen ließ. Er fragte nicht – ein Admiral musste nicht fragen – nahm mit seiner einzigen, lädierten Hand die ihre und führte die Überwältigte in die Mitte von allen Paaren, wo sie zwei Schwäne in der Schar grauer Tauben waren. Ihnen nachsehend, wünschte ich mir, wünschte ich mir wirklich, betete ich beinahe, dass alles wie früher werden konnte… und nie enden müsste. Gleichzeitig war ich im vollen Bewusstsein darüber, dass es nichts weiter als Träumerei war, der ich nachgeben wollte. Wir können die Zeit nicht aufhalten. Alles geht irgendwann zu Ende und findet vielleicht seinen Frieden. Wann wird es mir gelingen, nicht mehr über das zu weinen, was wir nicht halten können, sondern anzufangen, meine Freude zu genießen über das, was uns erhalten bleibt?

„Ms Abda?“

Müde schaute ich herum. Will Hardy stand da, mit seinem losgelösten Lächeln und den freundlichen Augen. Justament entsann ich mich seiner diskriminierenden Worte, und möglicherweise hätte ich mich abwenden sollen, doch ich tat es nicht. Stattdessen erwiderte ich seinen Blick – ausdruckslos, denke ich – und war unfähig, mir die Hoffnung eines Menschen einzugestehen, der partout nicht ausgeschlossen werden will, aber auch, sie abzustreiten. Ich stellte mir vor, es sei vielleicht ein Missverständnis gewesen, ich hätte mich verhört oder sonst irgendetwas sei schuld daran, dass ich zu Unrecht der Annahme war, William Hardy erachtete mich als wertlose Arbeitskraft, nicht als Individuum. Aber ich konnte es mir nicht einreden.

„Auf!“, sagte er, und nichts mehr wies auf seine Ansicht gegenüber Farbigen hin. „Lass uns tanzen!“

Es war meinem traurigen Geist nicht möglich, die Bedeutung seiner Worte gleich zu ergründen. Er hingegen nutzte eben diesen Augenblick schamlos aus, packte meine Hand und zerrte mich in das Schweben von bunten Stoffen um Lawrence und Elizabeth Norrington. Ich konnte nicht, was er von mir verlangte, und führte ihm dies auch gleich eindrucksvoll vor, doch er machte mein nicht vorhandenes Talent mit seinem genialen Können wett wie ein Kissen, das einen Sturz abfederte. Wir tanzten kein Menuett; er drehte mich nur im Kreise, bis ich es nicht länger vollbrachte, auf beiden Füßen sicher stehen zu können, fing mich in seinen widerstandsfähigen Armen auf und wirbelte mich nochmals herum. Ich bemerkte nicht, wie er mich von der einen Seite des Saales zur anderen tanzte, aber einmal, da er mein unbeholfenes Taumeln beendete, wurde ich für die Dauer von einer Sekunde zufriedener Zeuge, dass sich Miss Farleys Unterrichtsstunden in der Küche gelohnt hatten. Will drückte mich versteiften Elefanten an die Wand, dass ich nicht umfiel, und versuchte herauszufinden, wen oder was mein Blick betraf.

„Dein Herr wird dich nicht gesehen haben“, wollte er mich besänftigen, ihn falsch deutend. „Der hängt mit all seinen Sinnen an deiner Herrin. Ich sehe ihn heute zum ersten Mal in Fleisch und Blut, doch für so liebevoll hätte ich ihn, wenn ich an die imposanten Gemälde von ihm denke, gar nicht gehalten.“

An einer Stelle stießen einige Tänzer einen hohen Laut aus, was mich in meiner Suche nach James stutzen ließ. Sie stoben auseinander wie erschreckte Vögel, während der Großteil der über das Parkett fegenden Paare, davon unbeeindruckt, weiterhin zur Musik glänzte, und gaben mir ziemlich enge Spalten zum Spähen frei. Auf sehr merkwürdige Weise hielt dort Lady Mary James an seinen Armen aufrecht. Die Tochter des Gastgebers, welche, wie ich nebenbei feststellte, einen Schönheitsfleck auf ihrer linken Wange trug, machte ein bemitleidenswertes Gesicht. „Er ist nur gestolpert! Es ist alles in Ordnung! Ihr mögt bitte weitertanzen, er ist nur gestolpert!“

Gerade wollte ich losrennen, weil mir war, als lehnte er seltsam andauernd gegen ihre Hände, da stieß er in die Senkrechte, putzte seinen Rock oberflächlich und räusperte sich, ehe er darauf bestand, das Menuett fortzuführen, obwohl seiner jungen Dame das große Fragezeichen deutlich abzulesen war. Neben mir flatterten schallend Wills Lachmuskeln wie die Flügel eines Kolibris. „Über die eigenen Füße! Entweder sind ihm die Schuhe zu groß oder ich hätte ihm vorhin nicht so viel Wein einschenken sollen!“

Ein furchtsamer Blick in die Richtung der Eheleute Norrington tröstete mich damit, dass niemand von beiden den Zwischenfall zur Notiz genommen hatte.

James blieb noch für zwei weitere Musikeinlagen auf der Tanzfläche. Das nächste Mal beanspruchte ihn natürlich Alexia, welche zuhause zwar Unterricht nicht allein im Menuett genoss, heute jedoch wenig auf die vielen Lektionen achtete und im Zusammensein mit ihrem Bruder lieber das sich frei entfaltende Kind gab, das sie im Allgemeinen war. Elizabeth hob eine Braue. Ihr gefiel nicht, was sie dort sah. Ihr Gatte hatte sie stehen lassen für einen kollegialen Meinungsaustausch mit dem Herzog zu Buckingham und Normanby. Ganz plötzlich. So, als gäbe es nichts Existenzielleres auf der Welt denn die Seeschlacht von Solebay.

„Meinst du“, fragte sie in meine Richtung, „er würde seine alte Mutter auch einmal bitten?“

„Ich denke nicht, dass er auf diesen Gedanken kommt.“

„Ist er dermaßen abwegig?“

„Sagen wir: Er ist nicht gerade einleuchtend.“

„James wird uns in wenigen Tagen verlassen und denkt nicht einmal daran, seiner eigenen Mutter den Abschied zu erleichtern. Habe ich denn überhaupt keine Rolle in seinem bisherigen Leben gespielt?“

„Elizabeth… Erlaube mir die Frage, aber… Bist du etwa eifersüchtig auf deine Tochter?“

Schon zornig durchstieß sie meinen stöbernden Blick. „Auf Alexia? Bestimmt nicht!“

„Auf wen dann…?“, fragte ich sehr sorgsam, als würde ich es mit einer gewissenlosen Mörderin zu tun haben.

Ihre Pupillen flackerten. Sie biss sich auf die Unterlippe. Für einen Moment glaubte ich, sie würde es nun endlich einräumen. Ich wollte die Gelegenheit greifen, wollte sie ermutigen, herauszurücken mit der Wahrheit. Vor mir hätte sie nichts zu befürchten. Sie wusste, ich würde sie niemals als schlechte Mutter bezeichnen, nicht deshalb. Nur – sage es, Elizabeth! Bestätige, was ich zu wissen glaube. Ich werde dir helfen. Und er wird verzeihen, wenn du es zugibst.

„Ich habe Appetit“, sagte sie auf einmal und schulterte den dicken, schweren Mantel des Schweigens.

„Die Reichhalt der Auswahl wird deine Entscheidung nicht leicht machen“, erwiderte ich eintönig und war komisch beruhigt, dass sie das Thema gewechselt hatte.

„Aber er sieht wirklich wie sein Vater aus“, versetzte Elizabeth verbohrt, gestattete mir jedoch keinen Raum zum darauf Eingehen.

Damit endete auch dieses musikalische Stück, aber die tanzfreudigen Leute baten sofort nach dem nächsten. Die Paare dezimierten sich ein weiteres Mal in der Zahl, was uns ermöglichte, wieder bis zu den gegenüberliegenden Tischen sehen zu können. Von dort aus stach jemand gleich in Elizabeths Auge. Mich behandelnd, als sei ich nicht einmal mehr vorhanden, huschte sie um die Bühne herum. Ich folgte ihr nur mit dem Blick und endete bei dem Antlitz einer Frau, die ich kannte. Es war Lady Amalia Swann, Elizabeths Freundin seit Kindertagen, so engelsgleich noch wie vor fünf Jahren. Neben ihr ein Mann unter dunkler Allonge-Perücke wie der Herzog. Sein Blick galt den Tanzenden. Da er sich selbst einmal mit einem bestickten Taschentuch über Stirn und Wangen tupfte, hatten er und die karamellblonde Schönheit neben ihm sich wohl ebenfalls bereits ein Stelldichein gegeben. Mir fiel auf, dass er an James haftete, der nun seinen dritten Tanz bestritt – seinen zweiten an diesem Abend, schenkte man der Beurteilung Zustimmung, dass Alexias von Kicherschüben begleitetes Ringelreihen ihm eher die Chance gegeben hatte, sich von seinem komplizierten ersten zu erholen – an der Seite eines Mädchens, das nicht älter sein konnte als seine Schwester, aber mit wesentlich mehr Seriosität über die eigenen wie auch auf die Schritte ihres Partners wachte: „Du tretest mir auf das Kleid, James!“

„O-oh! Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Swann.“

Lady Amalia auf der anderen Seite des Saales strahlte goldig zu mir hinüber und winkte mir zu. Die endliche Freundlichkeit eines Mensches hier mir gegenüber bewog mich ohne Umschweife, ihrer Einladung zu folgen, mich ringsum der Tanzfläche an den Gästen vorbeizuschieben und zu meiner Familie zu gesellen. Während der Mann an ihrer Seite verblüfft den Kopf reckte, trat Lady Amalia gleich vor, nahm meine beiden Hände und drückte sie beherzt. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Ms Abda!“

„Ich freue mich ebenfalls, Mylady.“

Sie machte den Schritt wieder rückwärts und deutete auf den Herrn unter der Allonge-Perücke. Erst jetzt musterte ich ihn genauer. Er hatte friedvolle, unauffällige, von vielen winzigen Fältchen umrahmte Augen, kleine, breite Brauen und eine runde Nase. Nachdem er eingangs definitiv nicht mit meiner Hautfarbe gerechnet hatte, formte sein Mund nun ein schmales Lächeln, und er nickte mir zu.

„Das ist mein Gatte, Weatherby. Weatherby? Dies ist Abda, das Kindermädchen von James und Alexia.“

Ich erwiderte es, beugte mich jedoch tiefer, schließlich hatte ich einen Lord vor mir stehen. Zwar hatte er nie im Heer oder in der Marine gedient, doch vor fünf Jahren lobte Elizabeth die herausragenden kommunikativen und administrativen Fähigkeiten des Mannes ihrer Freundin. Es würde sich herausstellen, dass Lord Weatherby Swann einer Gattung Mensch – und Führer – angliederte, die in jener Zeit sehr selten geworden war.

„Dieser James…“, erkundigte er sich, seiner Angetrauten hingewandt. „Ist das etwa der junge, dunkelhaarige Mann, der, seit er in London zugegen ist, in unseren Kreisen von sich reden macht, des Nachts seine Runden zu ziehen am Ufer der Themse und jedes Mal einem anderen Mädchen dort einen Kuss zu stehlen?“

Elizabeth und ich starrten uns geschockt an. Lady Amalia lachte. „Nicht doch, Weatherby! Zwar ist auch von ihm zu hören, dass er manch unseltene Nacht nahe der Themse anzutreffen ist, doch der James, von dem wir sprechen – James Norrington – das ist der junge Mann, der zuweilen mit unserer Tochter tanzt.“

Lord Swann warf den Kopf herum, dass die schwarzbraunen Locken mir buchstäblich um ein Haar gegen das Gesicht schlugen. „Ah!“, machte er, und aus der Stimme sprach ein väterliches Lächeln. „Nun sehe ich ihn! Sonderbar! Ich nahm an, dieser junge Herr sei ein wenig bekannter Snob aus London. Für einen Befehlshaber und Soldaten ist er von einem ausgesprochen weichen Antlitz, und für den Erben des berüchtigten Admiral Norrington scheint er mir ein gutes Stück ungeschickt zu sein. Oder ist das heute so Brauch, dass die Männer der Navy nicht tanzen können?“

„Ich finde, er hält sich wacker“, gab Lady Amalia ihre Meinung kund. „Unsere kleine Liz kann schwierig werden, wenn es um das Tanzen geht. Sie ist sehr streng mit ihren Partnern und duldet keinerlei Fehltritte. Sieh nur, wie er sie um Entschuldigung bittet! Sie scheint ihn fest im Griff zu haben.“

„Eine Tochter?“, warf ich ein. „Mylady, das ist ja fantastisch, wenn ich so offen sein darf! Lady Elizabeth hat mich damals sofort in Kunde gesetzt, als die Nachricht von Euch kam. Auch sie war damals guter Hoffnung gewesen. Was ein überraschender Zufall, nicht wahr? Ich freue mich für Euch, Mylady, diese kurze Dame sieht schon so hübsch aus!“

Lord Swann räusperte sich laut.

„Sie kann noch viel hübscher sein, wenn sie nicht derart ärgerlich dreinschauen würde“, überlegte sie mit Blick auf die Tanzenden. In dem Moment brach James ab. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber ich sah, dass er auf eine Frage des Mädchens den Kopf schüttelte und sich danach am nächstgelegenen Rand niedersetzte. Mich überkam der Drang, nach ihm zu schauen, doch da war sein Vater längst unterwegs. Diesem schien es nur recht zu sein, dass er für den heutigen Abend offensichtlich genug von dem Herumgehüpfe hatte, schließlich hatte er es bisher versäumt, sich dem Lord und der Lady aus London vorzustellen. Ohne die kleine Elizabeth Sophia kamen sie an uns heran. „Lord Swann?“ Lawrence Norrington neigte das Haupt.

„Aaah, Admiral, da seid Ihr ja!“ Lord Swann gab sein Bestes, um die natürliche Freundlichkeit aufrechtzuerhalten, und dennoch war es nicht zu übersehen, dass ihm in der Gesellschaft der mächtigen Gestalt überaus unwohl war. Ich bemerkte gar einzelne Schweißperlen auf seiner Nase. Auch James machte keinen glücklichen Eindruck.

„Lieutenant James Norrington?“, fragte Lady Amalias Gemahl, beruhigt, sich legal in eine andere Richtung wenden zu dürfen. „Ich habe von Euch gehört. Ihr wart einer jener tapferen“ – dieses Wort stieß er mit solcher Kraft aus, dass seine Mähne erbebte – „Männer, die ihr Examen vor der Londoner Öffentlichkeit ablegten, ist es nicht so? Meinen Respekt, Junge, meinen Respekt!“

James nickte nur und schluckte.

„Als Sohn eines Admirals dieser Größe, Fähigkeiten und Bedeutsamkeit“ – ein schreckhafter Blick zu jenem, über den er redete – „für Englands Historie, aber auch für seine Zukunft wird es für Euch selbstverständlich nicht leicht sein, alle Erwartungen, die man an Euch stellen wird, sobald man nur Euren wertträchtigen Namen erfährt, zu erfüllen. Wisst Ihr, die Söhne solcher Väter haben und werden es immer schwer haben, aus dem gewaltigen Schatten zu treten und nicht etwa als belächelter Epigone zu enden. Aber ich glaube, Ihr werdet das schaffen. Hinter Eurer hohen und… bleichen Erscheinung eines… eines wahrhaftigen Gentleman – ja! – verbergen sich die Talente Eurer unvergessenen Vorfahren!“

Wieder wollte James nur nicken, aber stattdessen stieß er auf, schlug die Hand vor seinen Mund und erbrach sich im nächsten Augenblick mit alarmierender Heftigkeit über den breiten Topf einer exotischen Zuchtpflanze. Wir Umstehenden verfolgten die Szene wie eine besonders überraschende Kehrtwendung im Theater, während das Orchester im Hintergrund geradewegs auf den musikalischen Höhepunkt zustrebte, und würden uns nicht eher einmischen, da es zu Ende war. Wollte ich fantasievoll sein, erkannte ich in dem, womit mein armer Junge das Gewächs ausgiebig düngte, sowohl allerlei Arten von Desserts als auch die Übermengen an Alkohol, welche Will ihm angedreht hatte, wieder, vor allem jedoch erkannte ich wirklich, wirklich schreckliche Nervosität als den hierfür verantwortlichen Grund. Lord Norrington stand da wie eine abstrakte Skulptur des Teufels, Alexia versteckte ihre Augen mit einem Ausruf des Ekels hinter den Händen, Lady Amalia hatte die Luft angehalten. Nur Weatherby Swann machte eine fröhliche Miene, klatschte in die Hände und bekundete sein Entzücken darüber, wie offen der junge Leutnant zeige, was von all diesem gestellten Gehabe, von Galante Conduite zu halten sei. Die Mutter war es, welche einen seiner Arme ergriff und ihn aus dem Saal brachte. Wir beiden übrigen Frauen rannten ihr nach. Sie führte James, dessen Gedanken nicht zu erraten waren, in ein unbenutztes Nebenzimmer. Die Düfte des Mahls, die Musik der Instrumente und Stimmen, der Glanz wie die Pracht des Raumes und Lawrence Norrington reichten hier nicht her. Die Stille war seltsam.

„Lege dich hin“, befahl Elizabeth und drückte ihn auf ein Sofa nieder. „Ist dir noch schlecht?“

Er bestand sogar darauf, dass er wieder in Ordnung sei, doch die Besorgte ließ ihn nicht aufstehen. „Es war der Wein… und das Essen. Und meine Schuld, ich hätte mich in Bescheidenheit üben sollen.“

„Dein Vater verlangt zu viel von dir“, beschwerte sie sich. „Du musst unter einem immensen Erwartungsdruck gestanden haben. Gib es zu, James: Du warst aufgeregt.“

„Denken Sie, er wird mir das nachtragen?“ Er starrte sie flehentlich an, als hoffte er, sie würde verneinen; ein aussichtsloses Hoffen, denn längst war ihm bewusst, was sein resoluter Vater von seinem kleinen "Missgeschick" halten würde. Natürlich würde er es ihm nachtragen.

„Ich glaube, außer uns und den Swanns hat es gar niemand zu Bewusstsein genommen“, versuchte sie ihm die Bedenken zu nehmen. „Dein Vater übertreibt, mein Liebling. Seine Augen sind starr auf Horizonte gerichtet, die er selbst nicht mehr erreichen kann, und die dort aufgehende Sonne macht ihn blind für jene Menschen, die neben ihm stehen und sich nicht etwa nach Ruhm oder Macht sehnen, sondern schlichtweg nach seiner Aufmerksamkeit und Liebe.“

Liebe. Da war dieses Wort, welches im Zusammenhang mit Lawrence Norrington eine sehr eigentümliche Bedeutung erhielt.

„Ich wünsche mir seit Jahren, er würde dies endlich wahrnehmen, würde sich uns zuwenden und statt einem kleinen Haufen Soldaten endlich seine Familie erkennen, aber ich wünsche vergebens. James, höre mich an: Inwiefern du dir dessen bewusst bist, ist mir nicht bekannt, aber ich war von Anfang an gegen deinen Eintritt in die Royal Navy. Du darfst es mir nicht übel nehmen. Ich leide unter einem ihrer Offiziere, seit uns ein Priester vor beinahe drei Jahrzehnten zur Untrennbarkeit verdammt hat. Gewiss – er ist stark, er ist gescheit, er ist reich an Geld und Einfluss. Doch die wichtigste Fähigkeit eines Menschen scheint er verloren zu haben: Die Fähigkeit zu lieben. Ich wollte nicht, dass du wie er wirst. Es hätte mich zerrissen, wenn das Einzige, was mir von dem Lawrence, den ich liebte, weil er mich liebte, geblieben war, wenn du mich eines Tages angesehen hättest, ohne etwas für mich zu empfinden, ohne mich oder das, was ich früher für dich gewesen bin, wiederzuerkennen. Ich wollte dich nicht auch noch an den Krieg verlieren.“

Lady Amalia zupfte an meinem Ärmel. Sie musste sechsmal zupfen, bis ich ihr endlich meine Aufmerksamkeit schenkte. „Lassen Sie uns etwas Wasser für den Jungen besorgen gehen, Ms Abda“, schlug sie mir laut und mit einem merkwürdigen Ausdruck vor. Ich willigte ein, doch fiel es mir schwer, mich von dem Türrahmen zu lösen.

„Werden Sie mich also nicht gehen lassen?“, fragte James ernst.

„Wäre dies zu entscheiden mein gutes Recht, würde ich dich nicht gehen lassen“, bestätigte sie hinter dem Vorhang ihres gelösten schwarzen Haares. „Aber ich kann dich nicht einsperren, das steht mir auch als deine Mutter nicht zu. Am 30. Dezember werde ich am Hafen stehen, James, und dich mit einem aufrichtigen Lachen verabschieden, weil ich weiß, dass es das Beste für dich ist, und mir die Hoffnung bleibt, dass du mich immer lieben wirst, wohin dich dein Weg auch führt.“

„Sie lieben ihn nicht mehr, oder? Sie lieben Lawrence nicht.“

Elizabeth seufzte wie eine alte Witwe. „Ach, James… Bitte bestehe nicht darauf, dass ich mich der unwirklich schönen Zeit erinnere, da die Beziehung zwischen mir und deinem Vater in ihrer Blüte war. Ich habe ihn geliebt. Vielleicht wie einen künftigen Ehemann, vielleicht nur wie einen Helden, in dessen Nähe nichts unmöglich schien. Diese Zeit liegt lange in der Vergangenheit zurück. Wenn du mich fragst, wie es heute ist, so wage ich nicht, dir darauf eine Antwort zu geben, denn die Wahrheit kenne ich selbst nicht. Eines kann ich dir mit aller Sicherheit verraten: Ich bereue es nicht, ihn geheiratet zu haben. Ich werde es niemals bereuen…“

Mit vibrierenden Spinnenfingern strich sie über die Kontur von James’ Gesicht. „Hat dir eigentlich jemals jemand mitgeteilt, wie ähnlich du ihm siehst…?“

In diesem Augenblick zog mich Lady Amalia mit einer Kraft, welche man von ihr kaum erwartet hätte, hinaus auf den Flur. „Kommen Sie doch bitte“, sagte sie mit Nachdruck. „Ich glaube wirklich, dass James etwas Wasser vertragen kann.“

Mir war nicht wohl dabei, Mutter und Sohn ausgerechnet jetzt allein zu lassen, doch da ich noch nicht wusste, weshalb eigentlich, folgte ich Elizabeths Freundin gehorsam den Korridor entlang. Hier stand bereits der herrliche Duft von fettspritzenden Braten, saftigen Soßen und bunten Beilagen in der Luft. Sofort reagierte mein Magen mit einem Knurren, aber obwohl die Musik aus dem Saal hier so leise war wie das Fiepen von Mäusen, schien sie es nicht zu hören, denn sie eilte unentwegt weiter, als würde das Wasser aus der Küche vertrocknen können, wenn wir uns nicht sputeten. „Könnten wir wohl ein Glas frisches Wasser bekommen?“, fragte sie in die Runde der wenigen dort Angestellten, die nicht den Gästen des Herzogs das Festmahl auftischten, und während sich das Glas mit klarer, wippender Flüssigkeit füllte, fügten sich auf einmal alle über Jahre angeeigneten Puzzleteile zusammen. Der Anblick des sich ergebenden Bildes traf mich wie ein Donnerschlag, ich begann zu zittern und zweifelte nicht daran, dass irgendetwas an meiner Entdeckung falsch sein könnte. Die Galle blanken Entsetzens stieg in mir auf. Ich wandte mich an Lady Amalia, welche gerade das Glas entgegennahm, aber keinerlei Anstalten machte, es zu seinem Empfänger zu bringen.

„Wir müssen zurück“, drängte ich sie, und meine Stimme schien mir selbst fremd.

Sie sah mich nicht an. „Ms Abda, ich stelle nicht in Frage, dass Sie es gut meinen, mit James wie mit Elizabeth. Aber ich bin der Ansicht, dass wir den beiden etwas Zeit für sich einräumen sollten. Elizabeth leidet stark unter der Einsamkeit, selbst wenn sie es nicht anmerken lässt.“

„Ist Euch das denn nicht klar?“, herrschte ich sie an, ohne dass es geplant war, meine Wut, meine Angst gegen sie zu lenken. „Elizabeth steht im Begriff, einen Fehler zu…! Nein, was sage ich? Sie droht, den Fehler, den sie bereits gemacht hat, zu verschlimmern! Wir müssen etwas unternehmen!“

Jetzt drehte sie sich zu mir um. „Fehler? Tut mir Leid, wovon sprechen Sie?“

„Die Anzeichen, all die Hinweise!“ Ich war vollkommen außer mir. „Ich begreife! Ich begreife endlich! Oh, wie blind und taub war ich! Ich, die ich meinte, ihnen am nächsten zu sein!“

„Ms Abda!“, rief Lady Amalia, schob mich aus der Küche, weil sie ahnte, dass die großen Ohren des Herzogs Personals nicht die geeignete Kulisse waren für das, was mir jeden Moment über die Lippen entschlüpfen würde. „Bitte, so werden Sie doch deutlich! Was haben Sie?“

„Elizabeth!“, keuchte ich. „James! Wir müssen zu James!“

Sie versuchte mich aufzuhalten, doch nun entfaltete sich die Kraft einer dicken, schwarzen Amme, die drei Kinder aufgezogen, Stapel schwerer Bücher transportiert und viel Liebe in sich hatte, sodass höchstens ein Orkan, eine Flutwelle, ein französisches Heer oder Lawrence Norrington sie hätten verhindern können. Ich fand das Nebenzimmer allein dank meiner Intuition, ohne mich hier im Geringsten auszukennen, pfefferte die Tür aus der Zarge und erwischte eine Mutter, die zwischen den Beinen ihres Sohnes saß, mit den Armen um seinen Hals und der Zunge in seinem Mund. Sie zog sich zurück – ganz langsam – und sah mich mit solchem Elend an, wie mich nie zuvor jemand angesehen hatte, nicht einmal eine der Sklavinnen in dem Stall, aus dem sie mich seinerzeit befreite.



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