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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Das verlorene Rad

Unmittelbar nach unserer vertraulichen Konversation hatte sich die weiße Sense in Bewegung gesetzt. Sie kehrte um und hatte damit entschieden, mir noch nicht die Seele aus dem Leib zu schneiden. Schon am nächsten Morgen blitzte das Monokel des Doktors fassungslos auf, da ich ihn in aufrecht sitzender Position begrüßte. Wie mochte James auf die Besserung meines Zustandes reagieren? Als ich – zu meinem großen Glück! – wieder erwachte, war er längst fort gewesen. Weder seine Kleidung hatte er vergessen noch die Stelle zu glätten, auf der er gelegen hatte, dass ich selbst überlegte, ob ich mir unsere nächtliche Begegnung nicht nur einbildete. Ich erhielt die Antwort, während wir uns am folgenden Tag zufällig über den Weg liefen und sein ausdrucksloser Blick mich einmal traf und nicht mehr losließ, bis ich schnell, wie es mir mein sehr angeschlagener Zustand gestattete, um die nächste Ecke bog.

Lady Elizabeth stattete mir neben meinen Freunden des Gesindes einen Besuch und bat mir gleich ab, keine Blumen mitgebracht zu haben. Ich winkte wegwerfend und begann mit ihr eine Unterhaltung, die herrlich erfrischend verlief. Wo sollte sie auch zu dieser Jahreszeit, in diesem harten Winter Blumen kaufen oder finden können? Ich fühlte mich mit jedem Morgen wohler, doch das ursprüngliche Problem bestand weiterhin: Der Schnee schmolz an den gnädigsten Tagen auf Unterschenkelhöhe, die Vorräte senkten sich zur Neige und noch immer war niemand von der Außenwelt zu dem Anwesen vorgedrungen. Unsere Kutschen bewegten sich nicht vorwärts, auch waren die Zugpferde zu schwach. An Sonntagen gab es immer dieselbe Art von Fleisch. Doch nicht nur im Stall wurde es stiller, auch James‘ Zimmer lagen von einem auf den anderen Tag wieder in ihrer leblosen Ruhe. Er drehte mir trotzig den Rücken zu, als ich ihn fragte, ob er mich in den Garten begleiten wollte, und ich wusste nicht, ob er sauer auf mich war, weil ich seine Beichte wider Erwarten nicht mit ins Grab genommen hatte, ob es schlichtweg auf seine Abneigung des Gesanges zurückzuführen war oder er den Kanarienvogel letztendlich doch ein wenig liebgewonnen hatte. Ich musste mit der kleinen Schaufel in den Boden hacken, um durch die gefrorene Erde zu gelangen, und bettete das zarte Tier deswegen nicht so tief, wie ich es geplant hatte. Nach vollendeter Arbeit murmelte ich ein paar Abschiedsworte, dann richtete ich mich stöhnend auf und starrte in den weißen Himmel, der uns aber auch nichts ersparte. Der Februar sah seinem Ende entgegen, und noch immer drosch des Winters Gerte auf dieses geplagte Land ein. Ich sah durch den kalten Nebel die nächsten zwei Gewächsreihen, die dritte hob sich kaum vom Hintergrund ab, die vierte ließ sich gar nur erahnen. Alles Weitere war verschluckt worden.

Doch was war das? Ich kniff die Augen zusammen, was mich nicht besser sehen ließ. Ohne meinen Blick abzuwenden, erhob ich mich, bewegte mich auf den Vorhof zu, wo die Bäume mir nicht das letzte Stück Sicht versperrten. Ich näherte mich dem hohen Tor, dann sah ich es deutlich. Tatsächlich! Durch den Schnee hüpfte ich zurück in das Haus und war schon an dessen Schwelle außer Atem. „Mary!“, schrie ich mit dem letzten. „Mary, Mädchen, gib der Herrin Bescheid! Draußen!“ Marys Schuhe trommelten auf dem Teppich. Ich wartete nicht, sondern stapfte an das Gitter und löste die widerspenstige Verriegelung. Ich konnte nicht zulassen, dass ich Zeit verlor; meine Entdeckung schien mir derart unglaubwürdig, dass ich Angst hatte, sie würde sich als Trugbild herausstellen, wenn ich mich nicht beeilte. Das unberührte Schneemeer vor dem Ansitz der Norringtons ließ mich kaum vorangelangen, mein Blick war starr auf das Ziel gerichtet, doch meine Gedanken gehörten allein der großen Erwartungen: Nahrung! Menschen! Kontakt! Uns war im wahrsten Sinne ein Licht erschienen in der dunklen Stunde, selbst wenn es schwach war, ein falber Kreis hinter dem Grau des Dunstes, welcher aus dieser Entfernung keinen Daumennagel groß wirkte, aber sich hoffnungserweckend ausdehnte und an Strahlkraft gewann, je näher ich kam, bis ich die Silhouetten eines schiefen Objektes und von Personen ausmachen konnte. Meine Nase brannte und mein Rachen war trocken. Ich fühlte mich wunderbar. Die Gestalt mit der hoch erhobenen Laterne trat auf mich zu wie auf ein angriffslustiges Tier, das er irgendwie verscheuchen musste. Diese Leute hatten wahrscheinlich ebenso wenig mit einer Begegnung gerechnet wie wir.

„Madam…?“

Weil ich in diesem Augenblick der Offenbarung nichts Gescheites hervorbringen konnte, erwiderte ich nur: „Sir?“ Dem Nebel war die schwarz gekleidete Figur eines Mannes entkommen, dessen immense Höhe dank eines Kastorhutes noch unterstrichen wurde. Dem zerbrechlichen Erscheinungsbild zum Trotz hielt er dem schneidenden Wind besser stand als ich. Der Anblick von uns beiden so dicht beieinander musste mindestens befremdlich wirken. Als würde sie den enormen Unterschied kompensieren wollen, gesellte sich nun eine plumpe, aber offenherzig ausschauende Dame dazu und ein Kind, das sie sich an der Hand auf Schritt und Tritt folgen machte. Es blieb bei diesen dreien, und ich wusste nicht recht, ob mir das genügen konnte. Sie brachten keinen Proviant und waren nicht minder hilflos; noch ehe sie sich erklärten, schwante mir, dass sie bei meinem Anblick dieselbe Zuversicht empfanden und in naher Zukunft genauso enttäuscht werden würden.

„Gottlob, Madam! Als das Rad unserer Kutsche brach, stellten wir uns auf das Schlimmste ein. Wir riefen lange, aber niemand hörte uns. Dann schweigen wir, gezwungen von unseren heiseren Kehlen, und – da werden wir errettet! Der Himmel muss Euch schicken!“

Seinen Himmel in allen Ehren, der in größter Not dicke, schwarze Engel schickte. Nun, vielleicht brauchte es derer auch, damit man Gottes Boten in des bitteren Winters Schneegewalt überhaupt ausmachen konnte, in welcher blondgelockte Bohnenstangen erbarmungslos untergehen würden. Als ihr Erretter führte ich die kleine Gruppe selbstverständlich sofort zum Hof – ein beschwerlicher Weg, auf dem uns die Hausherrin mit zwei Dienern entgegenkam und ich die ersten Informationen erhielt: Steven Smith hieß der optimistische Kutscher, der die Hardys nach Süden hatte fahren wollen, als die alte Droschke nicht etwa stecken geblieben, sondern schlichtweg zusammengebrochen war. Mister Smith erzählte abenteuerlich, wie das Hinterrad mit einem Explosionsknall über das Feld geflogen war. Dass er fast erfroren wäre, fiel ihm erst ein, da er und seine Kunden in Decken am Kaminfeuer saßen. Lady Elizabeth ordnete heißen Tee für die Gäste an und setzte sich dazu, um Misses Hardy zum Reden zu ermuntern. Natürlich war auch der wachsame Norrington-Spross erschienen, die Fremden zu analysieren, und mit steigendem Vergnügen sah ich seinen auf dem anderen Buben haftenden Blick. Dieser fühlte sich von seiner jungen Intuition getrieben, nach dem Grund der störenden Beklemmung aufzusehen, und da er James erhaschte, sprang er aus dem Sessel und tappte in aller Seelenruhe auf die Tür zu. Kurz schien es, als würde James einen Abgang in Betracht ziehen, doch er blieb stehen, noch als der ihm in der Größe um nichts Nachstehende vor ihm innegehalten hatte. Weiter passierte nichts. Wir hörten die Frauen amüsiert plappern. Die Enttäuschung war auf unserer Seite vergessen. Was die andere betraf, so hatte Elizabeth versprochen, das verlorene Rad durch ein Neues zu ersetzen, sofern sich die Gäste ausgeruht hatten. Sie freute sich über jeden Menschen, dem ihre Anschauungen der Welt noch nicht bekannt waren und der ihr wiederum die seinen offerieren mochte. Ihr Gespräch gestaltete sich dermaßen innig, dass Misses Hardy gar keine Kunde nahm von ihrem Sohn, welchen sie vorher wie einen teuren Fächer gar nicht aus der Hand geben wollte. Es konnte durchaus sein, dass sie seinen Alleingang, kaum dass sie seinen Freiraum beschränkt wusste, gewohnt war. Er schien im Gegensatz zu unserem Jungen recht aufgeschlossen zu sein. Seine Hand schnellte in die Mitte zwischen den beiden. „Ich bin Will.“

James starrte ihn an. Rasch wandte ich mich einer irrelevanten Tätigkeit zu und drehte wie zufällig meinen Kopf wieder zu den Kindern. „Seien Sie höflich und stellen Sie sich dem jungen Mann vor, James.“

Die beiden registrierten mich, aber nicht lange war ihre Aufmerksamkeit voneinander abgelenkt. Das Adjektiv höflich musste etwas in ihm geweckt haben, denn er nahm die Vorstellung auf einmal sehr ernst. Vor allem sein Vater bestand auf diese Ausführlichkeit, die gegenüber dessen Gästen angemessen sein mochte, angewandt auf einen Gleichaltrigen jedoch sehr komisch und zugleich sehr traurig war. „Mein Name ist James Alexis Lawrence William Norrington, Sohn des Admirals und Naval Lords Lawrence Richard Norrington. Ich bin erfreut, Ihre Bekanntenschaft machen zu dürfen.“ Und deutete nur mit dem Kopf eine kaum sichtbare Verneigung an. Bloß nicht zu tief das Norrington’sche Haupt! Auch darauf bestand der Lord. Wie zu erwarten war, ließ die Miene des Hardy-Jungen keinen Zweifel, welchen Eindruck James auf ihn hinterlassen hatte.

„Das… ist ja ein sehr langer… und sehr schwerer Name. Ich glaub’, den kann ich mir jetzt gar nicht so… so merken…“

Eine scharfe Erwiderung blitzte in den hellgrünen Augen, doch ausgesprochen wurde sie nicht: Du wirst ihn sowieso nicht brauchen, denn so lange wirst du dich hier nicht aufhalten. Der Mütter schon freundschaftliche Redseligkeit im Hintergrund schien im Vergleich dazu grotesk. Ich musste an den Kanarienvogel denken.

„Kann ich einfach James zu dir sagen?“
 

William Hardy zählte ungefähr ein Jahr weniger als James. Wie der mit einem Taufnamen, so war auch er nach dem gegenwärtigen Herrscher Englands benannt worden, welcher in seinem Geburtsjahr die Krone empfangen hatte. Durchaus kein seltener Name, denn viele Eltern versuchten auf diese Weise, ihrem Erben die wünschenswerten Attribute des Monarchen, der die Meinungsfreiheit zugelassen hatte, der Wirtschaft und Kultur dieses Landes aufleben ließ und dem religiösen Streit Einhalt gebot, zu verleihen. Sein Vater unterhielt eine mittelmäßige Reederei und hatte demnach ähnlich viel mit Schiffen zu tun wie unser Herr, jedoch war William nicht dazu erkoren, das väterliche Geschäft fortzuführen, sondern sollte und – was das Erwähnen wert ist – wollte einmal die englische Armee zu Lande verstärken. Jegliche Voraussetzungen, die ich Ungebildete mir vorstellen konnte, schien er bereits mit seinen fünf Jahren zu erfüllen oder waren zumindest im Ansatz vorhanden. Wovor uns die Mauern des imponierenden Herrenhauses weitestgehend geschützt hatten, brachte Will Hardy nun hinein, und was uns diese Epoche der Kälte geraubt hatte, gab er uns zurück. Er war ein kleiner Sturm, der uns erwärmte, der zwar kein Besteck angemessen zu verwenden wusste, jedoch aufrichtig und von dem Gemüt der Sonne war und, wiewohl er auffällige Probleme damit hatte, sich auch verständlich mitzuteilen, vor keiner Gefahr zurückschreckte. Ich kam nicht darum herum, den aufgeweckten Jungen bei allem, was er tat, mit James zu vergleichen. Neben ihm wirkte er wie ein flacher Umriss, nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ihn Wills Verhalten bedrängte oder ob mir der enorme Unterschied in der scharfen Gegenüberstellung zweier Extreme zum ersten Mal auffiel, dass mir zum ersten Mal klar wurde, was Jungen waren, was James nicht war. Vermutlich spielte beides eine Rolle, denn es war nicht von der Hand zu weisen, dass Will unbewusst die Ambition des in einen fernen Himmel aufgestiegenen Kanarienvogels übernahm, Menschen zu interessieren, zu unterhalten, zu fesseln, zu verzaubern, was ihm spielerisch gelang. Hingegen hatte James nun die Rechnung für seine unheimliche Diskretion zu tragen. Niemand mehr war über den Jungen entzückt, der in den alten neuen Schuhen über die dicken Teppiche stolperte. Niemand versuchte die Aufmerksamkeit von Norringtons Sohn mit selbst montierten Geräten und lustigen Geschichten zu kaufen, was ja doch nie glückte. Während der Abwesenheit des Admirals, während der Präsenz eines echten Kindes schien man den von den Dienern stets ferngehaltenen, kühl-höflichen, aber nicht freundlichen Jungen als einen Ersatz des Lords zu sehen und behandelte ihn auch so. Eben dies beschwor einen Teufelskreis. James’ Augen verschmälerten sich und tauchten aus den schweren Wälzern auf, wann immer Will Zentrum wurde, Applaus und helles Lob ertönte. Nach einer Periode der Trockenheit ergötzten die Menschen des Hauses sich an der Brise William Hardy, und anders als ein Vogel ließ die sich nicht in einen Käfig, in ein kaum betretendes Zimmer sperren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-05T15:15:48+00:00 05.03.2011 16:15
Gut, unerwarteterweise lebt Abda noch. Das kam überraschend, doch ist durchaus positiv. Ich mag es, wenn der Leser etwas erwartet, dies aber nicht erfüllt wird, dadurch bleibt die Spannung erhalten. Und schon jetzt frage ich mich, wer diese Geschichte weiter erzählen wird, wenn Abda einmal nicht mehr ist. Ob sie aus dem Jenseits über James wacht? Ich stelle mir das zumindest so vor. Ich darf nur gespannt sein ;)
Und der kleine Will. Uiuiuiui. Im Ersten Moment dachte ich, als das Wort Kind auftauchte, das es sich um ein kleines Mädchen handelte, und wieder habe ich die Entscheidung deinerseits verfehlt. Ein Mädchen wäre vielleicht auch interessant gewesen, aber Will ist dies ebenso. Er ist ein Kind. Und James eifersüchtig. Was wird wohl geschehen?


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