Zum Inhalt der Seite

James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

I. Mutterstolz

Wiewohl James niemals auffälliger gewesen war als ein Fisch im Teich, setzte das Anwesen bald nach seiner ersten Abreise den Staub der Tristesse an. Das Heer von Lehrern marschierte nicht mehr ein und aus, Benedict erfüllte die schallfreundlichen Räume nicht mehr mit seinem heiteren Gelächter, die Dienstmädchen quiekten nicht mehr ob des Jungen Stolperns über die teuren Teppiche oder die eigenen Füße in den modischsten Schuhen und ich erschien mir plötzlich vollkommen platzfehl, nachdem ich mich nun wieder – in der Abwesenheit meiner fünfjährigen Lebensverpflichtung und der Isolation meiner für gewohnt jede Abwechslung durch mich begrüßenden Herrin – eingängigen Tätigkeiten zu verschreiben hatte, die mir entgegen meiner ersten Dienstjahre vor meinem Aufstieg zur lady’s maid und Amme unwahrscheinlich leicht und langweilig fielen. Erstmals stand das Schachbrett wieder still, aus der Küche schlich wieder der einnehmende Duft von bratendem Fisch, die Kinderzimmer konnten, ihrer unangetasteten Versuche entrümpelt, dem Besitzer eine Regung zu entlocken, wieder aufatmen, und das Klavier übte sich wieder in ergreifenden Euphonien, wenn Lady Elizabeth geistesabwesend auf den Tasten nach der letzten Wärme ihres Sohnes suchte. Es waren klagende Klänge, die Löwin lamentierte und nichts konnte sie ermuntern. Der Verlust ihres Jungen hatte sie zweifellos hart, sehr hart getroffen. Redete man mit ihr, war es ihr zwar nicht anzumerken, und doch spürte man es deutlich an der jähen Anspruchslosigkeit jener Frau, die sich doch mit gesunder Vorliebe bedienen ließ. Zum Nachmittagstee, den James seit je gemieden hatte wie schon sein Vater, ließ sie sich plötzlich Unmengen an Englischer Creme zubereiten, die wiederum sie eigentlich nicht ausstehen konnte. Wie sie wortlos und bar jeder Reaktion neben mir saß und die Custardmassen schlemmte, kümmerte ich mich lediglich um ihre schlanke Figur, sodass ich mir nicht eingestehen musste, was mir im Unterbewusstsein klar war: Dass es ihr Geist war, der litt.
 

Ich öffnete das Buch.

„Also gut – eine noch.“ Und fuhr durch die einzelnen Strähnen, verweilte auf dem spröden, aber nicht ungepflegten Haar, wie um dem wirren Kopf darunter meinen Schutz zu versprechen. Nun, zugegeben, nicht alle meine mütterlich anmutenden Dienste waren mit James‘ Fortgang erlahmt, weil auch – vielleicht – ich auf sie so wenig verzichten konnte wie auf die tägliche Nahrungszufuhr. Womöglich liebte ich nichts mehr als das Behüten und Ziehen eines Kindes; jenes Gefühl, das mein Herz in sanftem Fieber anschwellen ließ, bis das Wohlgefühl, welches es friedlich seufzend ausatmete, die gesamte Brust warm erfüllte gleich eines irgendwie wollenden Nebels, eines dunstgeblähten Kissens. Das Geld, die Unterkunft, das Wissen, etwas Sinnvolles zu tun – all dies sind Bedürfnisse des Körpers. Dabei zu sein aber, wenn das Leben sein wohl größtes Wunder vollbringt, Zeuge zu sein, wie aus einem Menschen zwei werden, einfach da zu sein, wenn ein hilfloses, unschuldiges Wesen nach Nähe und Wärme sucht, das ist Erquickung, Entschädigung, das ist ein Rausch für die Seele. Als James geboren war, gab er mir in seiner unbeschadeten Naivität die Antwort auf jene Frage, nach der ich bis zu diesem Zeitpunkt vergebens und von Sehnsucht gepeinigt gegraben hatte im stinkenden, unfruchtbaren Boden meines Daseins, er stand plötzlich neben mir, in seiner ganzen lichten Erscheinung, zog mich aus dem Dreck und lächelte mich an, und mit einem Mal befreiten sie mich aus dem Sklavenstand. Indem James Lawrence nichts anderes tat als zu weinen, zu trinken, zu atmen, die Unterlippe vorzuschieben, zu erkennen, zu lernen, zu wachsen – zu leben. Auch der Abschied war ein Teil davon, von dem Leben, doch oder deshalb brannte es jetzt in mir, jenes Feuer, das leidenschaftlich war und aktiv, anders als der saure Humus in meiner Vergangenheit, das aber verzweifelt schluchzend nach dem, was es begehrte, seine flammenden Arme in die Ferne streckte, ohne es erreichen zu können, solange uns Meere trennten. Insofern verstand ich meine Herrin nicht nur. Ich fühlte wie sie, weil ich mir inzwischen anmaßte zu glauben, James als wenigstens eine Art von Sohn bezeichnen zu können, als eine Art von meinem Sohn, als einen Teil von mir vielleicht, der diese Lücke füllte, welche ich eigentlich der Liebe meiner Mutter zu mir reserviert hatte. Sie hatte sie mir nicht geben können – nicht, weil sie mich abgestoßen oder keine Liebe gekannt hätte, sondern weil die benötigte Intimität und Zeit nie zwischen uns reifen konnte, die zarte Blume, die kein Wasser fand und die ich verloren glaubte, als aus dem von spitzen, scharfen, groben Felsformationen bestimmten Weg plötzlich ein dünner, ebener Pfad spross. "Nimm die Blume und pflanze sie dort, wo der Pfad endet" sagte meine Mutter und drückte den schwarzen Stängel in meine Hand. Ich war noch so jung, dass ich jede Äußerung eines Erwachsenen für unantastbar und richtig hielt, also nahm ich die verwelkte Blume und folgte dem schmalen Pfad und ließ meine Mutter mit einem Gefühl, das ich damals so wenig benennen zu vermochte wie noch heute den Grund ihres Entschlusses zu unserer Trennung, den steinigen Arm des Weges klettern. Nun war ich allein, hungrig und kalt, geprägt von der Mühsal der vergangenen Strecke, aber bald darauf sollte ich in einem Wald landen, in allen Tönen des saftigen Grüns leuchtend und mich wassersprudelnd und vogelsingend Willkommen heißend. Lange verweilte ich an jenem faszinierenden Ort, vergaß meine Schmerzen, die Anstrengungen meiner Mutter – ja, ich vergaß endlich sogar sie. Ich verließ den Pfad, der durch den Wald hinführte, setzte mich nahe des Wegesrandes an einen starken Stamm und schloss die Augen, stellte mir vor, wie es wäre, für immer hier zu bleiben, wo die Natur mir alles in den Schoß legte, was ich brauchen würde, wo ich endlos Kind sein durfte, ohne mich um die Welt sorgen zu müssen, indem ich lediglich ein Teil dieses Umfelds zu werden hatte – schön und zierlich wie die Blumen sein, zugleich prächtig und saftig wie die Beeren, scheu und neugierig mich geben wie die Tiere, doch stets erhaben und unerschütterlich wie die Bäume bleiben, den Menschen erwartend, dem Menschen zur Schau gestellt, dem Menschen dienend… Da sah ich den dürren, schwarzen Stängel wie den Apfel des Verbotenen Baumes und erkannte just die Wahrheit, vor der ich die Augen verschlossen hatte an jenem Tage, da ich mich unschuldig am Wegesrand zur Ruhe gebettet hatte. Das bin doch nicht ich. Erschrocken riss ich mich von dem Rasen, unter dem meine Wurzeln bereits ausgeschlagen hatten, riss mir das glänzende Blütenkleid vom Leib, die sündig roten Beeren von meinem Hals, nahm nur das, mit dem ich gekommen war, und eilte auf dem Pfad aus dem Wald hinaus. Als die Erschöpfung meinen hektischen Lauf stoppte, sah ich mich auf einem öden Feld stehen, und letztlich mag es sein, dass ich dort gar nicht nach einer Antwort gesucht hatte, als James mich fand, sondern ein Loch grub für die sterbende Pflanze, die Liebe meiner Mutter zu mir.

Ich klappte die Seiten zu. Benedict klatschte heftig, als ich sein Lieblingsbuch auf das Schränkchen legte, er klatschte solange, bis ich ihm einen Gutenachtkuss gegeben hatte, wie jeden Abend. Fünf Jahre lang hatte ich das nicht mehr getan, weil Lady Elizabeth restriktiv darauf bestanden hatte, mich permanent an der Seite ihres Sohnes oder wenigstens an Arbeiten und Vorbereitungen für den folgenden Tag desselben zu sehen, und obwohl das Zubettbringen von James kaum schwerer und länger verlief als das Schließen eines Fensters, war es mir doch niemals wieder gegeben, Benedict diese Freude zu erweisen, welche ihm zuvor selbstverständlich geworden war. In den ersten Tagen hatte er – ich kann es ihm nicht nachtragen – getobt, hatte seine Arbeit verweigert wie auch sein Wort zu mir, gleich wie oft ich es ihm auch zu erklären versuchte, und eventuell würde es sich als Fehler ergeben, jetzt wieder damit anzufangen, wiewohl mir bewusst war, dass James irgendwann in dieses Haus und in meine Obhut zurückkehren würde. Ich verdrängte die Voraussicht auf Benedicts logische Reaktion darauf ebenso wie die in mir wachsende Ahnung, dass mir die Pflege meines Ammings nicht nur relativ sehr viel einfacher fiel, freilich eindeutig lieber war als die des befreundeten Gärtners, und ich fühlte mich furchtbar deswegen. Dies Empfinden vor ihm zu verbergen war vergeudete Anstrengung, denn wenn es etwas gab, das Benedict noch besser gelang als die überwältigende Arbeit im Garten und auf dem Hof des Landguts, dann war es das Hellsehen eines Menschen Emotionen. Nur um die Anlässe einschätzen zu können, war er zu naiv, was mich rettete, auch wenn seine unaufhörliche Fragerei nichtsdestotrotz lästig war.

„Ich habe nur an früher denken müssen“, wich ich ihm müde aus, da er gerade wieder auf meinen Zustand hingewiesen hatte. Im Grunde entsprach es der Wahrheit. Benedict hakte natürlich nach und ich erzählte ihm resigniert und schmucklos und zum dutzenden Male von dem morschen Sklavenschiff, der dampfenden Enge, dem Gestank von Krankheit. Meinen eigenen Worten, wenig euphemistisch und nicht darum bemüht, es zu sein, entwuchsen Klauen. Gleich ungehindert an Wänden entlang schleichenden Schatten dehnten sich ihre Krallen aus und drohten, mich von überall her zu umfesseln, so klar noch war mir die ferne Vergangenheit, also brach ich ab und setzte an lichteren, kühlen Tagen fort: Wie wir auf unsere Tauglichkeit geprüft und gleich einem edlen Geschirr unter den Adelsfamilien herumgereicht wurden. Wie sie befanden, mich von meiner Mutter trennen zu müssen, und wie ich… Wieder wurde es schwarz. Doch die Blume im Wald, scheu wie ein Tier, unerschütterlich wie ein Baum, sollte sprießen. Mit tiefem Groll sah ich zurück, aber ich versuchte mir zu verdeutlichen, dass es nicht umsonst gewesen war. Es war nicht umsonst gewesen. Die Sonne war wieder aufgegangen und ich blickte einem faszinierenden Tag entgegen.

„Schlaf jetzt“, gebot ich meinem alten Schützling und klopfte auf die wollende Decke über ihm. Ich wollte mich entfernen, stand gerade an der Tür zum Garten, da flüsterte er meinen Namen. Bereitwillig drehte ich mich noch einmal um, seinem Anliegen zu lauschen, sah seine Augen in der mondlosen Finsternis glitzern und wurde auf einmal von der Ahnung übermannt, dass heute Nacht eine Beichte erklingen sollte, deren Echo noch in der Zukunft hallen und nach Antwort schreien würde, was ganz und gar ungewöhnlich für ein Gespräch mit Benedict war, und tatsächlich sollte mir das, was er auf dem Herzen hatte, das ganz anderer Art war als eine Geschichte oder ein Gutenachtkuss, für einen Lidschlag sämtliche Sinne rauben. Es hätte mich nicht derart heftig getroffen, würde er mir schlichtweg seine Liebe gestanden haben. Das nämlich überraschte mich nicht. Aber eine Frage, Bitte, Forderung wie diese ließ mich gar schwindeln. „Bleib!“, stieß ich aus, da er sich eilig aus der Decke schälte, und fand selbst zurück zu sicherem Stand, indem ich mich an die alte, raue Wand lehnte, welche mich blitzartig an den Ort meiner Überführung in die sogenannte Zivilisation erinnerte. Ich löste mich hellwach und inspizierte den Splitter in meiner Hand. „Wie kannst du mir so eine Frage stellen, Benedict?“ Mein Tonfall war nicht ohne Wut. „Ich habe es dir doch schon erklärt, nicht wahr?“

Er schien sich keiner Schuld bewusst. „Aber… du wünschst es dir doch! Ich weiß es… Du liebst ihn ja so!“

„Benedict…“ Es gelang mir kaum, meinen Ärger zu mäßigen. Möglicherweise hatte ich mich in diesem Moment ernsthaft und zum ersten Mal gefragt, ob Benedict tatsächlich dermaßen naiv war wie er vorgab, es zu sein. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Natürlich liebe ich den Jungen, ist es verkehrt? Er ist wie ein Sohn für mich, Benedict, verstehst du?“

Offenbar missverstand er es: Seine glitzernden Augen verschwammen und ein ersticktes Grunzen war aus seiner Richtung zu vernehmen. „Also nicht?“ Ich war erschrocken, welche Wendung die junge Nacht genommen hatte. Eben noch hatte ich ihn friedlich geküsst, während wir beide ein Lächeln trugen, nun stand er den Tränen nahe – und ich ebenfalls, wie ich verwirrt feststellen musste. „Liest du mir noch eine Geschichte vor?“ Es klang, als würde er befürchten, mich für immer zu verlieren, wenn ich jetzt hinausginge, und wäre ich ein wenig anders gewesen, dann hätte er mich vielleicht wirklich verloren. Mit einer Frage nach dem zwanzigsten März vor fünf Jahren hatte er angefangen. Ja, gab ich unverschämt zu, das Wunder der Geburt war ein unvergleichliches Ereignis. Ja, antwortete ich auf seine nächste Frage, es ist unbeschreiblich, ein Kind im Arm zu halten. Ja, ich liebe Kinder. Ja, ich will glücklich sein, ja, Familie zu haben ist schön, aber nein, Benedict, nicht mit dir. Ich weiß nicht, ob du das kannst, ob ich das kann, ob ich dich überhaupt liebe. Gewiss, du liebst mich, du liebst mich wie ein Sohn seine Mutter, und ich bin stolz darauf, aber das ist alles.

Ich… möchte ein Kind mit dir. Yewande. Bitte. „Liest du mir noch was vor?“

Nein, Benedict. Aus Mitleid kann keine Liebe entstehen, wie du es auch drehst und wendest. Ich stürzte aus der Tür und vermied auf meinem Gang zum Haus, auch nur einen einzigen Blick auf den schönen Garten zu werfen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Daikotsu
2011-03-02T16:15:03+00:00 02.03.2011 17:15
Ein süßes Kapitel, auch wenn es für den armen Benedikt nicht grad rosig aussieht.
Es geht hier weniger um den Jungen an sich, sondern der Erzählerin, aus welcher Sichtweise die Geschichte bis jetzt beschrieben wurde. Es ist gut gelungen, etwas die Sicht, ihre Geschichte und ihre Interpretationen zu beschreiben und offen zu legen. Großes Lob ;)


Zurück