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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Stille, tiefe Wasser

Bald genügte das Herrenhaus nicht mehr, um es mit der Unterstützung des Kompasses auszukundschaften, und Lady Elizabeths Mund stand ungewöhnlich offen ob des ungewöhnlichen Gehabens ihres Jungen, der das Problem der räumlichen Begrenzung zu lösen suchte. Sie lag an jenem herrlichen Mittfrühlingsmorgen auf dem Kanapee unter den blütenprächtigen Magnolien und las, während ich neben ihr saß und frische Erdbeeren zubereitete, von denen nicht selten flugs eine ungeschnitten hinter ihren Lippen verschwand. Die Gärtner verrichteten ihre Arbeit so meisterlich, dass man sie selbst schon der zum Stehen und Staunen verlockenden Grünanlage zugehörig sah; die Komposition des Raschelns, Zwitscherns, Pfeifens und Plätscherns fächerte den Duft des vollen Lebens über die Bühne und komplettierte schließlich das immer wieder gelingende Schauspiel des Mais. Wir glaubten James an der Seite seines Historienlehrers den Hundertjährigen Krieg bestreiten – endlich schien etwas gefunden zu sein, das nicht nur seine Aufmerksamkeit, sondern gleichwohl sein ehrliches Interesse empfing. Er ging in und kam aus dem Unterricht mit derselben nichtssagenden Maske, welche er nur zum Schlafen absetzte, indem er immerhin die Augen schloss, aber die Tatsache, dass ich um den Inhalt seiner aktuellen Geschichtslektion informiert war, was nur deshalb möglich war, weil er mich doch wahrlich bruchstückchenhaft an seiner lehrstofflichen Eroberung Calais‘ unter König Edward III. teilhaben ließ, bewies ohne Zweifel, dass er interessiert war an der englischen Vergangenheit.

Erst einmal freuten wir uns darüber, ohne abzuwägen, ob diese Neigung nun eigentlich positiv oder ob sie es vielleicht eher nicht war. Man hätte sich unter anderen Umständen wahrscheinlich sorgen müssen, dass einen fünfjährigen Knaben gewaltige Schlachten und herrschaftliche Intrigen begeisterten, aber uns war nicht das Was, sondern das Überhaupt von Bedeutung nach einer sehr langen Zeit des – ja, so durfte man es bereits nennen – Haderns.

Umso seltsamer schien es, dass James eben nicht mehr mit dem renommierten Historiker zusammensaß. Wir sahen ihn ohne jedwede Begleitung, im luftdurchlässigen Hemd von einem Strauch hinter dem nächsten verschwinden und hielten ihn zunächst für einen Geist. Mit derselben Armut an Wort und Bewegung nämlich, welche einer Geistererscheinung würdig war, ließen sich unsere Augen auf seinen scheinbar unbestimmten Weg ein, doch das Rätselhafte, Mystische, Gespenstische an dem Vorgang war nicht etwa sein lautloses Kommen und Gehen in der prallen Flora und Architektur des Gartens, sondern schlicht die Feststellung, dass er doch tatsächlich von sich aus hinausgegangen war. Ich brauchte die Frau des Admirals nicht anzusehen, um zu ahnen, dass wir beide überrascht wurden von einer Erfahrung, die – näher betrachtet – der Aufregung gar nicht einmal wert war. Ein starres Gesicht und verhaltene Gesten machten keinen Apathiker aus einem Jungen, der er nun eben war, der lediglich hinter einem Gebirge aus Büchern und Plänen versank und sehr alt sein würde, ehe er es erklommen hätte, wenn er sich nicht endlich traute, den geebneten, sicheren, aber einheitlichen Pfad seiner Eltern zu verlassen und einfach durch den Stein zu brechen. Es würde wehtun, aber ihn für ein Schicksal wappnen, das ich persönlich keinem Kind wünschte, das viele nichtsdestotrotz erwartete.

Jetzt schien James nach seinem eigenen Weg zu suchen, und wenn ich die blitzenden Sonnenreflexionen in seinen vor sich gestreckten Händen richtig deutete, dann schien der Kompass seines Großvaters der Grund dafür zu sein. Womöglich hatte die nie endende Unruhe des auf nicht mehr als einer Spitze tanzenden Magnets eine erste Brise in die verschlafende Neugier, in die bisher gerefften Segel des Kindseins geblasen, welche nach und nach – je weiter er sich traute – aufblähen und ihn aus dem elterlichen Hafen, auf einen ungewissen, aber festen Kurs hinaus auf das unergründete Meer der eigenen, selbst zu erlebenden Erfahrungen tragen würden. Mit Freude und Stolz verfolgte ich deshalb seine mutige Jungfernfahrt in den zwar heimischen Gewässern. Lady Elizabeth hingegen erschreckte die Vorstellung, ihren Jungen auf dem Rand des Horizonts verblassen zu sehen in eine Welt, die sie nicht überblicken konnte wie das englische Anwesen. Und ich wusste, warum. Gerade, da er sich uns wieder zeigte, sog sie die Luft ein, doch meine Hand auf ihrer hinderte ihren Ruf nach dem durch das goldene Riff seiner ersten Jahre stoßenden Suchenden. „Das Wasser, Mylady“, erklärte ich auf ihren förmlich empörten Blick hin, „bewegt bereits unaufhörlich das Mühlenrad. Ihr werdet seinen biografischen Werdegang nicht aufhalten können, doch genauso solltet Ihr nicht versucht sein, seine persönliche Entwicklung zu hemmen. Wenn Ihr ihn nicht verlieren wollt…“

Es wurde nicht deutlich, ob Lady Elizabeth verstand, worauf ich hinauswollte, als sie mir befahl, James zu folgen. Da sie das unauffällig langsam und betont hervorhob, konnte ich es immerhin vermuten. Ich brauchte mich nicht als Katze zu versuchen, um der geforderten Unauffälligkeit die Ehre zu geben, was mir mit meinem Polster an überflüssigen, aber keineswegs verabscheuten Pfunden zumindest nicht leicht gefallen wäre; zu sehr war der brünette Schopf auf die Kompassrose fixiert. Was immer er auffinden wollte, der Norden schien es nicht zu sein, denn er wechselte immer wieder die Richtung, blieb manchmal abrupt stehen, wo man annahm, er hätte seinen Weg endlich entdeckt, überlegte eine Weile, wenn ich sein Versteinern richtig interpretierte, und machte nach Minuten des Herummarschierens vor dem großen Teich endgültig Halt. Das leuchtende Gewässer war eine Lichtung im dichten Gelände, als breche man nach langer Wanderung aus einem Wald heraus, und auch James schien das zu empfinden, selbst wenn er weder Wald noch Gestrüpp kannte. Seine Schritte setzte er kleiner, während er an das glatte Steinufer trat und schließlich darauf. Ohne dass es mir bewusst war, beugte ich die Knie, um notfalls zu ihm hechten zu können – Pfunde hin oder her. Auch seine Beine zogen sich zusammen, was mich bereits in Alarmbereitschaft versetzte, doch statt zu springen, war er zu meiner Erleichterung lediglich darauf aus, die sich wiegende Wasseroberfläche zu inspizieren, auf der die Frühlingsblüten zu Dutzenden einen friedlichen Walzer tanzten. Aus meiner Deckung heraus vermochte ich es nicht mit ganzer Gewissheit zu sagen, aber ich meinte, dass er den Zauber der Spiegelung erforschte. Er starrte auf die Fläche unmittelbar vor ihm, durchbrach die Haut gelegentlich mit einem achtsamen Finger und zog ihn rasch zurück, als ob die kühle Nässe ihn erschreckte. Mindestens zweimal am Tag hatte er vor einem Spiegel zu stehen, aber dieses Abbild des lebendigen Wassers nur gab ihm das, was er in dem des toten Glases vergebens suchen würde: Falten in den Kleidern, Unebenheiten auf der Haut, ein verzerrtes Gesicht, das einmal lachte, einmal trauerte, ganz wie der schwingende See mit seinen Zügen spielte. Zum ersten Mal erblickte das vereiste Antlitz einen kindlichen James und verspürte vielleicht Neid durch die Erkenntnis, dass dieser Junge auf der anderen Seite, dieser einzige Junge in der Umgebung des einsamen Gutbesitzes, des Vaters Garten Eden, um so viel freier war, dass sogar sein Gesicht es ausdrücken konnte. Wie mochte es dem, der von der Schaffung her nicht von ihm zu unterscheiden war, gelungen sein? Er schob die Hände zum Rand der Steinblöcke. War es das Umfeld dieses Jungen, war es anders als das eigene? Doch wo der gespiegelte James stand, waren nur die Zipfel zweier Baumkronen zu erkennen. Über seine Schultern gelang ihm der Blick nicht; sein Alter Ego unterband seine Versuche, indem es sich grinsend auf die Zehenspitzen stellte und damit immer ein Stück größer war. Es zitterte, als müsse es ein höhnisches Gelächter unterdrücken, dabei stieg es höher und höher, doch die wachsende Aufgabe stachelte James nunmehr an. Unterdessen stand er aufrecht, schon fast selbst auf den Schuhspitzen und spannte die Ballen zum Sprung, da zerriss ein Fisch das Spiegelbild sowie die Illusion und traf ihn so unvermittelt, dass er seine tiefe Konzentration mit seinem Gleichgewicht bezahlte. Ich stieß seinen Namen aus und eilte aus meinem Versteck, er flatterte mit den Armen, meine Hand schnellte hervor, er fiel vornüber und ich bekam ihn nicht mehr zu fassen, seine Füße verloren den Kontakt, die Blätterkleider raschelten, und fanden ihn wieder, als Benedict ihn zurück auf den Rasen zog. Ich legte meine Arme um seinen mageren Körper. Er atmete schnell und zitterte, seine Augen, noch immer mit Blick auf das schattige Wasser, waren groß geworden. „Was machst du auch!“, sagte ich zur beidseitigen Beschwichtigung, nachdem ich ihn sicher wusste. In meinem Schock merkte ich nicht, dass ich ihn geduzt hatte; dasselbe musste wohl für ihn gelten, denn er sah mich deswegen nicht einmal an. So blieb er mir auch die Antwort auf meine Frage schuldig, welche ich nach einer kurzen Dauer des Erholens noch einmal mit wirklich interessierter Intention stellte: „Was haben Sie hier gemacht?“

Wieder zog diese Frage eine Zeit des Schweigens nach sich. Wäre ich nicht durch einen Blick in seine Augen eines Besseren belehrt worden, hätte ich sicherlich aufgegeben, eine Antwort abzuwarten. So erkannte ich seinen Denkprozess, als sei er nicht gewiss darüber, ob das Verraten seiner Tätigkeit vernünftig wäre. Dann, mit geschürzter Unterlippe und äußerst leise: „Ich habe etwas gesucht.“

„Auf dem Grund des Sees?“, fragte ich erstaunt, sollte jedoch keine Erwiderung erhalten, weshalb ich etwas anderes versuchte: „Haben Sie es gefunden?“

„Ja.“ Es kam zögerlich.

„Ich sehe es nicht. Ist es noch dort unten? Sollen wir es Ihnen holen?“

Er starrte geradeaus, als er sagte: „Was der See einmal nimmt, das gibt er nicht mehr zurück.“

Benedict, in seiner verschmutzten Arbeitskleidung, begann zu glucksen, dann ging er nahtlos in ein Kichern über. Aus einer Hosentasche brachte er ein unsauber zerrissenes Stück Papier hervor und ließ es von Hand zu Hand wandern.

„Ich fürchte, ich verstehe nicht… Wenn doch auf dem Grund etwas liegt, das Ihnen gehört, dann werden wir es Ihnen wiederholen.“

Er verneinte wortkarg. Sein Bestreiten einer Selbstverständlichkeit ließ mich genauer über seinen Satz nachdenken. Ich hatte nicht gesehen, dass etwas ihm Eigenes in den Teich gefallen wäre; der Kompass lag noch am Steinufer, unweit von ihm. Worauf wollte er dann hinaus?

„Was ist mit den Blüten?“, fragte ich ihn mit fröhlicher Neugier, als wolle ich mich auf das Spiel eines Kindes einlassen, und zeigte auf die anschaulichen Exempel auf dem Gewässer. „Wenn der See sie sich genommen hätte, könnte ich sie nicht“ – ich tauchte meine Hand hinein und schaufelte ein paar hinaus – „aus dem Wasser fischen, nicht wahr?“

„Sie nimmt er nicht, er berührt sie nur“, erklärte mir der Fünfjährige geduldig. Benedict torkelte erwartungsvoll auf uns zu und tippte James ein paar Mal auf die Schulter. Er sah ihn an. Der Gärtner wandte sich zum See, kniete sich hernieder und schob das zusammengedrückte Papier auf die seichten Wellen. Bei genauerem Hinsehen konnte ich in der scheinbar willkürlichen Form ein kleines Boot erkennen. Sofort erhaschte es James‘ ganze Aufmerksamkeit. Er spannte sich auf meinem Schoß, als würde etwas aus dem Wasser tauchen, das die Sensationalität einer Najade an sich haften hatte, und erlöste sich erst aus der gestreckten Haltung, nachdem die gefaltete Nachbildung ihre Antriebskraft verlor und ganz sicher keinen Zoll weiter vorwärts fuhr. Benedict klatschte mit ausschweifender Gestik. James schaute mich an und schien etwas sagen zu wollen, da fuhr er unter einem dumpfen Knall zusammen. Hinter mir stand Lady Elizabeth, den Folianten noch wie in der letzten Phase des Zuschlagens haltend und augenscheinlich darauf aus, mit James hineinzugehen.

Warum, wusste ich nicht, doch in diesem Moment erinnerte mich das Papierschiff an etwas, das ich James nicht vorenthalten wollte, was ihm nicht vorenthalten worden war, woran ich nicht dachte, weil mir das Gefühl fehlte – gleich welcher Art – angesichts der Nachricht, die ihm schlichtweg nicht egal sein konnte: „Ihr Vater kehrt bald heim.“ Abermals zeigte er keinerlei Regung. Er glitt aus meiner leichten Umarmung, das Frühlingsgrün reckte sich und durchdrang meine Augen, dass ich mir dort einen trüben Druck einbildete. „Was die See einmal nimmt, gibt sie nicht mehr zurück“, wiederholte er seine Worte und drehte sich um.
 

Das Papierschiff dümpelte noch auf dem Atem des Sees, nachdem der Mond ihn in den Schlaf gesungen hatte. Jeder Zug brachte es nur minimal voran. Dennoch strebte es seinem festen Ziel entgegen, ohne vom Kurs zu weichen, mit einer kraftlosen, aber bleibenden Brise, die es schob, und der wertvollen Fracht aus vielen kleinen, utopischen Wünschen. Das bleiche Gesicht wandte sich, während sein Herr den allnächtigen Spazierweg entlang schlenderte, nicht einmal ab von der Reise des kleinen Schiffes und schien den Gang sogar zu verlangsamen, dass manchen Bewohnern des Hauses die Nacht heute ein wenig länger erschien. Da das Antlitz des Spaziergängers aber in seiner hell erleuchteten Haustür verschwamm, trieb das Schiff die letzten Seemeilen, vermochte die Stadt bereits an ihrem grauen Kleid zu erkennen und fuhr nach dauernder Reise schließlich in den Hafen ein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Phantom
2014-11-18T19:41:00+00:00 18.11.2014 20:41
"BlackMuffin" schrieb am 10.11.2010 auf FanFiktion.de:

Ich bin noch nicht ganz fertig mit dem Lesen der bisherigen drei Kapitel, aber ich schreibe dir jetzt schon einen Kommi, weil ich nachher wahrscheinlich keine Zeit mehr dazu habe - und eine Geschichte wie diese sollte man sofort mit einem Feedback quittieren.
Deine Geschichte finde ich bis jetzt großartig. Ich bin nicht so der Norrington-Fan, aber diese FF ist so klasse geschrieben, dass ich sie unbedingt weiterverfolgen werde. Wirklich, stilistisch (dein Schreibstil erinnert mich ein klein wenig an Stefan Zweig) ist deine Geschichte nahezu perfekt, sowas findet man hier sehr selten. Die Handlung hat mich bisher auch überzeugt, obwohl ich diesbezüglich noch nicht viel sagen kann. Auch ich fand es anfangs verwirrend, dass James' Mutter Elizabeth heißt, aber mittlerweile habe selbst ich es kapiert. Und der Zusammenhang ist wirklich interessant. Ich lese auf jeden Fall weiter und lasse von mir hören.
Von:  Daikotsu
2011-03-02T15:15:49+00:00 02.03.2011 16:15
Die Situation "Der Maitag" ist hier wirklich sehr gut beschrieben worden. Ich kann mir die Figuren bildlich vorstellen, die Stimmung, ja ich vermochte sogar kurz die Blumen zu riechen ;)
James wirkt in diesem Kapitel etwas konfus. Recht konfus für einen 5-jährigen muss man sagen. Doch sein Satz, den er wiederholt, der sagt doch seine Zukunft vorraus oder?
Wenn ich es richtig verstanden habe, ist er ins Wasser gefallen und so der "See" gehörig. Sein Schicksal wurde also quasi besiegelt


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