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Eden

"Beyond" leicht überarbeitet für Wettbewerb
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Erstellt:
Letzte Änderung: 03.08.2010
abgeschlossen
Deutsch
3621 Wörter, 1 Kapitel
Diese FF ist nur eine Überarbeitung meiner älteren Geschichte "Beyond", und sie ist nur für den Wettbewerb bestimmt. Wer das Original bereits gelesen hat, dem würde ich von Lektüre dieses Oneshots abraten. Aber macht, was ihr wollt, macht ihr ja sowieso. *gg*




Als Livius starb, waren seine Gedanken bei Laurin.
Er hatte alles, was in seinen Erinnerungen noch von Elea übrig war, aus sich heraus strömen lassen, und jetzt war sie nur noch ein blasser Schatten in seinen Gedanken. Laurin jedoch gewann immer mehr an Farbe und Gestalt, je näher er dem Ende kam.
In den letzten Jahren hatten sie sich nur selten gesehen... aber ohne den Orden wären sie einander nach Abschluss der Ausbildung nie mehr begegnet. Er, Livius, hatte begonnen, für den Orden zu arbeiten, um Eleas Tod zu rächen, aber fortgesetzt hatte er die gefährliche Tätigkeit, um Laurin wenigstens ab und an über den Weg zu laufen, scheinbar zufällig und so selten, wie es ihm gerade noch möglich war.
Er hatte nie zugelassen, dass Laurin auch nur auf den Gedanken kam, er würde ihm, Livius, etwas bedeuten... Dabei hatte er Laurins traurigen Blick nie vergessen; diese merkwürdige Komplizenschaft zwischen dem Gequälten und dem machtlosen Zuschauer. Livius hatte sich all die Jahre bemüht, Laurin dafür zu verachten, dass er ihm nie beigestanden hatte... Aber es war ihm nicht gelungen, denn er hatte nur zu gut verstanden, dass er, der ebenso Außenseiter war wie er selbst, sich unmöglich gegen die einzigen Freunde stellen konnte, die er je gehabt hatte.
Aber er war es sich selbst schuldig gewesen, Laurin für seine Feigheit zu bestrafen; jedes Mal, wenn Laurin versuchte, die halbverheilten Wunden zwischen ihnen zu schließen, hatte Livius sie beide verletzt, ihn zurückgewiesen und neues Blut fließen lassen.
Und Laurin hatte sich damit abgefunden; hatte es nicht über sich gebracht, Livius sich selbst zu überlassen, sondern lieber den Schmerz in Kauf genommen, anstatt ihn noch einmal im Stich zu lassen.
Jetzt, während das Licht um ihn immer heller wurde, war Livius' letzter Gedanke, dass er Laurin gern noch einmal gesehen hätte... Vielleicht, um ihm zu sagen, wie viel er ihm bedeutet hatte.
Plötzlich sang irgendwo ein Vogel, und ein Windstoß kühlte Livius' Gesicht. Er trug das Rauschen von Blättern und einen süßen Honigduft mit sich, und jemand schien seine Hand zu nehmen. Eine klare Stimme rief ihn, wie aus weiter Ferne, beim Namen.
Dann fiel er aus der Welt.

Er erwachte von einem leisen Rascheln. Sein Geist stieg aus der Dunkelheit empor durch die zarte silberne Dämmerung und über den goldenen Horizont, und er schlug die Augen auf.
Er befand sich auf einer weichen Liege, halb liegend, halb mit dem Oberkörper auf die Lehne gestützt. Seine rechte Hand hing auf kühlen, glatten Stein herab. Nahe seiner Finger stand ein einfacher Tonkrug, der mit einem Deckel verschlossen war, und ein Pokal, der zwar schmucklos, aber von vollendeter Machart war.
Er lag in graugoldenem Zwielicht, denn Boden und Säulen der Halle, in der die Liege stand, waren ganz aus seidigem grauen Stein. Er konnte weder Decke noch Wände sehen, denn die Säulen strebten höher und höher, bis sie sich im Dunkeln verloren. Sie waren auch alles, was er sah, wenn er zu einer oder zur andern Seite blickte; nur schimmernder grauer Stein ohne Zeichen oder Äderung. Das einzige, was ihm verriet, dass es irgendwo ein Draußen gab, war ein blasser goldener Schimmer, dessen letztes Licht gerade noch ihn auf seiner Liege erreichte und sich dann in den Schatten zwischen den Säulen verlor.
Er wusste nicht, wie lange er da lag, die Fingerspitzen der Rechten auf dem seidigen Stein, und die Unfassbarkeit dieser Halle bestaunte. Irgendwann erklang wieder das leise Rascheln, das ihn geweckt hatte. Er setzte sich auf und sah sich um.
Ein wenig entfernt von ihm stand jemand. Gegen das schräg einfallende goldene Licht zeichnete sich der Schatten eines Mannes ab, groß und schlank. Er schien nur darauf gewartet zu haben, dass Livius sich regte, denn er hatte sich kaum aufgesetzt, als der Mann sich ihm näherte. Schließlich, als er nahe bei ihm war und das Licht zu schwach, um ihn noch zu blenden, konnte Livius ihn näher betrachten.
Er war schön; aber von einer Schönheit, die mehr nach Anbetung als nach Liebe verlangte. Sein Gesicht war ebenmäßig und wie aus Alabaster, ebenso blass und unmenschlich. Um seine hohe, kühle Stirn lockte sich Haar aus gesponnenem Gold, das selbst im matten Zwielicht noch bei jeder Neigung des Kopfes Funken versprühte. Seine Nase war gerade und marmorn, die Lippen voll und blass, die Augen Saphire unter Brauen aus getriebenem Gold; von tieferem Blau und von Trauer erfüllt wie von Einschlüssen minderer Gesteine. Livius konnte nicht sagen, ob es Licht war, dass ihn wie ein Gewand kleidete, oder ob das Gewand von dem umhüllten Körper erleuchtet wurde.
Der Fremde neigte den Kopf vor ihm und berührte mit den Fingern der Linken seine Stirn, seine Lippen und die Stelle seines lichten Kleides, die seinen Nabel verbergen musste, wenn er denn wie die Söhne der Menschen von einer Frau geboren worden war. Livius nahm die Begrüßung geneigten Hauptes entgegen und wartete darauf, dass der Fremde das Wort ergriff. Und als er sprach, klang seine Stimme hell und voll wie silberne Posaunen im ersten Licht des heraufziehenden Morgens.
„Ich heiße dich willkommen, mein Freund. Mögest du all deine Lasten und deine Zweifel hinter dir lassen, in der Halle des Seidensteins, und diese unsere Welt befreit und erleichtert betreten, durchdrungen vom Licht des Ersten Baumes.“ Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern ließ sich auf ein Knie nieder, nahm den Deckel von dem Steinkrug und goss daraus eine klare, funkelnde Flüssigkeit in den Kelch. Er hob ihn an seine Lippen, nippte daran und reichte dann Livius den Kelch. Er nahm ihn entgegen, trank aber nicht.
„Was hat das zu bedeuten? Ich bin gestorben, und trotzdem erwache ich in dieser Halle. Wer seid Ihr, und wo sind wir?“
Ein leichtes Lächeln ließ die Lippen des Fremden sich schwingen. „Wenige stellen diese Fragen, wenn sie in der Halle erwachen. Aber ich will sie dir beantworten. Dies ist die Torhalle oder die Halle des Seidensteins, die an Alter nur noch vom Ersten Baum übertroffen wird. Hier erfolgt die Ankunft jener, die in einer anderen Welt gestorben sind; und die unser Herr zu retten sich entschlossen hat. Auf jener Seite...“ er wies mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, aus der das Licht kam, „...auf jener Seite der Halle liegt der Wilde Garten, oder, wie die Menschen ihn nennen, Eden.“ Er deutete in die andere Richtung, in die samtenen Schatten zwischen den Säulen. „Und dort liegt der Schlaf und das Vergessen, aus dem du geführt worden bist.“
„Geführt?“
„Ja. Unser Herr erwählt jene, deren Wunden er heilen will, und führt sie in die Torhalle. Die Anderen lässt er schlafen mit jenen, die sie lieben, um sie am letzten Tag zu erwecken und um sich zu scharen.“
Livius senkte den Blick auf die funkelnde Flüssigkeit in dem Pokal, den er noch immer zwischen seinen verschränkten Händen hielt. Er versuchte, zu verstehen, was der Andere ihm sagte... Er war gestorben, vom König der Schatten getötet... Und jemand hatte ihn an der Hand genommen, ja, daran konnte er sich erinnern, und ihn aus dem Dunkel geführt.
Er hob den Blick. „Wer seid Ihr?“
Der Fremde neigte den Kopf. „Ich trage viele Namen, aber der Liebste ist mir Gabriel.“ Dann erhob er sich. „Trink, denn erst dann kann ich dich hinaus in den Garten führen.“ Ein Lächeln stahl sich über seine hellen Lippen. „Und du wirst doch sehnlich erwartet.“
Livius runzelte die Stirn. „Erwartet?“
Jetzt lächelte Gabriel noch ein wenig stärker. „Frage nicht. Hier klären sich alle Rätsel, und alle verschlungenen Fäden entwirren sich von allein, aber du musst ihnen Zeit lassen. Und die Zeit, zu der deine Frage beantwortet wird, ist nahe. Trink.“
Livius zögerte, dann trank er. Offensichtlich blieb ihm nichts anderes übrig, und es war eher das gewohnte Misstrauen, dass ihn hatte innehalten lassen als die tatsächliche Ahnung einer Gefahr. Und es drängte ihn, den Wilden Garten zu sehen, denn ihm war, als wäre dies der Name für viele halberinnerte Träume von hellen Blüten und silbernem Tau.
Der Trunk war kühl und klar und leicht wie sprudelndes Quellwasser. Er leerte den Becher und merkte es erst, als er ihn von den Lippen nahm. Jetzt war Gabriels Lächeln schön, und das Glück darin verstärkte die Trauer in seinen Augen.
Gabriel verneigte sich vor ihm. „Jetzt kann ich dich einen der Unsrigen heißen, Blut von unserem Blute und Geist von unserem Geiste.“
Livius wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber dann wusste er es selbst... Denn durch seinen Körper, den er bisher nur halb wahrgenommen hatte, strömte eine große Wärme, und dann wurde er leicht, so dass er sich halb durchsichtig fühlte wie Glas, durch das Licht einströmt.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Gabriel: „Dies ist das Licht unseres Herrn. Er hat dich beim Namen gerufen und dir sein Licht gegeben. Jetzt folge mir in den Garten.“
Sie gingen durch die endlosen Säulenreihen wie durch einen Wald, und immer dem Licht entgegen. Erst jetzt, da er einige Schritte hinter Gabriel war, bemerkte Livius das mächtige Schwert, das jener um die Lenden trug. Es war weder durch eine Scheide noch durch eine Hülle bedeckt. Die Klinge sah aus, als wäre sie ganz aus Silber, und sie war über und über bedeckt mit getriebenen Zeichen. Die Spitze war ein geschliffener Rubin.
Dann waren die Säulen plötzlich zu Ende, und das Licht wurde so strahlend, dass es Livius blendete. Gabriel nahm ihm beim Arm und legte ihm die kühlen Marmorfinger auf die Augen, so dass sie geschützt waren. Das Licht schien durch Gabriels Hand wie durch eine Muschel. Dann ließ Gabriel ihn los, und Livius sah.
Er stand auf einem Hügel, und vor ihm erstreckte sich der Wilde Garten, so weit sein Auge nur blicken konnte. Sanfte Hügel, die in der Ferne zu hohen, aber runden und grünen Bergen anstiegen. Eine tiefstehende Sonne tauchte Blumen und blühende Bäume und Sträucher in ihr goldenes Licht; vergoldete auch den kleinen, ruhig fließenden Fluss, der sich zwischen den Hügeln seinen Weg suchte, und steckte Gabriels Schwert in Flammen. Über allem; im süßen Honigduft der Blüten, im schläfrigen Singen der Vögel, im schweren Licht lag die köstliche Trägheit eines späten Sommernachmittags.
Am Ufer des Flusses, in einem weiten Tal zwischen zwei Ausläufern der Berge, war eine runde, mit Sandstein gepflasterte Terrasse, auf der ein Pavillon aus zierlich geschnitztem Holz stand, über und über bewachsen mit blühenden weißen Rosen. Dort waren Andere, lachend und singend. Einige badeten im Fluss, ohne sich voreinander zu schämen, andere wanden Kränze oder steckten einander Blüten ins Haar, wieder andere saßen auf verstreut stehenden steinernen Bänken und lasen, sprachen leise miteinander oder genossen schweigend die Gegenwart der Freunde.
Gabriel berührte Livius' Arm und deutete auf die Terrasse mit dem Pavillon. „Noch ist es nicht ganz an der Zeit, also gehe zu jenen und erfreue dich an ihren Spielen.“
„Nicht an der Zeit wofür?“
Anstatt zu antworten, wandte Gabriel sich um, und Livius tat es ihm gleich. Wo er die endlosen Säulenreihen der Torhalle erwartet hatte, erhob sich ein sanft ansteigender Hang, bewachsen mit weißen Lilien, deren süßer Duft Livius' Herz rührte. Auf dem Kamm des Hanges stand ein großer silberner Baum, bedeckt mit dichtem, dunklem Laub, aber ohne Blüten oder Früchte.
„Dies ist der Älteste Baum, die erste Schöpfung unseres Herrn. Wir achten ihn als Vater aller Pflanzen, und wir sitzen in seinem Schatten, wenn wir Einsamkeit und Ruhe suchen.
Jener nun, der dich erwartet, hat bisher nur am Fuße dieses Baumes gesessen, schlafend am Tag und nachtsüber wachend, den Rücken vom Garten abgewandt und über das Meer blickend, das zwischen den Landen der Lebenden und Eden liegt. Du darfst erst bei Einbruch der Dämmerung zu ihm gehen, denn nicht einmal das Licht unseres Herrn konnte ihn aus der Dunkelheit rufen. Das, so sagt er, könntest nur du, und deshalb wartet er seit seiner Ankunft geduldig die Nächte hindurch auf dich.“
Livius blickte zu dem silbernen Baum empor und versuchte, nur einen Schemen zu erkennen... Aber der Stamm war breit genug für drei Männer, sich dahinter zu verbergen.
Jener, der ihn erwartete... Wer mochte das nur sein? Er hatte das Gefühl, als müsste er es wissen, aber es fiel ihm nicht ein.
Also ging, er wie Gabriel ihn geheißen hatte, den Hang hinunter, statt ihn hinaufzusteigen, und folgte einem schmalen Weg am Ufer des Flusses entlang. Als er die Terrasse fast erreicht hatte, hielt er inne und beobachtete das Treiben dort.
Inzwischen war die Sonne noch tiefer gesunken, und die Berge streckten ihre Schatten nach dem Tal aus. Lachend und singend steckten die Anderen grüne und weiße Laternen an und hingen sie in die Äste. Dann, als die Sonne den Gipfel des höchsten Berges berührte, sammelten sie sich auf der ihm abgewandten Seite des Pavillons, blickten der Sonne nach und schwiegen. Aber als die Sonne verschwand und nur der Horizont noch strahlte, hob jemand an zu singen, ein wortloses Lied von Verlust und Wiederkehr, und nach und nach fielen die Anderen ein, folgten dem Vorsänger und spannen doch hier und dort eine eigene Melodie, und ihre Stimmen vereinten sich zu einem vielschichtigen und leuchtendem Gewebe, das hinauf in den lichten Himmel zu streben und der Sonne nach und immer nach zu folgen schien; und die Seelen jener, die ihm lauschten, nahm es mit sich und erhöhte sie.
Als die Stimmen schließlich, Eine nach der Andern, verklangen und wieder Stille herrschte, stellte Livius erstaunt fest, dass seine Wangen feucht waren. Er musste geweint haben, aber sein Herz war jetzt voller Licht.
Auf der Terrasse lachte jemand, und das schien ein Zeichen zu sein, denn sie zerstreuten sich wieder, redeten, lachten und sangen durcheinander, und ihre Stimmen vermischten sich mit dem Rauschen der Bäume und dem sanften Murmeln des Flusses.
Livius legte die letzten Schritte zurück, und kaum hatte er die Terrasse betreten, als sie sich um ihn scharten, ihn bei den Händen nahmen und in ihre Mitte zogen. Einige Gesichter glaubte er zu kennen, aber er wusste nicht mehr, ob sie ihm jenseits des Meeres Freund oder Feind gewesen waren, und es schien ihm auch nicht wichtig.
Ein hochgewachsener Mann mit langem schwarzem Haar, in das mitternachtsblaue Blüten gewunden waren, nahm ihm beim Arm. Er war schön, aber seine Schönheit war weicher und wärmer als Gabriels. Vermutlich war er, wie Livius selbst, aus einer anderen Welt gekommen.
Sein Führer geleitete ihn in den Pavillon. Gemeinsam mit den Anderen setzten sie sich auf die runde Bank, die entlang seiner Wand verlief, während einige auch auf Kissen und Decken am Boden platz nahmen.
„Jetzt werden wir Geschichten hören. Einer der Engel kommt und erzählt uns von den Tagen, bevor es Menschen gab.“
„Engel? Gehört Gabriel auch zu ihnen?“
Sein Nachbar lachte, und mehr denn je kam er Livius bekannt vor. „Oh ja. Gabriel ist ihr Herold und Bannerträger, und sein Flammenschwert hat bei jeder Schlacht in der ersten Reihe geleuchtet.“ Der Schwarzhaarige schwieg kurz, dann fuhr er fort: „Aber, mein Freund, sag mir, wie du heißt, denn ich meine, ich müsste dich kennen.“
„Mein Name ist Livius.“
Da lachte der Schwarzhaarige hell auf. „Ach, natürlich!“ Er nahm Livius bei der Hand. „Was für ein Glück, das wir uns hier sehen, wo aller Sterblichen Zorn schon fort ist. Ich bin es, Atritas. Es ist gut, dass du da bist; so werden wir bald unseren Freund wiedergewinnen.“
Jetzt fiel es Livius wie Schuppen von den Augen, und er fragte sich, warum er Atritas nicht gleich erkannt hatte. Aber was auch immer der Grund sein mochte, was er gesagt hatte, stimmte: er erinnerte sich an ihren gegenseitigen Hass, aber wie an etwas Fernes und lang Vergangenes. Er verstand nicht, was Atritas mit seinem letzten Satz gemeint hatte, aber bevor er fragen konnte, erklangen draußen leise raschelnde Schritte, und ein Engel betrat den Pavillon. Sein Gesicht war von der gleichen übermenschlichen Schönheit wie Gabriels, aber lebendiger und weniger von Trauer gezeichnet. Sein glattes Haar war von einem dunklen Braun, und sobald er zu sprechen begann, schien ein Licht in seinen Augen, auf seinen Lippen und seinen beweglichen Händen. Er trug kein Schwert, aber ein Reif aus schimmerndem Silber schlang sich um seine Stirn.
Der Engel betrat also den Pavillon und breitete die Arme aus. „Meine Freunde...“, sagte er, und seine Stimme ließ Saiten in Livius' Seele schwingen, „...meine Freunde, ich danke dem Herrn für einen weiteren friedlichen Tag. Lasst uns Seiner schweigend gedenken, und dann werde ich euch das Hohelied der Liebe singen.“
Atritas legte Livius eine Hand auf den Arm und flüsterte ihm zu: „Dies ist Sirael. Er ist der beste Erzähler in Eden.“
Und nachdem Sirael mit gesenktem Kopf einige Herzschläge lang geschwiegen hatte, begann er zu singen, und Livius lauschte seiner klingenden Stimme. Unter den vielfach verflochtenen, goldenen Tönen schien die Zeit sich aufzulösen, selbst der Pavillon um ihn herum verflog, bis neben Livius eine Stimme flüsterte:
„Es ist Zeit, mein Freund. Der Baum blüht.“
Livius schreckte auf. Neben ihm saß Gabriel, das Gesicht warm und durch Siraels Gesang endlich frei von Trauer. Er reichte Livius eine Hand, an der er jetzt einen schmalen Silberring bemerkte.
„Komm. Du wirst erwartet, und er erwacht gerade.“ Gabriel erhob sich, und Livius folgte ihm in die Nacht hinaus. Die Luft war frischer und feuchter geworden, und die Düfte schienen noch klarer und stärkender. Ein silberner Schimmer lag über allem, ein wenig wie Mondlicht und doch auch wieder nicht, denn am sternenschweren Himmel war kein Mond zu sehen.
„Woher kommt dieses Licht?“
Gabriel antwortete nicht, aber er hob den Arm und deutete geradeaus, auf die Kuppe des Hügels, auf dessen Gipfel der Älteste Baum stand.
Der Baum erstrahlte in einem milden Licht. Sie hatten inzwischen die Schulter des Hügels erreicht, von der sie am Nachmittag aus den Garten betrachtet hatten, und Livius sah, dass der Baum jetzt schwer von Trauben weißer Blüten war, aus denen wässriger, glänzender Tau troff. Ein plötzlicher Windstoß trug einen klaren, scharfen Duft heran, der belebend und kräftigend war.
„Dort, auf der uns abgewandten Seite des Baumes ist er. Er ist gerade erwacht und hält, wie jede Nacht, Ausschau über das Meer. Du wirst den Rest des Weges allein gehen müssen, denn ich habe einen Auftrag, der keinen Aufschub duldet.“
Livius ging weiter, durch silbriges Gras, das schwer vom Tau des Baumes war, und durch Lilien, die ihren Duft mit dem der weißen Blüten vermischten, und hinter ihm stieg immer noch Siraels goldene Stimme empor und jagte ihm Schauer um Schauer über den Rücken. Schließlich hatte er die Kuppe erreicht, und er blieb stehen, mit einer Hand an den glatten Stamm gestützt, und staunte über den Anblick des vor seinen Füßen liegenden Landes.
Auf dieser Seite fiel der Hügel über Meilen hinweg sacht zum fernen Ufer eines Meeres ab, dessen Gischt wie Goldschaum war. Der Strand war weiß, schien aber im Licht des Baumes silbern, und wo sich dies silberne Leuchten und der goldene Schimmer des Meeres vermischten, lagen sie wie ein Schleier in der Luft.
Am Fuße des Baumes aber, an den kräftigen Stamm gelehnt und nach Haltung des Kopfes noch halb im Schlaf, saß jener, der auf Livius gewartet hatte.
Ein Schatten seiner irdischen Befangenheit überkam ihn, doch er überwand sie und setzte sich neben dem Anderen ins Gras.
Langsam und mit schweren Lidern wandte der sich ihm zu. Aber er schien Livius zu erkennen, denn sein Gesicht wurde plötzlich klar und wach, und seine Augen leuchteten auf.
Er lächelte. „Ich habe auf dich gewartet! Ich... ach, auf dem Weg hierher habe ich vergessen, wieso, aber Gabriel sagte mir, dass es nur wenige gibt, die ihre Liebe mit über das Meer nehmen, deswegen nehme ich an, dass du mir dort...“, er wies mit der Hand in Richtung des Meeres, „...etwas bedeutet hast.“ Dann, als würde ihm erst verspätet bewusst, was er gesagt hatte, überzog Röte seine Wangen. „Nun... dies waren Gabriels Worte, aber er spricht sehr oft von Liebe.“ Er strich sich gedankenverloren eine einzelne Blüte von der Wange und blickte wieder aufs Meer hinaus. „Ich weiß nicht einmal mehr meinen Namen. Ich konnte mich nur noch an dein Gesicht erinnern, und deswegen hat Gabriel mich hergebracht, denn, wie er sagte, in einem Wilden Garten könne man sich leicht verirren, wenn man den Weg nicht kennt.“
Livius nickte.
„Also, kannst du mir sagen, wer ich bin? Kannst du mich im Garten führen?“
Livius musterte ihn. Er kannte ihn, da war er sicher. Er wusste, dass das Haar, das im Licht des Ältesten Baumes aussah wie tiefes Silber, eigentlich die Farbe von dunklem Honig hatte; dass die Augen golden waren, dunkel und hell zugleich. Und er erinnerte sich an Lorbeer...
„Laurin“, hörte er sich sagen. „Dein Name ist Laurin.“
Und Laurin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er schüttelte nur den Kopf. Dann lachte er. „Wie dumm, seinen eigenen Namen zu vergessen!“ Er nahm Livius' Hand. „Ich danke dir, Livius. Jetzt kann ich endlich den Garten sehen; und ihn bei Tag sehen, ohne Angst zu haben, mich darin zu verirren.“
Livius wusste nicht, wie lange sie so unter dem silbernen Baum saßen, schweigend und Hand in Hand, auf das goldene Meer hinaus blickend. Siraels Stimme, vom Wind bis zu ihnen hinauf auf den Hügel getragen, ließ sie offenen Auges schlafen und zeigte ihnen halb verständliche Bilder einer Vergangenheit, die sich lange vor den Menschen ereignet hatte.
Irgendwann regte Laurin sich. Livius wurde bewusst, dass Sirael verstummt war, und der Himmel über dem Meer wurde hell. Er blickte Laurin an, der seinen Blick lächelnd erwiderte. Im ersten milchigen Licht des Morgens leuchtete sein Haar, in dem unzählige der kleinen weißen Blüten des Baumes hingen, und je lichter der Tag wurde, um so heller leuchteten auch Laurins Augen.
Und so saßen sie still beieinander und sahen den Sonnenaufgang. Und als es ganz Tag geworden war, gingen sie hinunter in den Garten, schlugen einen Pfad ein, der zu den fernen Bergen im Norden führte und verschwanden in einem Laubengang zwischen blühenden Fliedern.
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Kapitel 1 Kapitel 1 E: 03.08.2010
U: 03.08.2010
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