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Perlmutt

von

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DÄMMERUNG

Das Echo kreischender Sirenen erfüllte die kalte Luft der Morgendämmerung. Die letzten Ausläufer der Flammen leckten an dem Skelett des Hauses und zogen sich durch die blinden Fenster ins Innere der Ruine zurück. Schwach funkelten die Scherben im verdorrten Gras wie die Glut im Aschebett. Wenig später tauchten im Rauch die flimmernden Schemen jener Männer auf, die gegen das Feuer gekämpft hatten. Sie traten durch die verkohlten Überreste des Hauses und brachten den leblosen Körper ins Freie.

Mireille Adlard kniete auf dem Asphalt und starrte mit aufgerissenen Augen auf das Grundstück, das bis vor wenigen Minuten noch ihr Zuhause gewesen war. Langsam richtete sich ihr Blick auf die rußgeschwärzte Gestalt ihres Mannes. Vor ihrem inneren Auge sah sie sein verzweifeltes Gesicht, als er sie und ihren Sohn zur Treppe stieß, ehe die Deckenbalken über ihm zusammenbrachen.

Hinter ihr ertönte eine Stimme. Mireille wandte kaum den Kopf, als der Feuerwehrmann sie ansprach. Sie verstand kein Wort. Nicht eines. Sie wollte auch nicht. Der Anblick der versengten Mauern brannte in ihren Augen. Ihre Hände klammerten sich eisern um die Schultern ihres Sohnes, der sich rücklings an sie presste. Sie spürte sein aufgeregtes Keuchen mehr, als sie es hörte. Sein Hinterkopf drückte sich durch den Stoff ihres Nachthemdes in ihren Bauch.

Mireille schauderte. Sie spürte die Blicke der Leute auf sich gerichtet. Die Gaffer umstanden das Grundstück in einiger Entfernung und sogen mit den Blicken auf, was sie nicht zu berühren wagten.

Nichtmagier waren es gewesen. Die, die das Haus angesteckt hatten. Die dem blanken Hass verfallen waren. Die verlernt hatten zu unterscheiden zwischen denen, die liebten, und denen, die so hassten wie sie. Die sie hassten.

»Was ist mit Papa?«

Die Stimme ihres Sohnes riss Mireille in die Realität zurück. Sie strich ihm übers Haar, über die Wange. Einen Moment lang verlor sie sich in seinem Anblick. Dann, als wäre um sie herum eine Schale aufgebrochen, sank sie mit einem langgezogenen Klagelaut in sich zusammen.

Irgendwo, fast außer Hörweite, wie ihr schien, schrie ein Kind nach seiner Mutter. Die Stimme wurde immer eindringlicher. Mireille heulte auf, um das Geräusch zu übertönen. Sie hatte keinen Platz für fremden Kummer.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Ein Mann sagte etwas. Immer wieder das Gleiche. Irgendwann bemerkte Mireille, dass die Kinderstimme verklungen war, und allmählich ergaben die Worte des Mannes Sinn.

»Kommen Sie.«

»Meine Mama hört nicht auf zu weinen!« Die Worte ihres Sohnes drangen mit einer Deutlichkeit zu ihr durch, die ihr den Atem verschlug. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er das Kind gewesen war, das gerufen hatte.

Ich habe ihn vergessen!, durchfuhr es sie.

Arme umschlangen sie und richteten sie auf. Mireille zuckte zusammen. Man trug sie fort. Weg von ihrem Haus. Weg von ihrem Mann. Weg von sich selbst. Verzweifelt schlug sie um sich, doch sein Griff war unüberwindbar. Er zog sie fester an sich und hielt sie fest.

Stützte sie.

Mireille erschlaffte. Ihre Hände hatten sich in seinen Mantel gekrallt, ihr Kopf lehnte an seiner Schulter. Er hielt sie aufrecht und verbarg sie vor den Blicken; vor einer Welt, zu der sie nicht mehr gehörte.

Ihr Sohn berührte mit den Fingerspitzen ihr Haar.

»Deine Mama ist sehr traurig«, sagte der Mann sanft. »Und ihre Trauer macht sie krank.«

»Dann mach sie gesund!«

Das Gesicht im Mantelstoff verborgen, lachte Mireille und ergriff die Hand ihres Sohnes. Dann löste sie sich von dem Mann und sah ihn zum ersten Mal an.

Kein Mann – es war ein Junge! Er konnte kaum älter als achtzehn Jahre sein. Er lächelte ihren Sohn an. Mireille beobachtete mit Faszination, wie die Ehrlichkeit dieses Lächelns das junge Gesicht reifen ließ.

»Nein«, sagte er und stand auf. »Aber ich kann helfen, damit es nicht so wehtut.« Er schenkte Mireille einen offenen Blick.

Sie schaute zurück auf das Gerippe ihres Hauses, das kohlschwarz vor der aufziehenden Dämmerung stand. Dampfende Nebelschwaden zogen herauf und umhüllten es wie ein weißes Laken. Mireille streckte die Hand nach der verschwimmenden Silhouette aus und stoppte auf halber Strecke. Ihre andere Hand tastete hinter ihrem Rücken; wonach, wusste sie selbst nicht.

»Kommen Sie mit mir nach Atlantis«, sagte der Mann. Sein Atem streifte ihren Nacken. Sie spürte seine Fingerspitzen an ihren.

Nach einem Moment der federleichten Berührung ergriff Mireille die Hand. Mit dem freien Arm zog sie ihren Sohn an sich und wandte sich von der ausgebrannten Ruine ab. Der Mann drückte ihre Hand. Die Gaffer auf der Straße starrten sie unverhohlen an, doch als Mireille auf sie zusteuerte, wichen sie zurück.

Die Menschen hatten verlernt, zu unterscheiden. Dieser Mann hatte es nicht. Vielleicht hatte auch Atlantis es nicht vergessen.

LEUCHTEN (I) : »Machst du etwa immer noch bei diesem bescheuerten Wettbewerb mit?«

22 Jahre später


 

»Der Umhang ist noch etwas zu kurz, das passt nicht zu seinem Stil«, flüsterte Solweig mir zu. »Aber die Mimik ist klasse: Dieser flammende Blick – mal ihm doch noch einen Spitzhut!«

»Nein!«, schnaubte ich, während ich die Zeichnung eines urgewaltigen Magiers, der seine Kräfte heraufbeschwört, auf meinem Schreibblock verbesserte. Mein heimliches Modell gestikulierte soeben vor der Tafel und erklärte der Klasse mit Feuereifer, wie man den Ein- und Ausfallswinkel des Lichtes bei einem Zerrspiegel berechnet. Außerdem hatte mein Modell erstaunlich gute Ohren, weshalb ich schnell die Stimme senkte, bevor ich weitersprach.

»Spitzhüte sind was für Kleinkinder an Halloween!«

Auch Solweig vergewisserte sich kurz, dass unser Physiklehrer nichts von unserer Unterhaltung mitbekommen hatte.

»Deine ganze Zeichnung ist ein Schauermärchen«, feixte sie.

»Na, wenn schon! Und überhaupt«, setzte ich nach, »sehen Spitzhüte affig aus!«

»Eben drum!«

»Wenn du erwischt wirst, gibt's Saures«, murmelte zu meiner linken Seite Matt kaum hörbar, ohne den Blick von seinem Heft zu heben.

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, auf meinen Freund zu hören. Nur ihm zuliebe, denn er half mir oft genug dabei, das aufzuarbeiten, was ich im Physikunterricht nicht verstand. Ulkiger Weise brauchte Matt für Themen, die Mr Cobbald mir in einer ganzen Unterrichtsstunde nicht vermitteln konnte, selten mehr als zehn oder fünfzehn Minuten, bis ich kapiert hatte, worum es ging.

Ich schaute auf und musterte Mr Cobbald stirnrunzelnd. Matt hatte einmal gesagt, unser Lehrer könne den Stoff durchaus vermitteln. Ich verstünde Mr Cobbalds Erklärungen nur deshalb nicht, weil ich den Menschen nicht riechen konnte. »Du stellst einfach auf Durchzug«, hatte er es formuliert. Aber – und das wusste Matt genauso gut wie ich – Mr Cobbald blühte in seinem Beruf nur aus einem Grund auf: absolute Herrschaft. Neben Physik unterrichtete er ein Fach namens »Politik und Zeitgenössische Geschichte« und es hielt sich die Meinung, dass er in seiner Lehrtätigkeit das perfekte Substitut für seinen Hang zur Sklaventreiberei gefunden hatte. Matt hatte beide Kurse bei Mr Cobbald belegt; er vergötterte diesen Lehrer. Ich hätte mir Mr Cobbald niemals freiwillig in zwei Fächern zugleich angetan. Er hatte ein untrügliches Gespür für vergessene Hausaufgaben, für unter den Tisch geklebte Kaugummis, für Ruhestörungen und Ruhephasen jedes Härtegrades. Wer auch immer fehl trat: Mr Cobbald bemerkte und sanktionierte das Vergehen. Seine Kurse fürchteten ihn. Er war ein Tyrann höchster Güte; unter seinem erhobenen Zeigefinger krochen die Schüler im Staub. Ein besseres Modell konnte ich mir für meinen Magier gar nicht vorstellen!

»Machst du etwa immer noch bei diesem bescheuerten Wettbewerb mit?«, zischte Matt, als ich Anstalten machte, den Stift erneut anzusetzen, aber ich ignorierte ihn. Solweigs Idee begann mir zu gefallen und die Herausforderung kitzelte mich in den Fingerspitzen. Der »Wettbewerb« bestand darin, Mr Cobbalds Unterricht zu sabotieren, ohne dass er es bemerkte, und hatte sich mittlerweile über mehrere seiner Kurse ausgebreitet. Dem Sieger würde für den Rest des Schuljahres das Geld fürs Mensaessen erstattet werden. Dafür warfen wir, die wir uns verschworen hatten, jede Woche ein Sümmchen zusammen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass die Gordon Stout zu meiner Zeit eine Privatschule mit ausgesucht deliziöser und – für Mittelständler wie Solweig und mich – horrend teurer Mensa war. Ein überaus würdiger Wetteinsatz also.

Ich pustete einige Radiergummireste von meinem Block, zog eilig ein paar neue Striche – unter Anderem, um den Spitzhut zu skizzieren – und zeigte Solweig die Zeichnung noch einmal. Matt hielt ich da heraus. Schließlich sollte er nicht meinetwegen in ein schlechtes Licht gerückt werden, falls Mr Cobbald meine Beschäftigungstherapie bemerkte. Bei Solweig lag die Sache anders. Immerhin kommentierte sie meine Zeichnung schon, seit ich den ersten Strich gezogen hatte. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.

»Besser?«

»Ja, viel besser!«, sagte sie, nachdem ihr prüfender Blick meine Zeichnung mit dem Original verglichen hatte, das trotz seiner beachtlichen Körpermasse energiegeladen vor der Tafel herumturnte, um seine Erklärungen zu veranschaulichen.

Ihr Lob beflügelte mich zu dem ein oder anderen Detail, und während Matt sich weiterhin Stichpunkte notierte, verpasste ich meinem Magier einen aufwändigen Anzugsaum und eine dicke Pelzkrempe am Spitzhut.

»Tierquäler«, wisperte Solweig amüsiert.

»Dann ist das eben Webpelz!«, fauchte ich zurück.

Ich war gerade damit beschäftigt, sein Gesicht zu schraffieren, um die prägnanten Züge besser zum Ausdruck zu bringen, als die volle, penetrante Stimme meines untersetzten Physiklehrers direkt über mir ertönte.

»Yuriy Furlong!«

Erschrocken schaute ich von meinem Block auf.

»Wir haben einen neuen Rekord«, wisperte Solweig, doch unter Mr Cobbalds Blick fiel der als triumphal veranschlagte Tonfall recht kleinlaut aus.

Sabotageversuch Nummer Drei war soeben in eine Phase getreten, da er kurz vorm Scheitern stand. Allmählich mussten wir wohl anfangen zu beten, dass uns niemand zuvorkommen würde. Die meisten Wettbewerbsteilnehmer waren Schüler im letzten Jahr, die von Mr Cobbalds Groll nicht mehr allzu viel zu befürchten hatten. Nur wenige aus der Mittelstufe hatten sich wie Solweig und ich an die Aufgabe herangetraut. Außerdem war die Hälfte des Schuljahres bereits vorbei und ich wollte weder das Essen für einen anderen bezahlen, noch einen allzu kurzzeitigen Gewinn einheimsen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Matt sich ein kleines, hämisches Grinsen nicht verkneifen konnte. Im Geiste sah ich eine karikierte Matt-Figur, hin und her gerissen zwischen loyaler Beschämung und Freudentanz, die immerfort sang: »Ich hab's euch ja gesagt! Ich hab's euch ja gesagt!«

Mr Cobbald heftete seinen Zerberusblick auf mich.

»Kannst du die Formel wiederholen?«, fragte er. Natürlich wusste er, dass ich es nicht konnte. Weil es bei ihm niemand wagte, mir die Antwort vorzusagen, suchte ich aus dem Augenwinkel die Tafel ab. Aber die einzige Formel, die neben der Spiegelzeichnung zu sehen war, hatte ein anderer Schüler schon vor einer Viertelstunde wiederholen müssen. Da war sie allerdings auch schon angeschrieben gewesen, und Mr Cobbald hatte getreu seinem Ruf das Ablesen bemerkt. Jetzt trommelten seine Fingerkuppen ungeduldig auf meinen Tisch. Ich sah ein, dass ich fürs Erste geschlagen war.

»Nein, Mr Cobbald«, knurrte ich mein Geständnis.

Mr Cobbald und ich pflegten eine besonders ausgeprägte Feindschaft. Dabei ging es nur vordergründig um den Wettbewerb. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich seinen Teil zu der Verschwörung nicht dachte, aber er hatte es nicht auf mich abgesehen, weil ich einer von vielen dahergelaufenen Störenfrieden gewesen wäre. Im Gegenteil: Ich pflegte meinem Ärger Luft zu machen, und zwar wie durch die Posaune, mit ausdauernder Bläserlunge. Das war inakzeptabel. Mr Cobbald schien sich vorgenommen zu haben, mir zu zeigen, wer die Hosen anhatte. Der absolutistische Herrscher und der Widerstand. Und was ärgert einen Tyrann mehr als ein aufmüpfiger Untertan?

Noch ein aufmüpfiger Untertan.

Mr Cobbald wandte sich von mir ab und durchbohrte stattdessen Solweig mit seinem Blick. Sie schüttelte bedauernd den Kopf und setzte den glaubwürdigsten Treuherzblick auf, den sie zustande bringen konnte.

»Tut mir Leid, Mr Cobbald. Ich habe gerade nicht zugehört.«

Das Verhalten meiner Freundin war beispielhaft für das der ganzen Klasse: Einen schüchternen Referendar hätten sie in Fetzen gerissen, aber vor Mr Cobbald kniffen sie den Schwanz ein wie geprügelte Hunde. Bei meinen Mitschülern kratzte mich das wenig; ich hatte gelernt, stillschweigend darüber hinwegzugehen. Das Schlimme war, dass Solweig sich auf ihr Niveau herabgelassen hatte. Insgeheim war ich ja der Auffassung, dass die Sache schon ganz anders aussähe, wenn sie ihre Entschuldigungen wenigstens ernst meinen würden. Ich glaubte aber, dass Mr Cobbald in dem Moment das Gleiche dachte wie ich, und wollte nicht das Gefühl haben, meiner Freundin in den Rücken gefallen zu sein. Beinahe ließ ich mich zu einer leeren Phrase hinreißen, um ihm einen Denkzettel zu verpassen, doch glücklicherweise funkte mir mein Stolz rechtzeitig dazwischen und fuhr mir über den Mund.

»Bitte? Wolltest du etwas sagen?«, fragte Mr Cobbald mich. Er hatte sich offenbar mit Solweigs Ausflucht abgefunden und erwartete nun, dass ich wieder einmal gegen ihn in den Kampf zog.

Ich schwieg beharrlich.

»Was war es denn diesmal? Eine Erklärung ist nur recht und billig. Immerhin haltet ihr es nicht einmal für nötig, Rücksicht auf den Teil der Klasse zu nehmen, der dem Unterricht folgt.« Sein Blick huschte bedeutsam zu Matt, dem über das verdiente Lob merklich die Brust schwoll. Sollte sie ruhig – eine so übertriebene Loyalität verlangte ich nun auch wieder nicht.

Da schnappte Mr Cobbald sich meinen Block.

Ich konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Ob er sich erkennt? Ich verwehrte es mir, in diesem aufregenden Moment die Luft anzuhalten.

Mr Cobbald fuhr sich prüfend über die Kinnpartie. »Du solltest Unterkiefer noch üben«, stellte er fest.

»Jawohl, Mr Cobbald«, sagte ich herausfordernd.

Mr Cobbalds Blick war steinhart, die Stille, die sich einstellte, vollkommen. Meine Mitschüler gafften uns sensationslustig an, als erwarteten sie, dass jeden Moment einer von uns beiden über den Tisch springen und sich mit Urwaldgeschrei auf den anderen stürzen würde.

»Ich lasse mir nicht die Zeit stehlen. Wir sprechen nach der Stunde«, sagte Mr Cobbald tonlos und wandte sich an die Klasse: »Nun, wo waren wir stehen geblieben?«

Matt tippte mit der Stiftspitze auf sein Heft. Ich warf einen unmerklichen Blick auf die Worte, die er zuletzt geschrieben hatte. »Bei der Beschaffenheit des Lots am Zerrspiegel«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen zu Mr Cobbald, ohne zuvor aufgerufen worden zu sein, und hängte mit sagenhafter Unschuldsmiene abermals seinen Namen hinten an.

Für einen Sekundenbruchteil entgleisten meinem Physiklehrer nun tatsächlich die Gesichtszüge. Ob dieses denkwürdigen Augenblickes musste ich mich zusammennehmen, um nicht triumphierend zu grinsen. Ich hatte Blut geleckt. Der offene Boykott grenzte an Selbstmord. Nein, an einen Ehrentod. Geradezu ein Martyrium! Die Siegstrategie überhaupt!

Meine Kursmitglieder hatten ihren Spaß an meiner Aufsässigkeit. Einige wagten es sogar, öffentlich zu kichern. Jetzt, wo ich vorne lag, machten sie mit wie eine Schafherde. Solweig lächelte verhalten. Matt lehnte sich unschuldig zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als ginge ihn der ganze Zirkus nichts an.

Mr Cobbald suchte und fand die Köpfe der Schüler, die sich über ihn lustig machten. Stimme für Stimme verebbte das Lachen. Dann blieb sein Blick an Matt hängen; ein Blick, der jeden gönnerhaften Zug eingebüßt hatte. Etwas in seinen Augen loderte auf. Nicht enttäuscht. Nicht wütend. Es war überhaupt kein Resultat einer Gefühlsregung. Vielmehr war es ein plötzliches Blitzen hinter seinen Pupillen; ein kaltes, irisierendes Leuchten, das die Iris zum Flackern brachte. Mr Cobbalds Augen erschienen spiegelblank.

Meine Finger zuckten unruhig. Kurzentschlossen setzte ich mich darauf. Schon ahnend, was mich erwartete, biss ich die Zähne zusammen. Ich begann zu frieren und zu allem Überfluss pochten meine Schläfen schmerzhaft.

Dass Matt jetzt doch in unsere Auseinandersetzung hineingezogen wurde, tat mir Leid. Allerdings war ich in gleichem Maße glücklich, dass nicht die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse auf mir lastete, während ich gerade einen Schwächeanfall erlitt. Meine Muskeln verkrampften; in einem plötzlichen Anflug von Übelkeit beugte ich mich über die Tischplatte.

Dann sprach Mr Cobbald, und die Kälte in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken.

»Du enttäuschst mich, Matt. Ich hätte nicht gedacht, dass du betrügen würdest.«

Auf der Stelle saß ich kerzengerade. Solweig stieß hörbar den Atem aus. Matt versank fast unter der Tischplatte, kalkweiß und zu verblüfft, um zu verbergen, wie verletzt er war. Bisher hatte unser Physiklehrer immer große Stücke auf ihn gehalten. Seinen Ruf wanken zu sehen, rüttelte den gesamten Kurs auf. Das gebannte Schweigen, das Mr Cobbalds Worten folgte, war zum Schneiden dick.

Endlich wandte Mr Cobbald sich von Matt ab. Er drehte sich zu Solweig und mir um, und unsere Mitschüler wussten, dass sie aus dem Schneider waren. Ich hörte ihre halbherzig unterdrückten Seufzer und hasste sie dafür.

»Ich denke, ihr solltet euch zu Hause eingehend mit dem auseinandersetzen, was ihr in der Stunde versäumt habt«, beschloss Mr Cobbald.

»Warum Solweig?«, erwiderte ich empört. Sie hatte nichts Anderes getan als meine Mitschüler – abgesehen von unserem anfänglichen Geflüster über meine Zeichnung. Aber provoziert hatte ich Mr Cobbald, und all dies sagte ich laut.

»Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen«, war sein ganzer Kommentar zu meinen Worten.

Ich schnappte nach Luft. Aber ich hielt den Mund.

Gelassen sackte er meinen Block ein und sagte über die Schulter: »Ihr könnt euch die Aufgabenstellung und die Zeichnung nach der Stunde bei mir abholen.«
 

»Was versprecht ihr euch davon, meinen Unterricht zu stören?«

Solweig und ich sagten kein Wort. Das gehörte zum Wettbewerbskodex.

Mr Cobbald lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Schlagstock hing hinter ihm an der Wand. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, er hätte ihn noch nie benutzt. Ich hatte wenig Lust, den Wahrheitsgehalt des Gerüchtes auszutesten.

»Ihr habt euch den A-Level-Schülern angeschlossen, was?«

Keine Antwort.

Er lächelte. »Sie haben sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Wenn sie im nächsten Juni die Schule verlassen, sind sie fein raus. Ihr habt dann noch zwei Jahre vor euch.«

Das machte es für uns umso verlockender. Berüchtigt in die Oberstufe einzutreten, war es allemal wert!

»Also frage ich euch, ob ihr euch über die Konsequenzen einigermaßen im Klaren seid, oder so dämlich, dass ihr euren Leichtsinn für Mut haltet.«

Solweig und ich widerstanden dem Bedürfnis, einen Blick zu wechseln.

»Über den ganzen schulischen Kram rede ich erst gar nicht«, sagte Mr Cobbald. »Schüler sind mal aufmüpfig, fahren mal eine schlechte Note ein, bleiben mal stecken. Manche gewöhnen sich auch daran. Sie schreiben weiterhin schlechte Noten, sie beziehen Prügel, die sie ertragen und schlucken, und bleiben aufmüpfig, aus welchen Gründen auch immer. Und was die Leute dagegen unternehmen, ist Irrsinn. Sie müssen nicht herausfinden, warum ein Schüler kein Interesse hat, sondern wie er sich locken lässt.«

Ich trat demonstrativ von einem Bein auf das andere, bis er seinen Sermon beendet hatte. Mr Cobbald schlug die Beine übereinander und musterte uns. Es vergingen einige Sekunden blanken Einander-in-die-Augen-Starrens. Dann wurde es mir zu blöd.

»Tja, dann finden Sie das mal heraus«, sagte ich. Man musste den Wettbewerbskodex nun auch nicht zu genau nehmen. Schließlich sollten wir nicht kooperieren, sondern sabotieren.

Er hob die Augenbrauen. Seine Stirn wellte sich zu Falten. »Das Interessante ist ja, dass meine Tour euch geradewegs zum Stören animiert.«

»Überaus interessant«, gab ich zurück.

Solweig stieß mir sachte gegen den Fuß, aber ich hatte Blut geleckt.

»Versuchen Sie gar nicht erst, mich zu locken. Offen gestanden, habe ich einfach keinen Draht zu Ihnen. Wenn ich mir den Stoff selbst anlese, komme ich schneller voran, als wenn ich hier versuche, mich darauf zu konzentrieren, welche von Ihren Äußerungen gerade nicht schreit: Ich bin der Lehrer und ihr seid mir ausgeliefert!«

Solweig trat mir so schwungvoll in die Kniekehle, dass ich fast einknickte. Aber ich hielt Mr Cobbalds prüfendem Blick stand.

Plötzlich grinste er amüsiert. Ich hätte ihm gern eine gelangt.

»Beweise es«, sagte er.

Ich hätte mir gern eine gelangt.

»Und ich habe auch genau die richtige Aufgabe dafür!« Er setzte sich so schnell auf, dass er beinahe von seinem Stuhl hüpfte.

Solweig warf mir einen stechenden Blick zu. Ich lächelte schlapp.

Mr Cobbalds Blick wanderte prüfend zwischen unseren Gesichtern hin und her.

»Solweig, meinst du, du hängst da mit drin?«

»Nein«, erklärte ich, bevor sie überhaupt den Mund aufgemacht hatte.

Solweig starrte mich an. Ich starrte zurück. Sie ließ ein missbilligendes Schnalzen vernehmen und verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein.

»Nein, wenn ich drüber nachdenke, glaube ich das wirklich nicht«, sagte sie mit einem Achselzucken.

Mr Cobbald bleckte die Zähne. »Cleveres Mädchen.«

Meine Ohren wurden verdächtig heiß.

Mr Cobbald beugte sich gönnerhaft zu mir vor. »Was hältst du davon, wenn ich dir das Thema der nächsten Stunde vorgebe? Dann kannst du zeigen, was du drauf hast. Du wirst die Stunde leiten und deinen Klassenkameraden Rede und Antwort stehen. Was sagst du?«

Das war eine rhetorische Frage.

Mein Stolz erlag einem Anflug von Unschlüssigkeit: Er wollte den Wettbewerb gewinnen. Aber er wollte sich auch nicht von Mr Cobbald lumpen lassen.

»Ich sage Ja, Mr Cobbald«, erklärte ich und staunte fast selbst über die Entschlossenheit in meiner Stimme.

Das schien ihn ehrlich zufriedenzustellen. Mit einem wohlwollenden Wink und dem besagten Stundenthema entließ er uns.

Sobald wir aus dem Raum waren, gab ich mich einer mannigfaltigen Fluchsalve hin.

Solweig lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Du Idiot!«, fauchte sie. »Das hast du wirklich verdient für so viel Blödheit!«

»Ihr lebt ja noch«, stellte Matt mit spröder Stimme fest.

Überrascht wandten wir uns zu ihm um.

»Du bist noch hier?«, sprach Solweig für uns beide.

Matt lehnte zusammengesunken an der Flurwand und malte mit dem Fuß unsichtbare Kreise auf den Fußboden. Er lächelte Solweig scheu zu und mied meinen Blick. »Meinen Ruf reinwaschen, denke ich«, sagte er achselzuckend.

»Jedem sein Fettnäpfchen«, erwiderte ich trocken. Wenn er erwartete, dass ich mich bei ihm entschuldigte, hatte er sich geschnitten. Den Ärger hatte er sich selbst eingebrockt, so wie Solweig und ich uns den unseren.

»Jungs, nervt mich nicht«, stöhnte Solweig.

Matt stellte den Angriff ein.

»Also, wie ist es gelaufen?«

Solweig übernahm die Aufgabe, ihm Bericht zu erstatten; mir war es nun doch zu peinlich. Matt lachte über meine Verbitterung, aber er klang säuerlich. Fast schien es mir, als bereute er es, nicht auch einen Vortrag halten zu müssen, um sich seine bevorzugte Stellung bei Mr Cobbald zurückzuverdienen.

Ich wollte ihm den Vorschlag gerade machen, da stieß er sich von der Wand ab und schob sich an mir vorbei. Solweig trat von der Tür zurück, um ihm Platz zu machen, und schenkte ihm ein warmes Lächeln. Ich wusste nicht, ob ich sie bewundern oder ihr an die Gurgel gehen sollte. Wenn Matt sich in seinem Selbstmitleid suhlen wollte, sollte er das tun. Aber man musste ihm die Erde nicht noch zu Schlamm wässern!

Ich wartete, bis er nach der Klinke griff.

»Tja, dann viel Glück«, sagte ich und stiefelte los.

»Für mich wird’s wohl nicht so einfach werden«, gab er bissig zurück.

Ich fuhr mitten im Schritt herum. Solweigs warnenden Blick übersah ich mit Absicht. Freund oder nicht, das ließ ich nicht auf mir sitzen.

»Weißt du, Matt«, sagte ich, »wir beide bauen mal Mist. Ich öfter als du. Aber wenn's mal wieder so weit ist, dann stehe ich dazu.«

»Man denkt, bevor man handelt«, blaffte er.

»Und man ignoriert seine Fehler nicht. Ich rede von Courage. Kannst du das auch?«

»Courage!« Matt funkelte mich kampflustig an. »Also, besonders dankbar bist du heute nicht.«

»Ich bin dankbar, dass du mir geholfen hast. Aber ich lasse mir nicht anhängen, dass dein Plan nach hinten losgegangen ist.«

Solweig räusperte sich vernehmlich.

»Ja, ich habe nicht aufgepasst«, fuhr ich ungerührt fort und durchmaß meine Entfernung zu Matt mit langen Schritten. »Ich habe deinen Rat zwar nicht befolgt – was übrigens allein in meinem Ermessen lag – aber ich habe dich auch nicht in den Streit hineingezogen. Die Entscheidung hast du ganz allein getroffen. Ich habe schon dafür geradegestanden, Matt. Solweig auch. Was ist mit dir? Wirst du Mr Cobbald sagen, warum du mir mit den Notizen geholfen hast?«

»Yuriy, halt die Klappe«, sagte Solweig.

Matt war still geworden und drückte sich mit dem Rücken an die Tür. Ich stand jetzt genau vor ihm. Er kam mir erstaunlich klein vor, und das machte mich nur noch wütender.

»Nein, wirst du nicht. Du wirst nur dasitzen. Du wirst verzweifelt von deinen Händen auf die Tischplatte und wieder zurück starren und dich selbst bedauern. Du wirst dein Maul halten, weil du dich nicht traust, für deine Fehler geradezustehen. Mann, Matt! Ich habe Besseres zu tun, als für dich den Sündenbock zu spielen!«

Matt starrte mich aus schmalen Augen an. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und presste die Lippen zusammen. Dann wandte er mir den Rücken zu und drückte die Türklinke herunter.

»So, wie du jetzt auch nichts sagst«, erklärte ich und holte zum Finalschlag aus. »Glaubst du denn, dass du Mr Cobbald mit der Einstellung umstimmen kannst?«

Matt zuckte zusammen, als hätte ich ihn auf eine empfindliche Stelle geschlagen. Seine Hand erstarrte am Türgriff. Ich hoffte, dass er endlich explodieren würde.

Ich wurde enttäuscht.

»Wasch dir das Gesicht, Hitzkopf«, murmelte er bloß und schob sich durch die Tür.

Ich griff nach seiner Schulter. Hätte Solweig mich nicht beherzt zurückgehalten, wäre ich wahrscheinlich mit einem Satz vor ihm gewesen. Ich hätte die Tür ins Schloss zurückgestoßen und ihn auf die Fliesen und ... weiter weiß ich nicht. Vielleicht war es besser, dass er sich in den Physikraum retten konnte.

»Komm wieder runter«, zischte Solweig und schob mich von der Tür weg. »Sonst bist du auch nicht so empfindlich.«

Ich ließ mich nur widerwillig von ihr mitziehen. »Er muss nicht meinen, dass er seine Schuld auf mich abwälzen kann!«

Solweig verdrehte die Augen. »Dass du immer denkst, die Leute wollten dir was!« Inzwischen schien sie sich sicher zu sein, dass ich auch ohne ihre führende Hand mitkommen würde, denn sie ließ meinen Arm los.

»Natürlich war er ungerecht. Aber was Mr Cobbald zu ihm gesagt hat, war für ihn genauso schlimm wie es für dich wäre, wenn Stamenkovic dir sagen würde, dass du nicht zeichnen kannst!«

Der Kommentar traf mich ins Mark.

»Das ist etwas ganz Anderes!«, fauchte ich. Sie wusste genau, wie sehr ich Jole Stamenkovic verehre. Mit jedem Farbstrich hauchte er dem Geist seines Modells auf dem Blatt Papier mehr Leben ein. Seine Bilder erzählten, wie er die Leute kennenlernte, die er malte, und was er von ihnen aufsog. Und war das Bild vollendet, sah man den Menschen vor sich, nicht sein Portrait. Selbstverständlich fühlte ich mich verpflichtet, Solweig dies ein weiteres Mal vor Augen zu führen.

»Wie poetisch«, feixte sie.

»Es ist ja wohl ein Unterschied, ob ich Kritik annehme oder nicht«, erwiderte ich.

»Wenn du die Chance hättest, Stamenkovic persönlich kennen zu lernen, würdest du wollen, dass er eine schlechte Meinung von dir hat?«

»Ich würde ihn gar nicht erst hintergehen!«

»Yuriy, der Punkt ist, dass Matt von einem Vorbild abgelehnt wurde.«

»Nein, der Punkt ist, dass er sein Vorbild hintergangen hat!«

»Nein, der Punkt ist, dass er einen Fehler gemacht hat und damit so gehörig aufs Maul gefallen ist, dass er ein wenig Starthilfe braucht. Wenn er ungerecht ist, ignoriere das einfach. Niemand erwartet, dass du ihm Hand auflegst, aber reibe – zum Donner – nicht auch noch Salz in die Wunde! Trag's mit Fassung. Der beruhigt sich auch wieder.«

Ich verkniff mir den bissigen Kommentar, der mir auf der Zunge lag. Mir war nicht danach, auch noch einen Streit mit Solweig anzuzetteln.

Missmutig schlurfte ich hinter ihr her.

»Eigentlich müsstest du jetzt eine besonders gute Arbeit abliefern«, sagte sie plötzlich.

»Vielleicht.« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

»Du enttäuschst mich, Matt. Ich hätte nicht gedacht, dass du betrügen würdest«, sagte ein Echo von Mr Cobbalds unterkühlter Stimme in meinem Kopf. So verhasst und gefürchtet er auch war, Matt hatte schon immer zu ihm aufgesehen, mit ehrlicher Bewunderung für sein Fachwissen. Und er hatte sich die Hochachtung dieses Lehrers erarbeitet. Sein Ansehen bei Mr Cobbald hatte eine spürbare Kerbe erhalten.

Mr Cobbalds Blick hatte ich noch deutlich vor Augen. Vielleicht hatte Solweig gar nicht Unrecht.

Ich stockte.

Und dann dieses Leuchten hinter seinen Pupillen.

Ich kannte dieses Licht. Seit einem Monat sah ich es immer wieder. Es tauchte völlig zusammenhanglos irgendwann am Tag bei irgendeinem Menschen auf, der zufällig meinen Weg kreuzte. Als ich es zum ersten Mal wahrgenommen hatte, war ich ohnehin nicht ganz auf der Höhe gewesen. Die Kopfschmerzen hatte ich nörgelnd hingenommen und das Leuchten für eine einfache Sinnestäuschung gehalten. Dass mir meine Augen den gleichen Streich aber mehrmals und völlig unwillkürlich spielten, war Blödsinn; ich sah das Leuchten immer häufiger, seit einer knappen Woche rund einmal täglich, und das stets in Verbindung mit diesen Schmerzen, die mir manchmal vom Kopf aus die gesamte Wirbelsäule hinunter zogen. Mittlerweile fragte ich mich, ob ich vielleicht Kreislaufprobleme hatte.

»Willst du da Wurzeln schlagen?«, hallte Solweigs Stimme über den Schulhof.

Erschrocken schaute ich auf.

Ich war mitten auf der Außentreppe stehen geblieben. Solweig war schon ein gutes Stück weitergegangen, bevor sie bemerkt hatte, dass ich ihr nicht länger folgte, und wartete ungeduldig vor dem Eisentor.

»Also, ich an deiner Stelle würde Mr Cobbald bestimmt nicht den Triumph gönnen, mich vor der Klasse zu blamieren«, meinte sie, als ich sie eingeholt hatte. »Hol dir die A-Note!«

Ich schaute sie verblüfft an. Meine Solweig hatte richtig Mumm!

Ihr Elan weckte meine Kampflust.

»Darauf kannst du Gift nehmen!«, versprach ich.

LEUCHTEN (II): »Das ist ein Arztgeheimnis.«

Doktor Graham klopfte die Testergebnisse auf der Tischplatte zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Dieser Stapel dokumentierte knapp vier Stunden, die ich zu jenem Zeitpunkt zu den aufreibendsten meines Lebens zählte, und die sich ungefähr folgendermaßen zusammenfassen lassen: Ich hatte fast zwei Stunden im Wartezimmer gesessen, weil in der Praxis Hochkonjunktur herrschte, und war dem Ophthalmologen anschließend – mit mehreren Unterbrechungen durch andere Patienten – mehr als eineinhalb Stunden lang von einem Vorsorgetest zum anderen gefolgt. Das Ausharren an sich war dabei nur lästig gewesen. Wirklich schlimm fand ich, dass Graham mehr wusste als ich und davon einen nicht unwesentlichen Teil für sich behielt.

Nun saßen wir uns gegenüber; er, ein gesetzter Mann, ein guter Arzt, die Ruhe in Person – und ich, geschlaucht, ahnungslos und zum Zerreißen gespannt. Mr Graham fasste mir noch einmal die einzelnen Tests zusammen und wofür sie da waren. Vor allem hörte ich allerlei Satzvariationen mit dem Sinngehalt: »Bei dir nicht der Fall«, und schließlich schloss er mit den Worten: »Ich kann keinen Mangel feststellen. Mit deinen Augen ist alles in Ordnung. Du bist ein bisschen weitsichtig, aber du kommst noch ohne Sehhilfe aus.«

»Super«, sagte ich. Normalerweise vermied ich Arztbesuche notorisch. Da hatte ich mich einmal überwinden können, und nun das. Ich beäugte die Ergebnisse, die vor seinen gefalteten Händen ruhten.

»Allerdings«, hob er an, worauf ich mich wie ein Häufchen Elend in den Stuhl zurücksinken ließ.

Er runzelte die Stirn über mich. Ich beschloss, es wäre das Beste, ein scheues Lächeln zur Schau zu tragen, und er fuhr tatsächlich zu reden fort: »Wegen dieses ›Leuchtens‹, wie du es nennst, solltest du deinen Kreislauf wirklich einmal überprüfen lassen. Lass dir einen Termin bei Jeod Faraday geben, um sicher zu gehen.«

Ich dachte, der Stuhl gäbe unter mir nach.

»Bei dem Jeod Faraday?«

Doktor Graham nickte.

Ich schluckte. Faraday war Allgemeinmediziner und hatte sich einen Ruf gemacht, weil er zum Ärger der Pharmazentren bis vor knapp siebzehn Jahren nötige Medikamente günstig an die Unterschicht verteilt hatte. Sein Name gehörte zum Allgemeinwissen jedes Schülers an der Gordon Stout. Mittlerweile hatte er sich zum privaten Spitzenarzt gemausert, dem Großunternehmer und Delegierte das Kurieren ihrer Wehwehchen anvertrauten. Also hatte sich im Laufe der Jahre seine Überzeugung geändert. Das hieß, er war teuer. Zu teuer für uns.

Damit zog ich einen Strich unter Grahams Ratschlag.

Ich wusste, dass ich äußerlich den Eindruck machte, den gehobenen Schichten anzugehören. Alles an mir vermittelte diese Botschaft: Wir besaßen eine Eigentumswohnung. Ich trug teure Stoffe, wenn ich unterwegs war. Ich besuchte die herrschaftliche Gordon Stout und besaß zwei maßgeschneiderte Schuluniformen. Ich kam in den regelmäßigen Genuss der unvergleichlichen Mensa. Mum achtete auf all dies. Sie arbeitete ja selbst für den Staat. Zumindest tat es der Chef ihres Chefs, und somit tauchte deren Glanz auch uns in ein sanftes Leuchten. Aber wie ein Mitglied der gehobenen Klasse auszusehen, bedeutete noch lange nicht, dass man den Frack auch ausfüllte, in dem man steckte. Man musste sich nur auf der Gordon Stout umsehen. Ein Drittel der Schüler besaß ausschließlich vererbte oder gebraucht gekaufte Uniformen. Und die Hälfte derer mit neuen fuhr mit dem Bus oder der Untergrundbahn und schwänzte die Mittagspause, indem sie großspurig vorgaben, zum Essen noch auszugehen. Es gab zwei simple Erkenntnisse, die man innerhalb der ersten Wochen an dieser Schule gewann: Wer das Essen an der Gordon Stout verschmähte, war ein Geschmacksbanause. Wer aber mit dem öffentlichen Verkehr kam und das Essen an der Gordon Stout verschmähte, gehörte zu einer Familie, die schlichtweg nicht über das nötige Kleingeld verfügte. Was dachtet ihr denn, weshalb die Sabotageversuche in Mr Cobbalds Unterricht ein Bataillon vereinigt hatten, das sich über all seine Kurse erstreckte!? Das war ihre Chance, sich einen Ruf zu machen. Ich hatte das Privileg, spaßeshalber teilnehmen zu können. Viele andere nicht. Zumindest glaubten sie das von sich.

Doktor Graham überging meinen Unmut.

»Jeod Faraday ist der Beste«, sagte er in einem Tonfall, der an Sanftheit einem gütigen Kopftätscheln gleichkam, und drückte mir einen Umschlag in die Hand.

Darauf war ein Wort abgedruckt, das mich schlucken ließ.

»›Arztsache‹? Ich denke, mit meinen Augen ist alles in Ordnung.«

»Das ist es auch. Aber du bist nicht der Einzige, der wegen eines ›Leuchtens‹ zu mir gekommen ist. Jeod hat Erfahrung mit den Symptomen, die du mir beschrieben hast.«

Jeod. Die beiden waren auch noch per Du.

»Also ist doch etwas mit mir?«

Er lehnte sich geduldig zurück.

»Ich weiß es nicht. Darum schicke ich dich zur Kontrolle zu ihm.«

»War denn etwas mit den anderen?«

Er hob die Brauen. »Das ist ein Arztgeheimnis.«

Sein Blick mahnte mich zur Ruhe. Sollten seine Worte ein Rüffel gewesen sein? Ich musterte ihn einen Moment lang, wie er sich vornüberbeugte und mich wohlwollend anlächelte.

Endlich begriff ich, dass ich entlassen war. Mehr würde er mir nicht sagen, also musste ich wohl oder übel noch eine weitere Arztpraxis betreten.

»Gib meinen Namen an, wenn du dir bei Jeod einen Termin machen lässt. Dann kommst du schneller an die Reihe«, sagte Mr Graham, als er mir zum Abschied die Hand gab.

Jeod.

Ich nickte artig und dankte ihm.

Nach Neujahr wollte ich mich auf der Stelle bei unserem Hausarzt vorstellig machen. »Jeod« kam nicht infrage. Selbst wenn ich Grahams Namen in die Waagschale warf, würde ein Blick auf meine Versichertenkarte genügen, um mich als unwürdig zu brandmarken. Nicht einmal die gehobene Mittelschicht hatte bei Staatsärzten etwas verloren. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich die Leute penibel hielten.

Es hatte wieder geschneit, als ich auf die Straße hinaustrat. Zu meinen Füßen lag der Schnee zerwühlt von unzähligen Schuh- und Reifenspuren. Inzwischen war es Samstagnachmittag, und ich war mitten in die Stoßzeit geraten. Vor Silvester bebte London vor Arbeitnehmern, die Überstunden geschoben hatten. Die Stadt bäumte sich in einer letzten Anstrengung auf, bevor sie zwei Tage lang feiern und die Folgen des Feierns auskurieren würde. Ich schlängelte mich in Richtung der U-Bahn-Station durch eine wabernde Masse von Familienoberhäuptern, die einen Tag vor Silvester ihren letzten Lebensmitteleinkauf tätigten, mit Tüten bestückten Nachzüglern, die auf den letzten Drücker noch etwas Passendes zum Anziehen für das Feuerwerk und ihre Kneipentour brauchten, und aufgeregten Touristen, die das nächstgelegene Restaurant ansteuerten. Ich hasste die Tage, die Feiertagen unmittelbar vorausgingen. Aus heiterem Himmel fiel London ein, dass es wieder einmal soweit war. An jeder Straßenecke wimmelte es plötzlich von Menschen, die sich gegenseitig vorwärts schoben. London selbst war der Griesgram und die Ungeduld. Der Untergrund mit seinen heimlichen Einkaufsmeilen war meist noch schlimmer dran. Heute versuchte die Masse vor allem, dem Tumult des Silvestermorgens zuvorzukommen. Auf dem Bahnsteig drängten sich die Menschen wie eine Horde zusammengetriebener Tiere, die aufs Verladen warten. Sobald man die Stationen der Innenstadt hinter sich gelassen hatte, konnte man aufatmen, und das meine ich wörtlich. Mein Problem war, dass ich lange vorher würde aussteigen müssen. Ich liebäugelte fast mit der Vorstellung, durch die kommenden Viertel bis nach Hause zu laufen.

Wir lebten zu dritt in einer der gehobeneren Wohngegenden Londons: Mum, mein Großvater und ich. Seit dem Bürgerkrieg waren die meisten viktorianischen Bauten in Kensington komplett saniert worden. Das Villenviertel am Hyde Park befand sich immer noch im Wiederaufbau, aber die alten Eliten hatten sich erneut angesiedelt und die Mietpreise in die Höhe getrieben. Eine schmucke Gegend, die viel zu teuer für uns gewesen war. Aber schon ein paar Straßenzüge weiter und etwas näher am Zentrum gelegen, waren die Häuser erschwinglich und noch immer herrschaftlich genug. Dank Mums guter Bezahlung hatten wir es uns leisten können, die Wohnung im Erdgeschoss eines Reihenhauses zu kaufen und sie auf den neuesten Stand zu bringen.

Die Hände in den Jackentaschen vergraben, schob ich mich durch die Menge. In Gedanken spielte ich die Szene durch, in der ich vor meiner Mutter Beichte ablegte. Von dem Leuchten hatte ich ihr nichts erzählt. In letzter Zeit war sie wiederholt für Doppelschichten eingezogen worden und beanspruchte deshalb unsere Wohnung als absoluten Ruhepol. Ich hatte ihr nicht noch mehr Sorgen bescheren wollen, deswegen war ich ihren Fragen, was ich trieb, mit Belanglosigkeiten ausgewichen. Bisweilen konnte aber mein Großvater schweigen wie ein Grab. Vielleicht konnte ich mich über ihn vorarbeiten.

Seit Tagen konnte ich nirgendwo mehr entlanggehen, ohne darauf zu achten, wann das Leuchten das nächste Mal aufblitzen würde und unter welchen Umständen. Der flackernde Farbwechsel erinnerte mich an irgendetwas, doch bisher hatte ich nicht herausgefunden, an was. Ich merkte mir genau die Gesichter der Leute, überlegte, ob sie mir von irgendwo her bekannt vorkamen, analysierte die Situationen bis ins Detail und verglich sie miteinander, aber mein Ergebnis blieb immer gleich: Das Leuchten war nicht an eine bestimmte Laune gebunden. Zwischendurch dachte ich, ich würde mich in diesen Momenten einfach zu schnell bewegen. Aber es tauchte nur auf, wenn ich Menschen direkt anschaute, und ich musste nicht einmal den kleinen Finger rühren: Erst neulich hatte ich in einer überfüllten Untergrundbahn gesessen, um zu Matt zu fahren, und das Leuchten bei einer alten Frau gesehen, die auf der Suche nach einem Sitzplatz an mir vorbeiging. Als ich ganz in guter Manier aufstand, um ihr meinen zu überlassen, bedankte sie sich bei mir, ganz aus dem Häuschen über so viel jugendlichen Edelmut. Und als der Zug dann vor der nächsten Station bremste und sie den Halt verlor und erschrocken auf den freien Platz purzelte, sah ich es.

Während ich nun auf dem Weg zur Untergrundbahn zwischen den Leuten hindurchschlüpfte, begann ich mich nach allen Seiten nach dem Leuchten umzuschauen.

Ich wurde überraschend schnell fündig. Direkt neben mir tauchte ein heller Lichtreflex auf Höhe eines Kopfes auf. Mit klopfendem Herzen drehte ich mich um und lief einige Schritte rückwärts, um der Frau mit den Blicken folgen zu können.

Bis ihr Augenbrauenpiercing erneut im Sonnenlicht aufblitzte.

Grundgütiger, bist du fixiert, tadelte ich mich in Gedanken. Mit einem schweren Seufzer drehte ich mich schwungvoll wieder in die Laufrichtung um.

Und rannte geradewegs in jemanden hinein.

Der Aufprall war ungewöhnlich heftig und warf mich nach hinten, sodass ich hart auf dem Steißbein landete. Der andere Kerl musste blindlings drauflos gerannt sein. Obwohl mein Kopf unversehrt war, dröhnte hinter meiner Stirn ein bohrender Schmerz. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte ich ein Stöhnen. Mir kam da so eine Idee, und ich fasste prüfend mein Gegenüber ins Auge. Der Mann, der nicht minder unsanft gestürzt sein musste als ich, kam gerade wieder auf die Beine und las seinen Rucksack und sein Mobiltelefon vom Boden auf. Es war noch eins von den ganz alten sperrigen mit Farbbildschirm, die bestimmt seit über acht Jahren nicht mehr gebaut wurden. Wo hatte er das Ding bloß ausgegraben?

Als sein Blick das Display streifte, blickte er missmutig drein. Ich schaute genauer hin. Und seine Augen leuchteten doch! Ich hatte Recht gehabt.

Die Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Ich unternahm einen schwächlichen Versuch, aufzustehen, sank aber wieder zusammen. Die Übelkeit klopfte von unten an meine Kehle und ich fürchtete schon, mich zu den Füßen des Mannes übergeben zu müssen. Mein Unterkiefer bebte. Ich biss die Zähne zusammen, um ihn zum Stillstand zu bringen, und hatte das Gefühl, er nähme es zum Anlass, um meinen ganzen Körper zu schütteln. Mir brach der kalte Schweiß aus.

Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätte es mich nicht treffen können. Meine Finger griffen nach dem Umschlag in meiner Hosentasche, auf dem »Arztsache« stand. Phantomschmerzen konnte ich nicht haben, dafür hatte mich der Ophthalmologe zu ernst genommen. Ich schluckte erneut.

»… kümmere mich um ihn«, sagte jemand über mir. »Gehen Sie weiter!«

»Aber ich sitze doch«, murmelte ich dumpf. Meine Stirn glühte. Mein Mund war staubtrocken. Mein Körper fühlte sich an wie durch die Mangel gezogen. Wohin sollte ich schon gehen? Ich konnte ja nicht einmal aufstehen!

Irgendetwas bewegte sich vor meinem Gesicht und erregte meine Aufmerksamkeit. Es war die Hand des Mannes, mit dem ich zusammengestoßen war.

»Brich mir nicht zusammen, Kleiner.«

Zur Antwort blinzelte ich. Ich presste die Arme vor den Bauch und kippte fast vornüber, als ich plötzlich aufstoßen musste. Mit großer Willensstärke unterdrückte ich den Brechreiz und hoffte, das Problem würde sich über Silvester nicht noch weiter auswachsen.

»Jetzt reiß dich aber mal zusammen! Wie heißt du eigentlich?«

Ich versuchte mich auf seine Stimme zu konzentrieren. Durch die Ablenkung entspannte sich mein Körper ein wenig. Mechanisch nuschelte ich meinen Namen.

»Also gut, Yuriy. Schau mich an.«

Ich musste mich zwingen, den Kopf zu heben. Durch einen Tränenfilm hindurch erwiderte ich seinen Blick.

Eventuell kann ich Mum auch dazu überreden, sinnierte ich, dass sie mir bei einem der Ärzte einen Platz besorgt, die für ihre Behörde arbeiten. Das ersparte mir zumindest die Blamage, vor Faradays Arzthelferinnen hintreten und mich mit näselnder Arroganz aus der Praxis herauskomplimentieren lassen zu müssen. Dass man bei Mums Amtsärzten nach Lust und Laune seine Familienangehörigen in Behandlung geben durfte, stand eigentlich nicht in den Papieren. Aber falls unser Hausarzt nichts feststellen sollte, hielt ich meinen Zustand doch für einen ausreichenden Grund.

Vielleicht sagte ich das auch laut.

»Du siehst, dezent gesagt, ziemlich erbärmlich aus«, stellte der Mann trocken fest. Der eine Satz war mir schon zu lang, um jedes einzelne Wort zu verstehen, aber ein gewisser Zusammenhang zwischen »du« und »erbärmlich« entging mir nicht.

»Spinner!«, brummte ich recht deutlich.

Er lachte. Meine Gedanken fuhren nach wie vor Karussell, aber über meine plumpe Wut ließ die Übelkeit nach, und ich konnte mich im Sitzen aufrichten.

Bestimmt sind auf Grahams Umschlag …

»... Fettabdrücke«, fügte ich laut hinzu. Im Geiste ärgerte ich mich schon darüber, ihn besudelt zu haben, obwohl ich gar nicht nachgesehen hatte.

»Na also. Stehst du jetzt von alleine auf, oder willst du meine Hand haben?«

Ich schüttelte entsetzt den Kopf, schaute auf meine eigenen schweißnassen Hände und murmelte todernst: »Ich habe schon zwei!«

Schwankend raffte ich mich auf.

Nachdem ich einige steife Schritte gegangen war, klangen auch die Kopfschmerzen ab. Mein Verstand begann wieder zu arbeiten, und siedend heiß wurde mir bewusst, was ich da vorhin gesagt hatte.

Wie kam ich auf den Gedanken, dass mir jemand tatsächlich seine Hand aus Fleisch und Blut anbieten wollte, wie ein Feilscher im Ersatzteillager? Das war für mich der eindeutige Beweis, dass ich doch nicht übergeschnappt war, sondern dass in Grahams Schreiben wahrscheinlich der Befund eines fußballgroßen Hirntumors verbrieft war, der meine Wahrnehmung als Tor benutzte.

Der Kerl stand noch immer am selben Ort wie zuvor und schaute mir mit einem Ausdruck nach, der auf einen ganz ähnlichen Gedankengang schließen ließ. Als sich unsere Blicke begegneten, brachte er seine Mimik unter Kontrolle. Er musste etwa Ende Zwanzig sein und war hoch gewachsen, von schlanker, athletischer Statur. Seine Jacke war aus schwerem Stoff und hatte noch den altmodischen Frackschnitt, der mittlerweile in die unteren Schichten verdrängt worden war. Wer Geld hatte und etwas auf sich hielt, hatte auf knielange, wehende Mäntel umgesattelt. Manch einer setzte sogar noch einen drauf und hüllte sich in einen Umhang, der sich in den winterlichen Böen dramatisch bauschte. Dieser Mann hier hatte trotz aller ständischer Stillosigkeit augenscheinlich auch Geld und hielt etwas auf sich – das bewies der makellose Zustand der altbackenen Jacke. Die dunklen Haare hatte er hoch am Hinterkopf zu einem gepflegten Pferdeschwanz zusammengefasst. Ein paar dünne Strähnen, die zu kurz für den Zopf waren, fielen ihm in die Stirn. Die gestriegelten Herren vom Vorstand der Gordon Stout hätten bei diesem Anblick missbilligend mit den Zungen geschnalzt. Allein deshalb war er mir sympathisch. Ich ärgerte mich gleich noch mehr über meine Unzurechnungsfähigkeit.

Plötzlich wurde ich mir meines dümmlichen Grinsens bewusst. Ich ertappte meine Hände dabei, wie sie den Reißverschluss meiner Jackentaschen auf- und zuzogen, und versenkte sie in den Hosentaschen.

»Ähm – 'tschuldigung, dass ich Sie umgerannt habe.«

Er erwiderte meinen Blick beherrscht. »Kein Problem.«

Am liebsten hätte ich mich in Rauch aufgelöst. Mit den Augen rollend, wandte ich mich wieder zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne. Erneut trafen sich unsere Blicke.

»Wie heißen Sie eigentlich?«

Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Lächeln.

»Urian.«

Ich überlegte tatsächlich kurz, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Dann zuckte ich mit den Achseln. Ich würde ihn ja sowieso nie wieder sehen.

»Tja. Also dann … Machen Sie es gut, Urian«, sagte ich.

Ein Anflug gutmütigen Spotts stahl sich auf sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

»Pass auf deine Hände auf, Yuriy.«

Unter gewöhnlichen Umständen hätte mich diese Bemerkung zu einer Salve bösartiger Kommentare inspiriert. So überrumpelt und mit meiner Lage im Unreinen, wie ich momentan war, druckste ich jedoch bloß noch einen Augenblick länger herum, bevor ich mich endlich besann und den Mann zügigen Schrittes in der Menge zurückließ.

Die Arme eng am Körper, stolperte ich auf die U-Bahn-Station zu. Die Scham saß mir im Nacken wie kalter Glibber. Nachdem ich in aller Öffentlichkeit fast zusammengebrochen war, wurde ich auf dem gesamten Heimweg das ungute Gefühl nicht los, dass die leuchtenden Augen des Mannes noch immer auf mir ruhten.

LEUCHTEN (III): »Es tut mir Leid, aber ich erlaube keine Feilscherei.«

»Oh Yuriy, nicht schon wieder!«

Mum ließ sich seufzend gegen die Bartheke sinken, als ich ihr zerknirscht von der Strafarbeit in Physik berichtete und davon, wie Mr Cobbald mich zum Narren gehalten hatte. Ich regte mich auch wortgewaltig darüber auf, dass er Solweig als einzige Spötterin neben mir hatte bestrafen wollen. Und dass er sie nur verschonte, um mich persönlich besser in die Mangel nehmen zu können.

»Nur, weil sie meine Freundin ist!«, schloss ich. Dass Solweig mir in den Rücken gefallen war, verschwieg ich wohlweislich. Das Geständnis, dass ich sie erst dazu provoziert hatte, brachte ich einfach nicht über die Lippen.

Mum hatte nur ein Kopfschütteln für mich übrig. Sie war erst Minuten zuvor vom Dienst nach Hause gekommen und hatte mich erwischt, wie ich Breca mein Leid über den Zwischenfall klagte.

Breca war mein Großvater. Ich hatte mir angewöhnt, ihn beim Vornamen zu nennen, seit er und ich uns einmal im Freizeitpark an der Küstenseite von Plymouth aus den Augen verloren hatten, als ich noch klein war.

Gott sei Dank war ich noch nicht auf das Leuchten zu sprechen gekommen, als Mum die Wohnung betreten hatte. Mein Entschluss, sie damit nicht zu behelligen, stand nach wie vor fest. Dafür hatte ich ihr prompt eine erholsame Tasse Tee aufgeschwatzt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens wirkte sie ausgebrannt, und meine bevorstehende Diskussion mit ihr – denn darauf würde sie bestehen – würde ebenfalls anstrengend werden. Zweitens hoffte ich für mich, dass sich ihre Laune durch den Tee bessern würde. In Grund und Boden argumentieren konnte sie mich selbst mit dem strahlendsten Lächeln; allerdings fiel diese lächelnde Argumentation dann etwas humaner im Hinblick auf mein kleinwüchsiges, hilfloses »Aber ...« aus. Ich musste sie neben all meiner Menschlichkeit also zumindest eigennützig in Versuchung führen, was ein Leichtes war. Immerhin war sie ein Tee-Junkie. Hätten es also meine Worte nicht getan, dann spätestens der aromatische Duft.

»Warum hast du nicht einfach den Mund gehalten? Du wusstest doch genau, dass deine Argumente haltlos waren«, erklärte Mum zwischen zwei Schlucken.

»Bei ihm war es doch genauso«, protestierte ich. »Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen!«

Sie sah diesen Lehrer ja nur zu den Sprechtagen! Wenn sie ihn einmal im Unterricht erlebt hätte, wäre ihr Bild von ihm ein ganz anderes gewesen, da war ich mir sicher. Als sie durch den offenen Doppeltürrahmen in Richtung Wohnzimmer stiefelte, lief ich ihr nach, um ihr mindestens zehn gute Gründe aufzuzählen, weswegen ich Solweig und mich hatte verteidigen müssen.

»Warum hast du dich überhaupt dazu herabgelassen, ihn so anzugehen? Darüber ärgerst du dich doch eigentlich«, sagte sie schlicht, bevor ich überhaupt anfangen konnte. »Und – was ich nicht verstehe – darüber, dass dein Lehrer Solweig ebenfalls bestrafen wollte. Zu Recht, will ich meinen, wo sie dich doch die ganze Zeit über angefeuert hat.«

»Sie hat mich nicht angefeuert!«, brauste ich auf.

Mum fuhr mitten in der Bewegung herum. Dass sie dabei fast ihren Tee verschüttete, schien sie gar nicht zu bemerken.

»Nicht? Dann will ich dich mal ins Bild setzen: Sie lässt sich von dir ablenken und lenkt dich ab. Sie wagt es, eine Entschuldigung für ihr respektloses Verhalten zu heucheln. Sie hält dich nicht zurück, sondern lacht auch noch über deine Aufsässigkeit, und das nur, um ihn zu ärgern. Und du sonnst dich selbstzufrieden in ihrem Gelächter, bis Mr Cobbald die Zügel strammzieht!«

»Ich habe mich nicht in ihrem Gelächter gesonnt!«

Welch miserable Verteidigung! Wie konnte ich ihr nur erklären, dass Solweig und ich viel gescheiter waren als diese Spottvögel von Klassenkameraden?

»Doch, das hast du«, setzte Mum nach. »In ihrem Gelächter und in deinem eigenen Geschwafel. Die anderen interessieren dich doch gar nicht.«

Meine sorgsam ausgewählten Gegenargumente zischten wie ein durchlöcherter Luftballon davon. Dass wir uns unsere Missfälligkeiten offen an den Kopf warfen, gehörte in unserem Hause zum guten Ton, deshalb war ich abgehärtet. Breca, der gerade eine neue Kanne Tee aufsetzte, unterdrückte ein Lachen. Ich sah genau, wie seine Schultern bebten, als er sich von uns abwandte, um das kochende Wasser aufzuschütten.

Dass Mum mich tadeln würde, war mir klar gewesen. Aber dass sie eine derartige Verständnislosigkeit aufbringen konnte! Wenn mein geschundener Stolz Rückendeckung und Streicheleinheiten brauchte, rammte ihre Vernunft ihn zusätzlich treffsicher in den Boden.

»Ich komme mir nicht cool vor«, sagte ich zu ihr. »Aber ich lasse nicht zu, dass er auf Solweig herumhackt, obwohl die anderen wiehern wie die Esel.«

Mum lupfte die Augenbrauen.

»Warte – hat sie das nicht auch?«

»Du weißt genau, was ich meine!«

»Allerdings, und ich verstehe nicht, dass du so darauf beharrst«, erwiderte sie. »Mr Cobbald hat sogar Recht. Immerhin ging das ganze Theater von euch aus.«

»Mum!«, rief ich entrüstet.

»Da will sie ihre Eltern stolz sehen, die sich den Rücken bucklig schuften, damit sie und ihr Bruder auf diese Schule gehen können. Und was tut sie? Anstatt sich auf den Lehrer und seine Macken einzustellen, ist sie so ignorant wie du –«

»Das stimmt nicht«, murrte ich, doch sie ging gar nicht auf mich ein.

»– und erwartet, dass Mr Cobbald Männchen für die Klasse macht und euch den Lernstoff zu Brei kaut, damit ihr nur noch schlucken müsst. Seit er euch übernommen hat, ist euer Kursmittel überdurchschnittlich gut. Also erzähl mir nicht, dass es an eurem Lehrer liegt, wenn ihr beide absackt.«

Während ihrer Rede hatte ich stets nach einem Luftloch gesucht, um einen Protest an den Mann zu bringen, der über meine schwächliche Sammlung von Eigentlich-ist-das-ja-ganz-anders-gelaufen-Varianten hinausging. Nun blieben mir die Worte im Halse stecken. So vernichtend abgefertigt, stand ich eine ganze Weile wie versteinert vor ihr, ohne einen Ton herauszubringen.

»Charlotte, lass gut sein. Ich denke, du bist zu ihm durchgedrungen«, erklang schließlich Brecas Stimme neben mir. Mein Großvater nahm Mum die Tasse ab, die inzwischen leer war, und reichte sie ihr gefüllt zurück, ein lammfrommes Lächeln auf den Lippen.

»Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, woher der Wind weht, lieber Vater«, knurrte Mum, nahm die Tasse aber an. Schnaubend wandte sie sich zur Seite und ertränkte ihre Wut in einem Zug, der den kochend heißen Tee in einer einzelnen Welle in ihren Magen spülte. Ich verstand nicht, wie sie ihn so einfach hinunterstürzen konnte.

Der Moment, den sie danach zum Atemschöpfen brauchte, war meine Chance, die weiße Flagge zu hissen.

»Und wenn ich ein B hole?«

Ein B war natürlich nicht so imposant wie das A, das ich Solweig am Nachmittag versprochen hatte. Allerdings wollte ich ja nicht gleich hingehen und Luftschlösser bauen! So sehr ich von mir selbst überzeugt war – ein bisschen Luft nach oben musste ich mir schon lassen.

Mum setzte die Tasse ab. Ihre Augen bohrten sich abermals in meine. In Erwartung eines weiteren treffsicheren Hiebes versuchte ich, zumindest eine gewisse Haltung anzunehmen.

Aber der Schlag blieb aus.

»Ein bisschen mehr Eigeninitiative ist alles, was Mr Cobbald von euch erwartet«, sagte sie streng. »Und ich weiß auch, dass dein Referat gut wird, wenn du dich wirklich damit auseinandersetzt. Du brauchst nur immer wieder einen Tritt in den Allerwertesten, um in Gang zu kommen, und das muss aufhören.«

Ich nickte ergeben. Ich fand die Strafe immer noch ungerecht, aber ein guter Feldherr sieht, wann seine Position unhaltbar ist.

Mum spähte in ihre Tasse und seufzte. Es schien ihr überhaupt nicht bewusst gewesen zu sein, dass sie sie bereits wieder geleert hatte. Sie fuhr mir versöhnlich mit der Hand über die Wange. Ich legte mir noch ein paar erweichende Worte zurecht und wollte gerade beginnen, als mir die Türklingel dazwischenfunkte.

Brecas Blick wanderte vielsagend zur Zimmerdecke. »Ihr habt wieder den Arbeitsprozess gestört«, sagte er verschmitzt.

»Der soll froh sein, dass in seinem Leben noch ab und zu etwas Anderes bewegt wird als seine Augen von links nach rechts über den Bildschirm!«, knurrte Mum und durchquerte zielstrebig den Flur in Richtung Haustür.

»Der« war niemand Geringeres als der Mann, dem die Wohnung über unserer gehörte. Sein Name war Mr Collins. Er arbeitete im Bankenviertel in der Altstadt und hatte Ohren wie ein Hütehund. Wenn er nicht gerade mit Schlips und Frack hinterm Schalter stand, war er oben in der Wohnung mit seiner kabellos transportierbaren Familie beschäftigt. Genaugenommen, war er mit seinem Notebook verheiratet und hatte ein Kind, das rund und verchromt war und in seine Ohrmuschel passte, und dessen Tasten führendes Pendant irgendeine klassische Musik säuselte, sobald jemand ihn anrief. Wahrscheinlich teilten sie sich auch noch ein Bett. Wenn er überhaupt jemals schlief.

Mum atmete ein letztes Mal tief durch, bevor es daran ging, den verbiesterten Workaholic in Empfang zu nehmen.

Nach einem Blick durch das in die Tür eingelassene Bullauge verharrte ihre Hand jedoch einige Atemzüge auf der Klinke, bevor sie sie herunterdrückte.

»Guten Abend, die Dame.«

Das war nicht Mr Collins. Die Stimme war rau und dunkel und behutsam wie Fingerspitzen, die über Daunen streichen. Weil ich sie nicht kannte, spähte ich neugierig in den Flur.

Im offenen Türrahmen stand ein einzelner Mann, die schwarze Melone tief ins Gesicht gezogen. Langer schwarzer Mantel, schwarze Hose, schwarze Schuhe – eine hochoffizielle Aufmachung. Seine Kleidung war abgetragen, aber sauber, und ihr haftete noch die Anmutung ihrer einstigen Eleganz an.

Überrascht erwiderte Mum seinen Gruß. Der Besucher zog den Hut vor ihr und lächelte sie gewinnend an. Sein Gesicht war übersät mit roten Narben, ebenso der sichtbare Teil seiner Unterarme; sie waren alt und überwiegend gut verheilt, aber immer noch spektakulär genug, um den Kerl mit offenem Mund anzustarren. Eine besonders lange, brüchige zog sich diagonal von seiner Stirn bis zum Kinn und schnitt in sein rechtes Auge, das bleich und milchig in seiner Höhle ruhte. Die Narben machten es schwer, sein Alter einzuschätzen, aber ich vermutete, dass er sich in den späten Vierzigern bewegte. Was für eine Gestalt. Als er an Mum vorüber in den Flur spähte, streifte mich sein gesundes Auge und blieb kurz an mir haften. Unter seinem durchdringenden Blick überlief mich ein Schauer, den ich eilig niederrang. Der Mann schien es bemerkt zu haben, denn seine Mundwinkel zuckten spöttisch.

»Möchten Sie mich nicht hereinbitten?«, fragte er Mum charmant. Seine Kleidung mochte fast welk sein – seine Stimme war es nicht. Ich beschloss, ihn nicht aus den Augen zu lassen.

»Es ist spät, also bitte ich Sie zuerst, sich zu erklären.« Mums Hand umklammerte immer noch von innen die Klinke. Die andere Hand legte sie nun wie beiläufig auf den Türrahmen. Plötzlich wurde mir klar, dass sie diesen Mann nicht hereinlassen würde – egal, wie überzeugend seine Erklärung ausfiel.

»Mrs Charlotte Furlong. Es ist mir eine Ehre.« Er streckte die Hand nach ihrer aus, schien jedoch vergessen zu haben, sich selbst vorzustellen. Oder er ging davon aus, dass sie ihn kannte.

Mum nickte ihm zu, verschränkte aber demonstrativ die Arme vor der Brust, und der Narbige zog mit einem Schulterzucken und einem gespielt traurigen Seufzer seine Hand zurück.

Sie musste ihn kennen.

»Ich möchte gern Mr Breca Furlong sprechen«, fuhr er in nicht minder höflichem Tonfall fort. »Ist er im Haus?«

Mum musterte demonstrativ sein Erscheinungsbild und versuchte sich an dem typischen geduldigen Lächeln, mit dem sie sonst Mr Collins aus der Wohnung über uns begegnete. Es wollte ihr nicht recht gelingen.

»Sind Sie geschäftlich hier?«

»In gewisser Weise. Ehrenamtlich trifft es besser.«

»Das muss ja ein sehr wichtiges Gespräch sein, wenn Sie sich so spät noch herbemühen. Es tut mir leid, aber es wäre uns sehr recht, wenn Sie bitte morgen oder nach Neujahr wiederkämen«, sagte sie eindringlicher. »Breca Furlong ist gerade beschäftigt und bedeutsame Geschäfte bespricht man besser bei Tageslicht.«

»Es tut Ihnen nicht leid.«

Trotz der Narben brachte der Kerl es fertig, ihre freundliche Miene noch zu übertreffen. Plötzlich war es mir sehr recht, dass Mum ihn an der Tür aufhielt.

»Bedauerlicherweise kann das, was ich mit Ihrem Vater zu besprechen habe, nicht bis morgen warten.« Er zwinkerte und rief in die Wohnung hinein: »Mr Breca Furlong?«

Ich trat nun vollends in den Flur, Breca blieb in der Küche zurück. Mir kam der Gedanke, dass ich mir irgendetwas als Waffe hätte mitnehmen sollen. Nicht, dass ich mit meinen fünfzehn Jahren den Hauch einer Chance gegen das Narbengesicht gehabt hätte. Aber ich wusste, dass ein Moment, in dem der Kerl straucheln würde, Mum bereits genügen konnte, um die Kontrolle über die Situation zu erlangen. Sie hatte nicht umsonst jahrelang beim Außendienst gearbeitet.

»Heute Abend sind Sie unerwünscht«, knurrte sie und wollte dem Mann die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch er stemmte sich mit der bloßen Hand dagegen, so mühelos, als hielte er anstelle von massivem Holz ein Kissen ab. Mum ächzte.

Der Narbige schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn ich jetzt gehe, bin ich immer unerwünscht«, sagte er. »Egal wann ich wiederkomme.«

Mum wagte nicht zu blinzeln. »Ich fordere Sie zum letzten Mal auf, dieses Haus auf der Stelle zu verlassen. Wenn Sie nicht in einer Minute draußen sind, rufe ich die Polizei.«

Der Narbige lächelte sie breit an. »Sehr gut. Sehr diszipliniert. Eine Minute, sagen Sie? Wenn alles glatt geht, dauert es auch nicht länger.« Er klopfte an den Türrahmen. »Mr Breca Furlong!«

Resolut schob sich Mum an ihm vorbei, verriegelte die Wohnungstür und griff nach dem Telefon, das in einer Vorrichtung neben dem Türrahmen hing. Der Narbige wirbelte zu ihr herum, langte in seinen Mantel und hielt ihr im nächsten Moment einen Steinschlossrevolver unter die Nase.

Vor Schreck verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke. Mum erbleichte, den Rücken gegen die Tür gepresst.

Der Narbige zuckte mit den Achseln. »Sie sollten Sich wirklich anhören, was ich zu sagen habe«, sagte er ruhig.

Widerwillig hängte Mum das Telefon wieder ein. »Hol bitte Breca her«, sagte sie zu mir, ohne den Narbigen aus den Augen zu lassen.

»Nicht nötig, bei solch guten Manieren komme ich Ihnen entgegen«, ertönte Brecas Stimme neben mir. In seinem Tonfall lag unverkennbare Missbilligung.

Der Narbige zeigte für einen kurzen Moment deutliches Interesse. Ich warf Mum einen Blick zu, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf und ich war zur Bewegungslosigkeit gezwungen.

Breca stellte sich vor mich. »Sie haben gewettert, mein Herr?«

»Und einen Auftrag für Sie«, erwiderte der Narbige unvermittelt, Blick und Waffe nach wie vor auf Mum gerichtet.

Breca musterte zuerst den Revolver, dann den Narbigen. »Weg mit dem Ding. Ich verhandle nicht mit Ihnen bei vorgehaltener Waffe.«

Die Narbenbacke lächelte ihn an. »Dann sind wir immerhin einen Schritt weiter. Es tut mir Leid, aber ich erlaube keine Feilscherei. Und damit Sie« – er warf meiner Mutter einen Blick zu – »nicht hinter meinem Rücken unsere Verhandlungen stören, gehe ich auf Nummer Sicher.«

Er verengte die Augen zu Schlitzen. Mit einem Klicken verkündete die Waffe ihre Schussbereitschaft. Mum stand bleich und steif vor dem Lauf.

»Nicht!«, stammelte Breca und machte einen Schritt auf den Fremden zu.

Dann sprang der Zündfunke über. Ich zuckte zusammen, als der Schuss fiel, und noch einmal, als unser Telefon implodierte.

Mum hatte die Arme um ihren Körper geschlungen. Finger um Finger löste sich ihre Verkrampfung und offenbarte sie unverletzt.

Vor Erleichterung sank ich gegen die Wand.

Brecas verkrampfte Hand suchte mach meinem Arm, verfehlte mich aber. Ich klopfte ihm auf die Schulter, zum Zeichen, dass er sich um mich keine Sorgen machen sollte.

Der Schuss war nicht laut gewesen; ein Schalldämpfer hatte den Knall abgefangen. Ich hoffte auf eine Reaktion von dem Bankier über uns, wurde aber enttäuscht. Mr Collins hatte nichts gehört.

Der Narbige betrachtete die schmauchenden Überreste des Telefons. Er sah nicht zufrieden aus. Besonders gerührt wirkte er allerdings auch nicht. Dann wandte er sich erneut an Mum, die noch immer zwischen ihm und der Wohnungstür stand und den Atem anhielt.

»Möchten Sie ihnen nicht Gesellschaft leisten?«, fragte er mit einem Nicken auf uns und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen.

Mum hatte die Augen aufgerissen und tat keinen Schritt. Ihr Blick lag auf dem Narbigen und klagte ihn traurig an.

Erst bei einem neuerlichen Wink seinerseits schien sie sich zu besinnen und entschied, dass es das kleinere Übel sei, ihm den Fluchtweg freizumachen. Um mich herum schien die Luft zu prickeln. Auf meinen Armen stellten sich die Haare auf. Der Narbige hatte uns vor dem Lauf und die Wohnungstür im Rücken.

»Ich bitte Sie nun, sämtliche Mobiltelefone auszuschalten und mir auszuhändigen«, erklärte er und ließ den Blick herausfordernd über unsere Gesichter wandern.

Mum trug ein Handy in ihrer Hosentasche. Ohne eine Miene zu verziehen, legte sie es in seine offene Handfläche.

Der Narbige warf einen kurzen Blick auf das Display. Über sein Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. »Ah, von dem Ding hat er erzählt«, murmelte er. Laut genug, dass wir ihn auch ja verstehen konnten.

In stummer Übereinkunft widerstanden wir dem Drang, »Wer?« zu fragen. Nervös drückte Mum meine Schulter. Ich bemerkte, dass ich zitterte, und versuchte vergeblich, mich unter Kontrolle zu bekommen.

Mum musste irgendwie die Kurzwahl betätigt haben, die sämtliche Telefone in unserem Haus mit dem Büro verband, in dem sie arbeitete. Die Nummern aller vernetzten Gebäude waren mit einem Computer in ihrer Behörde verbunden, sodass jedes Haus, von dem der Anruf ausging, genau bestimmt werden konnte. Haustelefone aktivierten kleine Kameras, die in den Zimmern aufgehängt waren und die Szenerie ablichteten. Ich hatte nicht schlecht gestaunt, als ich sah, wie scharf die Bilder dank der Lasertechnik geworden waren. Wie genau der Computer Mobiltelefone zu orten wusste, entzog sich meiner Kenntnis, aber hier in der Innenstadt waren Handysignale ein Witz in Tüten, und es gab natürlich keine Bilder. War der Anrufer lokalisiert, wurde automatisch eine Eingangsbestätigung in Form eines kurzen Rückrufsignals gesendet. Bei Gelegenheit versuchte man, eine Fangschaltung herzustellen, die jeden Ton im Haus überwachte, und ein angemessenes Polizeiaufgebot wurde losgeschickt. Das war sicherlich nicht alles, was das Ding konnte, aber alles, was ich mit Sicherheit wusste. Das Gerät war für die Sicherheit der Behördenmitglieder entwickelt worden, unerschwinglich teuer und für Mittelständische wie uns normalerweise überhaupt nicht zugänglich, deshalb glaubte ich, das Ding musste wesentlich mehr draufhaben. Was Letzteres betraf, hatte ich Mum mit meinen Fragen geflissentlich zur Weißglut treiben müssen, bevor sie mir widerstrebend von irgendeinem Gönner ganz niedrigen Ranges von der Regierung erzählt hatte. Angeblich hätten alle Angestellten aus ihrer Abteilung so einen Computer bekommen – eine »kleine Anerkennung im Namen der Regierung« für die Beamten, die ihnen unter Lebenseinsatz Schutzdienst gewährleisteten.

Eigentlich hatte ich es mit Freuden aufgenommen, dass Mum seit fast drei Monaten nur noch im Büro arbeitete, weil die Straßen in der letzten Zeit gefährlich geworden waren. Ihre Arbeitskollegen von der Streife waren mehrheitlich von Banden angegriffen worden, die in ihrer Verbohrtheit immer wieder mal ein Zeichen setzen wollten. Es war eine schweigende Rebellion gegen die Regierung, die sich nur vereinzelt in schlecht organisierten Boykotts und Übergriffen Luft machte. Seit dem Bürgerkrieg hatte es ständig Auseinandersetzungen und Aufstände solcher Art gegeben. Aber in jüngster Zeit häuften sie sich.

Anscheinend hatte sich die schweigende Rebellion nun von der Straße auch in die Institutionen verlagert. Wir hatten die kleinen Kameras erst vor wenigen Wochen installieren lassen, nachdem Mum plötzlich darauf gedrängt hatte. Irgendjemand hatte sie aus irgendeinem Grund gewarnt, dass jemand wie der Narbige vorbeischauen könnte. Und irgendjemand hatte wiederum dem Narbigen Informationen über den Computer übermittelt. Für meinen Geschmack trafen sich da zu viele unwahrscheinliche Dinge.

Der Narbige schaltete das Mobiltelefon aus und sackte es ein. Der Anruf war noch nicht erwidert worden, und wir drei beteten, dass die Verbindung lange genug aktiv gewesen war, um das Telefon zumindest ungefähr zu orten.

»Noch jemand?«, fragte der Narbige in die Runde. Sein Blick richtete sich gezielt auf mich. Ich beeilte mich, den Kopf zu schütteln. Mein Glück war, dass ich mein Handy tatsächlich nicht bei mir hatte, denn das ersparte mir die Möglichkeit, den Narbigen zu belügen. Ich konnte ausgezeichnet lügen, und außer unter Mums Argusaugen ließ ich es auch gerne darauf ankommen. Aber dass ich unter dem prüfenden Blick dieses Mannes den Schwindel aufrechterhalten hätte, traute ich mir dann doch nicht zu. Ich konnte ihn nicht einschätzen; vielleicht hätte er mir, ohne lange zu fackeln, durch meine Jacken- und Hosentaschen ins Fleisch geschossen, um meine Behauptung zu überprüfen?

Er schien mir allerdings zu glauben.

»Sehr schön«, lobte er mich, senkte die Waffe und wandte sich meinem Großvater zu. »Sie werden mir die Ehre erweisen, einen Transcensionsschlüssel für mich zu schmieden.«

Mum wandte sich zu Breca um, als käme ihr der Begriff bekannt vor. Ich verstand überhaupt nichts. Meine Familie schien eine ganze Menge mehr zu begreifen als ich, denn Breca betrachtete Mum eine ganze Zeit lang mit argwöhnisch gehobenen Augenbrauen, als wollte er ihre Zustimmung zu irgendetwas einholen.

Ich musste mein Unverständnis offen zur Schau tragen, denn der Narbige lächelte mich mitleidig an. Augenblicklich warf ich ihm einen bitterbösen Blick zu. Da zwinkerte er verschwörerisch.

Ich schnaubte.

In diesem Augenblick ergriff Breca entschieden das Wort: »Ich schmiede nicht mehr.«

Der Narbige lächelte erneut, und hätte ich nicht den Spott in seinen Augen gesehen, hätte seine Miene sogar verständnisvoll gewirkt. »Ich denke, ich kann Ihnen ein Angebot machen, das Sie unmöglich ausschlagen können, Mr Furlong.«

Mein Großvater verschränkte die Arme vor der Brust und wies mit dem Blick auf die Pistole. »Ihre Bedingungen kenne ich schon.«

Der Narbige lachte wie über einen mittelmäßigen Scherz. »Sie kennen eines meiner schwächsten Argumente«, erwiderte er.

»Ich bitte Sie!« Breca rümpfte die Nase. »Ihre Debattierfreude kennt keine Grenzen, ja? Was soll das für ein Schlüssel sein?«

Mit wohlwollender Gebärde wies der Narbige auf die Küchentür. »Ich würde mich darüber sehr gern unter vier Augen mit Ihnen unterhalten.«

Breca kniff ein Auge zusammen und unterzog die Narbenbacke einem abschätzenden Blick. Schließlich stellte er sich vor Mum und mich und dirigierte den Kerl mit einer ausladenden Geste an sich vorbei in die Küche. Beunruhigt beobachteten Mum und ich, wie der Mann die Waffe im Futter seines Mantels verschwinden ließ. Wir verfolgten jeden seiner Schritte durch den Flur, auf jedes Geräusch lauschend, das nicht nach Schuhen klang, die den Boden berührten, und jede Bewegung prüfend, ob sie zum Wiegen des Körpers bei Schritttempo gehörte.

Bevor die Küchentür hinter Breca und der Narbenbacke ins Schloss fiel, machte Mum einen Schritt auf die beiden Männer zu, doch Breca wies sie mit einer knappen Geste an, zurückzubleiben.

Sobald wir allein waren, tippte sie mich an. Als ich mich zu ihr umwandte, steckte sie mir einen Zettel zu, zeigte zur Flurdecke und legte dann die Faust ans Ohr, Daumen und Zeigefinger abgespreizt. Mir dämmerte, dass auf dem Papier die direkte Durchwahl zum Kopf ihrer Abteilung oder zu sonst einem hohen Tier stehen musste, und ich dankte ihr insgeheim dafür, dass sie die Nummer anscheinend ständig mit sich herumtrug.

Ich nickte und stahl mich zur Wohnungstür. Auf dem Weg nach oben würde ich hoffentlich genug Zeit haben, mir etwas auszudenken, damit Mr Collins mir Flegel sein Telefon überließ. Seit Solweig, Matt und ich ihm vor ein paar Jahren regelmäßig Streiche gespielt hatten, pflegte er mir nämlich kein einziges Wort zu glauben. Als ich die Klinke hinunterdrücken wollte, sah ich durch das Bullauge, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenhauses ein Mann zu mir umdrehte.

Melone. Schwarzer Mantel. Ein ziemlich düsterer Trend. Er sah mich unverwandt an und hob die Hand zum Gruß. In Sekundenschnelle war meine Zuversicht wie weggeblasen.

Den Schlüssel im Anschlag, hielt ich mitten in der Bewegung inne, fluchte und stieß die Faust gegen die verschlossene Tür. Hinter mir räusperte sich Mum ungeduldig. Ich zeigte zuerst auf die Küche, dann nach draußen ins Treppenhaus. Mum verdrehte die Augen und schlug resignierend die Handflächen auf die Hüften.

Ich kehrte zu ihr zurück. »Was sind Trans... Dings ... diese komischen Schlüssel?«

Mum seufzte. »Die magischen Behörden benutzen sie, um von einem Ort zum anderen zu kommen.«

Ich musste ehrlich verwirrt dreinschauen.

Sie zeigte auf die Wohnungstür. »Ein Beispiel: Du gehst da durch und kommst in Solweigs Zimmer wieder heraus. Deswegen heißen sie Transcensionsschlüssel. Artefakte zum Überbrücken weiter Strecken. Oder zum Errichten von Sicherheitsmaßnahmen.«

»Und was habt ihr damit zu tun?«

»Wenn ich das wüsste.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nichts wusste. Aber dies war wohl kaum der richtige Augenblick, sie zum Reden zu drängen. Mit Blick auf die Küchentür prägte ich mir den Begriff ein. Transcensionsschlüssel. Wider Mums Willen schlich ich mich zur Küchentür und drückte das Ohr dagegen, um zu lauschen.

Augenblicklich klopfte von der anderen Seite jemand herrisch gegen das Holz.

»Das gehört sich nicht«, sagte der Narbige düster.

Ertappt stolperte ich zurück.

»In alten Häusern haben Türen und Wände Ohren«, fügte er spitzbübisch hinzu. Während er an Breca gewandt weitersprach, verebbte seine Stimme und mit ihr jedwedes andere Geräusch aus der Küche. Ich hielt die Luft an. Mein Herz hämmerte mir gegen die Rippen. Etwas in mir brach auf, und ich verlor die Kontrolle.

»BRECA!«, brüllte ich und wollte mich auf die verschlossene Tür stürzen, doch Mum war bereits neben mir und hielt mich zurück. Von der Decke her ertönte ein ungeduldiges Stampfen. Ich hatte es tatsächlich geschafft, Mr Collins zu stören.

Das dumpfe Geräusch trieb mir die Tränen in die Augen. In meiner Verzweiflung schrie ich weiter Brecas Namen, in der Hoffnung, dass es nicht bei einem bloßen Fußstampfen von oben bleiben würde.

Mum packte meine Hände so fest, dass ich es nicht schaffte, mich loszureißen. Sie schloss die Arme um mich und führte mich von der Küchentür fort.

Als sie mich in Richtung Treppenhaus umdrehte, begriff ich, warum sie mich aufgehalten hatte. Der schwarz gekleidete Passant stand direkt vor der Wohnungstür und schaute uns durch das Bullauge hindurch interessiert zu.

»Entschuldigung«, sagte er freundlich, »ich möchte wirklich nicht unhöflich erscheinen, aber möchten Sie mich nicht hereinlassen?«

Trotz fließendem Englisch war seine französische Herkunft nicht zu überhören. »Hier draußen ist es mittlerweile recht frisch geworden«, fügte er mit charmantem Lächeln hinzu und zuckte die Achseln.

Ich warf Mum einen unschlüssigen Blick zu. Sie zögerte, bis auch er eine Schusswaffe zückte.

»Ich kann Sie unmöglich in Unkosten stürzen«, erklärte er und zielte auf das Türschloss.

LEUCHTEN (IV): »Wo bleiben Ihr Fingerspitzengefühl und Ihre Gastfreundschaft?«

Als der Mann die Küchentür hinter sich zuzog, sah Breca Furlong die undeutliche Ausbeulung im Stoff, wo die Schusswaffe im Mantelfutter ruhte. Der Kunde – Breca war dazu übergegangen, ihn im Geiste als solchen zu bezeichnen – überflog die hochwertige Kücheneinrichtung mit einem raschen Blick, ohne viel dafür übrig zu haben.

»Hübsch haben Sie es hier«, stellte er beiläufig fest und klopfte auf die Granitarbeitsplatte.

»Wer hat Sie geschickt?«, fragte Breca. Seine Stimme klang nicht so sicher wie er gewollt hatte.

Der Kunde lachte. »Nicht so störrisch, Sie sind der Hausherr! Wo bleiben Ihr Fingerspitzengefühl und Ihre Gastfreundschaft? Gegen einen Tee hätte ich wirklich nichts einzuwenden«, lud er sich selbst ein und studierte die Etiketten verschiedener Mischungen, die auf einem Regalbrett neben der Theke aufgereiht waren. »Das lockert die Anspannung. Mr Furlong?« Er hielt Breca ebenfalls eine Tasse hin.

Breca hob abwehrend die Hand. »Bitte, bedienen Sie Sich.«

»Vielen Dank.«

Der Kunde überhörte Brecas Schnauben und strich sich über die Narben am Kinn. »Ich arbeite für die weltweit größte Gegeninstanz der magischen Behörden«, sagte er verschmitzt. Dann wandte er sich ab, um an einigen Mischungen zu riechen, schließlich eine gläserne Tasse, das Teeei und, zu Brecas Verdruss, Charlottes Lieblingssorte auszuwählen. Der Kunde verfiel in Schweigen, während er das Wasser aufsetzte und aus der Innentasche seines Mantels eine Taschenuhr aus dunklem Metall zückte. Breca dämmerte, dass er nichts erfahren würde, ehe der Tee nicht fertig war.

Vom Flur drangen die Stimmen seiner Tochter und seines Enkels dumpf unter der Tür hindurch. Er konzentrierte sich auf ihren Klang, unfähig, die einzelnen Worte zu verstehen. Eine dumpfe Angst kroch ihm in die Knochen, als er seine Aufregung nicht niederkämpfen konnte.

»Ich bedaure Ihre Abneigung«, sagte der Kunde plötzlich.

Breca starrte ihn erschrocken an.

Die Taschenuhr schnappte klickend zu. Der Kunde wog sie noch einen Moment in den Händen, ehe er sie wieder in die Tasche gleiten ließ. »Ich vertrete eine Vereinigung von internationaler Bedeutung. Sie sollten Sich geehrt fühlen, dass ich Sie in Auftrag nehme«, erklärte er und entsorgte den Teebeutel nach einem kurzen suchenden Blick und einem Wink vonseiten Brecas im Müll.

»Ich fühle mich beleidigt«, erwiderte Breca trocken.

»Natürlich.« Der Kunde lächelte nach wie vor. »Es ist nur ein Anraten: Sie sollten umdenken.«

Plötzlich verengte er die Augen zu Schlitzen, als störe ihn irgendetwas. Er pochte vernehmlich gegen die Küchentür und sagte zu ihr: »Das gehört sich nicht.«

Brecas ängstlichem Blick begegnete er mit einem schelmischen Funkeln in den Augen.

»In alten Häusern haben Türen und Wände Ohren.« Seine Finger kreisten über den Tassenrand und erzeugten einen summenden Ton, der die Küche erfüllte. Es erschien Breca, als vibriere die Luft unter einer plötzlichen Spannung.

Der Kunde fuhr unbeirrt laut zu reden fort: »Sehen Sie, dass wir ausgerechnet Sie ausgesucht haben, dient einem reinen Demonstrationszweck. Da Charlotte mich durchschaut hat, kann sie sich das mittlerweile wahrscheinlich denken.«

»Sie durchschaut?«, wiederholte Breca argwöhnisch.

Der Kunde bleckte die Zähne zu einem Grinsen. Das Geräusch, das seine Finger auf dem Tassenrand erzeugten, schwoll weiter an. Breca hatte Mühe, sich zu konzentrieren; der Ton surrte in seinen Ohren wie ein Mückenschwarm.

»Würden Sie das bitte unterlassen!«

»Entschuldigen Sie.«

Der Kunde tat wie geheißen. Das Summen erstarb, doch die Spannung hüllte die beiden Männer unverändert ein.

»Es wäre zuvorkommend, wenn Sie uns ein wenig unterstützen könnten«, fuhr der Kunde unbekümmert fort.

Breca runzelte die Stirn. »Die ganze Maloche, um der Congregatio ein Bein zu stellen? Ich dachte, Atlantis hätte höhere Ziele.«

»Wie findig, Mr Furlong!«

»Das soll vorkommen«, schnaubte Breca.

»Wir haben leider nicht mehr besonders viele Möglichkeiten, unsere Ideen öffentlich kundzutun.« Der Blick des Kunden wurde für einen Augenblick weich. »Leider steht uns die Congregatio im Weg. Sie hat etwas, das wir brauchen, das ist unser Problem.«

»Anteil an der Regierung?«, schlug Breca vor.

Der Kunde lachte auf. »Verschriftlichtes magisches Wissen!«, sagte er gewichtig. »Wenn Sie, Mr Furlong, für uns den Schlüssel schmieden, können wir den Senat getrost umgehen. Und damit die gesamte Congregatio.«

»Sie dürfen gern ein wenig deutlicher werden.« Erneut klang Brecas Stimme nicht so scharf wie geplant.

Der Kunde nippte an seinem Tee. Sein Gesicht nahm einen fast angeekelten Ausdruck an. »Es ist widerwärtig, wie instabil solche Organisationen sind, nicht wahr, Mr Furlong? Vergiftet vom Zahn der Zeit, vernichten sich die zukünftigen Größen gegenseitig, wie frisch geschlüpfte Bienenköniginnen. Sie versuchen die anderen auszustechen, solange diese schwächer sind, bis nur noch sie selbst übrig bleiben. Und der ganze vermaledeite Schwarm legt seine gesamten Hoffnungen auf diese eine Biene. Schicke eine Wespe hinzu, die einmal gezielt zusticht, und sofort herrscht heilloses Durcheinander.«

Einen Moment lang schwieg der Kunde versonnen. Breca biss die Zähne zusammen.

»Es ist ein Jammer, dass dabei die Wespe meistens wie ihr Opfer enden muss.« Dieser Gedanke schien den Kunden zu faszinieren. Er schwelgte einen Moment lang in seiner Vorstellung, als hätte er vergessen, dass Breca sich im selben Raum befand. Dann, als würde er sich der Wirkung seines Verhaltens plötzlich bewusst, schenkte er Breca ein gewinnendes Lächeln. »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Seien Sie versichert, dass Ihr Verdienst an unserem Plan reich entlohnt wird.«

Breca verlagerte sein Gewicht auf sein anderes Bein. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, worin der Plan eigentlich besteht.«

»Sie kennen Ihren Anteil«, erwiderte der Kunde. »Das sollte genügen.«

Breca fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er musste diesen Mann hinhalten, bis die Behörden anrückten. Gewiss würden seine Tochter und sein Enkel irgendwie die Gelegenheit nutzen.

»Wie viele haben Sie vor mir schon gefragt?«

»Präzise?« Der Kunde prostete ihm zu. »Sie sind der Einzige.«

Breca schluckte hart. »Und wie komme ich zu der Ehre?«

Der Kunde lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete ihn. »Bitte verstehen Sie mich strategisch. Die Congregatio Magica unterschätzt Atlantis. Unser Wissen kann ihr das Genick brechen, doch solange wir nichts beweisen können, glaubt sie sich sicher. Wir brauchen den Schlüssel bloß, um diesen einen Beweis erbringen zu können.«

»Das Wissen worum?«

Der Narbige zwinkerte ihm zu. »Genau davor hat die Congregatio Angst. Dass wir es ausplaudern.«

Breca atmete tief durch. Das war doch alles heiße Luft! Wenn er weiter Zeit schindete, bekam er vielleicht das eine oder andere aus dem Kunden heraus. »Sie sind bewaffnet. Welche Gefahr droht Ihnen durch mich?«

Der Narbige lächelte freudlos und legte den Kopf schief. »Nun, in Anbetracht dessen, dass Ihre Tochter eine ausgebildete Spitzenagentin ist, die nur ihrer Familie zuliebe den direkten Senatsdienst quittieren musste, lassen Sie mich bitte kurz überlegen.«

Verwirrt schüttelte Breca den Kopf. Wie kam es diesem Mann in den Sinn, zu spotten und zugleich die eigene Schwäche einzuräumen?

»Wie heißen Sie?«

Der Narbige schaute interessiert auf. »Was tut das zur Sache?«, erkundigte er sich spielerisch.

»Ich weiß gerne, mit wem ich Geschäfte mache.«

»Also ziehen Sie es in Erwägung.«

Breca schwieg.

Der Narbige spielte gelassen mit seiner Tasse.

»Die Congregatio kennt mich bereits«, sagte er beiläufig. »Sie übrigens auch.«

Breca verschränkte die Arme. »Das bezweifle ich.«

»Nur, weil Sie nicht genau hinsehen.«

»Um ehrlich zu sein, wünschte ich, Sie würden sich auf der Stelle umdrehen und verschwinden.«

»Ich bin kein guter Umgang für Ihre Tochter«, erwiderte der Narbige. »Ich weiß. Das haben Sie damals auch gesagt.«

Breca hatte schon zu einer Erwiderung angesetzt, als ein Gedanke ihn stocken ließ. Bilder aus seiner Erinnerung blitzten auf. Holzfronten. Charlotte, in der offenen Tür stehend. Ein zertrümmerter Rahmen. Scherben eines Spiegels.

Statt des beabsichtigten Donnerwetters brachte Breca nur ein gehaltloses Stammeln hervor. Wütend auf sich selbst, zwang er sich zum Durchatmen.

»In zwölf Jahren ändert sich Einiges.« Der Kunde fuhr versonnen die Konturen seiner Narben entlang. »Lestard dürfte genügen.«

Breca zuckte zurück. Er kannte den Namen. »Lestard« tauchte regelmäßig in den Medienberichten auf. Fernsehen und Zeitungen erhoben jedes Gerücht über ihn zur Legende und ihn selbst zum wandelnden Mysterium. Es gab keine scharfen Bilder von ihm; keine offiziellen zumindest. Mit einem gesichtslosen Dämon, der England aus dem Schatten heraus tyrannisierte, ließ sich anscheinend der größere Profit machen. Aber Breca brauchte weder Medienfotografien, noch Schlagzeilen. In seiner Erinnerung flackerten die Spiegelscherben im Lichtschein auf, wie eine Pfütze über den Boden gebreitet.

»Du bist Lestard Calhoun«, murmelte er heiser. »Dann gibt es dich wirklich noch. Dass du dich hierher traust ...«

Der Narbige lächelte. »Ja, der Lestard. Der von Hausdach zu Hausdach fliegen kann und in einem Gefecht am helllichten Tage zwanzig Spitzenagenten der Congregatio mit einem Augenaufschlag ausgeschaltet hat. Der Neulinge für Atlantis rekrutiert, indem er sie im Vorübergehen anhaucht und sich somit untertan macht. Der Flugblätter mit seinem eigenen Blut geschrieben und die Taubenschwärme Londons verhext hat, sodass sie sie in jeden Winkel der Stadt trugen und ihren Inhalt von allen Dächern gurrten, damit auch der letzte seine Botschaft verstand.« Er lachte schallend. »Genau genommen, war es das Blut der zwanzig Agenten, aber erzählen Sie es nicht weiter.«

Breca schüttelte den Kopf. »Der Lestard, der sich hinstellt und seinen Vertrauten eine Waffe unter die Nase hält. Charlotte hat mir damals gesagt, dass du dich verändert hättest. Nicht nur äußerlich, wie ich sehe. War es das wert?«

»Das wird sich zeigen.« Der Narbige tippte mit den Fingerspitzen gegen die Tasse. »Damals haben wir unsere Entscheidungen getroffen, Charlotte und ich. Und bisher stehen wir beide ganz gut dazu.«

Breca schluckte; in seinem Mund sammelte sich Gallegeschmack. »Gut. Hören Sie, Lestard.«

Es war ein Name, den man hörte und benutzte. Aber nun sprach er den Menschen an, über den man sonst nur im Kreis mit anderen redete – zum ersten Mal seit Jahren.

Der Kunde streckte sich. »Gehen wir wieder zur offiziellen Form über?« Es war eher eine amüsierte Feststellung denn eine Frage.

Breca überging den Einwurf. »Wenn das für Sie ein Geschäft ist ...«

»Nicht mehr und nicht weniger.«

»Dann sind wir nicht gerade vielversprechende Partner. Wie Sie bereits bemerkt haben, hat sich Charlotte vom Senatsdienst zurückgezogen. Wir können Ihnen nicht helfen.«

»Seit wann geht die Aufgabe eines Berufes mit der Aufgabe einer Berufung einher?«, entgegnete der Narbige amüsiert.

Breca stutzte. »Haben Sie diese Phrasen etwa einstudiert!? Ich für meine Begriffe bin nicht bereit, als Wespe zu enden.«

»Sie wissen sehr gut, wie ich zu dieser ›Phrase‹ stehe.« Lestards Blick schnitt wie ein Messer in den seinen.

Breca zwang sich, standzuhalten. »Sicherlich stehen Sie deshalb jetzt vor mir.«

Lestard kniff die Augen zusammen. »Es geht mir nicht um Charlotte«, sagte er. »Mich interessiert der Schlüssel und dass Sie ihn schmieden können. Ich ziele auf Kooperation ab, Mr Furlong. Ich lasse Ihnen bei diesem Vorhaben die Sicherheit des Opfers zukommen. Aber diesen Luxus wissen Sie nicht zu schätzen.«

Breca richtete sich gerade auf. Seine Taktik funktionierte vielleicht doch. »Lebensgefahr betrachte ich nicht als Luxus. Wir haben keine Verbindungen mehr, die nützlich für Sie wären. Suchen Sie sich einen anderen Schmied.«

Lestard schüttelte ausdruckslos den Kopf. »Und woher haben Sie die Alarmanlage? Woher wussten Sie, dass wir jemanden schicken werden?«

»Woher wussten Sie, dass wir die Anlage haben?«, erwiderte Breca trocken.

»Darauf wollte ich hinaus. Wir haben unsere Augen und Ohren überall, das wissen Sie. Sie scheinen sie zumindest in einigen Ecken zu haben.«

Ein kalter Zug an Lestards Lächeln ließ Breca frösteln, doch er schüttelte den Schauer ab.

»Ihre Standhaftigkeit ist bemerkenswert, Mr Furlong. Ich sehe, durch die Blume verstehen Sie es nicht.« Lestard wog die Tasse in den Händen. Seine raue Stimme hatte ihre Leichtigkeit verloren. »Ich habe mich mit diesen Floskeln aufgehalten, weil ich davon ausgegangen bin, Sie erkennen Ihre Lage von selbst. Sie sind beileibe nicht in der Position der freien Wahl.«

Einen Moment starrte Breca ihn unschlüssig an. Dann zeigte sich Begreifen auf seinen Gesichtszügen.

»Was passiert da draußen mit meiner Familie?«, stieß er entsetzt hervor und ließ sich auch von Lestards beschwichtigend gehobener Hand nicht abwürgen.

»Das allgemeine Bild von mir macht es schwer glaubhaft, aber das würde ich nicht wagen. Soweit sieht der Plan vor, dass Sie drei unangetastet bleiben.« Der Narbige nickte verständnisvoll. »Das ist alles etwas viel auf einmal, ich weiß. Sie werden die Congregatio bitte über unser Vorhaben informieren. Mein Kollege ist gerade draußen und erklärt Charlotte, wie sie vorzugehen hat.«

»Ihr Kollege«, echote Breca.

»Sie sehen doch, dass ich nicht zu ihr durchdringe.«

Breca zwang sich, ruhig zu atmen. »Auch ein ...«

»Princeps«, führte Lestard den Satz zu Ende, als Brecas Stimme brach. »Selbstredend. Sehen Sie jetzt, von welcher Bedeutung ihr Mitwirken ist? Für Ihre Dienste ist uns nichts zu schade.«

Breca ballte die Hände zu Fäusten. »Hatten Sie die Idee?«

Der Narbige warf einen nachdenklichen Blick in seine Tasse.

»Reden Sie!«, fauchte Breca ungehalten.

Lestard wandte sich ihm wieder zu. »Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit. Der Hauptköder sind gar nicht Sie, Mr Furlong. Auch nicht Charlotte. Ich genieße einen Bekanntheitsbonus, von dem die meisten anderen nicht einmal träumen. Sie sollen den Hund zum Anschlagen bringen, mehr nicht.«

Breca schnappte nach Luft. »Sie verlangen also allen Ernstes von mir, dass ich Atlantis helfe, die Congregatio zu stürzen?«

Vor Lachen verschüttete Lestard beinahe seinen Tee. »Stürzen! Wer wird denn gleich größenwahnsinnig werden? Nein, Mr Furlong, Sie sollen uns nur helfen, sie zu umgehen«, korrigierte der Narbige ihn geduldig. »Schmieden Sie den Schlüssel. Sie können Sich entscheiden, ob Sie es lieber hier tun und die Congregatio informieren wollen – sie wird die Herausforderung annehmen, dessen bin ich mir sicher – oder ob mein Kollege und ich Sie drei an einem Ort unterbringen sollen, an dem Sie ungestört arbeiten können. Natürlich nicht auf Dauer.«

Breca machte einen Schritt auf ihn zu. »Sie rühren weder Charlotte, noch Yuriy an.«

Lestard schüttelte den Kopf, als hätte er ein trotziges Kind vor sich. »Das ist der Plan, Mr Furlong. Sie würden es gut haben, glauben Sie mir. Aber ich will Sie als Mittelsmann. Wenn ich Sie in meine Obhut nehmen würde –«

»Obhut!«, fauchte Breca.

»Obhut«, beharrte Lestard. »Dann müssten Sie Sich im Anschluss ganz auf sich gestellt mit der Neugier der Congregatio herumschlagen, während wir wieder in der Versenkung verschwänden. Ich bin nicht bereit, jemanden mit durchzuziehen, der sich nach Kräften wehrt.«

Breca starrte ihn an.

»Ja, das leuchtet Ihnen ein«, sagte der Narbige langsam.

Breca fühlte sich unter Lestards eindringlichen Blick schrumpfen. Er wollte etwas erwidern, aber ihm versagte die Stimme.

»Da wir entgegenkommend sind, empfehle ich Ihnen, die erste Möglichkeit zu wählen«, half Lestard nach. »Sie sollen die Congregatio nur auf die richtige Spur führen. Das macht es für uns alle einfacher.« Er verzog die Lippen zu etwas, das vielleicht als Lächeln geplant gewesen war, das in der Ausführung jedoch gründlich misslang.

Breca konnte nur den Kopf schütteln. »Lestard, hören Sie Sich denn selbst nicht reden?«

Lestard spülte die Tasse unter fließendem Wasser aus und trocknete sie sorgfältig ab. Breca beobachtete, wie er sie an ihren Platz zurückstellte und behutsam zurechtrückte, bis es schien, als wäre sie nie benutzt worden.

»Meine Prioritäten stehen fest, Mr Furlong«, sagte er nachdrücklich, als er sein Gegenüber wieder ins Auge fasste.

»›Die Sicherheit des Opfers‹ nennen Sie das.« Breca holte tief Luft. Er würde zu diesem Mann nicht durchdringen. Jedenfalls nicht so. »Wenn ich den Schlüssel schmieden soll«, sagte er, »werde ich seine Zielorte erfahren. Das ist unvermeidlich. Sie können mir keine Sicherheit garantieren.«

Lestards Blick wurde fast weich. »Die Zielorte erfahren? Tja, und das war es dann. Sie dürfen der Congregatio alles erzählen, was ich Ihnen erzähle. Glauben Sie mir, Sie werden nichts zu befürchten haben. Letztendlich sind Sie wahrscheinlich sogar nur der Botenjunge und nicht einmal der Schmied.«

Breca sog scharf die Luft ein. »Sie meinen …«

»Die Congregatio wird kein Risiko eingehen. Man wird Ihnen die Zügel aus der Hand nehmen wollen. Das kann doch nur in Ihrem Interesse sein, wenn Sie erlauben. Im Übrigen kennen Sie die Zielorte längst.«

Breca riss die Augen auf. »Dann sagen Sie mir, wohin es geht«, erwiderte er herausfordernd.

»Haben Sie Blut geleckt?« Lestard zeigte ihm die gebleckten Zähne. »Ich habe Ihnen gesagt, dass es mir um das Wissen geht. Ich möchte, dass Sie mir einen winzigen Gefallen tun, sobald die Congregatio den Schlüssel für sich beansprucht.«

Breca wartete ab, doch statt weiterer Ausführungen kleidete sich Lestard in verheißungsvolles Schweigen. Also gab er sich einen Ruck. Vielleicht erfuhr er mehr, wenn er dem Narbigen ein Stück weit entgegenkam. »Hinter dem Rücken der Congregatio soll ich Ihr fleißiges Bienchen spielen, was?«

Lestards Gesicht erstrahlte in einem breiten Lächeln. »Nur einen Augenaufschlag lang, wenn die Congregatio längst von Ihnen abgelassen hat. Das werden sie gar nicht mehr mitbekommen. Ich weiß meine Spuren zu verwischen.«

»Allerdings«, murmelte Breca steif.

Lestard lehnte sich wieder gegen die Arbeitsplatte und kreuzte die Beine übereinander. »Gefällt Ihnen Ihr Anteil am Plan?«

Breca fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Hieb ins Kreuz erteilt. Er hatte tatsächlich Hoffnungen gehegt, diesen Mann unbehelligt abweisen zu können. Den alten Ärger hatten er und Charlotte hinter sich gelassen. Er wollte keinen neuen.

Er bezweifelte, dass Lestard bei der Erwähnung seines Amtsbruders gelogen hatte. Wenn der Schlüssel für Atlantis tatsächlich eine so gewichtige Bedeutung hatte, wäre es dumm gewesen, mit seinem Anliegen allein herzukommen. Lestard hatte ihm soeben frei heraus einen Putschversuch angekündigt, auch wenn er es abzustreiten versuchte. Breca konnte sich nur schwer vorstellen, dass die Congregatio seine Familie übergehen würde. Nun, zumindest würde er nachweisen müssen, dass er wirklich nicht mehr wusste als das, was Lestard selbst preisgegeben hatte. Charlotte würde sich der Prozedur ebenfalls unterwerfen müssen. Aber sie wusste, was sie erwartete. Yuriy war die ganze Zeit über bei ihr gewesen. Also hatte er keinen gänzlich neuen Blickwinkel beizusteuern und würde unangetastet bleiben. Und damit wäre die Sache im Kasten. Vielleicht ging es ja schnell.

Breca ächzte über seine eigenen Gedanken.

»Was Sie tun, tun sie allein für die Sicherheit Ihrer Familie«, sagte Lestard. »Für die Congregatio sind Sie beliebig austauschbar.«

»Und warum dann nicht für Sie!?«, fuhr Breca ihn an.

»Weil die Congregatio aufhorcht, wenn der Name Ihrer Tochter, Atlantis und meine Wenigkeit in einem Atemzug genannt werden. Und weil Sie einen Tag lang für mich arbeiten sollen. Das Werkzeug wird natürlich gestellt.«

Damit förderte Lestard aus einer Innentasche seines Mantels ein langes, schmales Lederetui zutage.

Brecas Augen weiteten sich. Die Form war ihm nur allzu vertraut.

»Memorien?«, entfuhr es ihm.

Lestard grinste. »Memorien«, erwiderte er und öffnete das Etui. Zum Vorschein kam eine Reihe murmelgroßer Kugeln, eingebettet in weiches Futter. Im Licht der Küchenlampen schimmerten sie, als hätte man sie mit Öl übergossen. Für die Öffentlichkeit waren sie nicht zugänglich, die einzige Instanz, die überhaupt damit arbeiten durfte, war der Congregatio angegliedert.

Einen Augenblick lang betrachtete Breca die Kugeln, Verzücken auf dem Gesicht. Dann riss er sich zusammen. »Woher haben Sie die?«

Lestard zuckte schelmisch die Achseln. »Es sammelt sich Einiges an, wenn man herumkommt.«

Breca stieß die Luft aus. »Ich nehme an, davon soll ich der Congregatio auch erzählen?«

»Natürlich. Ich sagte ja, ich brauche nur einen Schmied mit dem nötigen Fachwissen.«

»Damit meinen Sie die Zielorte«, erwiderte Breca.

Lestard breitete die Arme vor ihm aus. »Ich dachte, jemand, der die Zielorte bereits kennt, ist der geeignetste Kandidat. Und damit kommen wir zu dem eigentlichen Gefallen, um den ich Sie bitte. Ich will Sie nicht als Schmied für den Schlüssel. Ich will nur eine Erinnerung.«

»Nur eine Erinnerung«, wiederholte Breca ironisch.

»Eine geografische, um genau zu sein.«

Breca lächelte dünn und zwang sich, von den schimmernden Kugeln aufzusehen. »Die gleiche wie die für die Congregatio, nehme ich an.«

Lestard lachte. »Oh, wenn Sie mir schon anbieten, zwei zu schöpfen ...«

Breca schnaubte.

»Was missfällt Ihnen, mein lieber Mr Furlong?«

Breca schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich sehe klarer.«

Lestard blinzelte ihm zu. »Ich bin gespannt.«

»Sie haben einen anderen Schmied für den Schlüssel, richtig? Sie brauchen nur die Zielorte von mir.«

Lestard nickte zufrieden.. »Und das ist die einzige Information, die Sie der Congregatio nicht geben sollten. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

Breca widerstand dem Impuls, sich durchs Haar zu fahren. Im nächsten Moment fragte er sich, weshalb er noch den Schein wahren wollte. Einen größeren Dämpfer hätte Lestard ihm nicht versetzen können. Seine Hilflosigkeit lag offen. Er hatte nichts zu verbergen.

Ein offenes Lächeln legte sich auf Lestards Züge. »Sorgen Sie dafür, dass Sie an die richtigen Leute geraten. Sie werden nicht mehr tun müssen als eine Alibifunktion bei der Übergabe auszuführen, damit der Plan stimmig bleibt. Mit dem ganzen Rest haben Sie nichts zu tun. Sobald die Congregatio auf den Weg gebracht ist und ich meine Erinnerung habe, sind Sie fein raus, das versichere ich Ihnen.« Er lehnte sich zurück. »Und jetzt sind Sie an der Reihe.«

Breca sank gegen die Küchenzeile. »Warum gehen Sie das Risiko ein?«

Lestard zuckte die Achseln. »Aus demselben Grund wie Sie und Charlotte damals.«

»Das will ich kaum glauben«, murmelte er.

»Meine Schäfchen sind bloß ungleich vielzähliger.«

Breca sackte auf einem Hocker an der Theke zusammen, grub die Hände in sein schütteres Haar und atmete tief durch, Lestards geduldigen, eindringlichen Blick im Nacken. Atlantis oder die Congregatio allein waren gefährlich, die Opferrolle die Alternative. So sehr er sich gegen Lestards Idee wehren wollte, so schlüssig erschien sie ihm. Aber sie war so abhängig von der Reaktion der Behörden. Konnte er sich auf Lestards Erfahrung verlassen? Und überhaupt – auf sein Wort?

Der Gram über seine eigene Ohnmacht entrang ihm einen gequälten Seufzer. Ausgerechnet das Wort von Lestard Calhoun.

Breca richtete sich auf. »Habe ich Ihr Wort, dass Sie wissen, was Sie tun?«

»So wahr ich als Princeps vor Ihnen stehe«, erwiderte Lestard und streckte die Hand aus.

LEUCHTEN (V): »Wir werden Ihnen das Telefon natürlich ersetzen.«

Der Mann vor der Wohnungstür schob mit den Fingerspitzen seine Melone aus der Stirn. Er war ein hübscher, groß gewachsener Kerl, vielleicht Ende Zwanzig. Seine Miene war freundlich, und dafür hasste ich ihn sofort.

»Es wäre wirklich bedauerlich, wenn Sie die Tür auch noch reparieren lassen müssten«, sagte er, entsicherte seine Waffe und legte auf das Türschloss an. Einen Moment lang überlegte ich, wie er von dem Telefon wissen konnte. Dann dachte ich, dass er mit Sicherheit jeden Schritt seines Begleiters verfolgt hatte. Kurzentschlossen griff Mum nach dem Schlüssel und drehte ihn herum.

»Was machst du da!?«, stieß ich hervor und fasste sie am Ärmel.

Mum erwiderte nichts, doch mir schwante, dass der Kerl vielleicht leichter zu überwältigen wäre, wenn er sich in der Wohnung befand. Ich wich zurück, als sie die Tür aufzog und jeden Muskel anspannte.

Der Schönling ging augenblicklich einige Schritte rückwärts, um Abstand zu gewinnen.

Mum erschlaffte.

»Vielen Dank«, sagte er. »Und nun bitte ich Sie, zurückzutreten.« Er richtete den Lauf seiner Waffe auf sie, als sie keine Anstalten machte, sich zu rühren. Während sie sich langsam rückwärts zu mir tastete, fuhr er zu reden fort.

»Eine sehr schöne Idee, Ihr Plan, mich an der Tür zu überrumpeln. Was hätten Sie letzten Endes getan, sobald Sie gemerkt hätten, dass Sie mir nicht das Wasser reichen können? Mir das Ding vor der Nase wieder zugeschlagen? Sie sind schon lange Zeit nicht mehr bei der Elite, nicht wahr? Schade, eigentlich. Das wäre für unser Vorhaben noch besser gewesen.«

Elite, hallte es in meinem Kopf nach.

»Was meinen Sie?«, rutschte es mir heraus.

Mum versteifte sich.

Der Blonde beäugte sie herablassend. »Wie, weiß der Junge gar nichts davon? Aber Sie haben es verstanden, nicht wahr? Sie wissen, wer wir sind.«

»Nur nicht, was Sie von uns wollen könnten«, erwiderte Mum düster.

»Einen Botengang.« Mit einem Wink seiner Waffe trieb der Schönling uns ans hintere Ende des Flures, aus dem Sichtfeld des Bullauges, und warf dabei einen mitleidigen Blick auf das kaputte Telefon. »Konnte er sich nicht beherrschen, der gute Lestard?«

Ich wich zurück, bis mein Rücken gegen die Küchentür stieß. Der Name war wie ein Signalfeuer. Lestard Calhoun war der Mann, von dem jeder schon einmal gehört, den aber niemand je mit Sicherheit gesehen hatte. Stoff für Geschichten, und von denen gab es genug. Meine Fingerspitzen berührten das glatte Holz der Küchentür. Die Stille dahinter war noch immer vollkommen.

»Es tut mir Leid, aber das Risiko, gestört zu werden, können wir einfach nicht eingehen.« Der Schönling lächelte uns freimütig an. Ohne die Waffe im Anschlag hätte er richtig nett ausgesehen. »Wir werden Ihnen das Telefon zu gegebener Zeit natürlich ersetzen.«

Mum legte mir die Hand auf die Schulter. »Das müssen Sie nicht.«

»Doch, ich besteh' darauf. Anstandshalber.«

»Sie können anstandshalber die Waffe wegstecken«, feilschte Mum ruhig.

»Wegstecken?« Der Schönling blickte auf die Pistole in seiner Hand, als sähe er sie zum ersten Mal. »Halt: Ich will Ihnen etwas zeigen!«

Er zielte auf die Decke und drückte ab.

Aus Reflex zuckte ich zusammen. Doch der einzige Laut, der sich der Pistole entrang, war ein müdes Klicken.

Mum schrumpfte zusammen. »Sie haben geblufft.«

Der Schönling steckte die Waffe ein und zwinkerte. »Das war schon immer der beste Weg, mit der Congregatio zu verhandeln.«

»Die Congregatio?«, echote ich. Mein Herz machte einen Satz. Mum mied meinen Blick und starrte den Schönling durchdringend an. Ich war ahnungslos. Und deshalb, das sah ich jetzt, war Mum in die Ecke gedrängt.

Ich schluckte. Die Congregatio Magica war die internationale Vereinigung der regierenden magischen Behörden und Institutionen. Eine Organisation, die Mum und Breca sogar des Öfteren verpönt hatten. Sie entschied über die Geschicke des Magiergeschlechts; sie betreute, unterrichtete, verurteilte ihresgleichen.

Und meine Mutter – Mum, deren Augen ich nicht anders kannte als blutunterlaufen und blitzend – Mum, die gerne mal laut wurde und doch niemals aus der Haut fuhr – Mum, deren Rückkehr vom Außendienst Breca allabendlich angespannt erwartet hatte – Mum, die seit mehreren Wochen den lieben langen Tag im Büro an einem Schreibtisch saß und für ihren Abteilungsleiter Akten wälzte – Mum, der mittlerweile abends die Glieder zu schmerzen begannen wie einem in die Jahre gekommenen Baumeister – meine Mutter hatte im Namen der Congregatio beim Streifendienst Magier gejagt?

Der Schönling blickte zwischen Mum und mir hin und her.

»Qui, das war lang«, tadelte er mich vergnügt. »Le grand Aha-Effekt. Wirklich ein schönes Gefühl. Steigert die Neugier ins Unermessliche.« Er unterbrach sich und fügte mit einem entschuldigenden Achselzucken hinzu: »Und augenscheinlich der wunde Punkt in der Erziehung. Verzeihen Sie, das konnte ich ja nicht wissen.«

»Natürlich nicht«, sagte Mum stimmlos.

Ich starrte eine Weile auf die Fliesen zu meinen Füßen, dann wanderten meine Augen an dem Mann hinauf. Zuerst dachte ich, er trage Galoschen, aber das Leder seiner Schuhe war bloß entsprechend schwarz-weiß gearbeitet. Seine Hose hatte Bügelfalten, sein offener, schwarzer Mantel war schmucklos, aber elegant geschnitten. Einer von diesen gut betuchten, modebewussten Pinkeln also. In seiner Erscheinung ganz anders als Lestard. Der hier war gestriegelt. Ein Paradetier.

Über dem Leibkkoppel, an dem seine Waffe gehangen hatte, lag noch ein weiterer Gürtel, sodass sich beide auf Hüfthöhe überschnitten. Auf der oberen Gürtelschnalle waren ein Schlüssel und ein Dolch eingeprägt, die sich kreuzten. Bevor die Regierung die Pressefreiheit eingeschränkt hatte, hatte Atlantis regelmäßig Kommentare und Anzeigen drucken lassen. In den Straßen hingen immer noch ständig neue Plakate, die die Polizei auf Anordnung von oben hin rigoros abriss. Auf all ihren Schreiben war dieses Wappen die typische Signatur von Atlantis gewesen, im Internet ihr Benutzericon in zahlreichen Foren. Das wusste ich noch aus dem Referat eines Mitschülers von der Gordon Stout. Viel mehr Raum im Lehrplan gestand man Atlantis dort nicht zu.

Der Schönling schnippte mit den Fingerspitzen an die Krempe seiner Melone und drehte sich ein wenig, damit ich ihn besser begutachten konnte. Mir schoss die Röte ins Gesicht.

»Behalte uns gut in Erinnerung, das wird dir von Vorteil sein.« Er zog vor mir den Hut und streckte mir die Hand hin, so wie es Lestard bei Mum getan hatte.

»Gestatten: Princeps Jean Laval.«

Unwillkürlich verlagerte ich mein Gewicht nach hinten.

»So prominent bin ich nun auch wieder nicht«, erwiderte der Schönling kopfschüttelnd.

»Sie werden gesucht«, sagte ich mit Grabesstimme.

Mit einem resignierenden Seufzer richtete der Schönling sich auf. »Oh, wenn sie wollten, hätten sie mich längst gefunden.«

»Das lässt sich bestimmt einrichten«, knurrte Mum.

Das Grinsen kehrte auf sein Gesicht zurück. »In der Tat ist das der Plan«, erwiderte er.

In diesem Moment spürte ich, wie die Küchentür in meinem Rücken aus dem Schloss glitt, und trat einen Schritt zur Seite. Synchron drehten wir drei uns um.

Lestard Calhoun stand im Türrahmen. Ich stolperte zurück, doch er hatte gar keine Augen für mich. Mit einem knappen Handzeichen begrüßte er seinen Mitstreiter und wartete neben der offenen Tür, um meinem Großvater den Vortritt zu lassen.

»Es freut mich, dass wir ins Geschäft kommen konnten, Mr Furlong«, sagte er und schüttelte Breca die Hand, der es eher über sich ergehen ließ, anstatt an der Geste teilzunehmen. Mein Großvater legte eine Hand an den Türrahmen, als er über die Schwelle trat, dann richtete er sich auf. Neben mir zischte Mum unwillkürlich. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Breca zwar erschöpft, aber unverletzt und völlig klar auf uns zukam.

Als Lestard unsere Körpersprache deutete, schnalzte er missbilligend mit der Zunge. »Jean – du mühst dich vergeblich. Sie sind nicht mehr besonders offen für neue Bekanntschaften.«

Ich bemerkte, dass ich ihn anstarrte, aber das war mir egal.

Erneut fing er meinen Blick auf. Wir standen uns direkt gegenüber, getrennt nur durch die Türschwelle. In Gedanken testete ich den Klang seines Namens, während ich seinen Blick erwiderte. Ein Mann, der durch seine Taten die Fantasie so vieler Menschen entfachen konnte, ohne ein Gesicht gehabt zu haben. Wenn man die Medien hörte, trug die Inkarnation von Schrecken und Bewunderung seinen Namen.

Ich wandte die Augen ab.

»Ca alors«, ließ sich Jean Laval vernehmen. »Dein guter Ruf eilt selbst meinem Charme voraus, mein Freund. Ich nehme an, ich habe einen langen Weg vor mir.« Er bedachte zuerst Lestard, dann mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Daran solltest du arbeiten, mein Junge. Deine Mutter war auch nicht immer so verbohrt.«

Ich zog es vor, zu schweigen, während Mum teils besitzergreifend, teils beschützend die Hände um mich legte.

»Das reicht jetzt«, sagte sie schneidend.

»Mrs Furlong.« Mit einer galanten Verbeugung händigte Lestard ihr das Mobiltelefon wieder aus. »Bitte sehr, jetzt dürfen Sie. Und richten Sie meine Grüße aus. Wenn nötig, auch über Dritte. Ich habe länger nichts von mir hören lassen.«

Lestards Blick wanderte ein weiteres Mal zu mir. Ich versuchte, unbeeindruckt auszusehen, und wusste, dass ich unglaubwürdig war. Ein Lächeln huschte über das vernarbte Gesicht. In seinem gesunden Auge blitzte ein Licht auf. Für einen Moment wirkte es, als blickte ich auf zwei irisierende Stücke glänzenden Porzellans.

Ich schluckte. In Erwartung der Kopfschmerzen ballte ich die Hände zu Fäusten, aber nichts geschah.

Lestard schenkte mir ein verschwörerisches Grinsen. »Mein Auge hat schon wieder Recht gehabt«, murmelte er.

Mums Griff verstärkte sich. Ihre Finger gruben sich schmerzhaft in meine Schultern. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, woher Lestard von meinen Beschwerden wissen konnte.

Die beiden Atlantiner wechselten einen bedeutungsschweren Blick. Lestard schlug den Kragen seines Mantels auf, sodass sein Gesicht von der Seite nicht mehr zu sehen war, und wandte sich noch einmal an meinen Großvater. »Wir werden pünktlich sein und erwarten das auch von Ihnen. Bitte nutzen Sie die Zeit aus.«

Breca brachte nur ein verhaltenes Grunzen zustande.

Jean zwinkerte mir zu und verbeugte sich mit gezogenem Hut vor Mum und meinem Großvater. »Im Namen von Atlantis danken wir Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft, Mr Furlong. Und Mrs Furlong: Selbstverständlich kommen wir auf das Telefon zurück.«

Damit fiel die Tür ins Schloss.

Einige Sekunden standen wir wie versteinert da.

Dann griff Mum zum Handy.

SILVESTER (I): »Das geht für dich immer vor!«

Als ich Mum zur Rede stellen wollte, wies sie mich ab, indem sie die freie Hand auf ihr Ohr legte und sich über die Arbeitsplatte beugte. Ein rigoroser Versuch, mein Drängen auszublenden. Mit der anderen Hand wählte sie nun schon zum fünften Mal dieselbe Telefonnummer an, während mein Kopf vor Fragen zu platzen drohte. Es war mir unmöglich, sie auszublenden. So bodenlos ich mich fühlte, so spürbar war die Gefahr. Es war schlimmer, nur zu wissen, dass da etwas war, als zu wissen was.

»Mum, es ist wichtig, dass wir das jetzt klären.«

Sie stellte sich taub. Ich schaute herausfordernd von ihr zu meinem Großvater. »Breca!«

»Gleich«, winkte er ab, den Lautsprecher seines eigenen Handys am Ohr. In seiner Hand rotierte hektisch die Drehscheibe des Tastenfelds, während er die Ziffern eingab.

Aber ich war nicht willens, mich abwimmeln zu lassen.

»Gleich!«, äffte ich ihn nach. »Sind fünfzehn Jahre nicht lang genug?«

»Yuriy!« Der warnende Unterton in Brecas Stimme war unverkennbar.

Ich setzte zum Widerspruch an, doch Mum schnitt mir das Wort ab: »Gib mir noch fünf Minuten!«

»Das hast du schon vor einer Viertelstunde gesagt. Und der Typ, den du erreichen willst, geht nicht ran!«

»Das hier« – sie gestikulierte mit dem Mobiltelefon – »geht vor, und zwar mindestens, bis er abhebt.«

Zum sechsten Versuch kam sie allerdings nicht, denn ich griff um ihre Schulter herum und riss ihr das Telefon aus der Hand, um wild damit vor ihrem Gesicht herumzufuchteln.

»Das hier«, fauchte ich, »geht für dich immer vor!«

Da sah sie mich zum ersten Mal an. Ihre Augen waren glasig, und kurz war ich erschrocken über ihren gehetzten Ausdruck.

Kurz. Dann siegte meine Ungeduld. Ich hatte ein Recht auf die Wahrheit, ein verdammtes Recht!

»Dass du die Stirn hast«, zischte sie tonlos.

»Natürlich!« Meine Stimme überschlug sich fast. »Wer seid ihr, dass ihr mich so belügt?«

»Gib mir mein Telefon«, sagte sie ruhig.

»Erst, wenn ich weiß, was hier gespielt wird«, erwiderte ich laut.

Mums Blick bohrte sich in meinen. »Hör auf zu diskutieren.«

»Ich diskutiere nicht«, diskutierte ich und umklammerte das Tastenfeld fester. Ich wollte Antworten. Sofort. »Du wusstest, dass Lestard kommen würde!«

»Nein.«

»Und warum er kommen würde! Ausgerechnet hierher.«

Sie hob die Hand, doch ich ließ mir nicht über den Mund fahren.

»Streite nicht ab, dass du ihn kennst! Erzähl mir, was damals passiert ist. Die Zeit ist gegen dich gelaufen, Mum. Sag mir, was ich nicht weiß, und zwar jetzt!«

»Das verstehst du nicht.«

»Wie sollte ich? Du lässt mich kein Stück an dich ran. Du redest nicht mit mir, du speist mich nicht mal ab, Mum. Du ignorierst mich!«

»Treib es nicht auf die Spitze, Yuriy«, sagte Breca hart.

Mein Blick flog zwischen den beiden hin und her.

»Ich bin nicht derjenige, der euch Vertrauen schuldet! Mum, ich will helfen«, beteuerte ich und wies von Breca, der mich mit strengem Blick strafte, auf sie und mich. »Sieh uns doch an! Ist es das hier, was du wolltest?«

Mum erbleichte.

Ich hatte sie verletzt, aber das war mir egal. Ich legte meine ganze Verachtung in den Blick, den ich ihr zuteilwerden ließ.

»Geh mir aus den Augen«, stieß sie hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern hinter zusammengebissenen Zähnen.

»Geh. Oder ich vergesse mich.«

»Das hast du schon«, blaffte ich zurück.

Das nächste, was ich wahrnahm, war ein brennender Schmerz mitten im Gesicht. Vor meinen Augen explodierte ein gleißendes Leuchten und löste sich in bunten Funken auf. Dann verlor ich das Gleichgewicht und stürzte rücklings auf die Fliesen.

Brecas entsetzten Schrei hörte ich dumpf wie durch eine Wand. Meine Nasenwurzel pulsierte schmerzhaft. In meiner rechten Gesichtshälfte breitete sich ein Kribbeln aus, das in ein Taubheitsgefühl umschlug. Ich konnte nicht durch die Nase atmen und auf der Zunge hatte ich einen metallischen Geschmack. Ich blinzelte die Benommenheit fort und stellte fest, dass ich auf dem rechten Auge trotzdem kaum etwas sah. Jemand drehte mein Gesicht zur Seite. Ich sah auf und fand mich Auge in Auge mit Mum, die sich kalkweiß und auf den Knien sitzend über mich beugte. Breca stand mit fassungslosem Gesicht hinter ihr, die Hände um ihre Schultern gekrallt. Ich wälzte mich herum. Als ich mich aufrichten wollte, tropfte mir Blut aus der Nase auf die Hand. Erst jetzt begriff ich ganz, was geschehen war.

Zu verstört, um mich allein aufzurappeln, zog ich mich mit der sauberen Hand an der Arbeitsplatte hoch. Mum fasste nach meinem Arm, um mich zu stützen, doch mit einem Blick auf ihre aufgesprungenen Fingerknöchel stieß ich sie weg und stemmte mich aus eigener Kraft in den Stand.

Erschrocken flüsterte sie meinen Namen. Sie streckte die Fingerspitzen nach mir aus – langsam, als hätte sie Angst, mich zu zerbrechen – und wagte es nicht, mich zu berühren. Einen Atemzug lang standen wir reglos wie Statuen, den ungläubigen Blick in den des anderen gebohrt. Ihre Hand war mir so nahe.

Zu nahe.

Ich zuckte zurück. Plötzlich war sie mir zuwider. Allesamt waren sie mir zuwider: sie und Breca, Lestard und der blonde Schönling. Unfähig, den geknickten Anblick meiner Familie länger zu ertragen, warf ich mich herum, zerrte im Vorüberstampfen meine Jacke von der Flurgarderobe und pfefferte die Wohnungstür krachend hinter mir ins Schloss.

Während ich die Haustür aufstieß, hörte ich, wie Mum mir ins Treppenhaus folgte.

»Was?«, fauchte ich sie gurgelnd an. Zum Antworten ließ ich sie nicht kommen. »Da habt ihr Zeit! Ihr könnt mich alle kreuzweise!«

Ich eilte auf die Straße und schlug ein zügiges Tempo an, damit sie nicht auf die Idee kam, mir nachzulaufen. Die ersten Blocks ließ ich rennend hinter mir. Um mich herum stob der frische Pulverschnee in die Höhe und ich strauchelte mehrmals, weil meine Füße keinen richtigen Halt fanden. Erst als Mums Rufe hinter mir verklungen waren, erlaubte ich es mir, langsamer zu werden. Sie hätte mich mühelos einholen müssen. Vielleicht hatte Breca sie aufgehalten. Die eisige Luft brannte in meiner Lunge. Ich spuckte das Blut aus, das ich beim Laufen in den Mund bekommen hatte, zog den Kopf ein und vergrub die Hände in den Jackentaschen.

Meine Fingerspitzen stießen an mein Handy, das im dicken Taschenfutter vibrierte. Entschieden drückte ich Mums Nummer weg und wollte das Telefon gerade ausschalten, als ich sah, dass ich eine Nachricht von Solweig erhalten hatte. Mechanisch wählte ich die Nummer meiner Mailbox an.

»Hey, du Held! Ich habe versucht, dich anzurufen, aber eure Nummer gibt es anscheinend nicht mehr. Ich habe mit Matt gesprochen. Er ist morgen Abend dabei, wenn wir rausgehen. Mach dir deshalb keinen Kopf mehr, ja? Ich versuch’ morgen noch mal, dich zu erreichen. Schlaf gut!«

Die Abfrage schaltete sich mit einem Klicken aus. Im selben Moment verrauchte meine Wut.

Der Lichtkegel der Straßenlaterne hüllte mich ein wie eine Blase. Meine Augen ruhten auf den frischen Spuren, die meine Füße im Schnee hinterlassen hatten, und die im Licht der Neonröhre viel tiefer aussahen als sie tatsächlich waren. Wie in Trance drückte ich die Wiederholungstaste; einmal, und noch einmal. Als Solweigs Stimme mir zum dritten Mal eine gute Nacht gewünscht hatte, begann es wieder zu schneien. Plötzlich wurde ich mir der schneidenden Kälte um mich herum bewusst, und mir wurden drei Dinge klar: Erstens hatte ich den Streit mit Matt im Laufe des Abends ganz vergessen. Zweitens war ich, als ich beim Wechsel der Straßenseite Solweigs Nachricht abgerufen hatte, wie ein Depp mitten auf der Fahrbahn der Margravin Gardens stehengeblieben. Drittens hatte mein zielloser Gewaltmarsch mittlerweile eine knappe Dreiviertelstunde gedauert, die ich vor allem dazu genutzt hatte, im Kreis zu laufen.

Ich war erst seit Minuten wieder in Bewegung, als ich einen U-Bahnschacht passierte, den das Informationsschild als »Barons Court Station« auswies, und stockte mitten im Schritt. Hier kam ich sonst unter Tage vorbei, wenn ich auf dem Weg zu Solweig war. Ich beschleunigte meine Schritte von neuem; nicht nur, um mich aufzuwärmen.

Als ich den Nachtfahrplan studierte, machte ich mir längst keinen Kopf mehr um die Strecke, die ich zurückgelegt hatte. Für mich stand außer Frage, dass ich sie heute nicht noch einmal laufen würde. Ich nahm die Treppe zum Gleis im Laufschritt, rutschte fast auf einer glatten Stufe aus und legte die letzten Meter unter beherztem Fluchen zurück.

Es stellte sich heraus, dass ich in dieser Nacht allgemein mehr Glück als Verstand haben sollte. Dazu gehörte auch, dass ich auf den nächsten Zug nach Richmond weniger als eine Viertelstunde zu warten hatte. Mit frischem Elan wählte ich Solweigs Handynummer und zählte ungeduldig die Anzahl der Freizeichen, bis sie endlich abhob.

»Boah, Yuriy, weißt du, wie spät es ist?«, nuschelte sie in den Hörer.

Das war ihre ganze Begrüßung. Ich fackelte nicht lange.

»Solweig«, sagte ich heiser, »kann ich rüberkommen?«

»Was?« Bei dem einen Wort rutschte ihre verschlafene Stimme um eine ganze Oktave nach oben.

»Du hast richtig gehört.« Ich leckte mir über die Lippen und schüttelte mich, als ich geronnenes Blut schmeckte. Der Bahnsteig war furchtbar zugig. Zumindest redete ich mir ein, dass mein Zittern darauf gründete.

»Oh Gott«, murmelte sie. Einen Moment lang herrschte Schweigen auf ihrer Seite und in meiner Kopflosigkeit befürchtete ich fast, sie würde auflegen. Als sie endlich weitersprach, klang sie jedoch plötzlich hellwach.

»Klar. Wann bist du da?«
 

Breca sagte immer augenzwinkernd, ich hätte das gute Aussehen von meiner Mutter geerbt und das freche Schandmaul von meinem Vater. Diverse Freunde meiner Mutter waren der gegenläufigen Meinung. Wir können getrost festhalten, dass beide Seiten auf ihre Art parteiisch waren, und dass das in Bezug auf meine Eltern vor allem Eines bedeutete: Mein Vater hatte meiner Mutter in nichts nachgestanden. Ich kannte ihn nur von Fotos, die Breca mir gezeigt hatte. Estelan Cole hatte er geheißen. Wenn ich als Kind für meinen Unsinn einen Denkzettel erhalten hatte und mich weinend an Mum hängte, lachte sie mich aus und sagte, ich wäre genau wie er: Ich schrie nicht vor Schmerz, sondern weil ich um ihr Mitleid buhlte. »Aber dir konnte ich das noch austreiben, ihm nicht mehr«, scherzte sie später. Während ich nun auf meinen Zug wartete, fragte ich mich, ob meine Eltern sich jemals so gestritten haben mochten wie ich mich mit Mum an diesem Abend.

»Er war immer beschäftigt. Immer bei der Arbeit«, hatte sie einmal gesagt, und es war das einzige Mal, dass sie mit einem säuerlichen Unterton von ihm sprach.

Mein Vater war gegangen, wenn ihn die Pflicht rief, denn sie konnte lauter rufen als Mum. Auch an dem Morgen, als Mum abgeholt wurde, um seine Leiche zu identifizieren. Die Demonstration, an der er teilgenommen hatte, war aus dem Ruder gelaufen. Er war einer von denen gewesen, die es das Leben gekostet hatte.

»Er hat für seine Ideale gelebt«, hatte Breca schroff hinzugefügt. »Und das hat ihn um Kopf und Kragen gebracht. Hätte er sich entscheiden müssen, dann immer gegen euch. Sei froh, dass sie ihm die Entscheidung abgenommen haben.«

Mum hatte ihn mit einem vernichtenden Blick bedacht, aber kein Wort war über ihre Lippen gekommen, und am Ende hatte sie sich verschämt abgewandt. In diesem Moment hatte ich nicht gewusst, wer meinen Zorn mehr verdiente: Mein Vater, weil er Mum an diesem einen Tag im Stich gelassen hatte, oder Breca, weil er glaubte, sie daran erinnern zu müssen.

»Sei froh, dass sie ihm die Entscheidung abgenommen haben.«

Sie.

Natürlich!

Mum arbeitete für die Congregatio. Wenn ich Jean Lavals Äußerungen über sie richtig deutete, musste es die Zeit nach dem Tod meines Vaters gewesen sein, da sie ihre Arbeit für den Senat aufgegeben hatte, denn ich hatte niemals mitbekommen, dass sie abgestiegen wäre. Seit ich denken konnte, arbeitete sie aber in ständigem Bereitschaftsdienst: tagsüber vom Büro oder dem Streifenwagen aus, nachts mit dem Telefon neben dem Bett.

»Deine Mutter war auch nicht immer so verbohrt«, sagte Jeans Stimme in meinem Kopf.

Mum hatte dem Senat selbst gedient. Zumindest hatte sie es nicht abgestritten. Und sie kannte Atlantiner. Plötzlich überkam mich ein wahnwitziger Gedanke: Vielleicht hatte mein Vater auch …!

Ja, was?

Für die Congregatio gearbeitet? Atlantis ausspioniert? Überlebt und war übergelaufen? Hatte man ihn deshalb umbringen lassen? Oder war er dann vielleicht gar nicht tot? Hatte er von Anfang an zu Atlantis gehört? Oder hatte er mit Atlantis überhaupt nichts zu tun und es ging allein um Mum und Breca?

Stopp!

Ich nahm eine Lunge voll kalter Luft, genoss das Brennen in Hals und Brustkorb, und schüttelte den Kopf. Das führte doch zu nichts. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.

Das marode Schnaufen der Nachtbahn rüttelte mich aus meiner Grübelei auf. Vorsichtshalber zog ich mir die Kapuze über den Kopf, bevor ich einstieg. Immerhin hatte ich keine Ahnung, wie ich aussah – bis auf die Tatsache, dass ich blutbeschmiert war.

Die Nachtzüge wirkten um diese Zeit wie ausgestorben; der Großteil der Gaststätten und Kneipen hatte schon geschlossen und die meisten Leute waren nach Hause oder in die Clubs und Diskotheken abgewandert. Ich durchquerte zwei Waggons, die jeweils von zwei oder drei Personen besetzt waren. Sie würdigten mich keines Blickes, doch ich suchte trotzdem weiter, bis ich ein Abteil ganz für mich allein fand. Draußen flog die gekachelte Tunnelwand vorüber und blitzte nach jeder Fensterstrebe von neuem auf. Der Zug war nur unzureichend beheizt, aber nach der beißenden Kälte auf dem Bahnsteig reichte auch die spärliche Wärme fürs Erste aus, um mich zufrieden zu stellen.

Nachdem ich es mir in einem aufgeribbelten Sitz neben der Heizung einigermaßen gemütlich gemacht hatte und wieder aufgetaut war, meldeten sich auch die Schmerzen in Nase und Wange zurück. Seufzend zog ich mir die Kapuze vom Kopf und nahm mein Spiegelbild in der Fensterscheibe in Augenschein. Mein eines Augenlid war anschwollen, die Wange begann blau anzulaufen. Das Blut war mir über Mund und Kinn geflossen und inzwischen getrocknet, also gestattete ich es mir, meine Nase zu untersuchen. Sie pochte bei jeder Berührung schmerzhaft, saß aber gerade. Immerhin war sie nicht gebrochen.

An der Gordon Stout hatte ich von den Lehrern schon die eine oder andere Tracht Prügel für meine Aufsässigkeit bezogen. Es kam auch vor, dass meine Mutter mir einen Klaps gab, um mich einzunorden, wenn ich zu respektlos geworden war. Aber noch nie hatte sie mich mit der Faust zu Boden gestreckt.

Und noch nie hatte ich sie derart angegriffen.

Ächzend sank ich gegen die zerschlissene Rückenlehne. Bestimmt hatte sie ihre Gründe gehabt, es – was auch immer es war – vor mir zu verheimlichen. So wie ich ihr nichts von dem Leuchten erzählt hatte. Um sie nicht zu belasten. Vielleicht hatte sie aus dem gleichen Grund gehandelt. Vielleicht war es so einfach.

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass sie schlichtweg Angst haben musste. Genau wie meine Welt, war vorhin auch ihre zusammengebrochen.

Mir war hundselend.

Mum hatte nicht mehr versucht, mich zu erreichen, seit ich ihren Anruf weggedrückt hatte – das fiel mir plötzlich auf. Aber ich kannte sie. Sie wartete auf eine Nachricht von mir, wenn es sein musste, bis zu meiner leibhaftigen Rückkehr. Eine durchwachte Nacht konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Mechanisch griff ich zum Handy und begann eine SMS zu tippen:

»Bin bei Solweig untergekommen. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Morgen reden wir.«

Ich wollte die Nachricht schon abschicken, zögerte dann aber einen Moment.

Was für ein Mist, dachte ich und drückte die Kurzwahl durch.

Mum hob noch beim ersten Klingeln ab.

»Wo bist du?«

Sie klang fast ängstlich.

Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich genau das sagte, was ich in die SMS hatte schreiben wollen. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin bei Solweig untergekommen.«

»Nein, ich meine, ob du schon da bist.«

Das verschlug mir den Atem. »Hat sie dich …?«

»Nein, ich sie.«

In der Fensterscheibe sah ich, dass ich unwillkürlich angefangen hatte zu lächeln. Natürlich hatte sie geahnt, wohin ich mich wenden würde. Wie hätte ich das bloß in Zweifel ziehen können?

»Wo ist Breca?«, fragte ich.

»Vor mir auf dem Stuhl eingedöst«, flüsterte sie. »Wir reden morgen, ja?«

Ich erwiderte nichts.

»Versuch zu schlafen«, sagte sie. Ich wusste, dass sie auflegen wollte.

»Mum«, sagte ich schnell, aber als sie tatsächlich wartete, brauchte ich noch einen Moment. »Du kannst mich nicht kreuzweise.«

Einen endlosen Moment herrschte Stille.

Dann sagte sie: »Ich weiß.«
 

Die Nachtzüge fuhren schaffnerlos und gaben die Haltestellen über verschrammte Displays neben den Abteiltüren durch. Wenn man nicht aufpasste und rechtzeitig den Bremsknopf betätigte, konnte man die zusätzlichen Blocks im Laufschritt zurücklegen, wollte man keine halbe Stunde auf die nächste Bahn warten.

In Gedanken versunken, war ich der passende Kandidat für so eine Dummheit, und es wäre nicht das erste Mal für mich gewesen. Aber was Richmond anbelangte, hatte ich das unverschämte Glück, gerade die Endstation anzusteuern. Meine Haltestelle flammte in roten Lettern auf, und noch bevor die Türen ganz geöffnet waren, sprang ich auf den Bahnsteig hinaus.

Als ich auf den Quadrant hinaustrat, hüllte mich augenblicklich die Kälte ein. Meine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Die letzten paar hundert Meter bis zu Solweigs Haus legte ich strammen Schrittes zurück. Im Prinzip lag es gleich hinter dem Bahnhof; da aber der Ausgang am Quadrant der einzige war, musste ich wohl oder übel einen Bogen laufen.

Solweigs Zuhause glich einem Gebilde aus Stein und Glas, dessen Stockwerke sich verschachtelt ineinander schoben und innen in weitläufigen, hohen Räumen zusammenschmolzen. Es war noch aus der Zeit, als Flachdächer der letzte Schrei waren. Nach dem Bürgerkrieg hatten die Leute jedoch angefangen, auf Haltbarkeit zu setzen und darauf, dass einmal geworfene, mitunter brennende oder explosive Gegenstände wieder vom Dach herunterrollen konnten. Solweigs Familie hatte, seit sie das Haus vor dreizehn Jahren gekauft hatten, das Dach inzwischen zweimal wieder flicken lassen, weil die jährlichen Frühlingsstürme es mürbe gemacht hatten. Mittlerweile wies es ebenfalls eine leichte Rundung auf. Noch bevor ich die Einfahrt erreicht hatte, sah ich, wie sich etwas hinter dem satinierten Glas der Haustür bewegte und Solweig sie geräuschlos öffnete.

Als sie mein Gesicht sah, fiel ihr die Kinnlade herunter. »Was, zur Hölle, haben sie denn mir dir gemacht?!«, fragten ihre Lippen tonlos.

Ich zuckte nur mürrisch mit den Schultern und erntete einen resignierten Seufzer. Sie winkte mich in den Flur und ließ die Haustür sanft ins Schloss gleiten. Ich streifte Jacke und Schuhe ab und atmete auf. Wärme und der vertraute Geruch nach Obst, Küchenkräutern und Hund empfingen mich und lullten mich augenblicklich ein.

»Geh schon mal hoch. Ich komm gleich nach«, flüsterte Solweig mir zu, schlich den Flur entlang und verschwand nach links in die Küche, die nur durch einen Türsturz abgetrennt war. Das Haus, in dem Solweig wohnte, bestand schier aus Durchgangszimmern. Von der Küche aus, kam man ins Wohnzimmer und von dort in die Bibliothek. Den Wohnräumen gegenüber lag das Arbeitszimmer von Solweigs Mutter, das als einziger Raum durch eine verschlossene Glastür abgetrennt war. Mum verdiente allein fast genau so viel wie Solweigs Eltern zusammen, und ich wusste, wie viel Wert Solweigs Familie darauf legte, in ihrem Stand anerkannt zu werden. Solweig und ihr älterer Bruder Garreth – der sein vorletztes Jahr an der Gordon Stout bestritt und insgeheim begeisterter Mitverfechter der Cobbald-Verschwörung war – taten ihnen den Gefallen, sie nicht zu enttäuschen. Als Kinder einer Tierärztin, die gelegentlich als Dozentin an der medizinischen Fakultät arbeitete, hatten Solweig und Garreth ganz bestimmte Erwartungen zu erfüllen, vor allem von außerhalb der Familie. Wenn ich mich unter meinen Mitschülern umschaute, kam ich immer wieder zu dem Schluss, dass es Lehrerkindern im Allgemeinen so zu gehen schien. Andererseits saßen sie direkt an der Quelle, und das war auch mir schon mehr als einmal zugutegekommen.

Als ich auf dem Weg zur Treppe am Wohnzimmer vorbeitappte, hörte ich das tiefe Schnarchen des betagten Airedale Terriers. Der breite Flur folgte der Anordnung der Räume und gewährte einen Blick in jeden von ihnen, bevor er in einem verglasten Erker endete, der eine ausschweifende Garderobe und die Wendeltreppe ins Obergeschoss beherbergte. Der Haken an der Wendeltreppe war, dass die Stufen zwar breit und tief waren, es aber kein Geländer gab. Nachdem ich sie über Jahre immer wieder erklommen hatte, nahm ich sie mittlerweile trittsicher im Krebsgang, damit ich besseren Halt hatte. Wie jedes Mal zählte ich die Stufen, weil Nummer Acht und Elf verräterisch zu knarren pflegten, und stahl mich an Garreths verschlossener Zimmertür vorüber in Solweigs Zimmer.

Anders als die restlichen Räume des Hauses, beherbergte es ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium von Materialien. Ich liebte es. Wie immer, wenn ich Solweig unangemeldet besuchte, war es – nun, sie nannte es »unordentlich«. Die Kleidung vom Vortag war über den Rattansessel und den Schreibtischstuhl geworfen und ihre Schulbücher türmten sich auf dem Couchtisch. Solweig hatte die Zeit genutzt, die meine Fahrt gebraucht hatte, um mir Bettwäsche zu überziehen und Unmengen von Decken und Kissen auf ihrem Schlafsofa zu drapieren. Sie besaß kein Bett, nur dieses Sofa. Aber wenn ich es so ausgebreitet vor mir sah, staunte ich jedes Mal aufs Neue, denn darauf hatten vier Leute bequem Platz. Über der Tür hingen Solweigs perfekt gebügelte Schuluniformen. Ein massiver Eichenschrank türmte sich vor der einen Wand auf und erdrückte mit seiner Anwesenheit fast das weiß getünchte Regal, das vor Schallplatten und CDs nur so überquoll. Ich wusste, dass viele davon signiert worden waren, bevor Solweig sie überhaupt zum ersten Mal in den Plattenspieler eingelegt hatte. Solweig sparte das Geld ihres Aushilfsjobs, um auf die Konzerte ihrer Lieblingsbands fahren zu können. Zuerst hatten ihr Bruder und seine Freunde sie mitgenommen, doch mittlerweile hatte sie eine über ganz England verteile Clique zusammengebracht, mit der sie in regelmäßigen Abständen die Festivals abgraste. Missmutig stellte ich fest, dass diese Clique, die ich nur von kurzen, Sympathie erweckenden Gesprächen auf ihrer letzten Geburtstagsfeier kannte, auf ihrer Fotowand bald genauso viel Platz einnehmen würde wie Matt und ich.

Ich hatte mich gerade in die weichen Polster des Sofas sinken lassen, als Solweig auch schon behände hinter mir die letzten Treppenstufen hinauflief, lautlos und freihändig, eine Tasse heiße Milch mit Honig in jeder Hand. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Türklinke herunter und schob die Tür ins Schloss, ohne dass diese ihr jämmerliches Quietschen ertönen ließ, wie sie es bei mir zu tun pflegte.

»Erzähl«, verlangte Solweig und drückte mir im Gegenzug eine Tasse in die Hand.

Ich starrte auf die marmorierten Streifen, die der Honig in der Milch gezogen hatte. »Ich habe Mist gebaut«, sagte ich. »Mum auch.«

»Schwer zu übersehen«, bemerkte sie.

Meine Miene musste einer Gewitterwolke gleichkommen, denn prompt lächelte sie mich entschuldigend an.

Ich seufzte. Einmal, zweimal, und noch ein paar Male, weil ich den richtigen Ansatz nicht fand. Und dann erzählte ich ihr alles: Von meinem Termin bei Doktor Graham, der Überweisung, Mums Überarbeitung, meinem Schweigen über das Leuchten, Jean und Lestard, dem Schlüssel, unserem Streit, meiner Flucht.

Die Sätze blubberten ungelenk und wirr aus mir heraus, aber irgendwie schaffte Solweig es, mitzuhalten. Ich liebte ihre Art, zuzuhören. Sie hockte vornübergebeugt im Schneidersitz und zuckte kaum mit der Wimper, die Augen stets auf meine gerichtet. In ihrer Aufmerksamkeit ging ich auf.

Sie ließ meine Erzählung unkommentiert, denn sie wusste, dass ich einen Plan verfolgte und nur eine Gelegenheit gebraucht hatte, um die Ereignisse auf die Reihe zu bekommen. Eine ganze Weile saßen wir einfach da und verarbeiteten meine Worte.

»Charlotte hat mich angerufen«, sagte sie schließlich. »Gleich nach dir.«

»Ich weiß.«

Solweig nickte. »Warum bist du nicht sofort zurückgegangen?«

Meine Finger spielten fahrig mit dem Tassenrand. »Ich will nicht, dass alles über Nacht in weite Ferne rückt und ich morgen denke, ich hätte alles nur geträumt.«

Solweig betrachtete mit ernstem Gesicht ihre Füße. Plötzlich begann sie zu grinsen und wuschelte mir durchs Haar. »Und du denkst, dein Gesicht könnte dich anlügen?«, feixte sie und erntete einen nicht zu sanften Knuff.

Ich schaute sie lange an.

»Was?«, fragte sie grinsend. Mein Blick machte sie verlegen.

»Danke«, sagte ich leise.

Sie zuckte mit den Schultern und nippte zum ersten Mal an ihrer Tasse.

»Verdammt!«, zischte sie und schüttelte sich. »Die Milch ist kalt!«

SILVESTER (II): »Bist du taub?!«

Zu Silvester hasse ich die Innenstadt.

Unterhalb der Hochbahn bebte London vor Leben. Unter zahllosen Füßen und Rädern war der frische Schnee von letzter Nacht zu einem braunen Morast verkommen. Ich saß mit Kopfhörern im Ohr an das Fenster gelehnt und hatte die Musik auf volle Lautstärke gedreht, aber ich hörte nicht hin. Die Kälte der Scheibe brannte auf meiner Stirn. Unten auf der Straße stauten sich die Autos vor einer roten Ampel. Eine Gruppe junger Erwachsener nutzte die Gelegenheit, schlüpfte lachend zwischen den wartenden Fahrzeugen hindurch und hob pralle Supermarkttüten über die dampfenden Motorhauben hinweg. Mit einem Ruck kam direkt unter mir ein Auto wippend zum Stehen. Bremslicht flammte auf und der überraschte Wagen dahinter krachte ihm beinahe in die Stoßstange. Auf der Fahrerseite beider Autos schlängelten sich Arme aus dem Fenster. Fäuste hieben in die Luft. Die Ampel sprang auf Grün um, die Arme zogen sich nach mehrmaligem Hupen eines Dritten in ihre Fahrzeuge zurück, und der Stau begann vorwärtszufließen wie eine zähflüssige Suppe, die jemand ausgoss.

Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Ich sank gegen den weichen Stoff des Sesselpolsters. Kein Vergleich zu den stumpfgescheuerten Sitzen der Nachtbahnen.

Normalerweise benutzte fast ausschließlich die Oberschicht die Züge der Hochbahn. Das Schienennetz erstreckte sich auf Säulen zwischen den Wolkenkratzern der gesamten Innenstadt und glitt wie eine schimmernde Schlange über die Menschenmassen unten auf den Straßen und in den Untergrundbahnen hinweg. Die Abteile boten Platz für höchstens vier Leute und waren komplett voneinander abgetrennt. Es gab auch zwei Wagen zweiter Klasse mit größeren, nur durch Glaswände separierten Sitzgruppen. Ein solches Ticket kostete nur die Hälfte von meinem, aber heute war mir die Einsamkeit Gold wert. Ich hatte mir ein eigenes Abteil unter den Oberen gesucht, denn hier blieb man unter sich. Die Menschen, die gemeinsam reisten, unterhielten sich gedämpft, wer allein fuhr, arbeitete am Laptop, telefonierte oder – wenn er wie ich nur selten hier oben fuhr – genoss die Aussicht auf das Treiben der Menschen unter uns. Sich am Fenster die Nase platt zu drücken, wagte jedoch niemand. Ich rümpfte die Nase und schloss die Augen. Heute gab es an dem wimmelnden Anblick unten in der Innenstadt auch nichts zu genießen. Normalerweise tat ich mir dieses teure Vergnügen in der gehobenen Gesellschaft nicht guten Gewissens an, aber ich hatte die Wahl gehabt zwischen ihnen und dem halsbrecherischen Spektakel tief unter mir. Keine schwer zu treffende Entscheidung.

Zu meiner Überraschung hatte mein Veilchen auch relativ wenig Aufmerksamkeit erregt. Garreth hatte es beim Frühstück geflissentlich übersehen, weil er genau wusste, wie eitel ich in solchen Dingen bin. Solweigs Eltern waren über Silvester verreist – ein Umstand, den ich in meiner Zerstreutheit zuerst völlig verschwitzt hatte, der mir zu meiner Freude allerdings die peinliche Erklärungsnot ersparte. Nachdem ich in die Hochbahn eingestiegen war, hatte mein Erscheinungsbild einige affektierte Blicke auf sich gezogen, aber meine Gesamtaufmachung wies mich als einen der Ihren aus, also wurde über mich Ärmsten nur mitleidig der Kopf geschüttelt und das war es dann. Ich hatte mir ein Hemd von Garreth geliehen (es war mir zwei Nummern zu groß, aber unter der Jacke fiel das nicht weiter auf) und wir hatten meine Jacke abgewaschen, doch ein blaues Auge bleibt ein blaues Auge. Zuerst hatte ich deshalb ein Heidentheater veranstaltet, bis Garreth entnervt meinte, Solweig solle es mir wegschminken oder er würde mein anderes Auge farblich anpassen.

Plötzlich bemerkte ich, dass etwas mit meiner Musik nicht stimmte. Andere Töne hatten sich darunter gemischt, die nicht zu dem Lied gehörten. Erst, als sie fast wieder verstummt waren, begriff ich, dass es sich um eine sprechende Stimme außerhalb der Kopfhörer handelte.

»…du taub?!«, war das Einzige, was ich verstand.

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Im Nachbarabteil mussten sich Passagiere lautstark streiten. Anscheinend reichten auch Musik am Anschlag und ein teures Abteil für sich allein nicht mehr aus, um die Umwelt auszublenden. Wahrscheinlich würde gleich jemand dazwischen gehen und den Streit schlichten, denn die Oberschicht gab sich so gut wie nie die Blöße einer lauten Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit.

Plötzlich waren die Kopfhörer verschwunden. Instinktiv schnappte ich nach dem Kabel.

Und packte ein Handgelenk.

Alarmiert riss ich die Augen auf. Der blonde Junge, in dessen finsteres Gesicht ich starrte, war mit Sicherheit zwei Jahre jünger als ich. Auf der Brusttasche seiner schwarzen Seidenweste prangte dekorativ das Emblem der Congregatio Magica: die vier Säulen, Symbol ihrer Tugenden, umrahmt von den zwölf Sternen der europäischen Flagge.

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Das erholsame, gedankenlose Schwebegefühl, das sich nach meinem Gespräch mit Solweig eingestellt hatte, wich einer dumpfen Wut. Mit der Sigle holte mich die Wirklichkeit ein, und sie lachte mich boshaft und schadenfroh aus, oh ja. Warum konnte ich nicht einfach meine Ruhe haben? Wenn sich schon ein Snob mit mir anlegen musste, wieso konnte es nicht ein Null-acht-fünfzehn-Snob sein? Wieso musste es ein Congregatio-Snob sein? Er war unverkennbar einer dieser Internatsschnösel, deren Ausbildung von der Regierung gefördert wurde. Sie trieben sich manchmal in der Innenstadt herum, wenn sie Ausgang hatten. Wenn einer in mein Blickfeld trat, wechselte ich die Straßenseite, damit ich ihre Sticheleien nicht hören musste. Meine Theorie war, dass man mit dem Stipendium der Congregatio die Selbstliebe kellenweise fraß. Sie behandelten jeden, dessen Nase ihnen nicht passte, mit einer näselnden, arroganten, übertrieben höflichen Art, die sie für Kultiviertheit hielten und auf die sie sich wer weiß was einbildeten.

Der hier machte sich nicht einmal die Mühe, mir gegenüber höflich zu wirken. Stattdessen musterte er mich abschätzig. Dank Mums Beamtenjob hatten wir keinen schlechten Stand. Nach dem letzten Tag musste ich auf diesen Pimpf allerdings einen Eindruck machen, der abgerissen genug erschien, um mich als Hinterwäldler einzustufen. Offensichtlich war ich seiner Meinung nach fehl am Platze, das ließ sein Blick mich spüren. Meine Kopfhörer wie eine Leinenschlaufe umklammernd, baute er sich vor mir auf.

»Lass die los«, sagte ich tonlos.

Der Junge verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Sag bitte.«

»Was willst du?«

»Würdest du bitte aufstehen. Dieses Abteil ist für mich.«

Er sah eher danach aus, als würde er sich an einem Sitz, den ich benutzt hatte, nicht einmal die Stiefel abwischen. Mach die Musik leiser, du Depp unterhältst mit dem Gegröle den ganzen Zug! So etwas hätte ich erwartet. Aber das! Die reservierten Abteile hatte ich in der gleichen Absicht hinter mir gelassen wie die zweite Klasse. Mir war nicht nach Gesellschaft zumute gewesen, nicht einmal nach der von Menschen hinter geschlossenen Türen. Und dass mir diese kleine Nervensäge jetzt so auf die Pelle rückte, strapazierte meinen guten Willen aufs Ärgste.

Ich verstärkte den Griff um sein Handgelenk. Er ruckte mit dem Arm, schaffte es aber nicht, sich zu befreien. Schließlich gab er es mit geschürzten Lippen auf. So hatte er sich das offenbar nicht vorgestellt.

»Du lässt meine Kopfhörer los und ich deine Hand«, schlug ich ihm vor. »Und dann suchst du dir ein eigenes Abteil und lässt mich zufrieden.«

Der Schnösel bleckte die Zähne. Meiner Meinung nach war er einfach zu spät dran und in jedem Abteil hatte sich bereits irgendeine blasierte Seele breitgemacht. Er hatte eindeutig nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet ich ihm so standhaft Paroli bieten würde. Statt aber klein beizugeben, verzog er seine verhärmte Miene zu einem höhnischen Grinsen.

»Siehst du das hier?« Mit inbrünstiger Geste wies er auf das Congregatio-Wappen auf seiner Jacke.

Im selben Moment erwachte die Bahn in einer einzigen fließenden Bewegung zum Leben. Ich trauerte meiner wohlverdienten Einsamkeit nach und musterte die stilisierten Säulen. Tapferkeit. Weisheit. Gerechtigkeit. Besonnenheit. Im Grunde genommen, war die Sigle wie eine verheißungsvolle Produktverpackung und der Schnösel wie das darin verborgene Fertiggericht, in dem irrtümlich eine Fliege mit eingeschweißt worden ist. Dass sich eine Schicht einer anderen gegenüber im Ton vergriff, kam zuweilen vor. Dann wurde der niedriger Gestellte für gewöhnlich einmal in seinen Wurzeln diskreditiert, der höher Gestellte im Gegenzug angemessen deftig zurückbeleidigt und man ging seiner Wege. Aber so, wie dieser Lackaffe sich aufführte, war er eine Schande für den ganzen gesellschaftlichen Stand, dem er angehörte.

»Und, was sagt dir das?« Sein Finger pochte nachdrücklich auf die Stickerei.

»Die Weste ist dir ein paar Nummern zu groß«, erwiderte ich trocken.

Mein Trotz brachte ihn zum Rasen. »Leute wie du haben hier nichts verloren«, kläffte er. »Mach den Platz frei, oder ich sorge dafür, dass du entfernt wirst.«

Das sollte er wagen! Im Geiste stellte ich mich darauf ein, einer langatmigen Konversation mit einem gezielten Faustschlag vorbeugen zu müssen, und hoffte, dass ich darum herum käme. Denn tausendmal wichtiger als ein gut gezielter Schlag waren schnelle Beine im Anschluss. Nicht einmal das Vergnügen, diesem Schnösel seine Arroganz zu den Ohren herauszuprügeln, wäre mir die Menge an Pfund Sterling Wert gewesen, die mein Ticket gekostet hatte.

»Wer bist du? Der König?«, knurrte ich. So viel zum Thema »Dampf ablassen« – mein Kampfgeist brachte nicht einmal ein müdes Pusten zustande. Ich fühlte mich, als hätte ich Leck geschlagen.

Seine freie Hand zuckte vor, um mich aus dem Sitz zu zerren, aber ich war gewappnet und fegte sie zur Seite. Seine Augen flackerten unheilvoll, dann loderte das Leuchten auf wie angefachtes Feuer. Das vertraute Pochen hinter meinen Schläfen setzte wieder ein. Weiße Flecken erschienen vor meinen Augen und platzten wie Blasen.

Der zweite Schlag kam zu schnell für mich. Seine Faust rammte meine geschundene Nase und ich sackte jaulend in meinem Sitz zusammen. Eines musste man dem Kerl ja lassen: Zielen konnte er!

Als ich wieder aufschaute, stand er in der Abteiltür. Sein boshaftes Grinsen zog sich von einem Ohr zum anderen. In seiner Hand hielt er nicht mehr meine Kopfhörer.

Schlimmer.

Er hatte mein Ticket.

Überflüssigerweise griff ich nach meiner Brusttasche, in der ich den Wisch aufbewahrt hatte. Wie hatte er so treffsicher danach greifen können? Mein Gesicht musste eine einzige Frage sein, und sie entlockte dem Maulhelden vor mir ein triumphierendes Lachen. Ich war wie in den Sitz gedrückt, während ich beobachtete, wie er meine Fahrkarte mit spitzen Fingern emporhielt, in der Mitte zerriss, die Hälften übereinanderlegte und noch einmal und noch einmal zerriss, bis seine Finger die Fetzen kaum noch greifen konnten.

Die Reste meiner letzten Ferienjobersparnisse flatterten vor meinen Augen auf den neuen Teppichboden der Hochbahn. Ich konnte sie förmlich schreien hören.

»Du verdammter kleiner Schuhlutscher«, fauchte ich und sprang ihn mit Klauenhänden an, doch er wich meinem Griff leichtfüßig aus.

Plötzlich ruckte der Zug und kam mit einem gewaltigen Atemzug zum Stehen.

Ich wurde in den gegenüberliegenden Sitz geschleudert. Einige Fahrgäste schrien auf und fingen an zu schimpfen. Tief unter uns hupten Autos. Im gegenüberliegenden Fenster sah ich, dass wir den Bahnsteig noch nicht ganz verlassen hatten. Unruhige Schatten flackerten von jenseits der Deckenfenster über die Wände des Abteils. Der Schnösel stolperte rückwärts in den Gang hinaus und ruderte ungelenk mit den Armen.

Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn aus dem Weg zu stoßen. Bevor er sich fangen konnte, war ich an ihm vorbeigehuscht. Ein Geschäftsmann, der im Gang stand und sich mit einer Frau im nächsten Abteil über den unverhofften Halt echauffierte, ignorierte meine eilig hingerotzte Bitte, mich vorbeizulassen. Kurzentschlossen holte ich Schwung und zwängte ich mich zwischen ihm und der Abteiltür hindurch, wobei sein Notebook beinahe gegen die Glasfront geschleudert wurde. Seine Hand schnappte nach meinem Kragen, aber ich konnte mich unter dem Griff hinwegducken.

»Meine Damen und Herren, wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, aber eine Weiterfahrt ist derzeit leider ausgeschlossen ...«, setzte aus den Lautsprechern eine demütige Frauenstimme an. Ihr Entschuldigungssermon begleitete mich, während ich quer durch den Waggon flitzte und beinahe eine Servicekraft über den Haufen rannte, die von Abteil zu Abteil ging, um die Passagiere zu beruhigen. Statt eines Fingers rammte ich gleich die ganze Handfläche auf den Knopf, der die Türen öffnete, und hechtete auf den Bahnsteig hinaus.

Hinter mir schoben sich weitere Passagiere ins Freie, um zu sehen, warum die Bahn so unvermittelt gestoppt hatte. Sobald ihre Füße den Asphalt berührten, erstarrten sie in vollendeter Synchronie. Unter uns lagen die Straßen reglos und schweigsam; sämtliche Augen waren gen Himmel gerichtet.

Auf dem Schienenstrang über unseren Köpfen waren die hinteren Waggontüren einer Hochbahn aufgestoßen worden. Bei einer weiteren Hochbahn, die zur Hälfte hinter einem Wohnblock verborgen lag, standen die Türen ebenfalls sperrangelweit offen. Aus beiden Zügen schneite es Papier.

Papier breitete sich über dem Steinboden aus wie ein Teppich und sog die Überreste des Schnees auf. Papier schmiegte sich an Menschen und glitt an ihnen hinab. Papier formte eine zweite Haut über der Straße unter uns. Die Zeit stand still und das Papier war ihr entflohen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich der Schnösel zwischen den Leuten hindurch nach draußen zwängte. Ein Blatt wischte im Sinkflug über sein Gesicht. Wütend riss er es herunter und starrte auf den Inhalt. Sein Gesicht verfärbte sich kalkweiß, ob vor Entsetzen oder Wut ließ sich schwer sagen.

Irgendwann ließ der Blätterregen nach, wurde zu einem Tröpfeln. Die Menschen erwachten aus ihrer Starre und wandten sich dem Meer zu, das sich vor ihren Füßen ergossen hatte. Das Leben war in sie zurückgekehrt, und mit ihm ihre Stimmen. Die Innenstadt summte vor ihrem Gemurmel. Man hörte es bis hier oben, wo die Leute dem Inhalt der Blätter mit schweigendem Ekel begegneten. Die Türen der Waggons schlossen sich, aber die Bahnen setzten nicht zur Weiterfahrt an. Die Passagiere im Zug über uns drückten sich rücklings an die Fenster, die Hände erhoben. Ein uniformierter Mann schob die Leute hinter mir beiseite und sprang in den Zug, aus dem wir gekommen waren. Weitere folgten ihm.

Man suchte die Verantwortlichen.

Es fielen kaum noch Zettel. Ich fing einen Nachzügler vor meiner Nase aus der Luft.
 

Kämpft für freie Bildung!

Finanziert nicht eure Dummheit!
 

Ein Dolch und ein Schlüssel.
 

Meine Hände schlossen sich um das Flugblatt. Die Worte rüttelten irgendetwas in mir wach. Plötzlich konnte ich es nicht erwarten, nach Hause zu kommen. Ich drehte mich auf dem Absatz um und trottete los, in der Hoffnung, dass der Schnösel mich in dem aufbrandenden Getümmel nicht sah.

Natürlich sah er mich. Ich war der Einzige mit einer Richtung.

»Ey, du!«, brüllte er mir nach. Als ich nicht reagierte, wandte er sich irgendjemandem zu, der neben ihm stand.

»Der Typ ist ein Magier! Ein wilder!«

Bei dem Wort stolperte ich über meine eigenen Beine. Im Nacken spürte ich plötzlich die Blicke zahlreicher Augenpaare. Ich verschwendete keine Zeit damit, mich umzusehen. Ein Teil der Stimmen galt nicht mehr den Flugblättern. Ich hörte, wie jemand nach den uniformierten Männern rief, die meinen Zug durchsuchten.

Da rannte ich los.

SILVESTER (III): »Beide Hände noch dran, wie ich sehe.«

In unserer Straße kam ich zum Stehen, keuchend und zitternd. In den Oberschenkeln spürte ich das Blut rauschen, der Schweiß lief mir an den Schläfen herab. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre im Schnee in die Knie gegangen.

Als ich den Kopf hob, schaute ich geradewegs auf die blank verputzte Fassade unseres Hauses. Mich trennten vielleicht hundert Meter von ihr. Der Schnee war hier fast unberührt und ich stapfte zielstrebig hindurch auf die Haustür zu. Der Türklopfer, der nur noch zur Zierde auf dem dunkel lasierten Holzes prangte, hatte die Form eines Elefantenkopfes, aber Eiskristalle hatten ihn überzogen und die Konturen verwischen lassen. Ich strich mit einer Hand darüber wie über einen Talisman, während ich mit der anderen in meiner Jackentasche nach dem Flugblatt tastete.

Ein wilder Magier in meinem Alter war nichts Besonderes. In dieser bestimmten Situation zwar recht delikat, aber nichts Besonderes. Die meisten wurden während ihrer Pubertät »gefunden«, wie man es bezeichnete, und von der Congregatio registriert. Wenn man die Berichte in den Nachrichten hörte, erreichte der Begriff »gefunden« eine Bandbreite von »freiwillig angemeldet« über »zufällig entdeckt« bis hin zu »gewaltsam festgenommen«. Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie jemanden Magie wirken sehen. Aber zum ersten Mal machte ich mir überhaupt schwindlige Gedanken darum – es musste nicht sein, dass ich tatsächlich Magier war. Vielleicht hatte ich wirklich einfach nur Kreislaufprobleme. Zumindest schaffte ich es für den Moment, mir das einzureden. Jetzt war ich mir immerhin darüber klar geworden, dass ich Mum so schnell wie möglich von dem Leuchten erzählen musste. Ich wühlte weiter in meinen Taschen, doch statt des Flugblattes streiften meine Finger den fest verklebten Brief des Ophthalmologen.

Ich hielt im Wühlen inne.

Graham hatte es gewusst.

Zumindest geahnt.

Ich lehnte die Stirn gegen die vereiste Haustür. Die Kälte kribbelte mir auf der Haut und klärte meinen Kopf.

Jeod Faraday also.

Faraday wusste, wie mir zu helfen war.

Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, Mum vorerst unbehelligt zu lassen. Sie hatte genug Sorgen, und ich bezweifelte, dass ihr ein wilder Magier als Sohn momentan eine große Hilfe wäre.

Vor Aufregung vergaß ich fast, meine Schuhe auf dem extra dafür drapierten Läufer abzuklopfen. Hätte unser Nachbar später meine nassen Schuhabdrücke entdeckt, die sich über den altehrwürdigen Dielenboden ausgerechnet bis zu unserer Wohnung erstreckten, hätte es ein Donnerwetter gegeben. Nach eigener Behauptung musste er sie mit schöner Regelmäßigkeit fast jede Woche vom empfindlichen Holz entfernen lassen. Richtig – lassen.

Vor unserer Wohnungstür strauchelte meine Entschlossenheit. Ich brauchte drei Anläufe, ehe es mir gelang, den Schlüssel ins Türschloss zu rammen.

» ...regatio ist auf dem Weg hierher, und dir fällt nichts Besseres ein, als mich herzuzitieren!?«

Ich stutzte. Die Stimme kannte ich. Ich erinnerte mich bloß nicht, wo ich sie schon einmal gehört hatte. Lautlos trat ich über die Schwelle.

»Wir sitzen alle im selben Boot, ob es Ihnen passt oder nicht«, sagte Breca.

Sie waren in der Küche.

Einen Moment herrschte Schweigen.

»Sie wären sowieso zu dir gekommen«, setzte Mum schlaff nach.

»Als Allianz stehen wir aber um Längen schlechter da!« Die Männerstimme seufzte. »Die tauchen hier auf, sehen mich in eurer Gesellschaft und zerreißen uns in der Luft, alle drei.«

Mein Herz schlug, als wollte es mir in die Mundhöhle hüpfen. Während ich lauschte, schob ich tastend hinter mir die Tür zu. Das dumpfe Poltern, mit dem sie ins Schloss schnappte, hatte nicht zu meinem Plan gehört.

Die Stimmen verstummten. Jetzt musste ich mir keine Mühe mehr geben. Kurz überlegte ich, so zu tun, als hätte ich nichts mitbekommen, verwarf den Gedanken dann aber. Verlegen betrat ich die Küche.

Mums Anblick ließ mich innehalten. Sie saß am Esstisch, hatte den Kopf auf die Hände gestützt und trug noch ihre Kleidung vom Vortag. Ihr ausgefranster Blick lugte hinter ihrer Armbeuge hervor. Sie hatte keine Minute geschlafen. Breca stand hinter ihr, die Hände um ihre Schultern geschlungen, genau wie letzte Nacht. Der Mann, dessen Stimme mir so vertraut vorgekommen war, hatte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenzeile gelehnt und musterte mich über seine Augenringe hinweg. Die altmodische Frackjacke stand offen und gab den Blick auf ein zerknittertes Hemd frei. Das Haarband hielt nur einen Teil seiner langen dunklen Haare zusammen, der Rest hing ihm in Strähnen am Gesicht herab, als wäre er überstürzt aufgebrochen. Er lupfte eine Augenbraue, als er mich erkannte.

»Sie!«, stieß ich hervor, was zu meinem Ärger eher nach Schluckauf klang als nach einem Wort.

»Ich berichtige: alle vier«, sagte der Mann ungerührt. Mit einem Kopfschütteln ließ er die Arme sinken und hakte die Daumen in seinen Gürtel. »Guten Morgen, Yuriy. Beide Hände noch dran, wie ich sehe.«

»Sie … Urian.«, stammelte ich und rieb mir mit dem Jackenärmel über die Wange. Was suchte der denn hier? Was ging es ihn an, wie ich herumlief?

Breca runzelte die Stirn und wechselte einen Blick mit Mum.

»Woher kennt ihr euch?«, fragte sie und setzte sich auf.

»Wir kennen uns nicht«, erklärte ich. »Nicht wirklich.«

Der Mann stieß sich von der Arbeitsplatte ab. »Wir sind uns einmal auf der Straße begegnet, ohne zu wissen, wer der Andere war«, sprang er für mich in die Bresche.

»Gestern«, fügte ich trotzig hinzu und erschrak darüber, wie wenig Zeit seitdem vergangen war.

Der Mann warf mir einen überraschten Blick zu, dann zuckte er die Achseln. Der sollte bloß nicht glauben, ich sei hilflos!

»Da hast du deine Mittäterschaft«, sagte Mum düster. »Du könntest uns auch ausspioniert haben.«

»Und dann den Kardinalfehler begehen, mit meinem Ziel zusammenzustoßen?« Sein Mundwinkel zuckte. »Dann doch lieber andersherum und stets zu Diensten.«

Mum bedachte ihn mit einem harten Blick. »Wenn du vorhast, irgendwelche Halbwahrheiten zu erfinden, dreh ich dir deinen Strick höchstpersönlich.«

Der Mann setzte zu einer Antwort an, entschied dann aber, dass Schweigen wohl die bessere Alternative wäre.

»So so, zusammengestoßen seid ihr.« Breca streckte sich mit einem Augenzwinkern. »Da löst sich das Rätsel um das besagte kaputte Handy, was? Deshalb ist der umtriebige Herr gestern Abend nicht ans Telefon gegangen.«

Das Handy! Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie verdrießlich der Mann nach unserem Zusammenstoß auf sein altes Mobiltelefon gestarrt hatte.

Also war er es gewesen, den Mum letzte Nacht so verzweifelt zu erreichen versucht hatte.

Ich bemerkte erst, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte, als er meinen Blick erneut auffing.

Mum winkte mich zu sich heran und hielt mich am Arm fest.

»Urian Adlard«, sagte sie, »ist ein guter Freund von mir.«

Ein misstrauischer Blick war alles, was ich ihm zur Begrüßung zuteilwerden ließ, also verzichtete er umsichtiger weise auf einen Handschlag.

»Arbeiten Sie auch für die Congregatio?«, fragte ich ihn.

Mum riss die Augen auf. Breca streichelte schmunzelnd ihre Schulter.

Urian Adlard lehnte sich wieder gegen die Küchenzeile. Gut, dass es nicht die weiße Wand war. Ich fragte mich, ob Mum ihn dann genauso brüsk angefahren hätte, wie sie es bei mir zu tun pflegte. Das hätte ich gerne gesehen.

»Schuldig«, antwortete er, unbemüht, seine Neugier zu verbergen.

»Deshalb habe ich nie von Ihnen gehört«, sagte ich schroff. Breca drückte Mums Schulter und ließ mich machen. Solange ich das Wohlwollen meines Großvaters genoss, würde ich mich bestimmt nicht zurückhalten.

Urian Adlard lachte, wofür ich ihm einen vernichtenden Blick zuteilwerden ließ. Mir war nicht im Geringsten nach Lachen zumute. Er meinte es ehrlich, und das verwirrte mich.

»Im Übrigen hätte das auch so bleiben sollen«, ging Adlard auf mich ein.

»Dann verschwinden Sie«, erwiderte ich und spürte Mums warnenden Blick im Nacken. Hätte Breca sie nicht in Schach gehalten, hätte sie mich spätestens jetzt zum Schweigen gebracht.

Adlard legte den Kopf schief und musterte mich. »Und das war noch recht freundlich, was?«

Ich beschloss, härtere Geschütze aufzufahren. Nicht, dass dieser Kerl an meiner Aufmüpfigkeit noch seinen Spaß fand!

»Sie scheinen ja hier den Durchblick zu haben. Sind Sie zufällig auch der Kerl, von dem wir die Alarmanlage bekommen haben?«

»Der Kerl bin ich.«

»Sie ist Bockmist.«

Adlard beobachtete mich mit unverhohlenem Interesse. »Wie viel weißt du über die Dinge, die gestern Abend besprochen worden sind?«

Ich zuckte die Achseln. Vorsichtshalber.

Er schaute geschlagen zu Boden, dann wieder zu mir. »Schlechte Antwort«, sagte er.

»Er weiß gar nichts!«, ging Mum dazwischen, bevor ich einen Kommentar abgeben konnte.

Ich starrte sie an. »Ich weiß, dass ihr irgendeine Verbindung zu Atlantis habt!«

Mums strenger Blick hieß mich Schweigen, aber ich dachte gar nicht daran.

Adlard zuckte die Achseln und schob die Hände in die Jackentaschen. Seine Schuhspitze bohrte sich in den Boden. »Charlotte, ich glaube, du kannst beruhigt sein.«

»Urian!« Mum fuhr in die Höhe.

»Er hat nicht für ein Staubkorn Ahnung! Die Congregatio wird sich nicht damit aufhalten«, entgegnete Adlard, und seine eine Hand kam für eine ausholende Geste wieder zum Vorschein. Es war ein faszinierendes Schauspiel, wie er sich in seine Argumentation hineinsteigerte. »Er weiß Nichts, also bleibt er außen vor. Was willst du mehr?«

»›Er‹ verlangt Antworten«, knurrte ich.

Brecas Blick ließ mich verstummen. Es behagte mir gar nicht, wie bevormundend sie über mich sprachen. Ich rieb mir die Wange unter dem blauen Auge und entschied, dass es klüger war, dieses Mal auf ihn zu hören. Vorige Nacht wäre ich so vielleicht auch besser gefahren.

»Mr Adlard hat Recht, Charlotte«, sagte mein Großvater langsam. »Was Yuriy weiß, ist nicht von Belang. Sie werden ihn nicht anrühren.« Er stockte. Sein Blick suchte den von Adlard. »Wie Lestard sagte.«

Für einen Moment verlor Adlards Gesicht jeden Biss.

Mum fasste nach meiner Hand.

»Aber Lestard ...«, setzte sie an.

Adlard schüttelte energisch den Kopf und Mum brach ab. Ich hatte das Gefühl, sie ließe sich dankbar abwürgen.

»Lestard will den Schlüssel – wohin auch immer der ihn bringen soll«, sagte Adlard. »Er hat kein Interesse an emotionalen Ränkespielchen. Schon gar nicht an dem Jungen.« Er hob entschuldigend die Hand in meine Richtung.

Mums Hand umschloss meine so fest, dass es wehtat. Ich drückte zurück, weil ich nicht wusste, wie ich ihr sonst helfen konnte, und erst da bemerkte sie, wie verkrampft sie sich an mich klammerte. Beinahe verlegen lockerte sie ihren Griff.

»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte sie Adlard.

Der musterte die grauen Quarzfäden, die sich zu seinen Füßen durch den Marmor zogen. »Ist eine Weile her.«

»Urian.« In Mums Stimme schwang ein drohender Unterton.

»Zwei bis drei Monate«, räumte er ein. »Die Begegnung hat zufällig stattgefunden. Willst du es auf den Tag genau?«

»Zwei bis drei Monate?«, echote ich. »Gehen Sie mit dem Kerl regelmäßig einen heben, oder was?«

Adlards Blick heftete sich auf mich. Etwas wie Fassungslosigkeit lag darin, das mir unangenehm war.

»Yuriy, bitte.« Mums freie Hand schloss sich wie ein Schraubstock um meinen Arm.

Brecas Fingerspitze strich über eine von Mums Haarsträhnen. »Jedenfalls braucht er uns als Lockvogel, so wie er es formuliert hat.«

Da gewann Adlard einen Teil seiner Haltung zurück. »Und Jean war bei ihm, sagen Sie?«

Breca nickte.

Zwischen Adlards Augenbrauen bildete sich eine steile Konzentrationsfalte. Ohne dass er es bemerkte, fegte seine Hand durch sein Haar und zerrte eine weitere Strähne aus dem Zopf.

»Jean folgt Lestard wie ein Welpe«, murmelte er schließlich. »Mich würde interessieren, was Phinæus dazu zu sagen hat.« Das schien er eher an sich selbst zu richten als an uns.

Phinæus. Der Name sagte mir etwas. In meiner Erinnerung kramte ich nach dem Wissen, das ich von dem knappen Referat meines Mitschülers behalten hatte, und wurde fündig. Vor meinem geistigen Auge blitzte die frei in den Raum projizierte Portraitfotografie eines Mannes um die Sechzig auf, mit kurzem schlohweißem Haar und strengen Gesichtszügen. Lord Phinæus Sheldon, förderte meine Erinnerung zutage. Spross einer altenglischen Landadelsfamilie, die über die Generationen ein anständiges Vermögen herangewirtschaftet hatte. Er war der Gründer von Atlantis. Damals war es eine rein caritative Organisation gewesen. Die politische Einmischung hatte erst viel später angefangen.

»Kennen Sie ihn gut, Mr Adlard?«, fragte Breca. »Lord Sheldon meine ich.«

Adlard schenkte ihm ein wölfisches Grinsen. »Wir haben das eine oder andere intensive Gespräch miteinander geführt.«

»Kannst du das nicht herausfinden?«, schaltete Mum sich ein, als ich gerade einen bissigen Kommentar einwerfen wollte. Ich schluckte die Bemerkung herunter und spitzte die Ohren.

»Phinæus ist in London ungefähr so leicht zu finden wie ein verlorener Penny«, erklärte Adlard. »Was sagtest du, wie viel Zeit Lestard euch eingeräumt hat?«

»Dann versuch es wenigstens«, sagte Mum unbeirrt.

Adlards Blick bohrte sich in ihren.

Sie setzte sich kerzengerade auf. »Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen.«

»Ich glaube es bald«, grollte Adlard.

Mum blieb stur. »Bitte, Urian.«

Eine Weile hielt Adlard ihr stand, dann zwang ihn die geballte Macht unserer Blicke in die Knie. Mit einem geschlagenen Seufzer sank er in sich zusammen. »Wenn die Congregatio mich lässt, kann ich ihn suchen gehen. Wir werden sehen, was sich ergibt«, sagte er mit belegter Stimme.

Ich schnaubte und musterte ihn, während ich insgeheim Zwischenbilanz zog. Adlard arbeitete für die Congregatio. Allerdings war er nicht erpicht darauf, ihren Funktionären unter die Augen zu treten. Er kannte Phinæus Sheldon und Lestard persönlich. Und er wusste Einiges über Atlantis. Also horchte man wohl – um es mit Lestards Worten auszudrücken – auch bei Erwähnung seiner Person auf.

Ich wandte mich zu Mum um.

»Heute reden wir. Das war die Abmachung.«

»Ich weiß.« Sie ließ die Schultern hängen. »Aber ich kann nicht – zumindest jetzt noch nicht.«

Was ist heute wieder wichtiger? Im letzten Moment konnte ich mir auf die Zunge beißen.

Adlard rieb sich seufzend die Augen.

»Siehst du?«, rief ich, verzweifelt, weil mir die Chance entglitt. »Er ist nicht deiner Meinung!«

Über seine Handfläche hinweg warf Adlard mir einen schneidenden Blick zu. »Du lehnst dich gerade weit aus dem Fenster.«

»Wenn ich dann gucken kann!« Ich war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen.

»Hände ab«, sagte er trocken.

»Selber, wie mir scheint!«, fauchte ich.

Da war er sprachlos. Seine Mimik dümpelte unentschlossen irgendwo zwischen Empörung und Amüsement.

Mum drehte mich zu sich herum, bevor ich ihn weiter provozieren konnte. Ihr Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. So durcheinander sie auch sein mochte, die echte Charlotte Furlong schlug allmählich wieder durch.

»Ich kann es dir nicht sagen«, wiederholte sie mit festerer Stimme. »Nicht innerhalb der nächsten drei Tage.«

»Aber wenn ich Bescheid weiß, kann ich vielleicht helfen!« Das hatten wir doch alles schon einmal durchgekaut!

Mum packte mich bei den Schultern. »Hör mir jetzt zu! Ich habe einmal Kontakt zu Atlantis aufgenommen. Das ist über zehn Jahre her. Ich weiß nicht, warum sie jetzt auf Breca und mich zugekommen sind. Und ich weiß auch noch nicht, wie die Congregatio darauf reagieren wird. Der einzige Grund, warum ich nicht mit dir darüber rede, ist, dass du nur so in Sicherheit bist.«

Ich erstarrte.

Das hatte ich doch längst gewusst. Natürlich war es so einfach. Warum konnte sie mir denn nicht vertrauen?

Meine Hand zuckte zu der Tasche, in der das Flugblatt ruhte. Und stoppte am Reißverschluss. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.

Die Flugblätter.

Plötzlich wunderte ich mich, wieso noch kein Wort über die Unruhe in der Innenstadt gefallen war. Die Berichte mussten doch brühwarm durch die Medien gegangen sein! Innerlich gab ich mir selbst eine Ohrfeige. Bestimmt hatten Mum, Breca und Adlard das Thema bereits ad acta gelegt. Ich war zu spät zurückgekommen und hatte meine Gelegenheit verpasst, die Informationen von Adlard persönlich zu bekommen.

Der schien gerade einen Geistesblitz zu haben, denn seine Hand schlug auf die Arbeitsplatte und seine Augen strahlten.

»Was ist mit den Kameraaufzeichnungen?«, fragte er Mum unvermittelt.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er die Alarmanlage meinte.

»Es gibt keine«, sagte Mum.

Er starrte sie verständnislos an.

»Lestard hat das Telefon zerschossen«, brummte Breca durch die Zähne.

Voll Unglauben wiederholte Adlard seine Worte. Auf halber Strecke versagte ihm die Stimme und er musste die Augen schließen, solch einen Eindruck hatte Brecas Bemerkung auf ihn gemacht. Als er wieder aufschaute, spielte ein dünnes Lächeln um seine Lippen.

Mums Hand zitterte leicht in meiner.

Breca zog sich von ihr zurück und bedeutete mir stumm, ihm zu folgen. Was jetzt kam, war nicht für meine Ohren bestimmt. Ich folgte ihm nur widerwillig. Demonstrativ schlurfend, versenkte ich die Hände in den Hosentaschen.

»Ich schlage vor, dass er sofort packt«, sagte Adlard, sobald ich über die Schwelle getreten war.

Packen!?, durchfuhr es mich.

»Packen!?«, entfuhr es Mum.

»Ich bleibe hier!«, rief ich zurück.

»Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Adlard. »Wo kann er für drei Tage unterkommen?«

»Über Silvester?« Mum zögerte. »Ich weiß nicht ...«

Die Lüge ging am Krückstock. Mum wusste genau, dass die Familien von Matt und Solweig uns unterstützen würden (wobei ich bezweifelte, den gekränkten Matt drei Tage lang ertragen zu können). Sie vertraute offenbar auf Adlards Entschlusskraft, fürchtete aber gleichzeitig um mein Wohl. Es behagte ihr nicht, ihre Hand nicht über mich halten zu können. Das war der Grund.

»Wenn die Congregatio ihn so zu Gesicht bekommt«, konterte Adlard mit wegwerfender Geste in meine Richtung, »kriegst du ganz andere Probleme.«

Was bildete der sich eigentlich ein? Ich wollte schon zurückstampfen, aber Breca schob mich weiter und schloss hinter uns die Küchentür.

»Charlotte kann gut für sich selbst einstehen«, ermahnte er mich. Wenn ich ihr weiterhin dazwischenfunkte, war ich haarscharf davor, eine Grenze zu überschreiten. Aber wie einen Sack herumschubsen ließ ich mich auch nicht, schon gar nicht von so einem Dahergelaufenen! Ich hörte, wie Mum in ihrem üblichen rügenden Ton zu sprechen ansetzte, und war stolz auf sie.

»Der quartiert mich nicht aus!«, raunzte ich.

Breca erwiderte meinen Blick hart. »Wenn es sein muss, werden wir seinem Plan zustimmen.«

Ich war fassungslos. »Wer ist der Kerl, dass er hier einfach aufkreuzen und uns herumkommandieren kann?«

»Charlotte und er haben –«

Breca unterbrach sich, überlegte kurz und winkte mich dann ins Wohnzimmer. Nachdem er auch dort die Tür geschlossen hatte, setzte er neu an: »Die Congregatio setzt alles daran, Atlantis als Feind auszuweisen, damit sie sie verbieten können.«

Das war mir nicht neu. Wenn in den Nachrichten von Anschlägen die Rede war (ob erfolgreich oder nicht, sei hier mal dahingestellt), kursierten meistens Gerüchte, dass Atlantiner die Attentäter gewesen seien. Atlantiner. Das Wort hatte sich bereits eingebürgert. »Humbug!«, schimpfte Mum dann meistens. »Die suchen nur einen Sündenbock.«

Ich war viel zu aufgeregt, um mich zu setzen, also standen wir uns vor der geschlossenen Tür gegenüber.

Breca wägte sehr genau ab, was er mir von seinem Wissen preisgeben konnte.

»Charlotte und Mr Adlard haben damals Kontakt zu Atlantis aufgenommen«, sagte er langsam, »weil sie auf Verhandlungen gehofft haben.«

»Und Lestard war ihr Kontaktmann«, fügte ich halblaut hinzu.

Breca kniff die Augen zusammen. »Zuerst nur der von Mr Adlard. Charlotte wollte mit ihm in Verbindung treten und Mr Adlard hat ihr den Zugang ermöglicht. Sie hat ihn ein paar Male getroffen, bevor die Congregatio Wind von der Sache bekommen hat.« Er räusperte sich verhalten. »Sie kann von Glück reden, dass sie sie damals nur degradiert und nicht hinausgeworfen haben.«

»Und Adlard?« Ich schauderte beim Gedanken daran, dass er erst knapp an die Dreißig heranreichte. Dann war er zu jener Zeit nicht einmal zwanzig gewesen. Gib mir noch ein paar Jahre, dachte ich düster. Der Typ hatte seine Spuren hinterlassen.

Breca wollte lachen, brachte aber bloß ein Grunzen zustande. »Mr Adlard. Um den mussten wir uns nicht besonders sorgen. Er stand in der Gunst des Sekretärs und hat immer noch gewisse Beziehungen.«

»Und so ist er an die Alarmanlage gekommen?« Mir kam ein Gedanke, der mich stocken ließ. »Dann hat er euch vor Lestard gewarnt.«

Brecas Schweigen war unmissverständliche Zustimmung.

»Ist Mr Adlard immer noch mit ihm in Verbindung?«, fragte ich. Die Worte fühlten sich auf meiner Zunge spröde an. »Zwei oder drei Monate«, echote Adlards Stimme in meinem Kopf. »Die Begegnung war rein zufällig.«

»Wir glauben es nicht. Zumindest nicht im gegenseitigen Austausch.« Breca rieb sich die Nase. »Aber ob er Atlantis komplett den Rücken gekehrt hat, kann ich nicht sagen.«

»Und Mum?«

»Was meinst du?«

»Kennt sie noch mehr Atlantiner?«

Breca zuckte demonstrativ die Achseln, ohne mich aus den Augen zu lassen. Das war mein Stichwort, aufzugeben, aber ich wollte noch einen letzten Versuch wagen.

»Was ich weiß, kann mir keiner nehmen«, sagte ich. Mum benutzte den Satz gern, wenn ich zu faul zum Lernen war. Aber diesmal rezitierte ich ihn in vollem Ernst.

Breca grinste verschwörerisch. »Jeden Tag ein bisschen mehr. Das ist unser kleines Geheimnis.«

»Findest du das nicht ein wenig dröge für heute?«

»Charlotte und Mr Adlard haben doch gut vorgelegt. Lassen wir es ruhig angehen.«

Ich zuckte ergeben die Achseln.

Breca ließ sich schmunzelnd in seinen Sessel fallen und streckte die Arme aus, glücklich mit seiner Idee.

»Also, was sagt der junge Herr?«

Ich schluckte. Das würde Mum nicht gefallen.

Aber mir gefiel es.

SILVESTER (IV): »Ich will das schnell und schmerzlos über die Bühne bringen.«

Wütend pfefferte ich meinen Rucksack aufs Bett. Urian Adlards Plan sah vor, dass Mum mich aus dem Haus schaffte, bevor der Trupp der Congregatio eintraf. Sein Plan sah auch noch Anderes vor, aber sie hatten mich vor die Tür geschickt, damit ich nichts mitbekam. Also gab ich mir Mühe, beim Packen einen Lärm zu veranstalten, der meine Unzufriedenheit gebührend widerspiegelte. Die Quittung war, dass Mum zuerst meine Zimmertür und dann die Küchentür schloss und mein Gehabe einfach ignorierte. Ich machte trotzdem weiter. Ich musste mich abreagieren – zumindest musste ich so tun als ob. Und wenn ich dafür den verzogenen Bengel zu spielen hatte, sollte es eben so sein. Solange ich noch Gelegenheit dazu hatte, wollte ich Adlard zeigen, was ich von ihm hielt.

Natürlich würde mein provokantes Getue Mum ärgern. Hätte ich aber plötzlich widerstandslos eingewilligt, wäre sie misstrauisch geworden. Sie hatte Breca ohnehin einer genauen Musterung unterzogen, als er nach unserem kurzen Gespräch im Wohnzimmer mit unschuldiger Miene wieder zu ihnen gestoßen war. Jetzt lag es bei mir, seine diplomatische Vorarbeit fortzusetzen.

Immerhin hatten sie mir die Wahl gelassen: Matt oder Solweig. Angesichts der Umstände keine besonders schwierige Wahl. Zwar waren Solweigs Eltern nicht gerade vor Begeisterung in die Luft gesprungen, als sie am Telefon hörten, dass ich über Neujahr bei ihnen einziehen würde. Aber als Solweig ihnen versicherte, dass es wirklich ungeheuer wichtig sei, vertrauten sie ihr. Meine Schranktür schlug scheppernd gegen den Rahmen.

Mit spitzen Fingern packte ich mein Physikbuch obenauf. Ein drohendes Mahnmal. Am liebsten hätte ich es sofort wieder hinausgeworfen, aber das Referat erwartete mich mit geiferfeuchten Zähnen. Das hatte mir gerade gefehlt. Allerdings wäre ich eher aus der Hochbahn gesprungen als zu kneifen. In voller Fahrt, meine ich.

Den Rucksack geschultert, pochte ich schließlich an die Küchentür. Es ist ein seltsames Gefühl, in seiner eigenen Wohnung anzuklopfen und auf Einlass zu warten, aber ich wollte den Bogen nicht überspannen. In meinem Zimmer konnte ich herumkrakeelen. Anderswo lieber nicht.

»Ich bin fertig«, sagte ich einfach.

Mum, die sich bei meinem Eintreten erhoben hatte, schaute unschlüssig auf den Rucksack in meinen Händen.

Adlard räusperte sich vernehmlich.

Ich starrte ihn so böse an, wie ich konnte. Mum nahm das zum Anlass, mich wortlos mit sich in den Flur zu ziehen. Als ich abermals einen vernichtenden Blick in Adlards Richtung schickte, zerrte sie mich herum und stieß mir meine Jacke in die Arme. Dann riss sie die Tür zum Treppenhaus auf und stiefelte ohne einen Blick zurück hinaus.

Über die Schwelle zog die kalte Dielenluft in die Wohnung.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

»Halt die Ohren steif«, knurrte Breca verhalten. »Wir werden das auch tun.«

Ich nickte ihm zu und ignorierte Adlard. Dass Mum mich persönlich bei Solweig absetzen wollte, hatte zwei Gründe: Der erste war mütterliche Sorge. Der zweite war das Donnerwetter, das auf dem Fuße folgen würde, sobald ich im Automobil saß.

Das Haus, in dem wir unsere Wohnung hatten, lag ein gutes Stück abseits der großen Straßen. Als ich die Außentreppe betrat, brandete ein Hauch des Lärms an meine Ohren, der mehrere Blocks entfernt von den Silvestervorbereitungen in der Innenstadt verursacht wurde.

Mum schritt schnell aus, was allerdings besser zu hören als zu sehen war. Der Autoschlüssel klirrte bei jedem Schritt in ihrer Hand. Von den Wänden der niedrigen Unterführung, die zu den Anwohnerparkplätzen führte, schepperte sein Echo ungeduldig zurück. Mums Füße gaben kaum einen Laut von sich. Das taten sie fast nie, egal, wie unwegsam die Straße auch sein mochte. Wie so oft, versuchte ich ihren Gang zu imitieren, aber der Hall lachte mich im trommelnden Rhythmus meiner Schritte aus. Mum hatte die Unterführung bereits zur Hälfte durchquert; ich musste laufen, um sie einzuholen. Auf dem Parkplatz hielt ich Ausschau nach Adlards Wagen, fand aber kein Automobil, das mir unbekannt vorkam. Also hatte er die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt. Selbst heute waren sie bei Weitem der schnellste Weg, den man wählen konnte. Sicherlich hatte er sich eine Schneise durch die Bahnfahrer und Fußgänger schlagen müssen. Deswegen sah er so zerknittert aus.

Geschieht ihm ganz Recht! Ich schloss die Autotür und lümmelte mich mit Genugtuung auf den Beifahrersitz.

Neben mir schnappte die Fahrertür unheilvoll ins Schloss.

»Du wirst Urian nicht länger behelligen«, befahl Mum unterkühlt und drehte den Zündschlüssel. Der Motor röhrte auf und verschluckte sich an seinem eigenen Röcheln. Im Winter hatte er das manchmal, dann wurde er behäbig. Als wir die Unterführung erneut passierten, husteten die Wände zurück.

Ich wartete, bis wir die Straße erreicht hatten.

»Warum tanzt du nach seiner Pfeife?«

»Weil es der richtige Rhythmus ist.« Mum knüppelte den Wagen in den nächsten Gang und der Motor überwand seinen Schluckauf. »Solange du nichts weißt, hast du dich nicht einzumischen. Unsere Lage ist schwierig genug. Ich will nicht auch noch zusehen müssen, wie die Congregatio dich auseinandernimmt.«

»Das müssen ja mörderische Gestalten sein«, murmelte ich sarkastisch.

»Ich will das schnell und schmerzlos über die Bühne bringen«, sagte sie nachdrücklich.

Ich schnaubte. »Und dann fällt der Vorhang wieder«, ergänzte ich grimmig.

Mum wollte die Hand auf mein Knie legen, aber ich zog das Bein weg.

»Reiß dich zusammen, Yuriy!«

»Du machst es dir leicht!«

Sie warf mir einen schnellen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrieren musste.

»Hinter dem Vorhang spricht man erst, wenn die Zuschauer gegangen sind.«

Ich vermied es, sie anzusehen, und hielt mich stattdessen an die Aussicht aus dem Fenster. London flog in seinen Vorbereitungen für den Abend vorüber. Zwei Tage feiern und faulenzen für sie. Drei Tage harren für uns. Den Moment, in dem wir reden konnten, sehnte ich herbei. Doch gleichzeitig – dessen wurde ich mir plötzlich bewusst – war ich froh, dass Mum ihn für uns beide aufschob.

»Warum vertraust du Adlard so sehr?«, fragte ich noch einmal, als wir die Hälfte der Fahrt hinter uns gebracht hatten.

Mums Augen verengten sich zu Schlitzen. »Er und ich haben da gewisse Dinge zusammen ausgestanden«, sagte sie mahnend.

Weil ich für ihren Geschmack wohl noch immer zu rebellisch dreinschaute, fügte sie hinzu: »Sollte ich etwa vergessen haben, zu erwähnen, dass er ein guter Freund von mir ist?«

Ich vergrub das Gesicht im Jackenkragen und beschloss, das Thema fürs Erste fallen zu lassen. Alles, was ich sagen konnte, würde Mum als anmaßend empfinden. Letztendlich hatte sie Recht. Ich mit meiner Wissenslücke war nicht in der Position, über Adlard zu urteilen.

»Du musst mich nicht beschützen«, sagte Mum unvermittelt. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. Sie wirkte fast amüsiert.

»Du verheimlichst mir etwas. Seit ein paar Wochen.«

Mein Magen zog sich zusammen. Ich hob zu sprechen an, brachte aber kein Wort heraus. Den Kloß in meinem Hals zu schlucken, kostete mich einige Sekunden.

»Du machst es doch genauso!«, schindete ich Zeit.

Mums Blick haftete auf einer Ampel vor uns, die gerade auf grün umsprang. »Hätte ich dich lieber zwingen sollen?«

Sie hatte mich ohne Unterlass gelöchert, wohl wahr. Aber mein Entschluss stand fest.

»Lass uns noch drei Tage warten«, schlug ich ihr vor.

Mum lächelte die Windschutzscheibe an.

»Vielleicht ist das vernünftig«, sagte sie bitter.
 

Im Nachhinein dachte ich, dass Adlards Plan gar nicht so übel gewesen war. Zumindest der Teil, der mein Verschwinden beinhaltete. Leider scheiterte die Umsetzung.

Wir waren zwei Kreuzungen von Solweigs Haus entfernt, als der erste Anruf einging. Mum, die das Übel schon kommen sah, überhörte das Handyklingeln geflissentlich. Aber der Anrufer dachte nicht daran, aufzugeben. Das Freisprechsystem sandte den Rufton über die Radioboxen aus, sodass er sich zu einer minutenlangen Endlosschleife auswuchs.

»Mum«, stöhnte ich schließlich.

Mit einem unverständlichen Fluch auf den Lippen bedeutete sie mir, den Anruf anzunehmen.

»Charlotte«, sagte Brecas Stimme. »Ist Yuriy noch bei dir?«

Mum zögerte.

»Charlotte?«

»Ja, ist er.«

»Ihr sollt zurückkommen.«

»Ich packe gerade meine Tasche aus«, erklärte ich in das Brummen des Motors hinein.

Breca überging meinen Einwurf.

»Charlotte, Lord Belzac ist angekommen.« Er klang fahrig.

Zu meiner Rechten erbleichte Mum am Steuer.

»Eustace Belzac?«, platzte ich heraus. »Der Erste Sekretär?«

Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich das Handy in seiner Vorrichtung anstarrte. Eustace Belzac hatte den Oberbefehl über die Garde der Congregatio Magica inne, und seit knapp sechs Jahren auch den Posten des sogenannten Ersten Sekretärs. Der volle Amtstitel lautete »Erster Sekretär des Senators des Vereinigten Königreiches, Repräsentant der Congregatio Magica im Auswärtigen Amt und Oberster Gardekommandant«, oder so. Unser Politiklehrer hatte ihn einmal in voller Länge an die Tafel geschrieben. Ein Titel, den sich niemand merken konnte, und den man der Einfachheit halber abkürzte. Er war einer von zwölf Sekretären, die im Präsidialkabinett der Congregatio tagten. Genaugenommen, war er als Erster Sekretär der Stellvertreter des Senators. Über ihm stand tatsächlich nur noch der Mann, der Großbritannien im Europakabinett der Congregatio vertrat.

Zusammengefasst sei also gesagt: Am Vortag hatte der Mythos Lestard Calhoun uns beehrt und nun würde ich dem zweitmächtigsten Mann der britischen Congregatio leibhaftig gegenübertreten. Wenn ich das im Politikunterricht an der Gordon Stout verlauten ließ, würde man mich als schamlosen Lügner deklarieren und mich ohne mit der Wimper zu zucken vor die Tür setzen.

Vielleicht sollte ich sie beide um ein Autogramm bitten, schoss es mir durch den Kopf. Am liebsten wäre ich im Polster versunken.

»Wir haben schon umgedreht«, knurrte Mum und beendete die Verbindung, bevor Breca irgendetwas erwidern konnte. Tatsächlich bogen wir eben in die Einfahrt vor Solweigs Haus ein. Mum ließ mir gerade genug Zeit, um meinen Rucksack zu hinterlegen und meine Freundin an der Türschwelle mit der halbherzigen Erklärung abzuspeisen, dass uns etwas Wichtiges dazwischengekommen sei, bei dem ich nicht fehlen dürfe, und dass ich später wirklich kommen würde. Solweig war nicht zufrieden mit meiner Ausflucht, aber etwas an meinem Erscheinungsbild bewog sie dazu, nicht weiter nachzufragen.

Die Rückfahrt verbrachten Mum und ich schweigend Die Wut quoll ihr förmlich aus den Poren, also zog ich es vor, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenige Minuten von unserem Haus entfernt, nahm sie beinahe einem anderen Autofahrer die Vorfahrt und musste sich erst einmal für einen Moment an den Straßenrand stellen, bis das Zittern ihrer Hände nachgelassen hatte.

Erst als sie den Wagen endlich auf dem Anwohnerparkplatz abgestellt hatte, atmete sie auf. Es schnürte mir die Kehle zu, Mum so zu sehen. Bevor ich ausstieg, schaute ich durch die Windschutzscheibe zu unserer Wohnung auf. Ich hatte keine große Lust auf die Begegnung mit dem Ersten Sekretär.

Hinter dem Küchenfenster erblickte ich zwei Gestalten.

Eine von ihnen war Adlard, seine Miene eine ausdruckslose Maske. Er schien überhaupt nicht wahrzunehmen, dass ich ihn beobachtete. Der Mann, der neben ihm stand, bemerkte es sehr wohl. Er schien kaum älter als Adlard, was ihn eindeutig als zu jung für den Posten des Sekretärs auswies. Ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen. Er sagte etwas zu Adlard, der sich daraufhin kopfschüttelnd zurückzog.

Als ich die Wagentür zuschlug, bemerkte ich, dass Mum die Arme auf dem Dach des Automobils verschränkt und den Blick auf mich geheftet hatte.

Ihr Starren machte mich nervös.

»Irgendetwas, das ich beachten sollte?«, bot ich an.

»Du musst mir etwas versprechen.«

Ich nickte erwartungsvoll.

»Was ich sage, wird ohne Hinterfragung und ohne Widerspruch akzeptiert und sofort umgesetzt.«

Ich seufzte. »Du traust mir nicht über den Weg.«

»Du willst mir helfen, sagst du! Nur so geht es!«

Ich musterte die Autotür.

»Yuriy!« Ihre Stimme war einschneidend.

Da gab ich mir einen Ruck.

»Ich verspreche es.«

Sie stieß sich vom Wagen ab.

»Einverstanden.« Es war mehr ein Seufzer denn ein Wort.

Mum marschierte durch die Unterführung. Diesmal ahmten die Wände den Rhythmus ihrer Schritte donnernd nach. Ich schlurfte hinterdrein und lauschte dem Schmatzen, das sich um mich herum erhob, während meine Füße die Matschspur durchpflügten, die die Wagenreifen hinterlassen hatten.

Ich ließ mir Zeit. Entsprechend ungeduldig erwartete Mum mich im Treppenhaus an der Wohnungstür. Ihre Hand verharrte in der Luft, den Wohnungsschlüssel auf mich gerichtet. Sie war eindeutig noch nicht fertig mit mir.

»Was muss ich tun?«

»Sei höflich.« Der Schlüssel wippte einmal auf und ab.

Ich nickte folgsam.

»Rede nur – nur! – wenn du angesprochen wirst.« Nur. Nur. Angesprochen. Der Schlüssel wippte gleich drei Male. Allem Anschein nach sah sie in meinem Zusammentreffen mit Lord Belzac ein Malheur katastrophalen Ausmaßes.

»Ja, Mum.«

»Und fang nicht an zu schwatzen.« Sie musterte mich argwöhnisch. Offenkundig hatte sie regen Zweifel daran, dass ich die Bedingungen, die sie mir auferlegt hatte, tatsächlich einhalten konnte.

»Mum, ich werd’s schon hinkriegen!«, protestierte ich.

Da endlich hatte sie Erbarmen und schloss die Wohnungstür auf.

Wir gaben uns keine Mühe, leise einzutreten. Der Klang mehrerer Stimmen, die ihre Unterhaltung ob unserer Ankunft nicht unterbrochen hatten, dirigierte uns Richtung Wohnzimmer. Je näher wir ihm kamen, desto kleiner schienen Mums Schritte zu werden. Bevor wir den Raum betraten, drückte sie den Rücken durch und knöpfte ihre Jacke auf. Ich hielt mich dicht hinter ihr und wappnete mich innerlich für die Begegnung.

Dann folgte ich Mum über die Türschwelle. Das Tageslicht warf unsere Schatten in den Flur zurück und wir standen Seite an Seite, erhobenen Hauptes und unter wehendem Banner. Bereit, uns Lord Eustace Belzac zu stellen.

SILVESTER (V): »Ich habe keine Rechtfertigung verlangt, meine ich.«

Tatsächlich wirkte die Runde, in die wir hineinplatzten, auf den ersten Blick eher heiter. Auf dem Couchtisch stand Brecas gläserne Kaffeekanne, in der noch ein Rest brauner Flüssigkeit vor sich hindampfte. Breca selbst hatte sich in seinem Sessel ausgestreckt. Er unterbrach sich mitten in seinen Ausführungen, als ich wie ein Schneesturm hinter Mum in den Raum fegte, und schien nicht recht zu wissen, ob er darüber lächeln oder lieber gequält dreinschauen sollte. Adlard, der neben ihm stand, hieß uns mit einem Stirnrunzeln willkommen. Mittlerweile hatte er sich dazu überwunden, seine Jacke abzulegen. Seine Erscheinung war noch immer zerzaust, aber etwas an seiner Haltung hatte sich verändert. Er wirkte agil und seine Augen blitzten aufmerksam über die dunklen Tränensäcke hinweg.

Auf dem Sofa hatten zwei Männer Platz genommen. Beide trugen Dienstuniformen im dunklen Blau der Congregatio. Einer von ihnen, ein Mann mit Backenbart in Mums Alter, setzte sich auf und tauschte ein wohlwollendes Nicken mit ihr. Seine Hand ruhte an dem Waffengurt, an dem ein Steinschlossrevolver und ein Paar Schlagstöcke befestigt waren. Typische Waffen der Sekretärsgarde. Neben ihm saß der Kerl, der zuvor bei Adlard am Fenster gestanden hatte. In seiner offenen Handfläche ruhte etwas, das auf den ersten Blick einer Murmel glich. Bloß verströmte die Murmel ein regelmäßig pulsierendes Licht, das seine Hand mit einem irisierenden Schimmern übergoss.

Der junge Beamte folgte meinem Blick. Das Leuchten verebbte sanft. Behutsam legte er die Murmel zwischen mehreren gleichartigen Kugeln in einem mit weichem Schaumstoff gepolsterten, handtellergroßen Etui ab.

Ich stand da wie eingefroren und starrte auf das Etui. Erst eine Bewegung von rechts vor mir lenkte meine Aufmerksamkeit ab.

Lord Belzac, der Erste Sekretär, stand ebenfalls, und zwar mitten im Raum. Er überragte Adlard, der nicht klein war, um mehr als einen halben Kopf, obwohl er gut und gerne doppelt so alt sein mochte. Breca hätte neben ihm wie ein Wicht gewirkt, dachte ich säuerlich. Der blaue Frack war ihm auf den Leib geschneidert, nicht ein Fältchen saß am falschen Platz. Seine drahtige Gestalt bewegte sich flink auf Mum zu, wobei ihm die ausgedünnte graue Haarmähne um den Kopf flatterte. Seine Schritte waren raumgreifend – man hätte fast meinen können, unsere Wohnung gehöre ihm.

»Mrs Furlong«, stellte er erfreut fest und reichte Mum die Hand. »Das ging schneller, als ich dachte.«

»Sekretär«, erwiderte sie reserviert.

Seine hellen Augen blitzten neugierig auf, als er sich zu mir herunterbeugte. Kein Leuchten diesmal. Ich hoffte, dass ich keinen Anfall bekommen würde, solange ich hier war.

»Und du bist Yuriy.« Er kostete jedes Wort aus, ebenso wie meine Anstrengungen, seinen festen Händedruck angemessen zu erwidern.

Mein Gesichtsausdruck ließ den jüngeren Beamten auf dem Sofa in schallendes Gelächter ausbrechen.

»Junge, du siehst aus, als wolltest du in die Schlacht ziehen!«

»Vielleicht will er das«, spöttelte Lord Belzac nicht unfreundlich.

Ich spürte meine Ohren heiß werden. Über mein blaues Auge verlor keiner von ihnen ein Wort – wahrscheinlich nahmen sie an, ich hätte mich mit irgendwem geprügelt. Ich überlegte, ob das wohl eine abträgliche Entwicklung war. Besser als die Wahrheit ist es allemal, dachte ich.

Lord Belzac wies mit ausholender Geste auf seinen jungen Kollegen, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte und nun aufstand, um uns ebenfalls zu begrüßen. »Dies ist Inquisitor Phillip Park. Er wird uns bei den Ermittlungen zur Hand gehen und Ihre Aussagen aufnehmen.«

Bei Mum sah das offenherzige Lächeln, mit dem sie den Handschlag des Inquisitors empfing, wie eine leichte Übung aus. Ich versuchte mich lieber gar nicht erst daran. Mein Blick wanderte von dem Jungspund zu dem Bärtigen, der noch immer auf dem Sofa saß. Belzac hielt sich nicht damit auf, ihn vorzustellen, und Mum kannte ihn offensichtlich. Ich war wieder einmal der Einzige, der wie der Ochs vorm Zaun stand.

Ich bemerkte, dass Adlard mir einen Seitenblick zuwarf, und starrte finster zurück.

»Mr Adlard meint, die Inquisition zieht den Leuten ihren Geist zur Nase heraus«, sagte Park mit einem Augenzwinkern zu mir.

Ich schluckte und – getreu meinem Versprechen – schwieg.

»Mr Park, ich meine auch, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, um böses Blut zu schüren«, ließ Adlard ruhig vernehmen.

»Böses Blut.« Park schüttelte lächelnd den Kopf.

Ich trat einen Schritt zurück. Wenn die beiden sich zerfleischen wollten, hatte ich keine Lust, dazwischen zu stehen. Mum schien das ähnlich zu sehen; ich spürte ihre Hände auf meinen Schultern.

»Mr Park, Sie sehen, dass Ihr Humor nicht erwidert wird,« sagte der Gardist leise vom Sofa her. »Lassen Sie dem Jungen Luft zum Atmen.« Er goss sich den letzten Kaffee ein und heftete den Blick auf den jüngeren Beamten. Der Respekt, der darin lag, entging mir nicht.

Mum nutzte den Moment. Bevor Park oder Adlard oder irgendwer sonst etwas sagen konnten, bugsierte sie mich an Brecas Beinen und dem Couchtisch vorbei und drückte mich zwischen sich und dem namenlosen Gardisten in die Sofakissen.

»Wir sind hier, Lord Belzac«, verkündete sie. »Wie geht es jetzt weiter?«

Der Erste Sekretär hatte die Szene reglos beobachtet, die Fingerspitzen an die Wange gelegt. Als Mum ihn ansprach, begann er zu lächeln. »Während Ihrer Abwesenheit war Ihr Vater so nett, uns die Begebenheiten schon einmal grob zu schildern.«

Ich hatte keine Zeit, mir darüber klarzuwerden, ob Lord Belzac uns mit seiner Bemerkung kritisieren wollte, denn er richtete bereits das Wort an Breca: »Ich weiß, wir waren noch nicht ganz fertig, aber ich würde das Gespräch mit Ihnen gern ein wenig nach hinten verschieben.«

Er wartete gar nicht auf die Reaktion meines Großvaters. Ich bemerkte das angedeutete Stirnrunzeln, mit dem Breca dieses Verhalten quittierte, und wusste, dass der Sekretär soeben gehörig in seiner Achtung gesunken war.

Lord Belzacs Augen wanderten zwischen Mum und mir hin und her. Sie hatten eine Kraft in sich, die es mir nicht erlaubte, noch einmal wegzusehen. »Da unser jüngster Zeuge eine wichtige Verabredung zu haben scheint, schlage ich vor, wir stehlen ihm nicht allzu viel Zeit und machen mit ihm weiter.«

»Ich muss für ein Referat recherchieren«, erklärte ich und spürte Mums Blick auf mir.

Über Lord Belzacs Gesicht huschte der Schatten eines Grinsens. »Ich habe keine Rechtfertigung verlangt, meine ich.«

Hitze stieg mir in die Wangen. Ich schaute zu Boden und zuckte die Achseln. Sein glatter Tonfall erinnerte mich ein wenig an den von Lestard beim Versuch, Mum dazu zu überreden, ihn hereinzulassen. Ich rutschte auf dem Sofa zurück, bis ich eines der Kissen im Rücken spürte.

»Mrs Furlong, ich würde gern mit Ihnen, Yuriy und Mr Park in ein abgeschiedenes Zimmer überwechseln. Welches, meinen Sie, eignet sich besonders?«

Mum blinzelte. »Die Küche, denke ich«, sagte sie. »Aber ich werde Yuriy nicht der Inquisition übergeben.«

»Bin ich so unsympathisch?« Park lachte.

»Ich erlaube nicht, dass Sie bei meinem Sohn magische Hilfsmittel einsetzen«, erwiderte Mum kühl.

»Das ist in der Tat Ihre Entscheidung«, warf der Gardist neben mir ein, halblaut, aber bestimmt.

Park wurde schlagartig ernst.

»Sekretär.« Adlard wippte sachte vorwärts, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. »Ich habe vielleicht eine bessere Idee.«

Lord Belzacs Augenbrauen hoben sich. Die von Park zogen sich zu einem dunklen Strich zusammen. Mums Hände zitterten. Es fiel mir schwer, mich von ihr loszureißen, und auch Brecas Blick ruhte auf ihr. Seine Hände breiteten sich über seine Knie, als er sich zurücklehnte. Ich war ihm dankbar für die Geste.

»Ich bin ganz Ohr, Mr Adlard«, sagte Lord Belzac. Sollte er Parks Abneigung teilen, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken.

»Mr Park und ich ziehen uns zurück. Sie vier und Mr Pilgrim bleiben hier.« Adlard warf mir einen Blick zu und lächelte schief. »Ich lasse mir auch nicht gern die Zeit stehlen.«

Ich stockte. Pilgrim also. Das war der Name des Gardisten.

Breca nickte, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Mum vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern sackten herab. Ich konnte hören, wie sie den Atem ausstieß. Der Sekretär wechselte einen Blick mit Park, der merklich angespannt war, und dem Gardisten.

Lord Belzacs Fingerspitzen tippten gegen seine Wange. »Wie ich sehe, findet Ihr Vorschlag allgemeine Zustimmung.«

Adlard neigte den Kopf.

Kriecherischer Spurschleicher, dachte ich.

»Sagen Sie nicht, Sie wollen Sich freiwillig den Geist zur Nase herausziehen lassen«, schnaubte Park. »Keine Tricks, Adlard!«

»Ist es ein Trick, Mr Adlard?« Lord Belzac stellte die Frage wachsam, aber nicht ablehnend.

»Natürlich, Sir.« Adlard sagte das vollkommen ernst.

Park musterte ihn aus schmalen Augen. Ich tat es ihm nach, doch Adlard ließ sich von uns nicht aus der Ruhe bringen.

Der Sekretär räusperte sich. »Ich denke, im Allgemeinen kann man sich darauf einlassen.«

Wir alle starrten ihn an. Selbst Adlard schien für einen Moment verblüfft.

»Sir«, setzte Park an, aber der Erste Sekretär brachte ihn mit der Andeutung eines Kopfschüttelns zum Schweigen. Dann wandte er sich Mum zu, der die Überraschung offen ins Gesicht geschrieben stand.

»Mrs Furlong, denken Sie, es ist in Ordnung, wenn ich mich mit Ihnen, Mr Pilgrim und Mr Adlard unter acht Augen unterhalte?« Das war keine Bitte mehr, sondern eine Anordnung. Die Kräfteverteilung, die Adlard vorgesehen hatte, gefiel Lord Belzac aus irgendeinem Grund nicht. Es schien von Bedeutung zu sein, dass ausgerechnet Park meine Aussage hörte, denn davon wollte der Sekretär offensichtlich nicht abweichen.

Mum runzelte die Stirn. »Darf ich fragen, weshalb wir dieses Hin und Her veranstalten?« An Missfallen verfehlte ihre Stimme ihre Wortwahl um Längen.

Lord Belzac stützte die Wange schwer auf seine Fingerspitzen. Unter seinen Augen und um seinen Mundwinkel zerknitterte die Haut wie rissiges Leder. »Mich beschleicht soeben das Gefühl, Sie und Ihr Sohn könnten freier sprechen, wenn Sie einander nicht in die Quere kämen.«

Mum funkelte ihn an. Sie saß nur noch auf der Polsterkante, bereit, aufzuspringen. »Sie meinen, ich zwinge ihn zu Halbwahrheiten?«

»Ich meine, er könnte auf den Gedanken kommen, dass Sie Halbwahrheiten von ihm erwarten.« Lord Belzac legte den Kopf auf die andere Seite. »Das Risiko möchte ich nicht eingehen. Ich ziehe Sie und Mr Adlard vor der Vernehmung ab.«

Mum beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. »Bitte erklären Sie mir, inwiefern das nützlich sein sollte.«

»Sofern Mr Adlard mich korrekt informiert hat, und sofern ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie die ganze Angelegenheit für Ihren Sohn so unkompliziert wie möglich abwickeln.« Lord Belzac schlug einen Ton an, als wäre »unkompliziert« schlichtweg das falsche Wort. »Demnach müssten Sie mir zustimmen, dass es sinnvoll ist, Störfaktoren aus seinem Umfeld zu entfernen.«

»Störfaktoren!«, fauchte Mum.

»Ich glaube, Yuriy hat eine Menge zu erzählen. Da sollte er sich nicht durch irgendeinen Umstand gebremst fühlen – und sei es nun die Loyalität Ihnen gegenüber. Oder hat Mr Adlard mich nicht korrekt informiert und ich erliege einer Fehleinschätzung?«

Mum schnappte hörbar nach Luft.

»Es ist nicht so, dass Yuriy alleingelassen wäre. Ihr Vater ist immer noch da«, erinnerte Park sie ruhig, bevor sie auf Lord Belzacs Worte eingehen konnte.

Ich bemerkte, dass mir der Mund offen stand, und verbannte den dümmlichen Ausdruck schnell aus meinem Gesicht. Lord Belzac las unser Verhalten wie einen Stadtplan.

Mum erwiderte nichts. Sie tauschte einen Blick mit Breca und erntete beruhigendes Nicken. Ich wurde schamlos übergangen. Adlard bekam die volle Breitseite ihrer Missbilligung ab, aber er hielt unbekümmert stand. Wie gerne wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen!

Ergeben stand Mum auf. Mit ihr erhob sich der Gardist. Zu beiden Seiten von mir bauschten sich die Polster unter dem plötzlichen Verschwinden des Gewichtes auf, als ich allein auf dem Sofa zurückblieb. Den kalten Luftzug, der mich in dem Moment streifte, bildete ich mir sicherlich ein, aber diese Gewissheit machte mir das Frösteln nicht angenehmer.

Breca zog die Beine an, um Mum vorbeizulassen, und beobachtete aus halbgeschlossenen Augen, wie Lord Belzac seine drei Gesprächspartner durch die Doppelflügeltür aus dem Raum dirigierte. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Hände zwischen die Knie schob.

»Mr Park«, sagte Lord Belzac auf der Türschwelle, »sobald Sie hier fertig sind, möchte ich, dass Sie und Mr Furlong wieder zu uns stoßen.«

Sobald Sie hier fertig sind, wiederholte ich in Gedanken. Sollte dieser aufgeblasene Zottel doch warten, bis ihm Hörner wuchsen!

Nachdem der Sekretär die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte Park sich zu uns um. Er wirkte aufmerksam und konzentriert.

Breca erhob sich aus seinem Sessel, um sich stattdessen an meiner Seite niederzulassen. Mit ausholender Geste wies er auf den freigewordenen Platz. »Bitte setzen Sie sich, Inquisitor.«

»Klären wir die Fronten?«, erwiderte Park gelassen. Er nahm das Angebot meines Großvaters mit einem gewinnenden Lächeln an. In Adlards Abwesenheit blühte sein Charme auf. Jede Feindseligkeit war von ihm abgefallen. Ich fragte lieber nicht nach, was die beiden so aneinander anecken ließ.

Neben mir beugte sich Breca vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und wartete ab.

Park fasste mich ins Auge. Ich war gespannt, ob ihm zur Eröffnung meines Verhörs noch einmal eine so galante Äußerung gelingen würde.

Der Inquisitor beugte sich zum Couchtisch vor und entnahm dem Etui eine neue Murmel. »Deine Mutter hat mir jedwede magische Unternehmung in Bezug auf dich untersagt. Also werden wir die Sache traditionell angehen.«

»›Traditionell‹ bedeutet in meinem Falle ›Konversation‹?«, mutmaßte ich laut.

Park lächelte; seine Finger spielten mit der Murmel. Mir ging auf, dass ich einen völlig unbedarften Eindruck auf ihn machen musste, und im Stillen dankte ich Mum und Breca.

Plötzlich glomm die Murmel auf – wie eine Glühbirne vorm Durchbrennen – um anschließend wie ihre Vorgängerin gleichmäßige Lichtwellen auszusenden. Neben mir runzelte Breca kurz die Stirn, nur um sich augenblicklich wieder zu entspannen.

»Ich dokumentiere bloß, was ich aus deinem Mund höre«, erklärte mir Park freundlich.

»Also ist das da … Magie?« Meine Stimme klang dünn. Zu dünn. Ich riss mich zusammen.

»Ein Magofakt. Eine Gedankenstütze«, präzisierte er. »Sie hat keine Auswirkungen auf dich. Sieh es als Protokoll dessen, was du mir erzählst.«

Damit schien sich die Sache für ihn erledigt zu haben. Ich starrte weiter auf die leuchtende Kugel. Das magische Etwas in Gedanken als »Murmel« abzutun, beruhigte mich irrwitziger weise.

»Und was möchten Sie hören?«, fragte ich, betont sachlich.

»Alles. Von dem Moment an, als Lestard Calhoun geklingelt hat. Alles, was dir im Gedächtnis geblieben ist.«

Geklingelt hat. Obwohl es der Wahrheit entsprach, gab das Bild in meiner Erinnerung eine lächerliche Komposition ab. Ich schob den Gedanken daran beiseite.

»Wir haben uns vorher gestritten, Mum und ich«, begann ich. »Über das Referat, Sie wissen schon. Ich hatte mich mit einem Lehrer angelegt, völlig unnötig.«

Parks Miene war nicht zu entnehmen, ob er mir glaubte. Mit einem Wink bedeutete er mir, fortzufahren.

»Die Stimmung war ziemlich geladen, als es läutete, und eigentlich dachten wir zuerst, unser Nachbar aus der Wohnung über uns hätte sich von unserem Streit gestört gefühlt. Das passiert manchmal, wissen Sie.«

Park nickte geduldig.

Ich ließ die Murmel nicht aus den Augen und legte mir die nächsten Worte genau zurecht. »Als Mum Lestard im Bullauge gesehen hat, ist ihre Wut mit einem Mal verpufft. Sie war wachsam, verwirrt. Sie wollte ihn nicht hereinlassen. An der Art, wie sie mit ihm umgegangen ist, habe ich abgelesen, dass sie ihn kannte.«

Park setzte beide Füße auf dem Boden ab. »Also habt ihr nie vorher darüber gesprochen?«

Offensichtlich hatte mir da schon jemand vorgegriffen. Zur Antwort schüttelte ich den Kopf und hoffte, dieser Punkt möge damit abgehakt sein.

Ich sollte Glück haben.

»Kannst du mir ihr Verhalten beschreiben? Und das von Lestard.«

Ich holte tief Luft – zum Teil vor Erleichterung, zum Teil, um mich zu sammeln. »Er war … charmant. Auf den ersten Blick gab es keinen Grund, ihn abzuweisen.«

»Guten Abend, die Dame«. Behutsam. Glattgestrichen wie warme Butter. Mums überraschte Erwiderung, während sie im offenen Türrahmen erstarrte.

»Möchten Sie mich nicht hereinlassen?«

Ich war verblüfft, wie genau ich den Wortlaut ihrer Unterhaltung wiedergeben konnte. Auch Park schien sehr angetan zu sein. Während ich erzählte, beugte der Inquisitor sich immer weiter vor, zuckte mitunter vor Konzentration nicht einmal mit dem Augenlid und unterbrach mich nur selten, um Zwischenfragen zu stellen. So genau wie möglich schilderte ich, wie Lestard nach Breca gefragt, Mum ihn an der Tür aufgehalten und er sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte. Ich sprach über das zerstörte Telefon, die Alarmanlage – nicht über mein Wissen, dass Adlard sie besorgt hatte – und über den Schlüssel, den mein Großvater schmieden sollte.

»Darüber weiß ich nicht viel«, sagte ich schnell. »Mum hat mir nur erzählt, man könnte mit ihm weite Entfernungen zurücklegen.« Ich berichtete, wie Lestard Breca ein Gespräch unter vier Augen aufgezwungen und wie Jean Laval uns durch das Bullauge hinweg beobachtet und später selbst eingegriffen hatte. Auch meine Verwirrung über seine Anspielungen tat ich offen kund.

Mein Bericht endete damit, dass Mum ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht hatte, Adlard zu kontaktieren, und dass ich mehr oder weniger an der Vergeblichkeit schuld war. Unseren eskalierten Streit ließ ich bewusst unter den Tisch fallen.

»Weißt du, weshalb gerade Urian Adlard?«, fragte Park, als ich schwieg.

Da war er wieder, der kritische Augenblick.

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nur, dass er Lestard auch kennt. Mum wollte wissen, ob er eine Idee hat, was vor sich geht«, sagte ich vorsichtig.

»Hat er?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Du sagst, du bist am selben Tag mit ihm zusammengestoßen.«

»Zufällig, ja«, betonte ich noch einmal. »Ich habe mich dabei ziemlich hart aufs Pflaster gelegt und war nicht ganz bei mir. Ich wollte die U-Bahn kriegen und bin deshalb drauflos gerannt.« Ich hoffte, dass ich nicht zu viel wagte.

Parks Augen wurden schmal. »Da kanntet ihr euch beide noch nicht, ist das richtig?«

Augenscheinlich hörte Park nicht zum ersten Mal davon. Ich nickte mit, wie ich hoffte, angemessenem Ernst.

Park sah mich unverwandt an.

»Er hat nach meinem Namen gefragt«, erklärte ich nervös. »Mit mir gesprochen, damit ich wieder zu mir kam.«

Brecas Hand zuckte in dem Impuls, mir beruhigend über den Rücken zu fahren.

Ich erwiderte Parks Blick geradeheraus. »So groggy, wie ich war, hätte er nicht groß schauspielern müssen!«

»Traust du ihm das denn zu?«

Ich stockte.

Senkte den Blick.

Du Idiot!

»Ich – ich weiß nicht«, stotterte ich kleinlaut. Wie hatte ich mich so überrumpeln lassen können?

Park nickte versonnen. Er schien zu haben, was er wollte. Jedenfalls bohrte er nicht weiter nach. Sein Blick trübte sich, als sähe er durch mich hindurch.

»Du hast ein erstaunliches Gedächtnis«, stellte er plötzlich fest.

»Minimaler Aufwand für maximalen Erfolg«, erwiderte ich bitter. Breca rollte mit den Augen.

Park hob die Mundwinkel zu einem Schmunzeln. Ich meinte, einen Anflug von Spott darin zu lesen.

»Ich denke, dabei können wir es vorerst bewenden lassen«, sagte er. Das Licht aus der Murmel erlosch abermals.

Vor Verwirrung wusste ich nicht, worauf ich starren sollte – auf den Inquisitor oder auf das Magofakt.

Mist!

Magofakt. Letztendlich war es wohl vernünftiger, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es war eben keine Murmel.

»Wie funktioniert dieses Ding?«, fragte ich.

Der Inquisitor warf meinem Großvater einen fragenden Blick zu. Breca nickte schweigend.

»Über elektrische Leitfähigkeit«, erwiderte Park. »Man kanalisiert Energie.«

Ich fasste wieder das Magofakt ins Auge. »Und dabei leuchtet die … Gedankenstütze?«

Park lachte. »Das ist ein Kniff zugunsten der Dramatik.«

»Er wirkt«, gab ich zu.

»Man nennt es ›Memorium‹«, warf Breca ein. »Das ist es, was Lestard von mir haben will.«

Ich stutzte. »Ich denke, er will den Schlüssel?«

Der Inquisitor hob vielsagend die Brauen. »Das Memorium ist der wichtigste Baustein. Es definiert den Zielort.«

Meine Mimik musste die perfekte Mischung aus Verwirrung und Interesse ergeben.

Park winkte ab. »Offenbar führt das jetzt zu weit. Du müsstest sehen, wie man einen Transcensionsschlüssel benutzt.« Er klang nicht so, als würde er es mir demonstrieren wollen.

Ich konnte nicht anders – ich musste lachen.

Breca räusperte sich, doch Parks verwirrter Blick ließ mich tollkühn werden.

»Sie haben meinen Vorrat an Ausflüchten bereichert«, klärte ich ihn auf. »Ich sammle fleißig seit letzter Nacht, glauben Sie mir.«

Breca schnalzte mit der Zunge und sagte ruhig: »Du wirst noch eine ganze Weile weitersammeln.«

Ich entgegnete lieber nichts. Unsere Abmachung vom Morgen wollte ich nicht aufs Spiel setzen.

»Sie meinten, wir wären fertig«, sagte ich leiser zu Park.

Das Lächeln kehrte auf das Gesicht des Inquisitors zurück. »Fürs Erste. Vielleicht haben wir später noch ein paar Fragen an dich.«

Achselzuckend erwiderte ich seinen Blick. »So ist es dann wohl.«

Statt einer Erwiderung stand Park auf und bedeutete Breca, es ihm nachzutun. Weil ich nichts Besseres mit mir anzufangen wusste, beschloss ich, ihnen zu folgen. Beim Aufstehen spürte ich ein leichtes Ziehen in der Magengegend; schnell senkte ich den Blick in Richtung Couchtisch. Lestards Reaktion auf meine Beschwerden hatte mir am Vorabend gezeigt, dass sie auch nach außen hin erkennbar waren. Die deutlichste Bestätigung hatte mir allerdings der Schnösel am Morgen in der Hochbahn verschafft. Ich atmete einmal tief durch, dann folgte ich Breca und dem Inquisitor bis zur Küche.

Die Stimmen von Mum, Adlard und den Congregatiobeamten drangen gedämpft in den Flur. Es war Adlard, der auf Parks förmliches Klopfen hin die Tür öffnete. Sein Gesicht war eingefallen und grau – er wirkte wie ein Schatten.

»Was für ein Timing, Mr Park«, sagte er. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Park im Vorbeigehen und ließ ihn im Türrahmen stehen.

Adlard verdrehte die Augen, die Zähne zu einem Lächeln gefletscht. Nach seinem Dafürhalten entsprach wohl der Platz, den der Inquisitor ihm zuweisen wollte, nicht seiner Kragenweite.

Ich ignorierte die Bauchschmerzen und suchte die Küche mit den Augen ab. Ich fand Mum neben dem Gardisten bei der Küchenzeile stehend. Erleichtert stellte ich fest, dass sie um Einiges gefasster schien als zuvor im Wohnzimmer. Breca gesellte sich zu ihr und ich sah, wie seine Gelassenheit auf sie abfärbte. Ihr Blick streifte meinen und wir hielten uns gegenseitig an unserem Lächeln fest.

Park stellte sich besitzergreifend im Raum auf. »Sekretär, ich möchte Sie gern auf ein Wort sprechen, bevor wir weitermachen.«

Mum warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich konnte nur die Achseln zucken. Ihre Lippen wurden schmal, als sie Park und den Sekretär ins Auge fasste.

Plötzlich zuckte mir ein stechender Schmerz durch den Magen. Ich verlagerte mein Gewicht, um nicht einzuknicken. Als ich einen Schritt zurückgehen wollte, versagte mein Gleichgewichtssinn und ich taumelte beinahe gegen den Türrahmen.

Adlards Blick streifte mich.

Leuchtend.

Ich schluckte, als mir wieder einfiel, dass er Bescheid wusste.

Hinter ihm hob Breca erstaunt die Augenbrauen. Beschämt wandte ich das Gesicht ab; ich war mir ziemlich sicher, dass er etwas gemerkt hatte. Bis hierher war es wirklich gut gelaufen.

Adlard stellte sich vor mich. »Sekretär«, sagte er, »dürfte ich mich für fünf Minuten abkömmlich machen?«

Um ihn herum flimmerte die Luft. Dampfende braune Schwaden lösten sich vom Holz des Türrahmens. Ich kniff die Augenlider zusammen. Die Nackenhaare stellten sich mir auf. Mein Herz hämmerte mir gegen die Rippen. Ich hätte nicht sagen können, was davon die Magie mit meinem Körper machte und was meine Angst.

»Gehen Sie, Adlard. Sie sind blass um die Nase.« Lord Belzac schenkte ihm nicht mehr als einen knappen Handwink.

Mit dem Kopf deutete Adlard eine Verbeugung an. Er schob mich beiseite, entschieden, aber nicht grob, und glitt an mir vorüber in den Flur, um seine Jacke zu holen. Ich stand von der Küche abgewandt und zwang mich, tief durchzuatmen. Diesmal hatte ich Glück – die Reaktion flaute ab.

»Aber lassen Sie sich nicht einfallen, zu verschwinden«, rief Park ihm hinterher.

Adlard lachte trocken.

»›Lassen Sie sich nicht einfallen‹ ist gut«, sagte er und trat ins Treppenhaus.

Parks Miene wandelte sich von Unglauben über Missbilligung zu respektvollem Ernst, als er sich wieder dem Ersten Sekretär zuwandte.

Breca durchquerte den Raum mit wenigen Schritten. Mum zog er am Arm mit sich. »Ich denke, wir lassen Sie besser allein«, sagte er bestimmt und winkte mich gänzlich aus Lord Belzacs Sichtfeld. Ich starrte auf den Türrahmen, der unverändert in seinem Futter ruhte. Nur eine Sinnestäuschung.

Ich staunte nicht schlecht, als uns in einigem Abstand Lord Belzacs Gardist ins Wohnzimmer folgte. Vielleicht hatte der Sekretär ihn hinter uns hergeschickt, um uns im Auge zu behalten. Auf Brecas Nicken hin schloss er die Tür. Sein bedauernder Blick ruhte auf Mum, die sich auf dem Sofa niedergelassen hatte und ihre Hände an den Fingerknöcheln gegeneinander rieb. Aus Pflichtgefühl, und um nicht wie ein Depp in der Gegend herumzustehen, setzte ich mich neben sie.

»Er wollte bloß wissen, was gestern Abend passiert ist«, sagte ich zu ihr. »Kein Nachbohren, nichts.« Als das Gespräch auf Adlard gekommen war, hatte ich mich eindeutig selbst ins Boxhorn gejagt; der Inquisitor hatte gar nicht viel dazugetan.

Breca enthielt sich eines Kommentars. Ich war mir sicher, dass er später mit Mum reden würde. Mein Blick begegnete seinem und er schenkte mir ein Zwinkern, das kaum mehr war als ein kurzes Zucken mit dem Augenlid.

Mr Pilgrim räusperte sich. »Genaugenommen, sollten Sie sich an Phillip Park halten. Er leistet gute Arbeit.«

Mum schnaubte.

»Unterschätzen Sie ihn nicht, nur weil er jung ist. Den gleichen Fehler haben die Leute damals bei Ihrem Freund gemacht.«

»Sie sind im selben Alter«, gab Mum zurück.

Mr Pilgrim lächelte. »Davon rede ich ja.«

Mum wollte etwas erwidern, entschied sich dann aber anders. Ich überlegte, ob sie sich mit der Zeit daran gewöhnt hatte, Adlard aus Prinzip in Schutz nehmen zu wollen.

Wir hatten noch einige Minuten vor uns hinzubrüten, bevor Lord Belzac und Park sich erneut zu uns gesellten und uns eröffneten, dass ich gehen dürfe.

»Teilen Sie uns das Ergebnis Ihrer Unterredung mit?«, erkundigte sich Mum.

»Das ist das Ergebnis.« Der Erste Sekretär strich sich übers Kinn. Er klang unzufrieden. Vielleicht hatte er sich von meiner Vernehmung mehr erhofft als Park ihm geliefert hatte.

Mum und ich schauten einander an.

»Komm«, formten ihre Lippen.

Als wir schon fast aus dem Zimmer waren, rief Park mich noch einmal zurück. Ich schluckte.

»Wenn du draußen Mr Adlard antriffst, sagst du ihm dann bitte Bescheid, dass wir ihn erwarten?«, sagte er. Mum verbiss sich einen Kommentar. Ich zuckte nur die Achseln. Ich wollte so schnell wie möglich hier raus.

Die Unterhaltung zwischen Lord Belzac und Park nahm ohne uns ihren Lauf. Ich hörte entschlossen weg. Und ich vermied es auch, den Gardisten noch einmal anzusehen. Während ich im Flur meine Jacke anzog, ruhte Mums Blick unablässig auf mir, als hätte sie Angst, etwas zu verpassen.

»Geht ihr heute Abend aus?«, fragte sie plötzlich.

»Natürlich.«

»Sei vorsichtig.«

»Mum!« Ich hielt im Anziehen inne, um eine gebührend empörte Haltung einnehmen zu können.

Sie fingerte an ihrer Kette herum. Der Anhänger bestand aus nicht mehr als einem fragilen Geflecht von Metallfäden und war mittlerweile an einigen Stellen dunkel angelaufen, weil sie ihn ständig trug. Als ich sie einmal gefragt hatte, weshalb sie ihn nie abnahm, hatte sie nur gelächelt und gemeint, er sei so etwas wie ihr Talisman.

»Versprich es einfach, das beruhigt mich.«

Ich ließ ihr einen langen Blick zuteilwerden. »Du verlangst ziemlich viel von mir.«

Sie schob den Anhänger zwischen die Lippen. »Ich weiß«, nuschelte sie.

Ich starrte sie an. So kannte ich sie gar nicht.

»Hast du alles, Yuriy?«

Ich zuckte zusammen, als Breca plötzlich hinter mir auftauchte.

Mum hob skeptisch die Augenbrauen.

»Männersache, meine liebe Tochter«, erklärte mein Großvater mit unschuldigem Grinsen. Bevor sie antworten konnte, legte er den Arm um mich und bugsierte mich in Richtung Wohnungstür. Mum presste die Lippen aufeinander.

»Lass dir nichts Dummes einreden«, sagte sie ergeben zu mir. Sie drückte zärtlich meine Hand – eine Abschiedsgeste, die sie auf meinen Protest hin seit meinem achten Lebensjahr vermieden hatte – und drehte sich um, um ins Wohnzimmer zurückzukehren.

In Lord Belzacs Fänge. Ich fröstelte von innen heraus. Das Ziehen in meinem Bauch kehrte zurück. Mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft.

Unterdessen hatte Breca sein Portmonee aus der Gesäßtasche gezogen und hielt mir eine Zwanzig-Pfund-Note hin. »Für heute Nacht.«

Ich wischte meine schwitzigen Hände an der Hose ab und griff, nicht ohne ein Wort des Dankes, nach dem Schein.

Doch Breca ließ nicht los.

»Wie lange schon?«, fragte er bedächtig.

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, worauf er hinauswollte. Schlagartig wurde mir schwindlig – ich hoffte, vom Schreck.

Er tastete sich gar nicht erst umständlich vor. Mein Verhalten vorhin in der Küchentür musste für ihn eindeutig gewesen sein. Also war er sich darüber im Klaren, dass ich wusste, was mit mir passierte.

Was heißt ›ich weiß‹? Ich spürte einen Druck hinter den Augen und musste blinzeln.

»Nicht lange«, wich ich aus. »Ich war gestern beim Arzt.«

»Beim Augenarzt«, bemerkte Breca.

»Ich habe eine Überweisung von ihm bekommen«, log ich.

Brecas Stirn legte sich in Falten.

»Er meinte, dass ich zu Jeod Faraday gehen soll«, gab ich schließlich zu. Als ich zum Beweis nach dem Brief des Ophthalmologen langen wollte, wurde mir bewusst, dass wir beide, ohne es bemerkt zu haben, immer noch den Geldschein umklammert hielten. Ich ließ los und fischte den Umschlag aus meiner Jackentasche.

Für einige Sekunden lag Brecas forschender Blick auf mir. Ich ließ mir die Schmerzen nicht anmerken.

»Nach Neujahr kümmern wir uns darum«, meinte er schließlich.

Ich nickte bloß. Den Brief wollte ich wieder einstecken, aber Breca nahm ihn mir ab. Ich wollte schon protestieren, stoppte jedoch noch im Ansatz. Wollte ich den Wisch wirklich tagelang mit mir herumschleppen und riskieren, dass er kaputt oder verloren ging? Bei meinem Großvater war er nicht in den schlechtesten Händen.

Breca hielt mir erneut die zwanzig Pfund hin, diesmal mit einem schelmischen Zwinkern. »Vergnügen fängt mit den gleichen vier Buchstaben an wie Vergessen.«

Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln. »Wie weise«, gab ich zurück.

»Das macht die Erfahrung.«

»Ja ja, die Umsetzung liegt an mir«, ergänzte ich.

Er passte auf, dass ich das Geld gut wegsteckte, und befand mit zufriedenem Nicken, dass ich jetzt dafür ausgerüstet war, die Wohnung zu verlassen. Dann eilte er wieder zurück an Mums Seite, nicht ohne mir viel Spaß gewünscht zu haben. Es war ein fast unwirkliches Bild.

»Ich musste der einen oder anderen großväterlichen Pflicht nachkommen«, hörte ich ihn sagen. Ich stellte mir vor, wie er in die Runde grinste, während er seine Brieftasche wieder einsteckte.

»Sehr gewissenhaft«, bemerkte Park amüsiert, bevor Breca die Wohnzimmertür schloss. Ich konnte nicht heraushören, ob der Inquisitor ihm den Spruch abkaufte, aber zumindest die Heiterkeit in seiner Stimme klang ehrlich.

In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Es war, als schlucke ich gegen einen Korken an. In einem Anflug von Übelkeit raste ich fluchtartig durchs Treppenhaus nach draußen. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte ihn jemand in den Schraubstock geklemmt. Hinter den Augen spürte ich immer noch den Druck. Sobald ich aus dem Haus war, massierte ich mir die Schläfen und den Hals. Ich musste feststellen, dass es überhaupt nicht half.

Urian Adlard stand zusammengesunken an der Hauswand. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass er mir mit den Blicken folgte. Ich beschleunigte meine Schritte.

»Yuriy«, sagte er.

Ich überlegte, gar nicht stehen zu bleiben.

»Yuriy.«

»Mr Adlard!« Ich ließ die Hand sinken und wirbelte zu ihm herum. Gerne gestand ich es mir nicht ein, aber ich war neugierig, was er zu sagen hatte.

Er ignorierte meine Feindseligkeit und kam auf mich zu. Etwas weniger als zwei Meter von mir entfernt, blieb er stehen. Sein Gesicht hatte einen Teil seiner Farbe zurückgewonnen.

»Lord Belzac vermisst Sie«, teilte ich ihm mit. Die warme Atemluft ringelte in Rauchschwaden aus meinem Mund. Hinter meinen Schläfen pochte es. Ich hoffte, es würde nicht so aus mir herausbrechen wie am Vortag.

»Er hat noch nichts gemerkt«, erwiderte Adlard.

»Danke sehr«, stieß ich hervor. Gott, fiel mir das schwer!

»Charlotte weiß es auch nicht, oder?« Er ließ nicht locker. Der Mistkerl. Was wollte er denn hören?

Das Pochen hinter meinen Schläfen schwoll an. Ich blinzelte unfreiwillig.

»Das sage ich ihr schon selbst«, fauchte ich.

»Das denke ich mir.« Er warf einen prüfenden Blick zum Haus. Als er sah, dass Belzacs Gardist uns durch das Wohnzimmerfenster beobachtete, verdüsterte sich seine Miene. »Wenn die Congregatio vor ihr dahinterkommt, ist es zappenduster.«

»Wie nett, dass Sie mich darauf hinweisen.«

Es zog mir schmerzhaft den Nacken herunter. Als ich reflexartig den Kopf schieflegte, hatte ich das Gefühl, das Gehirn schwappe mir gegen das Stirnbein. Wie ärgerlich, dass ich ein Aufstöhnen nicht unterdrücken konnte!

Adlard schüttelte den Kopf über mich und griff in die Innentasche seiner Jacke.

Ich wandte mich ab.

»Warte.«

Er drehte dem Wohnzimmerfenster und dem Gardist den Rücken zu, streckte mir die Hand hin und offenbarte drei ockerfarbene Kapseln, nicht größer als Wassertropfen.

Ich verharrte reglos.

»Falls es wieder so schlimm wird wie gestern«, erklärte er. »Einfach schlucken. Aber immer nur eine.«

Ich schaute zwischen ihm und den Kapseln hin und her. Er wollte mir helfen – und diese Art von Hilfe hatte ich vielleicht bitter nötig. Dass sie ausgerechnet von Adlard kam, traf mich ins Mark. Ich musterte seine blasse Gestalt. Plötzlich keimte in mir die Befürchtung, dass meine körperlichen Beschwerden möglicherweise bleiben könnten.

Mach dich nicht verrückt!

Es gelang mir mit Mühe, gegen meine Übelkeit anzuschlucken. Ich wollte nur aus der Einfahrt verschwinden. Kurzentschlossen griff ich nach den Kapseln, wobei ich mir einredete, dass ich es nur tat, um meine Ruhe zu haben, und dass ich gar nicht vorhatte, sie im Ernstfall einzuwerfen.

»Danke«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen.

»Yuriy«, sagte er noch einmal.

»Was!?« Ich bremste mich mitten im Wort aus. Stattdessen wechselte ich zu einem gut gebutterten: »Bitte?«

Seine Miene war fast weich.

»Charlotte ist hart im Nehmen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen um sie.«

Da konnte ich nicht länger an mich halten.

»Was wollen Sie mir sagen?«, fuhr ich ihn an. »Dass Sie sie beschützen werden, so wie mich heute Morgen?«

Ich maß ihn mit den Blicken. Er wollte antworten, doch ich fiel ihm ins Wort.

»Das können Sie doch gar nicht.«

Einen Moment lang starrte Adlard mich nur an – ein Bild, an dem ich mich weidete.

Dann schloss er die Augen und wandte das Gesicht ab. Seine Wangen blähten sich. Ich ließ ihn in seinem Ringen um Fassung stehen, und als er die Augen wieder aufschlug, hatte ich bereits den Bürgersteig erreicht. Ich hörte seine Hände resigniert auf die Oberschenkel klatschen, dann seine Schritte, die sich in Richtung Haus entfernten. In meinen Ohren klangen diese Geräusche wie Musik.

SILVESTER (VI): »Woher kommt eigentlich das plötzliche Interesse?«

»Mr Cobbald reißt dir den Kopf ab.«

Matts düstere Prophezeiung galt meinem letzten Suchbegriff. Nach mir hatte auch er sich bei Solweig eingefunden, damit wir beratschlagen konnten, wohin es heute Nacht gehen sollte. Ich beteiligte mich nur halbherzig an den Überlegungen; mein Hauptaugenmerk lag auf den Ergebnissen, die das Internet auf meine Suchanfrage hin zutage förderte.

»Ich dachte, du wolltest recherchieren?«, bemerkte Matt.

Ich öffnete mehrere Artikel zugleich. Zwischen den Seiten meines aufgeschlagenen Physikbuches versteckte sich das atlantinische Pamphlet

»Natürlich, aber ich habe nicht gesagt: für Physik«, erwiderte ich, während ich die Zeilen durchkämmte. Eine leere Phrase, die ich nur kloppte, weil Matt sie von mir erwartet hätte. Er erwartete meistens Widerspruch von mir. Hinter meinen Schläfen hielt sich hartnäckig ein dumpfer Schmerz, der beständig an- und abschwoll, als wollte er mich daran erinnern, dass er insgeheim auf seinen nächsten Freigang wartete. Die kalte Winterluft hatte mich erfrischt, als ich ein weiteres Mal zu Solweig aufgebrochen war, aber das Pochen hatte sie nicht ganz abtöten können.

Matt schenkte mir ein Zischen – ein für ihn typischer Laut, der irgendwo zwischen Tadel und Belustigung anzusiedeln war – und ließ mich machen. Seit unserem Streit am Vortag hatte er eine Drehung von Einhundertachtzig Grad hinter sich gebracht. Ich musste ihn gar nicht erst fragen, wie sein Gespräch mit Mr Cobbald verlaufen war. Offensichtlich war sein guter Ruf wiederhergestellt, denn sein Groll gegen mich war rückstandslos verraucht. So einfach verhielt es sich manchmal mit ihm. In der Regel brachte mich seine Wankelmütigkeit zum Rasen. Im Moment kam sie mir allerdings sehr gelegen.

»Was liest du da eigentlich?«

Solweig beugte sich über meine Schulter. Ihre Hände waren auf die Stuhllehne gestützt, aber durch den Pulloverstoff fühlte ich ihre Fingerspitzen an meinem Rücken.

Ich rutschte ein Stück vom Bildschirm zurück, sodass die beiden den Bericht in Augenschein nehmen konnten.

»›Papierregen überflutet Innenstadt‹«, zitierte Matt. Er schnalzte geringschätzig mit der Zunge. »Wie reißerisch.«

»Ich war dabei«, gab ich kund und zupfte das Flugblatt zwischen den Buchseiten hervor.

Matt starrte zuerst den Bogen Papier, dann mich aus großen Augen an, und auf seinem Gesicht breitete sich wie in Zeitlupe ein entgleistes Lächeln aus. »Da, wo du dein Veilchen bekommen hast?«

»Genau da.« Ich verdrehte die Augen und spürte prompt das Ziehen im Unterlid. Die Wahrheit hatte ich ihm verschwiegen. Solweig konnte man solche Dinge erzählen. Ihm besser nicht.

Kopfschüttelnd wandte er sich wieder dem Artikel zu. »Wieso wundere ich mich eigentlich?«

Er fand nämlich, ich würde Ärger magisch anziehen, was ich für absoluten Blödsinn hielt.

Laut den Berichten, die ich bisher gelesen hatte, war meine Haltestelle einer von drei Hochbahnhöfen gewesen, an denen Atlantis die Papiere in Umlauf gebracht hatte. Auch in der Tube hatten sie sie massenweise verteilt. Polizei und Congregatio hatten die »Unruhestifter«, wie mehrere Artikel sie bezeichneten, angeblich quer durchs Schienennetz verfolgt und schließlich den einen oder anderen verhaften können. Die Festgenommenen beriefen sich auf den Präsidenten Phinæus Sheldon und seine Principia, doch bisher wartete man noch auf eine offizielle Stellungnahme des atlantinischen Vorstandes. Außerdem war Sheldon Gerüchten zufolge seit Wochen nicht in London gewesen.

Wenn das stimmte, konnte Adlard suchen, bis er umfiel.

Wenn, hielt ich mir vor Augen.

Die Berichte nannten neben Sheldon noch andere Mitglieder der Principia. Unter ihnen waren zwei hochangesehene Geschäftsleute und ein viel zitierter Politiker. Doch der Name, den ich suchte, fiel nicht.

»Willst du den Zettel etwa behalten?«, warf Solweig plötzlich ein.

Ich zuckte die Achseln. »Warum nicht?«

»Weil das Volksverhetzung ist, auch wenn deine Mutter das nicht einsehen will«, erwiderte Matt und kam sich dabei sehr profund vor.

Mein Blick ließ ihn verstummen. Seine Worte hätten genauso gut von seinem Vater stammen können; eine siegelechte Kopie, hätte man sie niedergeschrieben.

»Entschuldige«, lenkte er ein, als ihm das plötzlich bewusst zu werden schien.

»Nichtsdestotrotz ist es gefährlich«, gab Solweig zu bedenken. Besonders jetzt, wo ihr unter Beobachtung steht, fügte ihre strenge Miene hinzu.

»Wer soll das denn bei mir finden?«, erwiderte ich, betont selbstsicher. Matt hatte ich nichts über Lestard und den Schlüssel erzählt, und ich hatte auch nicht vor, das in nächster Zeit nachzuholen. An der Gordon Stout war er ein umsichtiger, treuer Gefährte. Aber im Angesicht seiner Eltern war ich mir seines Schweigens nicht so sicher.

Ich bemerkte, dass Solweig mit sich kämpfte.

»Naja, ich dachte nur …«, sagte sie unschlüssig.

Aus einem Impuls heraus strich ich mit der Hand über ihren Unterarm und sah, wie sich die dünnen Haare auf ihrer Haut bei der Berührung aufstellten.

Demonstrativ kehrte ich ihr und Matt den Rücken und tippte den Namen, den ich in den Artikeln vergeblich gesucht hatte, in das Begriffsfenster ein.

»Lestard Calhoun« erzielte mehr als zwölf Millionen Treffer in der Textsuche. Die Videoportale hatten ganze Playlists zu bieten. Einer Eingebung folgend, schwenkte ich zur Bildsuche um. Vier Millionen Fotografien und Videostandbilder, sagte die Anzeige. Ich klickte mich durch das erste Dutzend Seiten. Keines der Bilder zeigte Lestard Calhoun allein; es gab nicht mal eines, auf dem man ihn eindeutig hätte identifizieren können. Die meisten waren offensichtlich aus der Menge heraus von Laien geschossen worden. Gliedmaßen ragten in den Bildfokus. Bewegungsunschärfe zeugte von Begeisterung oder Verfolgung. Zahlreiche Ablichtungen zeigten in Brand gesteckte Congregatioflaggen, die Grenzmauer im Norden oder Flüchtlinge beim Versuch, auf die andere Seite zu kommen – aber keinen Lestard. Einige dieser Bilder kannte ich aus dem Politikunterricht, wo wir den Bürgerkrieg angerissen hatten. Seit der Nord-Süd-Spaltung waren gerade so viele Jahre vergangen, wie ich alt war, und im Unterricht wurde das Thema – da es totzuschweigen unmöglich war – nach Kräften heruntergespielt.

»Du hast aber nicht vor, den ganzen Abend auf diesem Stuhl vor dem Computer zu verbringen, oder?«, bemerkte Matt. Der Richtung nach zu urteilen, aus der seine Stimme kam, hatte er sich auf Solweigs Schlafsofa niedergelassen. Da ihre Eltern am Morgen eingewilligt hatten, dass ich über Silvester bleiben dürfe, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, es wieder zusammenzuklappen.

Ich überhörte Matts Einwurf, wenngleich mein Gewissen sich nicht scheute, mir die Verfahrenheit dieser Situation vor Augen zu führen. Wäre ich mit Solweig alleine gewesen, hätte ich weitersuchen und mit ihr über meine Funde sprechen können. Aber wir waren zu dritt. Und auf Matt, der nicht eingeweiht war, musste mein Verhalten schlichtweg ignorant wirken.

»Woher kommt eigentlich das plötzliche Interesse?«, fragte er neugierig.

»Das hab ich seit dem Politikreferat über Phinæus Sheldon«, sagte ich kurzangebunden und rang mich dazu durch, das Bildschirmfenster zu schließen. Das Schlagwort »Referat« schien sich zu meiner ultimativen Notlüge aufgeschwungen zu haben.

Keine Bilder!

»Von wegen«, knurrte ich für mich. Ich hätte schwören können, dass die Zeitungen und Sender in ihren Archiven oder im Intranet über scharfe Abzüge von Lestard Calhoun verfügten. Mit wie viel Geld musste man all die Journalisten wohl schmieren, damit sie die Fotografien und Videoaufzeichnungen nicht veröffentlichten? Konnte ein Mann wie Lestard solche Unsummen aufbringen? Er war mächtig, zugegeben, und Atlantis verfügte über zahlreiche Sponsoren. Allerdings kontrollierten diese sehr gründlich, wohin ihr liebes Geld verschwand. Die karitativen Einrichtungen und Veranstaltungen, die Atlantis mit den Spendengeldern beständig ins Leben gerufen hatte, waren wohl das einzige Hindernis, das die Congregatio noch davon abhielt, die Organisation ganz zu verbieten.

Ich warf einen Blick zum Sofa. Matt hatte sich gemütlich zurückgelehnt. Solweig hatte sich neben ihn gesetzt und die Beine untergeschlagen, eine Reihe Flyer und Leporellos vor sich ausgebreitet. Ich schlurfte zu ihnen und ließ mich ihnen gegenüber in die Kissen fallen.

»Jungs, gehen wir nach Camden?«, fragte Solweig, noch ehe ich das Polster berührte. Augenscheinlich wollte sie die Gelegenheit nutzen, bevor Matt oder ich das Thema »Atlantis« erneut anschneiden konnten.

Matt verzog das Gesicht. »Was ist in Camden?«

Ich schwieg. Eigentlich musste ich ihm zustimmen – die Märkte schlossen um sechs Uhr, und anschließend gab es nur noch Pubs und Nachtclubs, die ihr Publikum penibel nach Alter und Aufmachung aussortierten.

Solweig schüttelte energisch den Kopf. »Garreth hat mir erzählt, dass so eine Kneipe den Antrag für ein eigenes kleines Feuerwerk durchgebracht hat«, erklärte sie unbeirrt. »Der Inhaber ist, glaube ich, ein Deutscher. Oder seine Vorfahren waren es.«

»So eine Kneipe«, wiederholte Matt in gutmütigem Spott.

Solweig überhörte den Einwurf. »Die organisieren zusammen mit ein paar anderen Lokalen jedes Jahr zu Silvester ein riesiges Straßenfest. Da laufen alle möglichen Leute herum, da gibt es keine Altersgrenze.«

Seit dem Bürgerkrieg war Camden ein aufstrebendes Viertel, weil reiche Investoren das Stadtbild restaurierten und seine Märkte sowohl Londoner als auch einheimische und ausländische Touristen gleichermaßen anlockten. Camden war, in gewisser Weise, der Ort, an dem alle Menschenschläge Londons zusammentrafen. Bis auf einen – Matts. Camden mochte das Pflaster sein, das die Oberschicht in Aussicht auf Profit vergoldete, nicht aber das Pflaster, auf dem sie sich normalerweise bewegte. Er sprach es nicht aus, doch genau darum ging es für ihn. Die Versuchung war groß. Und der Druck nicht minder.

Es fiel mir schwer, mich auf etwas Anderes zu konzentrieren als auf die verwischten Bilder von Lestard Calhoun. Der eine oder andere Artikel dazu wäre sicherlich einen Blick wert gewesen. Breca hatte gesagt, ich sollte alles tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht wenig Lust dazu. Und je mehr Leute ich traf, desto größer war die Ablenkung. Solweigs Idee begann mir zu gefallen. Jedenfalls gefiel sie mir deutlich besser als die Aussicht, ihr und Matt bei einem längeren Hin und Her zuhören zu müssen.

»Haben wir Alternativen?«, brummte Matt.

»Haben wir nicht«, sagte ich und nickte zu Solweig hinüber, die uns ihrerseits aus leuchtenden Augen stumm anbettelte. »Sie hat sich schon entschieden, siehst du das nicht?«

Solweig rutschte näher an ihn heran. »Komm schon! Da ist es proppenvoll, da fischt uns keiner raus. Garreth war schon zweimal dort und geht diesmal auch wieder hin. Das kann gar nicht schlecht sein!«

»Garreth ist achtzehn«, erwiderte Matt, wissend, wie schwach sein Argument in Solweigs Ohren war.

»Aber nicht vor zwei Jahren«, gab sie zurück.

»Da war er sechzehn«, unternahm Matt einen letzten Versuch.

»Wir gehen locker als sechzehn durch«, sagte ich.

»Fall du mir in den Rücken!« Matt wehrte sich gegen das Schmunzeln, das sich auf sein Gesicht stehlen wollte. Er war noch nicht ganz überzeugt.

Solweig lachte nur.

Ich ertappte mich dabei, dass ich sehnsüchtig in Richtung des Pamphletes blickte, das noch immer auf ihrem Schreibtisch lag. Matt hatte mir meine einzige sinnvolle Beschäftigung bis zum Abend genommen. Ich konnte die Gedanken an Lestard nicht ausblenden, egal wie sehr ich mich anstrengte. Die Nachrichten machten mich kribbelig. Ich spürte, dass ich gereizt war; wenn Matt jetzt noch eine falsche Bemerkung machte, wäre es mir eine Freude, ihn auseinanderzunehmen.

Solweigs Miene verwandelte sich in ein einziges Paar großer, unterwürfiger Kulleraugen, ein Meisterwerk des wohlgeplanten Kalküls. Einen Moment lang schaffte Matt es tatsächlich, sich ihrer Wirkung zu entziehen. Dann brach sein Widerstand unter einem tiefen Seufzer und einem unterdrückten Fluch ein.

Solweig genoss den Moment ihres Triumphes in vollen Zügen. Matt zu etwas zu überreden, war im Grunde ein Leichtes, sobald man wusste, wo man den Hebel anzusetzen hatte.

»Und wie heißt diese Kneipe?«, fragte er.
 

Das Millenium Wheel stand wie in Flammen über der Themse. Flussnebel und erleuchteter Pulverdampf umschlangen die gewaltige Silhouette; ein zur Erde gestürzter Regenbogen, der sich über Londons Dachfirste hinweg gen Himmel aufbäumte. Die Uferpromenade, die nahen Brücken, die umliegenden Straßen hoben wie auf ein unsichtbares Kommando in zahllosem Stimmengewirr zu einem tiefen Summen an. Über der Menschenmenge wogte Kamerablitzlicht; ein schimmerndes Gegenstück des Feuerwerks hoch über ihren Köpfen, und vielmehr noch ein Abbild ihrer zahllosen Erwartungen und ihrer gemeinsamen Verzauberung.

Abseits der Menschen stand ein einzelner Mann im Schatten eines Hauses. Die Augen geschlossen, lauschte sein Geist der wilden Einheit, die Londons Mitte pulsieren ließ. Einem rauschhaften Taumel erlegen, betasteten seine Sinne die Ausläufer der verzückten Masse. Hier, jenseits der Lichter und verborgen vom Mauerwerk, war er ihnen näher, als wenn er mitten zwischen ihnen gestanden hätte.

Die ockerfarbene Kapsel in seinen Fingern hatte er vergessen. Millimeter um Millimeter entglitt sie dem vernachlässigten Griff und fiel zu Boden, wo halbgeschmolzener Schnee sie verschluckte.

In den Kanon aus Stimmen und Feuerwerkskörpern mischte sich ein nahes Schmatzen. Widerwillig horchte der Mann auf. Vor ihm patschten Schritte über den matschigen Asphalt, offensichtlich darauf abzielend, gehört zu werden.

»Sieh an, wer sich einsam in den dunklen Ecken herumdrückt«, sagte eine vergnügte Stimme. »Hat Urian Adlard die Party verlassen, oder hat die Party Urian Adlard verlassen?«

Als er endlich aufblickte, flackerte über das Gesicht der jungen Frau die Andeutung eines Lächelns.

Einen Moment lang konnte Urian nur starren.

Sie fasste das als Einladung auf, sich zu ihm zu gesellen. Das Feuerwerk färbte den Dampf ihrer Atemluft, zeichnete feine Lichtsprenkel auf ihre Lippen und umkränzte ihre dunklen Haare mit einem Leuchten. Ein leichtes Parfüm streifte seine Nase, als sie den Mantel enger um ihren Körper schlang.

»Was machst du im Süden?« Die Frage schlüpfte ungewollt über seine Lippen.

Ein bitterer Zug streifte ihr Lächeln.

»Mireille ist in guten Händen«, sagte sie.

Urian zuckte zusammen und schaute weg.

»Es tut mir Leid«, presste er zwischen den Zähnen hevor. »Das stand mir nicht zu.«

»Der Blick oder die Bemerkung?«, erwiderte sie unschuldig.

Demonstrativ fasste Urian die Menschen weiter oben auf der Straße ins Auge, die den Rand der Menge bildeten.

»Du siehst nicht gut aus«, stellte sie fest.

»Es sind harte Zeiten.«

Er hörte ihr Schnauben und zwang sich zu einem Lächeln.

Sie berührte seine Hand; kaum spürbar. Der Stoff ihrer Handschuhe war mit eisigen Tropfen benetzt. Halb geschmolzener Schnee, der auf seiner Haut prickelte. Unwillkürlich schaute Urian auf ihre Hand hinab.

Sie hielt ihm ein kleines Kuvert hin.

»Mireille sagte, an einem Abend wie heute bist du bestimmt nicht zu Hause. Also …«

Urian spürte einen Stich in der Brust. Seine Finger zitterten, als er nach dem Umschlag griff. Das Papier war dünn und glatt. Er wagte kaum, richtig zuzufassen, als könnte es unter seiner Berührung zerfallen. Im Widerschein des Feuerwerks zeichneten sich die Worte auf der Innenseite undeutlich ab.

»Bist du allein hier?« Seine Stimme kam einem Krächzen gleich. Urian räusperte sich.

»Wer sagt das denn?« Sie zwinkerte ihm zu. »Jean hat in der Regel nichts daran auszusetzen, dass ich ab und an unter vier Augen mit alten Freunden rede.«

Urians Magen machte einen Satz.

»Ist Lestard auch hier?«

Die Frau schüttelte überrascht den Kopf. »Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen.«

»Seit Monaten.« Die Worte hallten in Urians Gedanken nach. Das erste Gefühl, das sich einstellte, war Erleichterung, das zweite die Enttäuschung über eine verpasste Chance.

Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen sackte er gegen die Mauer.

»Jean hatte in letzter Zeit mit ihm zu tun, nicht wahr?«, fragte er.

Sie presste die Lippen zusammen.

Eine Welle fremder Sorge streifte sein Bewusstsein. Ihre Sorge. Urian ertappte sich dabei, wie er ihre Geste nachahmte, und straffte sich.

»Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hat Lestard wieder eine Menge fixer Ideen im Kopf«, gab sie mit belegter Stimme zu. »Um ehrlich zu sein, ist mir die Sache nicht ganz geheuer.«

Urian schwieg für einige Sekunden, in Überlegungen versunken. Seine Augen ruhten auf dem Kuvert in seinen Händen, ohne es anzusehen. Als er sich dessen plötzlich gewahr wurde, steckte er den Umschlag in die Innentasche seines Mantels, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht an dem Tablettenheft zu zerknicken.

»Kannst du mich zu Jean bringen?«, fragte er fest.

Sie hob eine Augenbraue. »Du bist unverbesserlich. Es ist Neujahr!«

»Und?«

»Urian, ich komme nur selten in den Genuss deiner Gesellschaft.« Sie lachte ob seines argwöhnischen Blickes.

»Ich tu das für eine Freundin«, gab er forsch zurück.

»Für wen?«, fragte sie sanft. Sie kannte ihn zu gut, als dass er sie mit seiner Bemerkung hätte verletzen können.

»Charlotte.« Der Name kam geschnappt wie ein Biss.

»Charlotte Furlong?« Sie senkte die Stimme. Ihre Miene war undurchdringlich, während sie sich wohl vor ihrem geistigen Auge Stück für Stück ein Bild zusammensetzte. »Lestard hat viel von ihr gesprochen, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«

»Er war gestern Abend bei ihr«, erwiderte Urian. »Er ist wieder in London.«

Sie stockte und nahm sich Zeit, ihn eingehend zu mustern. Urian erwiderte ihren Blick.

»Wenn du dich da einmischst, kommst du in Teufels Küche«, befand sie.

Urian bleckte die Zähne. »Mein Süppchen kann ich überall kochen.«

Sie rümpfte die Nase. »Du kannst es nicht lassen, mir die Worte im Mund herumzudrehen, oder?«

Er zuckte bloß die Achseln und erntete dafür einen resignierenden Seufzer.

»Ich schlage dir etwas vor«, sagte sie. »Ich überlasse dir Jean für dein Gespräch unter vier Augen. Später. Und unter der Bedingung, dass du dich einladen lässt und die Arbeit für heute Nacht niederlegst.«

Urian wandte sich ab. Ihre Sorge rührte ihn, ihr Angebot winkte mit Seidentüchlein. Ging er darauf ein, hatte sie ihn früher oder später im Sack. Irgendwie würde sie es schaffen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.

»Wer Lestards Rat sucht, wird gefunden werden«, rezitierte er nachdrücklich.

Sie fasste ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. Ihr Blick war bohrend, und ihre nächsten Worte nicht minder.

»Als seine Schwester sollte ich das nicht sagen, ich weiß. Aber lass dich nicht noch einmal mit ihm ein. Schau dich an. Und denk an Mireille!«

Urian zwang sich erfolgreich zum Schweigen. Als er nicht reagierte, fasste sie nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her.

»Lestard kennt kein Silvester«, sagte sie bestimmt. »Aber wir sind nicht Lestard, nicht wahr?«

Urian stemmte sich gleichsam gegen ihren Griff und gegen die Fröhlichkeit, die wider ihre Worte in ihrer Erscheinung blühte.

»Ich habe nicht die Ruhe dafür«, stieß er hervor. Er wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Allerdings war ihm genauso wenig nach Feiern zumute. Ausnahmsweise waren sein Gewissen und sein Egoismus einer Meinung.

Sie wandte sich zu ihm um. In ihrem Gesicht stritten Bitte und Tadel um die Vorherrschaft.

»Ist es dir wirklich so wichtig?«

Er musste nicht nicken. Sein Blick schien alles zu sagen.

»Weshalb?«, fragte sie ernst.

Urian fuhr sich mit der Hand übers Kinn, schindete Zeit. Seine Gesichtshaut kribbelte, als seine Finger über winzige Bartstoppeln schmirgelten. Er hätte sich rasieren sollen, redete er sich ein, bis der unnachgiebige Blick seiner Gesprächspartnerin seine Barriere zum Einsturz brachte.

»Ihr Sohn«, murmelte er. »Sie haben so viel zu verlieren.«

»Du kannst wirklich nicht aus deiner Haut heraus, was?«

Ihre Worte klangen wie ein Eingeständnis an sich selbst. Sie seufzte schwer und musste sich abwenden, um die Information sacken zu lassen.

Als sie ihn wieder ins Auge fasste, war ihr Gesicht wie überschattet. Verstohlen tastete Urian nach der Heiterkeit, die sie ausgestrahlt hatte. Sie war fast erloschen, glomm träge vor sich hin wie ein Kohlestück im Aschebett.

Sie hatte sich vor ihm zurückgezogen.

»Wollen wir gehen und ein paar alte Kontakte aufleben lassen?« Ihre Stimme klang wie von Ferne zu ihm.

»Alte Kontakte«, wiederholte Urian. »Heißt das, wir schließen einen Kompromiss?«

Sie betrachtete ihn schweigend.

Er schluckte. Sie würde ihn nicht zu Lestard führen. Sie wusste nicht, wo er war, das glaubte er ihr. Diesbezüglich hätte sie ihn niemals angelogen. Aber womöglich würde er nicht einmal Jean zu Gesicht bekommen; diese Finte traute er ihr ohne Weiteres zu.

Er fuhr sich durchs Haar. Vielleicht war das Sammeln von Gerüchten heute Nacht tatsächlich seine einzige Alternative.

»Und woran hattest du gedacht?«, brachte er hervor.

Da lachte sie triumphierend auf, und im selben Moment barst die Luft um sie herum vor Licht. Ein tiefes Grollen erhob sich über der Themse vor ihnen. Das Feuerwerk war auf seinem Höhepunkt.

Urian kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht hören, was sie sagte, aber die zwei Worte waren ihm so vertraut, dass er sie gegen die grellen Schattenrisse auf ihrem Gesicht deutlich von ihren Lippen ablesen konnte.

Das Deutsche Viertel.

SILVESTER (VII): »Du siehst aus, als wärst du schon länger tot.«

Der Schankraum des Deutschen Viertels war nahezu verlassen. Nur vereinzelt saßen an den Tischen noch Gäste, die vor der Winterkälte zurückschreckten. Und auf einer Bank in einer Nische, möglichst verborgen vor den Blicken der anderen, kauerte ich.

Auf der Straße vor dem Lokal bestaunten die Leute das Feuerwerk, das der Wirt gezündet hatte. Der erste Schuss hatte mir in die Ohren geschnitten, als wäre neben mir Wasserstoff in die Luft gegangen. Plötzlich war das Gemisch aus Schwefel-, Schweiß- und Alkoholgeruch, das von der Menge ausging, für mich zu einem beißenden Odem geworden. Das Licht der Explosion am Himmel hatte mich geblendet, als hätte ich aus einem dunklen Zimmer heraus in die Sonne gestarrt, und ich – verwirrt, unter Schmerzen und gestützt von Solweig – war taumelnd ins Innere des Wirtshauses geflüchtet.

Als ich an den anderen Gästen vorübergestolpert war, hatten sie mich nur eines kurzen, missbilligenden Blickes gewürdigt: So jung und schon so besoffen. Ihre Ablehnung war gegen mich geprallt wie ein Granitstein, und für einen Moment hatte ich mich sogar vor mir selbst geekelt.

Du bist nicht betrunken, redete ich mir zu. Wenn die wüssten!

Ich hatte tatsächlich nichts getrunken. Nicht zu viel, zumindest. In einer Nische des Raumes war ich auf einer Bank zusammengesackt und versuchte seither, Gedanken und Sinne zu betäuben. Den Rücken gegen die Wand gedrückt, zwang ich mich, langsam und tief zu atmen. Das Pfeifen der Raketen und die staunenden Ahs und Ohs der Menge schienen unter der massiven Holztür hindurchzusickern und auf mich zuzukriechen. Vom Gestank und von der Helligkeit brannten mir noch immer die Augen in den Höhlen und ich blinzelte mehrmals in der Hoffnung auf Linderung. Selbst an meinem Platz, von schweren Holzpfeilern verborgen und möglichst weit von der Tür entfernt, hatte ich das Gefühl, in vorderster Front zu stehen. Mein Kopf drohte zu platzen. Ich hörte jemanden aufstöhnen. Dass ich selbst dieser jemand war, begriff ich erst nach Sekunden. Mechanisch fuhr ich mir mit dem Arm über die Stirn; als ich ihn wieder zurückzog, war mein Handrücken mit einem Schweißfilm überzogen.

Auf der Straße war der Lärm des Feuerwerks inzwischen verklungen. Stattdessen hörte ich, wie eine Band aufspielte. Die Musik gefiel mir, aber ich hörte sie so laut, als stünde ich direkt zwischen den Boxen. Der Bass ging mir durch Mark und Bein.

Solweig war zum Tresen hinübergegangen, um mir etwas zu trinken zu besorgen. Ich hatte sie nach Kräften bearbeiten müssen, damit sie der Bedienung nicht mitteilte, wie schlecht es mir ging. Jetzt nutzte ich den einsamen Moment, um fahrig meine Jackentaschen nach den Kapseln zu durchsuchen, die Adlard mir zugesteckt hatte. Ich brauchte mehrere Versuche, um eine von ihnen zu greifen, doch als ich endlich eine in der Hand hielt, zögerte ich.

»Einfach schlucken«, hatte Adlard gesagt.

Meine Fingernägel drückten sich in die Haut der Kapsel, die wie eine Membran nachgab. Als ich die Hand aus der Tasche zog, spürte ich, wie die Kapsel aus meinen Fingern rutschte.

Das sollte nicht passieren, sagte der theoretisch veranlagte Teil von mir. Der pragmatische schaute teilnahmslos zu, bis die Kapsel endlich fiel. Automatisch streckte ich den Arm aus, um sie wieder aufzufangen, doch als ich mich vornüberbeugte, drehte sich der ganze Raum mit mir.

Ächzend vergrub ich das Gesicht in der Armbeuge. Die Kapsel war verloren … irgendwo unter dem Tisch oder der Bank.

Frohes neues Jahr, Yuriy, beglückwünschte ich mich selbst.

»Bist du wach?«

Solweigs Stimme erklang direkt neben mir. Ich hatte das Gefühl, angeschrien zu werden; mein Gehör spielte immer noch verrückt. Ich rang mir ein Lächeln ab.

»Trink das«, befahl sie und hielt mir ein Glas mit Wasser hin. Ich versuchte, ihre Finger zu fokussieren, doch sie verwischten in Schwaden mit dem Glas und dem Hintergrund.

Ich schloss die Augen wieder. Weil ich meinen zitternden Händen nicht mehr vertraute, bedeutete ich Solweig mit einem Nicken, dass sie das Wasser auf dem Tisch abstellen sollte.

Ein dumpfes Geräusch direkt neben mir sagte mir, dass sie sich ebenfalls auf die Bank gesetzt hatte. Ich spürte ihren Oberschenkel an meinem, als sie sich zu mir hindrehte, um mir das Glas an die Lippen zu halten.

»Ich komme mir vor wie ein Krüppel«, murrte ich.

»Was du nicht sagst«, erwiderte sie.

Also ergab ich mich und ließ mich tränken.

»Du siehst aus, als wärst du schon länger tot.«

Dem Klang der Stimme nach zu urteilen, kam dieser mitfühlende Kommentar von Matt.

Ich blickte auf und sah seinen Umriss vor unserem Tisch stehen.

»Bist du immer so freundlich?«, krächzte ich gereizt.

»Nur, wenn Leute sich wirklich dämlich aufführen«, erklärte er ungerührt. »Ich kann es nicht fassen, dass du deiner Mutter immer noch nichts gesagt hast!«

Ich glaubte zu bemerken, dass die Musik leiser wurde. Sicher war ich mir nicht, deshalb beschloss ich, noch ein wenig zu warten.

»Mum hat im Moment viel um die Ohren.«

Ich hoffte, er konnte meine Antwort überhaupt verstehen, denn ich selbst hörte ein Gebrabbel aus meinem Mund kommen, das sehr nach »Mamatchimommenwiumioan« klang.

»Im Moment?«, wiederholte Matt skeptisch. Noch vor Sekunden wäre ich mir sicher gewesen, dass er mir ins Ohr gebrüllt hätte, doch mittlerweile nahm ich seine Stimme fast wieder durchschnittlich leise wahr. Meine Sinne stumpften tatsächlich wieder ab – genauso rasant, wie sie vom Feuerwerk geschärft worden waren. Vor Erleichterung nahm ich einen tiefen Atemzug, den Matt als Seufzer missdeutete. Er hatte sich über mir aufgebaut, die Jacke aufgeknöpft und den schiefgelegten Kopf halb im Schal vergraben, sodass das einzig Sichtbare von seinem Gesicht seine Augen waren. Zu Schlitzen verengte, verständnislose Augen.

»Matt hat Recht«, sagte Solweig. »Du kannst nicht immer nur Rücksicht auf sie nehmen.«

Vehement schob ich das Glas weg und starrte sie an. Ich war mir fast sicher, dass sie nicht nur auf das Leuchten anspielte.

Doch Matt ließ mir keine Zeit, das herauszufinden. »Du bist da draußen fast zusammengebrochen«, setzte er nach.

»Das tut nichts zur Sache«, verfügte ich und konnte nicht umhin, ihn für sein exzellentes Gehör zu bewundern. »Dahunischurache.«

Matt wollte schon zu Sprechen ansetzen, um mir gehörig den Kopf zu waschen, entschied sich jedoch im letzten Moment anders. Sicher dachte er, er würde mich damit überfordern.

»Spuck’s aus«, forderte ich, was schon deutlich verständlicher über meine Lippen kam.

Matt schüttelte geschlagen den Kopf.

»Außerdem wird es schon wieder besser«, verkündete ich.

Demonstrativ nahm ich Solweig das Glas aus der Hand, doch Matt versäumte es, Zeuge meiner Wiedererstarkung zu werden. Seine ganze Aufmerksamkeit schenkte er der Ladentür, die soeben mit einem Knall gegen die Wand des Windfangs geschlagen war.

»Grundgütiger«, hauchte Solweig, die seinem Blick gefolgt war und erst jetzt nebenbei bemerkte, dass ich ihr das Wasser weggenommen hatte. Aber ihre Fassungslosigkeit galt nicht mir. Zur Hälfte beleidigt und zur anderen Hälfte neugierig, wer mir da die Show gestohlen hatte, schaute ich über ihre Schulter.

Soeben drückte ein schlanker Mann die Tür wieder hinter sich ins Schloss. Auf den letzten Zentimetern lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, als könnten seine Beine ihn nicht länger aus eigener Kraft tragen. Unter der schwarzen Jacke hoben sich Brust und Bauch in stockenden Atemzügen. Sein dunkler Zopf hatte sich halb aufgelöst, die freigewordenen Strähnen klebten ihm schweißnass in Gesicht und Nacken.

Mir rutschte das Herz in die Hose.

»Verdammt«, stieß ich hervor.

»Noch so eine Schnapsleiche«, bemerkte Matt abfällig.

Adlard stolperte die niedrige Treppe am Eingang hinunter und zwischen den Tischen hindurch auf das andere Ende des Gastraumes zu. Um ihn herum war die Luft in Bewegung. Aus seinen halb geschlossenen Augen blitzte das Leuchten auf; er tastete sich mit den Händen an den Stuhllehnen entlang, als wäre er blind. Nach ein paar Metern schwenkte er nach rechts ab und stützte seinen Gang, indem er sich an der Wand entlangschob. Ich erkannte, dass er auf einen offenen Türsturz in der rechten Ecke des Gastraumes zuhielt. Ein Holzschild, das man darüber angebracht hatte, verwies auf die Gästetoiletten. Adlard taumelte noch einmal gegen die Backsteinmauer, dann schleppte er sich über die Schwelle und war außer Sicht.

Ich sprang auf.

Von der plötzlichen Bewegung knickten meine Beine ein. Reflexartig fasste Matt über den Tisch nach meinem Arm, aber ich schaffte es, mich selbst an der Wand abzustützen. Innerlich fluchte ich; ich hatte mich wohl doch überschätzt. Einen Moment lang kämpfte ich um mein Gleichgewicht, dann konnte ich mich aufrichten.

»Wohin gehst du?«, fragte Solweig streng.

»Das ist er«, sagte ich bedeutungsschwer zu ihr, während ich mich auf der anderen Seite zwischen der Wand und der Tischplatte hindurchzwängte.

Ein Anflug von Verwirrung flackerte über Solweigs Gesicht, dann fiel der Groschen.

»Wer ist er?«, fragte Matt.

»Er ist wie ich«, sagte ich geistesgegenwärtig. »Auch Patient. Er ist nicht betrunken.«

»Patient!?«, echote Matt. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. Er war noch nicht fertig mit mir, doch ich ließ ihn mitten im Satz stehen und heftete mich an Adlards Fersen. Wenn mir das Schicksal schon so in die Hände spielte, durfte ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen!

Sobald ich durch den Türsturz getreten war und den Schankraum hinter mir gelassen hatte, stand ich direkt vor der braunen Backsteinmauer. Dafür erstreckte sich links von mir ein enger Flur, der sich in seiner Länge über die komplette Rückseite des Gebäudes ziehen musste. Ich dämpfte meine Schritte und folgte seinem Verlauf. Zu meiner Rechten zweigten in unregelmäßigen Abständen mehrere Türen ab. Die zu den Herrentoiletten stand halb offen; weißes Licht flutete in den abgedunkelten Flur. Ich hörte Wasser aus dem Hahn rauschen, was mir das Anschleichen erleichterte. Mums Fähigkeit, sich vollkommen lautlos zu bewegen, wäre mir in diesem Augenblick sehr recht gewesen.

Adlard stand tief über das Waschbecken gebeugt und hielt das Gesicht unter den Strahl. Die Jacke hatte er aufgeknöpft und über die Schultern zurückgeworfen, damit sie nicht nass wurde. Mich überkam der Gedanke, dass sie zu groß für ihn wirkte. Die Arme verdeckten sein Gesicht, und neben seinen Händen, die kraftlos um den Wasserhahn geschlungen waren, lag ein schmales weißes Tablettenheft.

Die Kapseln.

Drei hatte er mir gegeben. Das Heft fasste zehn. Ich ertappte mich dabei, dass ich zählte, wie viele er schon verbraucht hatte, und unterbrach mich mittendrin. Angenommen, es wäre eine pro Tag vonnöten … dann hatte ich über Neujahr nichts zu befürchten.

Das wird schon wieder, sagte ich mir. Man hörte von Magiern nicht, dass sie an ihren Fähigkeiten zugrunde gingen. Ich hoffte inständig, dass meine Gebrechen nur eine Art Startschwierigkeiten darstellten.

Plötzlich vernahm ich Schritte hinter mir. Augenblicklich zuckte ich von der Tür zurück, doch es war nur einer der Kellner, der einige Meter von mir entfernt in einen abzweigenden Raum abbog. Er würdigte mich keines Blickes.

Als er den Flur verlassen hatte, herrschte für Sekunden eine Stille, die mir Schauer über den Rücken trieb.

Adlard hatte das Wasser abgedreht.

Ich wagte nicht zu atmen.

Aus der Richtung des Schankraums brandete ein aufkommendes Stimmengewirr heran; das Wirtshaus füllte sich wieder.

Langsam zog ich mich zurück. Als ich auf Höhe der Tür ankam, durch die der Kellner verschwunden war, öffnete sich diese wieder und knallte mir beinahe gegen den Kopf.

Erschrocken zog der Kellner sie zurück.

»Du liebe Güte, verzeih! Hab ich dich getroffen?«

Ich schluckte die Erwiderung herunter und hoffte, ein freundliches Kopfschütteln meinerseits würde es tun.

Es tat es. Der Kellner eilte in den Schankraum zurück, um die heranströmenden Leute in Empfang zu nehmen. An letzte Hoffnungen geklammert, passte ich mich dem Rhythmus seiner Schritte an, den Blick auf die Herrentoilette gerichtet.

Nichts. Adlard gab kein Geräusch von sich.

»Urian?«

Ich zuckte zusammen, als ich die Frauenstimme im Schankraum hörte. Sie rief zweimal, und beim zweiten Mal klang sie schon wesentlich näher. Adlard hatte sie bestimmt auch gehört.

Ich hätte einfach weitergehen und an ihr vorbeischlendern können. Teilnahmslos. Zufällig.

Mein Blick flog zu der Tür zurück, die der Kellner nicht abgesperrt hatte. Kurzentschlossen zog ich sie einen Spalt weit auf und schlüpfte hinein. Ich war gerade aus dem Flur, als sich von beiden Seiten Schritte näherten, hastige aus der Richtung des Schankraums und bedächtige von der Herrentoilette her. Sie trafen sich nicht weit von meinem Versteck entfernt. Ich atmete flach in den Bauch.

»Du bist weiß wie eine Wand«, wisperte die Frau bestürzt. Der Stimme nach zu urteilen, war sie ungefähr im selben Alter wie Adlard, aber sicher sein konnte ich nicht. Wie gerne hätte ich Röntgenaugen gehabt!

Adlard antwortete nicht.

»Ich hatte fast befürchtet, du wärst gegangen«, sagte die Frau.

Da ich mich bei den beiden nur aufs Lauschen verlassen konnte, nahm ich zeitgleich mein Versteck näher in Augenschein. Der Raum lag im Dämmerlicht; Helligkeit drang nur über ein schmales, hohes Fenster von den Laternen und Lichterketten herein, die über der Straße und in den Hinterhöfen der teilnehmenden Gaststätten aufgehängt worden waren.

»Wir hatten doch eine Abmachung«, erwiderte Adlard.

»Man weiß nie, ob du nicht etwas Interessanteres findest«, gab sie zurück. Ich glaubte, dass sie zu scherzen versuchte.

Adlard reagierte überraschend kühl. »Habe ich denn etwas Interessantes verpasst?«

Rechts neben mir standen zwei Tische für je vielleicht vier Personen Platte an Platte übereinandergestapelt, umringt von ebenfalls ineinander gestellten Stühlen. Die Wände waren kahl bis auf eine hölzerne Lade, die mir gegenüber an der Wand hing. Sie war bestückt mit abschließbaren Schubladen, in deren Fronten Schlitze gesägt worden waren. Ein Sparfach, um Geld für spätere Zeiten zu hinterlegen. Kurz fragte ich mich, ob die hiesigen Angestellten es wohl mitbenutzten, dann schob ich den Gedanken beiseite und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zwischen Adlard und der Frau.

»Für dich wurde etwas abgegeben«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt – war sie unglücklich?

Ich hörte, wie sich jemand in Bewegung setzte, und nahm an, dass es der wortkarge Adlard war. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als mir bewusst wurde, dass seine Schritte nicht leiser wurden.

Sondern näher kamen.

»Urian, überdenk das noch einmal«, sagte die Frau. »Noch kannst du die Anfrage zurückziehen.«

Aber die Schritte blieben nicht stehen. Adlard hatte keine Muße, seine Entscheidung zu überdenken – worin auch immer die bestehen mochte.

Mein Blick heftete sich auf die Lade an der Wand. Plötzlich wusste ich, dass sie kein Sparfach sein konnte, und ich wusste auch, weshalb der Kellner hier gewesen war.

Über mein Glück gefror mir das Blut in den Adern.

Mir blieb nicht viel Zeit. So leise wie möglich, schob ich eine Stuhlreihe beiseite und zwängte mich durch die Lücke unter den Tisch. Ich rutschte bis an die Wand zurück, damit kein Licht auf mich fiel, und verhielt mich mucksmäuschenstill.

»Urian – sehe ich dich gleich?« Die Stimme der jungen Frau klang gehetzt.

Vor der Tür stoppten die Schritte. Ich wartete mindestens genauso gespannt auf die Antwort wie Adlards Gesprächspartnerin.

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte er mit dünner Stimme.

Ich hatte fast bildlich vor Augen, wie die Silhouette der Frau traurig nickte und kehrtmachte. Im nächsten Augenblick hörte ich, dass sie sich tatsächlich entfernte.

Mir blieben noch ein paar Sekunden, ehe Adlard den Raum betrat, und ich nutzte sie in dem Versuch, mich zu beruhigen. In meinem Mund sammelte sich Spucke, aber ich traute mich nicht, zu schlucken.

Als Adlard eintrat, hielt ich unwillkürlich den Atem an. Offenbar hatte er sich auf dem Flur gesammelt, denn er ging ohne Umschweife und gemessenen Schrittes auf die Lade zu. Die Tischplatte und die Stühle schränkten mein Sichtfeld erheblich ein, sodass ich mir fast den Hals ausrenkte, um zumindest bis zu Adlards Oberkörper sehen zu können. Ohne lange vor der Lade zu verweilen, zog er einen winzigen Schlüssel aus seiner Hosentasche, schloss zielgerichtet eines der Fächer auf und griff hinein. Er hatte es nicht eilig, aber seine Handlungen waren bestimmt. Nachdem er das Fach wieder verschlossen hatte, stand er völlig reglos. Was auch immer er in Händen hielt, es fesselte seine Aufmerksamkeit.

Werd’ fertig, dachte ich. Allmählich ging mir die Luft aus. Ich kämpfte gegen die Versuchung an, für eine bessere Sicht ein Stück vorwärts zu rutschen. Augenblicklich ging mein Puls an die Decke und ich schüttelte mich unter Gänsehaut. Um ein Haar hätte ich geräuschvoll die Luft eingesogen.

Vor der Lade erschauerte Adlard. Er streckte den Arm von sich und schob den Jackenärmel zurück. Die Haare auf seinen Unterarmen hatten sich aufgestellt. Er wandte sich um, bis seine Füße lotrecht in meine Richtung zeigten. Ich hatte das Gefühl, sein Blick ginge direkt durch die Tischplatte hindurch.

Meine Hände hatten sich wie eisige Zangen um meine Unterarme geschlossen. Ich presste die Lippen aufeinander. Irgendwie gelang es mir, in Zeitlupe eine Hand aus ihrer Verkrampfung zu lösen. In meinen Jackentaschen fingerte ich nach irgendeiner Münze, damit ich Adlard zumindest eine unglaubwürdige, aber charmante Notlüge auftischen konnte, wenn er mich gleich unter dem Tisch hervorzerren würde.

Doch Adlard machte keine Anstalten, sich meinem Versteck überhaupt zu nähern. Nach einigen Sekunden banger Stille meinerseits wandte er sich ab und verließ den Raum. Die Münze umklammert, wartete ich unter dem Tisch, bis seine Schritte längst in den vielstimmigen Gesprächen der Gäste draußen untergegangen waren.

Ich ließ mir Zeit dabei, mich zwischen den Stühlen hervorzuschälen. Bevor ich auch nur einen Schritt tat, streckte ich mich ausgiebig. Wegen meiner verkrampften Haltung schmerzten mir die Glieder, als hätte ich Stunden dort unten zugebracht. Schlagartig wurde mir bewusst, dass all dies nur wenige Minuten gedauert haben konnte.

Sobald ich wieder einigermaßen gerade stehen konnte, schlüpfte ich zur Tür. Ich wollte nicht zufällig noch jemandem über den Weg laufen, dem man in diesem Raum etwas hinterlegt hatte.

Vorsichtig schob ich die Tür einen Spalt weit auf und wollte gerade in den Flur hinausspähen, als sie mir plötzlich mit einem Affenzahn wieder entgegenkam. Ich zuckte zurück, aber zu spät. Das Holz traf mich mitten ins Gesicht. In meiner Nasenwurzel explodierte der alte Schmerz und ich sackte mit einem langgezogenen Heuler zu Boden, den Kopf in den Armen verborgen.

Draußen auf dem Flur entfernten sich schnelle Schritte.

»Adlard … du Scheißkerl«, fauchte ich in meine Handflächen. Blut rann mir aus der Nase und zwischen den Fingern hindurch. Er war zurückgeschlichen, um seinen heimlichen Beobachter an der Tür zu überrumpeln, keine Frage!

Mit einem Mal machte mein Herz einen Satz. Adlard wusste, dass es einen Zeugen gab. Aber er hatte nicht einmal versucht, mich auszuschalten – also ging es ihm nur um einen Vorsprung. Das hieß, er würde bald handeln.

Und ich musste schneller sein!

Ich raste zur Herrentoilette zurück, zerrte aus dem Papierspender eine Reihe Tücher, die ich mir unter die Nase hielt und als Vorrat in die Taschen stopfte, und hastete auf den Schankraum zu.

Auf halbem Wege kam mir Matt entgegen. Bei meinem Anblick zuckte er fluchend zurück.

»Ich komm klar«, näselte ich schroff, bevor er Fragen stellen konnte.

Matt schaltete unglaublich schnell. »Der Kerl ist eben ganz lässig nach draußen gegangen«, erklärte er und ließ mich aus eigener Kraft an sich vorüber in den Schankraum stampfen.

Solweig wartete immer noch an dem Tisch, an dem ich sie zurückgelassen hatte. Als sie Matt und mich erblickte, lächelte sie – als sie meine Verfassung erkannte, riss sie entsetzt die Augen auf. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und wir bahnten uns durch die Menge einen Weg aufeinander zu.

Kaum dass ich sie erreicht hatte, streckte sie die Hände aus, um meine Nase zu untersuchen. »War er das?«

Ich schüttelte den Kopf. Für Erklärungen blieb keine Zeit. Ich spitzte die Ohren, in der Hoffnung, die Stimme von Adlards früherer Gesprächspartnerin noch einmal zu hören, doch ich wurde enttäuscht.

»Wen suchst du?«, fragte Matt. »Ich sage doch, er ist weg! Weißt du wenigstens, wie er heißt? Damit du ihn anzeigen kannst, meine ich.«

»Nein«, fiel ich ihm ins Wort. »Es war anders, ich …«

Mit meiner verstopften Nase musste ich im Sprechen innehalten, um Luft zu holen.

»Mir ist gerade was Wichtiges klargeworden. Aber das …« Ich stockte und setzte neu an: »Ich muss sofort nach Hause.«

Solweig fasste nach meinem Jackenärmel. »Was denn?«

»Später«, stieß ich hervor und machte mich los. Bevor einer von ihnen mich aufhalten konnte, hatte ich sie schon zwischen den Feiernden stehen gelassen.

»Ich glaub's nicht«, hörte ich Matt hinter mir stöhnen. Ich wandte mich noch einmal um. Matt hatte die Arme missmutig vor der Brust verschränkt. Solweig war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen.

»Ich melde mich bei euch«, rief ich zurück, was Solweig mit einem verstörten Nicken und Matt mit einem entnervten Kopfschütteln quittierten. Sie folgten mir beide nicht; sie wussten, dass ich nicht auf sie gewartet hätte.

Hals über Kopf stürzte ich auf die Straße hinaus. Mein Blick suchte die Gegend ab, fand aber keinen Adlard. Matt hatte zwar gesagt, er wäre beim Hinausgehen nicht weiter aufgefallen, doch nachdem er das Deutsche Viertel verlassen hatte, hatte er es sicherlich eilig gehabt.
 

Wegen des regen Nachtverkehrs zu Silvester hatte die Bahngemeinschaft in der Innenstadt zusätzliche Züge eingesetzt. Mir kam das sehr zugute – Adlard, da er wie ich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzte, allerdings auch. Für meine blutige Nase fing ich mir ein paar mitleidige und noch mehr abfällige Blicke ein, die ich ignorierte. In den beiden U-Bahnen, die ich für meinen Weg nach Hause benutzen musste, trat ich neben den Waggontüren von einem Bein aufs andere und sprintete, sobald der Zug hielt, so schnell ich konnte weiter. Als wir die Kensington High Street erreichten, stürmte ich über die Rolltreppe an den übrigen Passagieren vorbei nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und rannte beinahe ein Mädchen über den Haufen, das sich bei seinen Freunden eingehakt hatte und bedenklich schwankte. Die High Street war noch immer von zahlreichen Automobilen in Beschlag genommen, weil die Innenstadt für das große Feuerwerk abgesperrt worden war, doch sobald ich in die abzweigenden Seitenstraßen einbog, herrschte Ruhe. Jetzt, mitten in der Nacht, mied ich den vereisten Bürgersteig und rannte stattdessen auf der Straße.

Schnaufend bog ich in unsere Einfahrt ein. An der Haustür verfehlte ich das Schlüsselloch beim ersten Versuch und musste mich zur Ruhe zwingen. In der Diele übersah ich die Sauberkeitsregeln des Hausmeisters großzügig und schlitterte die wenigen Stufen zu unserer Wohnung hinauf. Auf dem Treppenabsatz atmete ich tief durch; gleich würde ich Luft und Spucke brauchen.

Meine Hände umklammerten den Schlüssel noch fester. Doch just in dem Moment, da ich unsere Wohnungstür aufschließen wollte, wurde sie von innen aufgezogen und ich fand mich Auge in Auge mit Urian Adlard.

Ich erstarrte auf der Schwelle. Den Blick in seinen gebohrt, spürte ich kaum das Zittern, das mich überlief.

Bei meinem Anblick stahl sich ein Ausdruck der Erkenntnis auf Adlards Gesicht. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln. Ohne ein Wort schob er sich an mir vorbei und huschte durchs Treppenhaus nach draußen.

Einen Moment lang starrte ich wie hypnotisiert hinter ihm her. Dann gewann ich meine Klarheit zurück. Ich warf die Wohnungstür hinter mir zu und stolperte durch den Flur und das Wohnzimmer auf die hell erleuchtete Küche zu.

Mum saß allein am Esstisch, in einen alten Pullover gehüllt und den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Als sie mich heranhasten hörte, wandte sie sich halb um.

»Urian?«

Mir war, als hätte ich einen Schlag in den Magen erhalten.

»Nein«, keuchte ich bitter.

Beim Klang meiner Stimme wirbelte sie ganz zu mir herum. Stimmlos formten ihre Lippen meinen Namen. Zwei Sekunden lang starrte sie mich einfach an, eine davon verdutzt über mein Erscheinen, die andere bestürzt über meinen Zustand.

Dann, als hätte sie jemand angestoßen, sprang sie ruckartig von ihrem Stuhl auf und flog mir entgegen. Ihre Finger waren steif und zitterten, als sie beruhigend über meine Wange zu streichen versuchten. Ich fasste ihre Hand und führte sie behutsam von meinem Gesicht weg.

»Hat Adlard dir etwas getan?«, stieß ich hervor.

»Was ist mit dir passiert?«, platzte sie im selben Moment heraus.

Zuerst wollte ich darauf beharren, dass es doch gefälligst an der Zeit war, meine Fragen zu beantworten, doch nach der ersten Silbe brach ich ab.

»Mum, ich bin okay«, sagte ich. »Das war er … also, er wusste nicht, dass ich da war.«

»Dass du wo warst?«, fragte sie verdutzt.

»In Camden. Silvester feiern!« Ich stockte. So wurde das nichts.

In Mums Gesicht flackerte eine Spur von Begreifen auf. Nichts überstürzen, ermahnte ich mich und klammerte mich stattdessen an die Idee, dass Mum die ganze Geschichte vielleicht aufklären konnte. Aber dazu musste ich anders vorgehen. Also erzählte ich ihr, was sich zugetragen hatte – von dem Moment an, da Adlard die Kneipe betreten hatte.

»Das Deutsche Viertel?«, wiederholte Mum, als ich fertig war. Sie wirkte alarmiert. Vielleicht hatte sie tatsächlich ihren Teil beizusteuern?

»Mum, hat er dir etwas getan?«, fragte ich noch einmal.

Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

»Er ist gekommen, um mich zu warnen.«

Ich hatte das Gefühl, in Eiswasser zu fallen.

Wortlos starrte ich sie an – eine einzige Anklage, und die wollte ich sie spüren lassen. Mit jedem Augenaufschlag wurden Mums Augen glasiger und ihre Miene härter. Sie kämpfte mit sich. Wie lange wir uns so gegenüberstanden, weiß ich nicht.

»Charlotte?«

Brecas Stimme war kaum mehr als ein Ächzen.

Wann war er dazugekommen?

Ich warf mich herum und sah ihn gekrümmt im Türrahmen stehen, den Arm stützend gegen das Holz gestemmt. Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Die Finger seiner freien Hand umschlossen zitternd eine glänzende Kugel von der Größe einer Murmel.

Fassungslos stammelte ich seinen Namen.

»Ich glaube, wir dürfen nicht länger warten«, brachte er hervor. Sein erschöpfter Blick fixierte Mum, die beschämt den Kopf senkte.

»Du musst die Karten auf den Tisch legen.«

LESTARD (I): »Ich für meinen Teil fühle mich schon sehr ausgiebig geprellt!«

Unter dem klaren Himmel war die Nacht bitterkalt geworden.

Die Hand am Türknauf erstarrt, stand ich auf der obersten Treppenstufe. Raureif hatte das Metall überzogen. Die Kälte brannte mir auf der Haut, aber ich war unfähig, die Hand wegzuziehen. Die Laterne an der Hauswand war längst erloschen und die Einfahrt in eine vom Schnee durchbrochene, schummrige Dunkelheit getaucht. Zahlreiche Spuren hatten den Weg zum Haus zerwühlt, seit ich heute Vormittag gegangen war. Adlards. Meine. Die der Congregatiobeamten. Letztlich auch die meiner Mutter. Unschlüssig betrachtete ich Mums Silhouette, die sich scharf gegen den weißen Grund abzeichnete. Sie stand halb von mir abgewandt am Ende des Grundstücks und blickte die Straße hinunter. Das Ende ihrer Zigarette glomm bei jedem Zug auf und tauchte ihre Nasenspitze in ein rotes Leuchten. Der dünne Rauchfaden ringelte sich um ihren Kopf. Aus der Ferne strich der vielstimmige Kanon der Silvesterfeiern zu uns herüber.

Breca war in der Wohnung zurückgeblieben. Mum hatte ihn bearbeiten müssen, damit er sich zum Ausruhen an den Esstisch setzte und auf uns wartete, bevor sie mit mir vor die Tür gegangen war. Das Memorium, das er bei sich gehabt hatte, war bestimmt das für Lestard gewesen. Wie lange hatte er wohl dafür gebraucht, es zu füllen? Falls das überhaupt ein passender Ausdruck war. Hatte er schon angefangen, als Belzac und Park noch dagewesen waren? Die Erinnerung an den trüben Blick meines Großvaters ließ mich erschauern. Bei Park am Nachmittag hatte es doch so einfach ausgesehen!

Bisher hatte ich geschwiegen, in der Hoffnung, Mum würde das Wort ergreifen. Doch sie schien sich im Echo der Feste verloren zu haben. Ich wartete, bis ich den Zigarettenstummel in den Schnee fallen und unter dem Druck von Mums Schuhspitze verlöschen sah, und stapfte zu ihr hinüber.

»Weshalb mussten wir nach draußen gehen?«, fragte ich, noch bevor ich sie erreicht hatte.

Beim Klang meiner Stimme erwachte Mum mit einem Frösteln aus ihren Gedanken. Als sie die Jacke enger um ihre Schultern zog, tat es mir fast Leid, sie angesprochen zu haben, denn sie schüttelte sich bestimmt nicht der Kälte wegen.

»Du warst keine Viertelstunde weg, da hat Belzacs Garde angefangen, unsere Wohnung mit Kameras und Abhörgeräten auszustatten. Falls Atlantis noch einmal Leute vorbeischicken sollte.«

»Die Garde?«, echote ich. Dann hatten sie sich die ganze Zeit über in der Nähe unseres Hauses aufgehalten.

»Lord Belzac will auf Nummer Sicher gehen«, sagte Mum ironisch. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Später haben Breca und ich sechs Wanzen gefunden, die zu erwähnen er offenbar vergessen hatte.«

Ich sog zischend den Atem ein. Reflexartig griff ich mir an die eigene Jacke und tastete sie hektisch ab. Dann fiel mir wieder ein, dass ich sie während meines gesamten Aufenthalts im Beisein der Congregatiobeamten nicht ausgezogen hatte. Außerdem hatten weder der Sekretär, noch Park oder der Gardist in ihrem Schlepptau mich nach dem Händeschütteln wieder berührt.

Ich ließ die Arme sinken.

»Sicherlich gibt es noch mehr davon«, fügte Mum mit fester Stimme hinzu. »Die Garde hört alles, was in unserer Wohnung gesprochen wird. Und sie verfolgt jede unserer Bewegungen.«

»Aber du hast doch vorhin noch mit Adlard geredet«, warf ich ein, bemerkte meinen Fehltritt und korrigierte mich: »Mr Adlard.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Urian war vielleicht für fünf Minuten hier. Wir haben kein Wort darüber verloren.«

Natürlich nicht, weil du ihn bestimmt sofort gewarnt hast.

Ich vergrub die Hände in den Jackentaschen, damit Mum nicht sah, wie sie sich zu Fäusten ballten. Ob Adlard deshalb so schnell wieder aufgebrochen war? Ich ächzte bloß. Immerhin hieß das, ich hatte gut in der Zeit gelegen. Ein schwacher Trost.

Was Belzac wohl von meinem überraschenden Auftritt in der Küche halten wird?, schoss es mir durch den Kopf.

»Das heißt, Mr Park und der Sekretär haben alles mitbekommen, was ich eben gesagt habe?«

Mum zuckte die Achseln. »Man wird es an sie weiterleiten. Das lässt sich nicht ändern.«

Ich zögerte kurz. »Denkst du nicht, es wäre schlauer, wieder rein zu gehen?«, schlug ich dann vor.

Mums Blick ließ mich schlucken. Sie stieß einen Laut aus, von dem ich nicht sagen konnte, ob er ein Lachen oder ein Knurren darstellen sollte.

»Ich habe die Sender zerstört, die wir entdeckt haben«, erklärte sie. »Ihnen ist klar, dass wir Bescheid wissen. Ihr heutiger Besuch wird nicht der letzte gewesen sein, bevor Lestards Frist abgelaufen ist. Sie sollen wissen, dass wir uns nicht zu ihrem Spielball machen lassen.«

»Also, ich für meinen Teil fühle mich schon sehr ausgiebig geprellt!«, gab ich barsch zurück.

Mums Blick bohrte sich in meinen. Innerlich wappnete ich mich für den Gegenschuss.

»Was du hören willst, lässt sich nicht eben zwischen Tür und Angel sagen«, erwiderte sie ruhig. Sie nickte zu unserer Wohnung hinüber, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Schon gar nicht dort drinnen.«

Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen. Irgendetwas war mit ihr passiert; ich hatte das Gefühl, sie sähe die Dinge plötzlich viel klarer.

»Lestard ist für die Congregatio ein rotes Tuch«, fuhr sie fort. »Ich bin in ein paar Dinge eingeweiht, die nicht öffentlich breitgetreten wurden. Wenn wir gleich wieder hineingehen, erzähle ich dir alles, was ich guten Gewissens weitergeben kann.«

Ich meinte, von einer frostigen Böe erfasst zu werden, und zog den Kopf ein. Die ganze Zeit über hatte ich doch nichts Anderes gewollt. Aber das Ausmaß ihrer Worte traf mich völlig unvorbereitet.

»Dann … gehen wir«, sagte ich kleinlaut. »Oder?«

Ich wandte mich ab, doch sie fasste nach meiner Schulter und ich blieb stehen, ohne dass sie wirklich zupacken musste.

»Eins noch.«

Ich wartete angespannt. Die Worte kamen langsam über ihre Lippen, als kostete sie jedes einzelne große Überwindung.

»Du weißt, ich hatte Urian gebeten, sich für mich umzuhören.«

Ich nickte bloß, damit sie fortfuhr.

»Lestard hat das herausbekommen. Er hat für Urian eine Nachricht hinterlegen lassen, damit er sie mir überbringt.«

Ich spürte fast, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich.

»Heißt das, er war im Deutschen Viertel?«, stieß ich hervor. Ich glaubte, dass sich der Boden unter mir zu drehen begann. War Lestard tatsächlich in Camden gewesen? Nur wenige Meter von mir entfernt im Schankraum des Lokals, während ich Adlard hinterhergeschlichen war?

»Zu Silvester auf der Straße herumzulaufen, ist für ihn viel zu riskant. Die Congregatio hat überall ihre Späher.« Mum ließ ein verächtliches Zischen hören und wandte sich ab. »Im Deutschen Viertel treiben sich genug Leute herum, die ihre Finger im Spiel haben könnten.«

Ich glaube bis heute, dass sie sich nicht darüber im Klaren war, dass sie ihre letzten Worte laut gesagt hatte. Vor meinem geistigen Auge blitzten einzelne Gesichter aus der Menge wieder auf. Jeder von ihnen hätte Atlantiner sein können. Ich musste an die Frau denken, die auf dem Gang mit Adlard gesprochen hatte.

»Deshalb warst du so erschrocken, als ich dir gesagt habe, wo wir waren«, murmelte ich.

Mum zuckte zusammen, fasste mich an beiden Schultern und drehte mich ganz zu sich herum.

»Versprich mir etwas«, verlangte sie.

»Noch etwas?«

Ein Blick auf ihr verhärmtes Gesicht sagte mir, dass ich mir diesen Kommentar besser verkniffen hätte.

»Geh da nicht noch einmal hin.«

Die Forderung kam überraschend direkt. Eigentlich hatte ich eine Rüge erwartet.

Ich erwiderte ihren forschenden Blick.

»Wenn ich das vorher gewusst hätte …«, setzte ich an.

Mum lachte spöttisch auf – ein Laut, der mich auf der Stelle verstummen ließ.

»Versuch doch nicht, mir weiszumachen, dass du das Deutsche Viertel dann gemieden hättest«, sagte sie trocken. Ihre Hände ließen von meinen Schultern ab und legten sich auf meine Wangen. Ich schaute in ihr Gesicht wie durch einen Tunnelblick. Ihre eisigen Finger strichen zärtlich über meine Schläfen. Plötzlich wurde mir klar, wie sehr ich sie mit meinem eigenmächtigen Handeln enttäuscht haben musste.

»Versprich es mir«, bat sie. »Und halte dein Versprechen.«

Ich senkte den Kopf und nickte abermals.

Sie beugte sich zu mir vor. Ihre Stirn berührte meine. Ihr Atem streifte mein Gesicht.

»Ich will dich nicht verlieren«, sagte sie plötzlich.

Ich stutzte und zog mich zurück. Mums verunsicherter Blick suchte meinen. Sie meinte nicht nur die Gefahr, die von Lestard oder Belzac ausgehen mochte. Sie meinte das, was die letzten zwei Tage aus uns gemacht hatten.

Ich legte meine Hände auf ihre und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Mum – warum solltest du?«

Sie erwiderte mein Lächeln traurig.

»Wenn du mich so charmant anlügst, siehst du genauso aus wie dein Vater«, murmelte sie entrückt.

Unwillkürlich verkrampfte ich mich. Mum nahm dies zum Zeichen, dass sie mich loslassen sollte. Verstört ob ihrer eigenen Worte wandte sie sich ab, die Arme vor der Brust verschränkt.

Ich betrachtete ihren Rücken. Sie hatte meinen Vater und mich nur selten in einem Atemzug genannt. Ich war mir nicht sicher, ob es mich wirklich störte. Es war bloß ungewohnt.

Meine Gedanken kehrten zurück zu dem Ich, das nur vierundzwanzig Stunden zuvor in einer Nachtbahn gesessen hatte, überrumpelt von nie gekannten Ängsten. Plötzlich erschien es mir viel jünger. Mit dem Unterschied, dass die Angst immer noch da war.

Ich trat an Mum heran, bis meine Schulter ihren Arm berührte.

»Mein Vater«, sagte ich bedächtig. »Hat es etwas mit ihm zu tun, dass Lestard den Schlüssel von Breca haben wollte?«

Oder das Memorium, wie mein Großvater präzisiert hatte.

Ich sah, wie Mum die Lippen zusammenpresste.

Volltreffer.

»Darf ich es wissen?«, fragte ich. Damit wollte ich es ihr einfach machen, aber sie versteifte sich nur noch mehr. Ihre Antwort ließ auf sich warten, und ich befürchtete schon fast, sie würde überhaupt nichts dazu sagen, als sie endlich sprach.

»Dein Vater hatte etwas übrig … für Atlantis.«

Die Worte kamen so leise über ihre Lippen, dass ich sie kaum verstehen konnte.

»Ich habe nach seinem Tod ein Schweigegelübde leisten müssen«, sagte sie. »Seitdem existiert er in der Akte der Congregatio nicht mehr. Sie haben alle Daten vernichtet.«

Sie drehte sich so abrupt zu mir um, dass ich zurückwich.

»Sie haben ihn einfach so ausgelöscht. Es hat ihn nie gegeben, Yuriy.«
 

Danach sagten wir beide nichts mehr. Ich weiß nicht, wie lange wir noch da draußen in der Kälte standen und gemeinsam zu verdauen versuchten, was Mum mir offenbart hatte.

Als wir in die Wohnung zurückkehrten, wartete Breca in der Küchentür. Er schien wieder recht gut beieinander zu sein, doch ein Blick in unsere Gesichter genügte, damit er Bescheid wusste, und seine Statur sank erneut in sich zusammen.

Ich wandte den Blick ab. Warum konnten sie sich nicht einfach ein bisschen besser zusammenreißen? Ich schloss meine Zimmertür hinter mir ab, und sie ließen mich in Frieden.

Meine Finger kramten fahrig das Handy aus meiner Hosentasche und stöpselten die Kopfhörer ein. In meiner Kleidung legte ich mich aufs Bett und ließ die Playlist durchlaufen. Ich hörte, wie Mum in irgendeinem Zimmer lauthals anfing zu schluchzen, und drehte die Musik bis zum Anschlag auf. Aber das Echo ihrer Stimme konnte der Bass nicht aus meinen Gedanken hämmern.
 

Ich wusste, dass ich gleich aufwachen würde.

Irgendein unangenehmes Gefühl hatte meinen Körper aufhorchen lassen. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber es wurde immer aufdringlicher. Irgendwann begriff ich, dass ich nicht durch die Nase atmen konnte, und wischte mit der Hand darüber. Nur nicht vollends wachwerden, nahm ich mir vor. Ich hatte zu lange gebraucht, um endlich Ruhe zu finden.

Da ertasteten meine Finger die Nässe.

Warme Nässe.

Nein!

Schlagartig saß ich aufrecht im Bett. Mein Kreislauf dankte es mir, indem er einen Schmerz durch meinen Schädel jagte, als hätte mir jemand mit einem schweren Gegenstand eins übergebraten. Meine Augenlider verkrampften und ich sackte stöhnend aufs Kissen zurück. Meine Wange berührte feuchten Stoff, während ich versuchte, mit den Händen das Blutrinnsal aufzuhalten, das mir aus der Nase floss.

Das darf doch nicht wahr sein, durchfuhr es mich. Den Satz sagte ich mir gleich mehrmals laut vor. Manchmal soll es ja helfen, die Angst zu ersticken, wenn man sich Verständnislosigkeit einredet.

Als ich die Augen wieder öffnen konnte, knipste ich das Nachtlicht an und schälte mich aus der Bettdecke. Wo ich mit dem Gesicht auf dem Kissen gelegen hatte, war der Bezug blutdurchnässt. Ich schwindelte bei dem Anblick. Fantastische Saugwirkung. Der Federkern war restlos hinüber.

Wie sollte ich Mum das erklären?

Apropos …

Zwischen Kinn und Handkante hatte sich das Rinnsal ein Schlupfloch gesucht und tropfte nun auch auf das Laken und mein Shirt. Ich stand schwankend auf und taumelte auf die Zimmertür zu, so schnell und leise wie möglich. Als ich gegen die verschlossene Tür stieß, war ich für einen Moment verwirrt, bis mir wieder einfiel, dass ich sie hinter mir abgesperrt hatte. Den dünnen Schlüsselschaft konnte ich kaum greifen, als ich aufschloss. Auf der Schwelle knickten meine Beine zum ersten Mal ein. Ich unterdrückte den Impuls, die verschmierten Hände auch noch nach dem weißen Türrahmen auszustrecken. Stattdessen fing meine Schulter den Schwung ab, sodass ich vom Drall ungelenk gegen die Flurwand taumelte. Mein Gehirn fühlte sich an, als hätte es sich überschlagen, und meine Sicht verschwamm.

Ich wartete ein paar Sekunden, bis die Schwäche nachgelassen hatte. In der Zwischenzeit versuchte ich das kitzelnde Gefühl zu ignorieren, mit dem mir das Blut zwischen den Fingern hindurch in den Ärmel floss. Allein die Vorstellung, wie es dort hineinlief … Mein Körper schlotterte unter Schauerkrämpfen. Ich redete mir ein, sie würden einzig und allein darauf gründen, dass ich mein eigenes Blut nicht sehen könnte.

Sei nicht so ein Weichei!

Ich atmete ein paar Male tief durch den Mund und sondierte die Lage. Bis zum Badezimmer musste ich den halben Flur durchqueren. Schräg gegenüber von mir war die Garderobe an der Wand angebracht. Ich fasste meine Jacke ins Auge – ich musste zuerst an die Kapseln kommen. Unbedingt.

Ich machte zwei schnelle Schritte auf die Garderobe zu. Hinter meinen Schläfen pulsierte der Schmerz, sobald ich mich bewegte. Beim dritten Schritt versagten mir die Beine den Dienst. Ich griff noch im Sturz nach meiner Jacke und zog den Kopf ein, um ihn vor dem Aufprall zu schützen.

Doch der blieb aus.

Als meine Sinne zurückkehrten, lag ich lang ausgestreckt auf den Fliesen. An der Wange spürte ich die Wärme der Fußbodenheizung. In meinem Ellenbogen und meinem Unterkiefer pochte es schmerzhaft; ich musste sie mir angeschlagen haben. Meine Hand hatte sich in die Jacke gekrallt, die mich halb verdeckte. Über mir hörte ich, wie der Kleiderbügel scheppernd gegen das Metall der Garderobenstange schlug.

»Verdammt«, keuchte ich.

Im selben Moment sah ich unter den Türen von Mums und Brecas Zimmern hindurch zwei schmale Lichtstreifen in den Flur sickern.

Ich wühlte die Jacke von meinem Rücken und stemmte mich auf Knie und Hände hoch, gerade bevor Mum aus ihrem Zimmer stürmte. Nur einen Sekundenbruchteil später stand auch Breca im Flur. Als sie dort vor den Lichtkegeln aufragten, die Augen im Schreck aufgerissen, glomm das irisierende Leuchten blank gegen den Schatten ihrer Augenhöhlen an. Ein unterdrückter Fluch lag auf Mums Lippen, als sie die ganze Situation erkannte.

Ich wandte den Blick ab.

»Mum ... es ist nichts.«

Ich stammelte den Satz in Bröckchen hervor. Noch bevor ich fertig war, hatte sie mich erreicht und zog mich behutsam auf die Beine, mit einer Leichtigkeit, die über meinen Verstand ging. Breca schaltete das Deckenlicht ein, damit sie mich besser sehen konnten. Nach einer schnellen Einschätzung der Lage stürzte er zum Bad, um einen Lappen oder Papier zu holen. Irgendetwas, das die Blutung stillen würde.

Mum trug mich eher hinter ihm her, als dass ich selbst lief. Woher sie die Kraft nahm, konnte ich mir nicht erklären. Genauso wenig, wie ich verhindern konnte, dass mein Kopf auf ihre Schulter sank.

»Entschuldige«, murmelte ich.

Mums Brustkorb hob sich in einem rasselnden Atemzug.

Ich unternahm einen weiteren erfolglosen Versuch, die letzten Schritte zum Badezimmer aus eigener Kraft zu gehen.

Mum zog mich wieder an sich. Ich würde nicht umfallen, dafür sorgte sie.

»Ich blute dich voll«, protestierte ich schwächlich.

»Es gibt Waschmittel«, gab sie zurück. Ihre Stimme zitterte. Sie würde sich nie verzeihen, dass es mit mir soweit gekommen war, bis sie etwas gemerkt hatte.

»Ich habe versucht, es vor dir geheim zu halten«, krächzte ich. »Hab ich doch gut hinbekommen.«

Mum schluckte. Die Bemerkung hatte eindeutig den falschen Nerv getroffen.

»Das sollte ein Scherz –«

Mitten in der Erläuterung brach ich ab. Was auch immer ich sagte, würde es nur noch schlimmer machen.

An der Tür nahm Breca mich ihr ab und setzte mich auf den Toilettendeckel, um mir das Gesicht zu säubern.

»Halt dir die Nase zu«, wies er mich an. Der gefasste Klang seiner Stimme beruhigte mich augenblicklich. »Und drück den drauf.«

Er reichte mir einen eiskalten, nassen Lappen. Ich tat wie geheißen, während er mir einen zweiten Lappen in den Nacken legte. Mum stand in der offenen Tür, die rechte Hand vor den Mund gepresst, die linke umklammerte den anderen Ellenbogen. Ich wünschte, ich hätte ihren glasigen Blick ausblenden können.

»Das Nasenbluten ist das Wenigste, das hört gleich wieder auf«, sagte Breca. »Hast du Medizin?«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass nicht Mum gemeint war, sondern ich.

»In meiner Jackentasche«, näselte ich.

»Du wusstest es?« Mum verschluckte sich fast an ihrer eigenen Stimme. Ihr Blick ruhte auf Breca, niedergeschmettert.

Mein Großvater schaute sie überhaupt nicht an. Seine Miene hätte gar nicht barmherzig genug sein können, um Mum ihre Last zu erleichtern. Ich erinnerte mich, dass sie vor Jahren schon einmal so vor ihm gestanden hatte. Damals war Sehnsucht nach meinem Vater über sie gekommen und sie war tagelang verschwunden, ohne eine Nachricht. Bei ihrer Rückkehr hatte sie genauso elend ausgesehen wie jetzt hier im Badezimmer. Breca hatte nichts gesagt, als sie plötzlich wieder vor ihm gestanden hatte. Er hatte sie einfach eintreten lassen, die Wohnungstür geschlossen und Mum umarmt.

Diesmal hatte er beide Arme in Gebrauch.

Mir wurde speiübel.

»Charlotte, bring mir bitte die Tabletten«, ordnete mein Großvater an, während er mich mit der freien Hand im Sitzen hielt. Als Mum auf den Flur hinausstürzte, warf er ihr einen kurzen Blick nach. Sie sinnvoll zu beschäftigen, war alles, was er im Moment für sie tun konnte. Er würde ihr später ins Gewissen reden. Jetzt stand ich für ihn an erster Stelle.

Mum war unglaublich flink.

Breca streckte die Hand aus, als sie mit den zwei verbliebenen Kapseln zurückkehrte, doch sie zögerte.

»Yuriy.«

Mein Name kam fast stimmlos.

Mum schüttelte sachte die Faust. Die darin verborgenen Kapseln schlugen mit einem leisen Klacken gegeneinander. Wäre Mums Blick aus Fleisch und Blut gewesen, hätte er mich in den Boden stampfen können.

»Wo hast du die her?«

Ich schluckte und schwieg.

»Zeig sie mir bitte«, sagte Breca zu Mum.

Ihre Miene stand unentschlossen zwischen Argwohn und Fassungslosigkeit, als sie die Kapseln in seine offene Handfläche rollen ließ.

»Das sind keine Tabletten, die man zur Umstellung bekommt«, stellte er fest, nachdem er sie genau gemustert hatte. »In der Firma hat einer mal so welche genommen, weil sein Kreislauf nicht mehr mitmachen wollte.«

»Urian nimmt sie«, erklärte Mum schroff. Während sie mich fordernd anstarrte, blinzelte sie kein einziges Mal.

»Also …«, setzte ich an.

Ihre ganze Haltung warnte mich, sie ja nicht anzulügen.

»Ja, ich hab sie von ihm bekommen«, nuschelte ich in meinen Lappen.

»Wann?« Ihre Stimme war einschneidend.

»Heute – gestern, als Mr Park mich entlassen hat«, korrigierte ich mich selbst und nahm den Lappen aus dem Gesicht. Ich wischte mir vorsichtig damit über die Kieferpartie und unter der Nase entlang. Als kein Blut nachfloss, ließ ich die Hände sinken. Breca nahm mir wortlos den Lappen ab und ließ mich Atem schöpfen. Ich wagte nicht, seinem Blick zu begegnen.

»Als wir vor zwei Tagen zusammengestoßen sind«, sagte ich und setzte neu an. »Das ist wegen des Leuchtens passiert.«

Mum nickte nur; offenbar war ihr das »Leuchten« ein Begriff.

»Ich bin auf der Straße zusammengebrochen«, gestand ich. »Seitdem wusste er es. Und als er gemerkt hat, dass ich dir nichts erzählt habe, hat er mir die Kapseln zugesteckt.«

Mum fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, als wollte sie die Neuigkeit am liebsten aus ihrer Erinnerung streichen. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Urian …«, murmelte sie, mehrmals hintereinander. Mit jedem Mal klang sie fassungsloser.

»Er wollte mir helfen«, sagte ich schnell – und biss mir auf die Zunge.

Mum fasste mich wieder ins Auge. Alle Verzweiflung war von ihr abgefallen. Sie wirkte völlig ruhig.

»Du wirst diese Tabletten nicht nehmen«, befahl sie. Tonlos. Endgültig.

Sie fasste nach Brecas Arm.

»Hast du ein Auge auf ihn?«

»Soll das ein Witz sein?«, bejahte er brüsk.

Ich konnte mir nicht erklären, woher Mums plötzliche Abgeklärtheit kam. Mir ging das viel zu schnell. Ich wollte aufspringen, aber Breca reagierte blitzartig und drückte mich sanft in die sitzende Position zurück.

Das schien Mum zufrieden zu stellen. Sie warf sich auf dem Absatz herum und verschwand im Flur. Wir hörten Stoffrascheln und ein metallisches Klappern, als sie ihre Jacke und ihren Schal von der Garderobe angelte, dann das Klirren ihres Hausschlüssels, der von der Kommode genommen wurde, und alles kontinuierlich untermalt vom Geräusch ihrer Schritte.

Breca lugte in den Flur hinaus.

»Wohin gehst du?« In seiner Stimme schwang Wut mit. Und Sorge. Vor allem Sorge.

»Ein paar Dinge zurechtrücken«, hörte ich Mum sagen. Der Entfernung ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie bereits an der Wohnungstür angelangt.

Breca verließ den Raum. Ich sah nur noch seine Hand auf dem Türrahmen liegen.

»Du weißt, was Lord Belzac gesagt hat«, meinte er halblaut.

Mum schnaubte nur.

»Willst du nicht wenigstens noch ein bisschen warten?«, fragte er. »Bis eine christlichere Stunde angebrochen ist?«

»Es gibt keine unchristlichen Stunden.«

Ein schwungvolles Knarren kündigte an, wie vehement die Wohnungstür aufgerissen wurde. Ich wartete auf den Knall, mit dem sie zufallen würde, doch zu meiner Überraschung glitt sie mit einem kontrollierten Klicken ins Schloss. Dann hörte ich, wie in regelmäßigen Zügen der Schlüssel von außen gedreht wurde.

Einige Sekunden lang stand Breca wie erstarrt im Flur. Erst, nachdem auch die Haustür im Treppenhaus wieder zugefallen war, kehrte er zu mir zurück.

»Wo will sie hin?«, fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte. Mir war bloß die Stille unerträglich. »Was hat Lord Belzac gesagt?«

Breca schenkte mir ein Lächeln, das all seinen Gram spiegelte. Die Falten gruben tiefe Schatten in sein Gesicht.

»Mein lieber Enkelsohn. Habe ich dir eigentlich schon ein frohes neues Jahr gewünscht?«

LESTARD (II): »Gehen wir ein Stück?«


 

Walking down deserted roads

I take one step for every thought.

I know the ground under my feet

And step by step my thoughts will lead me to …
 

Die Georgiana Street hatte schon bessere Zeiten gesehen. Wo sich vor der Reihe aus braunen Backsteinhäusern einmal sorgsam gehegte Vorgärten befunden haben mochten, griff nun eine dreckige Verwahrlosung um sich, die den gefrorenen Schneematsch ausbeulte.

Urian Adlard zog den Kopf gegen die Kälte ein und nahm einen tiefen Atemzug. Ein frischer, süßlicher Geruch hatte sich über die Straße hinabgesenkt; es würde wieder neuen Schnee geben.

In dem Haus, auf das er zusteuerte, war das Licht gelöscht. Heute, in der Silvesternacht, war seine Vermieterin nicht zu Hause. Und wäre sie es gewesen, so wäre sie sicherlich bereits zu Bett gegangen. Mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte Urian fest, dass »bereits« kein besonders adäquater Ausdruck war – in wenigen Stunden würde es dämmern.

Schlagartig kroch ihm die Müdigkeit in die Knochen. Sein resignierender Seufzer ging dem leisen Knarzen der Türscharniere voraus, als er sich in den Flur schleppte. Das unbefriedigende Ende einer Suche, die bis auf Lestards Botschaft an Charlotte fruchtlos geblieben war.

Aus dem Hausflur wallte ihm der altbekannte Atem des Hauses entgegen; ein Duftgemisch aus Teppichstaub, Ofenkohle, frischem Flapjack, einem Hauch Schneegeruch vom letzten Lüften und einer schweren Note, wie sie ein Mensch hinterlässt, dessen Körper über den Geist hinaus gealtert ist. Die nächtliche Stille umfing ihn wie ein Tuch. Nicht einmal das Ticken der schweren Standuhr in Mrs Hughes’ Wohnzimmer war zu hören; das Pendel musste wieder einmal stehen geblieben sein. Darum würde er sich später kümmern, wenn Mrs Hughes nicht schneller war. Man sah ihr die Schmerzen an, die ihr körperliche Arbeit mittlerweile bereitete, doch bevor er überhaupt Hand anlegen durfte, musste sie erst an die Grenzen ihrer verbliebenen Agilität stoßen.

Urian sank rücklings gegen die Haustür. Er spürte, wie sie unter seinem Gewicht sanft ins Schloss glitt, und streckte seine Sinne aus.

Die erwartete Fülle blieb aus – er war allein mit sich. Das Antidot, das er genommen hatte, wirkte noch. Irritiert schüttelte er den Kopf. Es war, als sei er mit Blindheit geschlagen, als ertaste er seine Umgebung durch Handschuhe hindurch. Er hasste diese Tabletten. Ohne sie löste er sich auf – und mit ihnen die Umwelt.

Urian streifte die Schuhe ab, hob seine Post auf, die Mrs Hughes ihm auf die Stufen gelegt hatte, und tappte auf Socken die Treppe hinauf. Ein Ablauf, den er sich schnell angewöhnt hatte. Wenn Mrs Hughes im Hause war, pflegte sie zu einer Stunde aufzustehen, zu der manch anderer sich nach durchzechter Nacht zu Bett begab. Sobald ihre letzten sechzig Minuten Schlaf anbrachen, schärften sich ihre Sinne und sie war imstande, jede kleine Veränderung im Haus zu bemerken. Vor seinem geistigen Auge sah er sie bereits am Fuß der Treppe stehen, eine Hand auf dem Geländer ruhend, wie sie kopfschüttelnd zu ihm hochschaute und sich innerlich fragte, ob sie ihm wegen seiner nächtlichen Ausflüge Vorwürfe machen oder sich lieber stillschweigend sorgen sollte, weil er letzten Endes ja doch ein unbelehrbarer Sturkopf war.

Ein wehmütiges Lächeln flackerte über Urians Gesicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihn im Treppenhaus empfing, wenn er übernächtigt zurückkehrte. Heute würde es bei der bloßen Vorstellung bleiben, denn seine Vermieterin verbrachte den Jahreswechsel bei ihrer Tochter.

Urian drückte den Wohnungsschlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum, nur um festzustellen, dass das erwartete Klicken ausblieb. Stattdessen ließ sich das Schloss weit nach rechts überdrehen. Wieder einmal. Stöhnend sackte Urian gegen den Türrahmen. Er wollte das verdammte Ding seit drei Wochen reparieren lassen. Im Takt der Drehbewegungen kreisten entnervte Flüche in seinem Kopf, und es kamen einige zusammen, bis die Tür endlich aufsprang.

Urian stieß sie unsanft hinter sich ins Schloss zurück und ließ die Post auf die Arbeitsplatte seiner Küchenzeile fallen. Auf das kleine Häufchen ungeöffneter Briefe aus der letzten halben Woche, das Mrs Hughes ihm hingelegt haben musste. Dass er daneben einen Teller mit Flapjack entdeckte, überraschte ihn nicht im Geringsten. Nicht mehr. Das Gefühl der Rührung schien jedoch mit jedem Mal zuzunehmen. Mrs Hughes hatte das Gebäck in Folie eingeschlagen, damit es nicht austrocknete. Sie kannte ihn und wusste, dass er mitunter ganze Tage und Nächte über außer Haus blieb. Die drei Zimmer im Obergeschoss, von denen er zwei bewohnte, hatten Mrs Hughes und ihr Mann ursprünglich für ihre beiden Kinder als Wohngemeinschaft angelegt. »Zum Üben«, hatte Mrs Hughes gesagt. Urian hatte sie kennen gelernt, als sie bereits ausgezogen waren und nach dem Tod des Vaters einen verlässlichen Untermieter gesucht hatten – entsprechend der Erklärung ihrer Mutter, ihr Haus nicht aufzugeben. Fürsorgliche Leute waren sie, und ständige Gäste und Gastgeber für Mrs Hughes. Sogar für ihn. Urians Finger streiften über das glatte Porzellan des Tellers. Mrs Hughes hielt die Familie zusammen.

Das Kuvert, das auf der anderen Seite an der Mikrowelle lehnte, sah er erst Sekunden später. Es war an ihn adressiert, in derselben geschwungenen Handschrift, in der auch die Nachricht für Charlotte geschrieben worden war. Er wollte danach greifen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne.

Zu weit abseits. Nicht Mrs Hughes hatte den Umschlag dort hingelegt.

Urian schloss die Augen und krallte die Finger um die Kante der Arbeitsplatte, bis ihm die Handmuskeln schmerzten.

»Willst du gar nicht wissen, was drin ist?«

Urian wirbelte auf dem Absatz herum, als Lestard zu sprechen anhob. Der Princeps ragte wie aus dem Boden geschossen vor ihm im Türrahmen auf, ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen. Er trug seinen Mantel und seinen Hut; die Hände ruhten gelassen auf dem Knauf eines Spazierstocks.

Urian schluckte. »Hast du dich selbst hereingelassen?«

»Die Hausherrin war bei meiner Ankunft nicht mehr zu sprechen, also habe ich auf dich gewartet.«

Urian hob fordernd die Augenbrauen. »Wie lange bist du schon hier?«

»Oh, im Haus seit ein paar Sekunden.« Lestard zwinkerte ihm zu. »Auf dem altbewährten Wege. Niemand konnte ahnen, dass du in zwei Tagen kein Mal zu Hause vorbeischauen würdest. Tatsache ist, dass ich keine Antwort auf meinen Brief erhalten habe. Da fand ich, es wäre an der Zeit, sich abzusichern.«

Urian wartete schweigend, doch Lestard schien vorerst nichts mehr zu sagen zu haben. Stattdessen strich er mit einer Hand über den Türrahmen und unterzog die schwach erleuchtete Wohnküche einer genauen Musterung. Kahl war es hier. Der einzige Gegenstand, dem man Gebrauchsspuren ansah, war ein mit braunem Stoff bespannter Ohrensessel, der die Fensterseite des Raumes für sich beanspruchte. Kein Stück passte zu den anderen; alles wirkte wie nach Bedarf zusammengesucht. Urian besaß nicht viel und erst recht keine Hingucker. Das hatte er noch nie. Keine Couch, und sei sie noch so klein. Kein Festnetztelefon, keinen Fernseher. Nur ein Radio. Und ein Mobiltelefon, normalerweise. Es war offenkundig, dass er seine Wohnung kaum nutzte.

Mit einem Seufzer fasste Lestard ihn ins Auge. »Zehn Jahre – und du bist immer noch nicht hier angekommen.«

Urian ertappte sich dabei, dass seine Fingerspitzen nervös auf die Arbeitsplatte tippten, und presste die Handfläche flach auf das Holz; das war ein hervorragender Stabilisator. »Was willst du?«

Lestard schüttelte den Kopf über ihn und nahm den Hut ab. »Hast du ein paar Minuten?«

Zur Antwort deutete Urian auf einen der zwei Stühle, die zu beiden Seiten eines kleinen Esstisches standen. Er beobachtete wortlos, wie der Princeps sich auf dem angebotenen Platz niederließ und den Spazierstock gegen die Tischkante lehnte. Der Knauf war aus Silber gefertigt und stellte – wie Urian plötzlich erkannte – eine exakte Kopie von Lord Eustace Belzacs Kopf dar.

Urian sog zischend die Luft ein. Lestard, der seinen geschockten Blick richtig deutete, unterdrückte ein Lachen.

»Ein unvollendetes Meisterwerk«, erklärte er schelmisch und fuhr mit dem Fingernagel vorsichtig eine der Falten in dem Metallgesicht nach. »Es wird Zeit, das alte Bild ein wenig aufzufrischen.«

Urian starrte auf die Karikatur herunter, die mit ihrem festgemeißelten Grinsen zurückstierte. Er schaffte es nicht ganz, sein entgleistes Lächeln zu richten. »Das passt zu dir.«

Sein Gegenüber nickte bedächtig, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. »Ich verbiege mich nicht gern, wie du weißt.«

»Du hast um ein paar Minuten gebeten«, rief Urian ihm ins Gedächtnis. Endlich gelang es ihm, den Blick von dem Stabknauf abzuwenden.

Lestard fuhr sich durchs Haar und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Urian kannte ihn gut genug, um den bitteren Zug an seinem Lächeln zu bemerken.

»Ich war überrascht, als ich hörte, dass du immer noch in London bist«, sagte der Princeps. »Bevor wir das letzte Mal auseinandergegangen sind, hast du mir noch versichert, dass dein Ausreiseantrag dieses Mal angenommen würde. Du scheinst dich geirrt zu haben, was?«

Urian biss die Zähne zusammen.

»Ich habe gehört, dass Charlotte dich kontaktiert hat.« Lestard nickte zu dem Kuvert herüber, das noch immer bei der Mikrowelle lag. »Seitdem wartet mein Briefchen auf dich. Eine Antwort bekam ich nicht von dir, also habe ich mal nachgehakt, was du so treibst. Der Zweite Sekretär scheint dich momentan ja gut zu beschäftigen. Wie viel zahlt er dir für deine Dienste? Oder bist du immer noch sein Gelegenheitsschnüffler? Wie nennt ihr das – ›im Sold‹?«

»Komm zum Punkt«, knurrte Urian.

»Keine Widerworte?« Lestard schüttelte abermals den Kopf. »Du hängst also immer noch in der Schwebe. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten, aber der ist hinfällig, seit du angefangen hast, dich zu mir durchzufragen. Sag, wie hat der gute Eustace die Neuigkeiten aufgenommen?«

»Er hört sich um, ob Atlantis dir den Rücken stärkt.« Urian ließ die Arbeitsplatte los. »Oder Charlotte und ich.«

»Charlotte tut, was sie für richtig hält«, erwiderte Lestard. »Ich hätte gern, dass du ein Auge auf die Sache hast und sie von irgendwelchen Dummheiten abhältst.«

Urian verschränkte die Arme. »Darum musst du mich nicht bitten.«

»Das freut mich. Dann kommen wir jetzt zu dir.«

Urian wandte das Gesicht ab. »Ich stehe nicht zur Verfügung«, sagte er.

Lestards weiches Lachen trieb ihm einen Schauer über den Rücken. Er hörte das leise Schaben von Stuhlbeinen auf den Dielen und das dumpfe Tappen von Schuhsohlen.

»Nicht zur Verfügung«, wiederholte Lestard nachdenklich. »Wenn du nicht für den Rest deines Lebens hier im Süden versauern willst, solltest du dich in nächster Zeit von meiner Schwester und Jean fernhalten. Und von Phinæus. Gib Eustace keinen Grund, sich an deine Fersen zu heften.«

Urian wirbelte herum, kaum fähig, die Worte zurückzuhalten. Als er in Lestards Gesicht blickte, war es dem seinen so nahe, dass er die feinen Hautrisse zwischen den Narben sehen konnte. Urian wich zurück und stieß gegen die Arbeitsplatte.

»Eustace ist es gleich, ob du das für Charlotte tust oder für mich«, raunte Lestard väterlich. »Er hat den Köder geschluckt. Es geht ihm nicht um Charlotte oder um den Schlüssel. Er will an mich heran. Und wenn er den Eindruck gewinnt, dass du seine Operation behinderst, schafft er dich vorsorglich aus dem Weg, ohne lange nach deinen Beweggründen zu fragen.«

Urian schreckte davor zurück, die Bedeutung von Lestards Worten ganz an sich heranzulassen. Das würde ihn um seine Kühnheit und um seinen Verstand bringen.

»Natürlich nur vorübergehend«, fügte der Princeps hinzu.

Urian schob sich seitlich an ihm vorbei und erwiderte den Blick, mit dem Lestard jeder seiner Bewegungen folgte. »Gehen wir davon mal aus«, stieß er hervor. »Sollte Lord Belzac derselbe Gedanke bei Charlotte kommen – was wirst du dann tun?«

»Nichts werde ich tun«, erklärte Lestard. »Sie hat genug Gelegenheit, alle Initiative an die Congregatio abzutreten. Eustace über sie zu kontaktieren, war eine Einladung, mehr nicht. Das weiß er.«

»Und du denkst, Lord Belzac lässt sich die Chance durch die Lappen gehen?« Urian hielt seine Stimme nur mit Mühe im Zaum. »Du hast kalte Füße, Princeps. Deshalb bist du hier.«

Lestard schenkte ihm ein Lächeln, das wohl eins von der gewinnenden Sorte hatte werden sollen, doch es zerbröckelte an den Narben. Das entging auch ihm selbst nicht, und mit einem belegten Räuspern sank seine Statur in sich zusammen.

»Eustace hat angespannter reagiert, als ich es erwartet habe«, gab er zu.

»Du hast ihn vor dem Senat bloßgestellt, das vergisst er dir nicht«, entgegnete Urian. »Vielleicht solltest lieber du dich mit ihm an den Verhandlungstisch setzen. Damit du ihm erklären kannst, dass Charlotte im Grunde völlig uninteressant ist.«

Lestard verzog das Gesicht zu einem schmerzlichen Grinsen. »Wir sind damals schon im Guten nicht auf einen Nenner gekommen.«

»Also denkst du dir, es wäre sinnvoll, den Keil noch weiter zu treiben, indem du einfach mal den Blick auf Charlotte und mich lenkst?«

Lestard hob die Brauen. »Du hast dich ganz allein da reingeritten.«

»– und jetzt stehst du hier, weil du siehst, dass es nicht funktioniert hat«, fuhr Urian fort. Er spürte, wie er zu zittern begann. Er durfte sich nicht gehen lassen. Je eher er diese Unterhaltung beendete, desto besser.

»Und du schaffst es nicht, mich hinauszuwerfen«, bemerkte Lestard in dem Moment. Amüsement mischte sich in seine Miene. »Hoffst du darauf, dass ich mich verplappere?«

Urian konnte den entsetzten Blick nicht unterdrücken. Als er seiner Empörung Herr geworden war, hatte Lestard sie bereits gedeutet, dessen war er sich sicher. Und nicht zwangsläufig zum Besten.

»Ich warte immer noch darauf, dass du mir sagst, was du eigentlich hier willst«, gab er stimmlos zurück.

»Mein Freund«, schnurrte Lestard. »Ist meine Warnung etwa auf taube Ohren gestoßen?«

Urian nahm einen tiefen Atemzug. »Jede weitere ist Verschwendung.«

Lestard wandte das Gesicht ab und fuhr sich mit der Hand über den Bart. »Weißt du«, sagte er, »eigentlich ist deine Position längst festgelegt. Du kannst bloß entscheiden, ob du allein kämpfen willst oder mit meiner Rückendeckung.«

»Ich habe nicht vor, zu kämpfen.«

Lestard wirkte erstaunt ob so viel Trotz. »Seit du angefangen hast, nach mir zu suchen, liegt das nicht mehr in deiner Hand.«

Urian rümpfte die Nase. »Ich denke, ich soll mich vom Schlachtfeld fernhalten?«

»Allerdings. Bloß kann man das jetzt bestenfalls noch als späten Rückzug bezeichnen«, grollte Lestard. »In meinem Brief habe ich dich gebeten, dich nicht einzumischen. Du hattest nicht die Zeit, ihn zu lesen, weshalb, geht mich nichts an. Jetzt komme ich zu dir und rate dir an, deine Erkundungen einzustellen. Der Moment, in dem du dich als harmlos herausstellst, gibt Charlotte Luft zum Atmen. Ich meine es gut, Urian. Du hast kein Ass im Ärmel. Setz nicht noch einmal alles aufs Spiel.«

Urian schnaubte. »Für wen stehst du eigentlich ein? Für mich? Für Atlantis? Für Charlotte? Du riskierst, dass Lord Belzac sie auseinandernimmt. Was erhoffst du dir von ihr?«

»Dass sie zu ihrer Entscheidung steht. Dann wird Eustace sie in Ruhe lassen. Ich stehe ein für mich«, antwortete Lestard bedächtig. »Und für alle, die ich vertrete. Das weiß er. Leider gehörst du nicht mehr dazu, mein Freund. Aber das scheint er nicht zu wissen.«

Urian musterte ihn eine Weile mit schiefgelegtem Kopf. »Agierst du allein?«

Lestard lächelte ihm zu. Es war nicht zu übersehen, wie sehr er seinen kleinen Spannungsmoment genoss.

»Nein«, flüsterte er verschwörerisch.

Kurz standen sie sich direkt gegenüber, einander mit den Blicken messend. Dann wandte Urian sich ab. Das Geräusch seiner Schritte auf dem stumpfen Dielenboden war unerträglich laut, als er sich zum Fenster schleppte. Vor der Glasscheibe war die Luft kälter und wohltuend. Urians Blick folgte seinem Schatten, der in den Raum zurückfiel und nicht an Lestards Standort heranreichte.

»Geh«, brachte er hinter trockenen Lippen hervor.

Lestard stand unbeweglich. Urians Blick flog über die Silhouette des Princeps hinweg und mied dessen Augen.

»Ist das alles, was du zu sagen hast?«

Obwohl Lestard nicht laut gesprochen hatte, dröhnten seine Worte in Urians Ohren. Der Princeps erwartete eine Antwort. Urian schluckte und wandte sich erneut der Fensterscheibe zu. Sein Blick war trüb; die Außenwelt lag verschwommen hinter dem Glas.

»Das ist alles«, antwortete er.

Er hörte, wie Lestard an ihn herantrat. »Die Nacht war lang, Urian. Du solltest dir ein wenig Ruhe gönnen. Mal drüber schlafen.«

Der Princeps musste direkt hinter ihm stehen; Urian spürte seinen Atem am Ohr.

»Ich brauche keine Bedenkzeit«, erwiderte er.

»Du bist nicht gegen mich, nicht wahr?«

Urian reagierte nicht.

Lestard seufzte schwer.

»Wie du willst«, sagte er ernüchtert. »Leider habe ich das gleiche Problem wie der gute Eustace. Und weniger Zeit als er.«

Urian verstand nicht sofort. Im selben Moment, da ihn die Erleuchtung traf, krallte sich eine Hand in sein Haar und schmetterte seine Stirn gegen die Scheibe. Funken stoben vor seinen Augen auf. Die Knie gaben ihm nach. Beim zweiten Schlag verlor er jedes Raumgefühl; seine Sicht verkehrte sich. Sein letzter Gedanke galt der verwirrenden Beobachtung, dass die Dielenbretter auf ihn zurasten.
 

Lestard hatte die Georgiana Street fast hinter sich gelassen, als er den Wagenmotor hörte. Das Automobil musste aus seiner Richtung kommen, noch mehrere Straßenzüge entfernt. Es fuhr zu schnell und in niedrigem Gang. Und es näherte sich.

Spaßeshalber verlangsamte Lestard seinen Schritt. Noch drei Blocks. Der Idiot würde vielleicht hier vorbeikommen.

Noch ein Block. Lestard lächelte; sein Gehör trog ihn selten.

Da brach der schwarze Wagen um die Kurve, in einer Geschwindigkeit, die ihn auf die Gegenfahrbahn trug. Kurz flackerte das Scheinwerferlicht über Lestards Gesicht und offenbarte den verdutzten Ausdruck. Er kannte den Wagen. Sehr gut sogar.

Mit einer Mischung aus Bangen und Faszination beobachtete er, wie das Auto mitten auf der Straße zum Stehen kam, gut fünfzig Meter von ihm entfernt, vor ebenjenem Haus, das er gerade erst verlassen hatte.

Beim Anblick der Frau, die mit dem Mobiltelefon am Ohr aus dem Wagen schlüpfte, stahl sich ein schwermütiges Lächeln auf sein Gesicht. Das Geräusch der zuschlagenden Autotür hallte zwischen den Häuserreihen wider. Charlotte Furlong warf den Kopf in den Nacken, fluchte auf ihr Handy ein, weil niemand ihre Anrufe entgegennahm, und spurtete auf die Haustür zu.

Bedächtig, die Hände in den Manteltaschen vergraben, trat Lestard den Rückweg an. Er hatte knapp die halbe Strecke zurückgelegt, da stellte Charlotte mit einem unterdrückten Fluch die Anrufe ein und hämmerte stattdessen mit der Handfläche auf die Klingel von Urian Adlards Wohnung. Lestard konnte hören, wie sie auf die Tür einredete, Urian möge ihr öffnen, und wie ihr herrischer Tonfall sich darüber in ein flehendes Wimmern verwandelte.

Als er sie fast erreicht hatte, gab sie es auf. Einen Moment lang verharrte ihr Blick auf der unteren Schelle. Sie hob die Hand, um ihr Glück mit der Erdgeschosswohnung zu versuchen, brach jedoch mitten in der Bewegung ab und fuhr sich stattdessen durchs Gesicht.

Ihre Haut war von Sorge zerknittert. Die Kälte hatte ihr Wangen und Nasenspitze gerötet, was in Verbindung mit ihren dunkel unterlaufenen Augen eher einem Krankheitssymptom glich. Ihr Blick suchte die oberen Fenster ab. Tränen hatten sich in ihren Wimpern verfangen und färbten ihre Augenränder rot.

Mit einem erstickten Schluchzen sackte sie auf dem Treppenabsatz zusammen. In dieser Haltung erschien es Lestard, als sei sie in den vergangenen zehn Jahren um keinen Tag gealtert.

Am Rand des Grundstücks achtete er nicht mehr auf Lautlosigkeit. Leise summend trat er vor sie hin. Er sah, wie ihr Blick seine Schuhe streifte und sie die Augen niederschlug. Sie hatte seine Stimme erkannt, dessen war er sich sicher.

»Der Winter ist kalt dieses Jahr«, bemerkte er und bot ihr seine Hand an.

Charlotte zog die Jacke fester um sich und ignorierte ihn, bis er sich ein Stück weit zurückzog. Erst da warf sie ihm einen stechenden Blick zu.

»Man merkt das Klima«, sagte er leise und fuhr sich mit den Fingern über die Narben.

Charlotte sog zischend den Atem ein; die kalte Luft brannte ihr in den Nasenhöhlen.

»Das verzeihe ich dir nicht«, flüsterte sie.

»Das verlange ich auch nicht.« Lestard schenkte ihr ein Lächeln und breitete die Arme zu einer ausladenden Geste aus.

»Gehen wir ein Stück?«

LESTARD (III): »Sie haben Ihren eigenen Kopf, wie ich sehe.«

Mums Erscheinung brach sich vielfach in den Scherben des Mosaikspiegels. Sie saß mit ausgestreckten Beinen am Fußende meines Bettes und hatte noch nicht bemerkt, dass ich ihr Spiegelbild zwischen Decke und Kissen hindurch seit einer ganzen Weile beobachtete. Ich wusste nicht, wann sie zurückgekehrt war. Die weiße Dämmerung hatte ihrem Gesicht alle Schatten genommen und tauchte es stattdessen in ein diffuses Leuchten. Ihre Augen waren blutunterlaufen, als hätte sie schon wieder kein Auge zugetan. Lange würde sie das nicht mehr durchhalten. Ihr Blick glitt zwischen dem Spiegel und meinem Skizzenbuch hin und her, während sie es mit einer Vorsicht durchblätterte, die eher an den Umgang mit einem seltenen Almanach gemahnte als an den mit einer zerfledderten Kladde. Denn mehr war mein Skizzenbuch im Endeffekt nicht: ein wirrer Sammelband, in dem mehrere Seiten durchgestrichen oder zum Verschenken herausgetrennt und andere Blätter lose hineingesteckt waren. Man sah den Seiten genau an, wie weit ich das Buch schon gefüllt hatte. Zwar achtete ich darauf, dass ich es beim Ein- und Auspacken nicht zerknickte, aber ich schleppte es ständig mit mir herum. Man sah die Gebrauchsspuren, und das benutzte Papier wellte sich zusätzlich vom zahlreichen Aufschlagen und Radieren. Zwischenzeitlich verharrten Mums Finger auf den Seiten und folgten den Linien, die ich mit dem Bleistift gezogen hatte. Ab und zu glitt die Andeutung eines Grinsens oder eines Stirnrunzelns über ihr Gesicht. Ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Es war lange her, seit sie sich meine Zeichnungen zuletzt so genau angesehen hatte.

Sie musste fast auf der letzten benutzten Seite angekommen sein, als sie plötzlich mitten im Blättern stockte. Ein Zittern überlief ihren Körper. Ich konnte im Spiegelbild nicht sehen, bei welcher Zeichnung sie angelangt war, aber ich wagte nicht, den Hals zu recken, um sie direkt anzusehen. Ich spürte, wie die Stimmung kippte; Mum sank in sich zusammen. Ihre Finger verloren die Spannung und das Skizzenbuch sank auf ihre Oberschenkel hinunter.

Im Spiegelbild konnte ich jetzt die Karikatur erkennen, die ich in der letzten Physikstunde von Mr Cobbald angefertigt hatte. Als ich sie gezeichnet hatte, war ich so stolz darauf gewesen. Jetzt kam sie mir uralt vor, und fast ein bisschen kindisch. Was aber Mum daran so verstörte, war nicht die Zeichnung selbst.

Es war meine Signatur.

Ich hatte sie vor Jahren von meinem Vater übernommen. Mum hatte mir damals die Briefe gezeigt, die sie einander geschrieben hatten, wenn sie dienstlich verhindert gewesen waren und sich nach einander gesehnt hatten. Mein Vater hatte ein reines Schriftbild gehabt. Mum sagte immer, dass ich ihm in der Hinsicht sehr ähnlich war. Er habe die Schrift und das Wort gebraucht, um auszudrücken, was ich in meine Zeichnungen legte. Damals hatte ich nicht alles aus seinen Briefen verstanden. Aber ich hatte seine Wortgewalt bewundert und den kalligraphischen Strich. Ich hatte mir beides aneignen wollen. Zumindest Letzteres war mir mit meiner Unterschrift gelungen.

Normalerweise signierte ich meine Skizzen nicht. Aber Solweig hatte mich gefragt, ob sie die Zeichnung von Mr Cobbald haben dürfe. Also hatte ich sie in der U-Bahn auf dem Weg zum Augenarzt ausgearbeitet und, wie bei allen Bildern, die ich weggab, mein Kürzel hinzugesetzt. Ich hatte über die letzten zwei Tage ganz vergessen, es zu ihr mitzunehmen, obwohl ich Gelegenheit genug gehabt hätte. Jetzt wünschte ich, ich hätte meine Sinne besser beisammen gehabt.

Mums Hände zitterten, als sie mein Skizzenbuch beiseitelegte. Das Haar war ihr übers Gesicht gefallen. Ich hörte sie einmal rasselnd einatmen, dann warf sie den Kopf in den Nacken, schluckte hart und starrte aus aufgerissenen, feuchten Augen zur Zimmerdecke, als suche sie dort etwas.

Mir war nie bewusst gewesen, wie sehr sie ihn immer noch vermisste.

Ein sachtes Klopfen an der Zimmertür ließ sie und mich jäh zusammenfahren. Mum sprang beinahe vom Bett auf. Ich drückte das Gesicht ins Kissen.

Gleich darauf hörte ich, wie die Tür ein Stück weit aufgeschoben wurde.

»Charlotte«, sagte Brecas Stimme. Er klang zur Hälfte betreten und zur Hälfte tadelnd, als sei das, was er vorfand, anders als geplant.

»Entschuldige«, erwiderte Mum fahrig. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Ich spürte, wie sich ihre Hand neben meinem Bein in die Bettdecke krallte. »Ich habe die Zeit vergessen.«

Der Türknauf schnappte mit einem leisen Klicken in seine Ausgangsposition zurück, als Breca ihn losließ. Schritte erklangen, zuerst leise schabend auf dem Dielenboden an meiner Tür, dann dumpf auf dem Teppich vor meinem Bett. Ich stellte mir vor, dass Breca Mum am Arm berührte, so wie er es früher oft getan hatte.

»Wir sind gleich soweit«, versicherte Mum ihm, und mir dämmerte, dass sie mit »wir« auch mich meinte.

Hatte sie mich wecken wollen? Falls ja, so war es ihr heute unangenehm, obwohl sie mich sonst aus dem Bett zu treten pflegte, wenn ich den Wecker überhörte. Breca hätte es übernehmen können, aber sie hatte ihn augenscheinlich nicht gelassen. Plötzlich kam mir die heiße Atemluft, die sich zwischen dem Kissenstoff und meinem Gesicht sammelte, unerträglich stickig vor.

»Bereit wofür?«, fragte ich und drehte mich so weit herum, dass ich sie beide ansehen konnte.

Breca zwinkerte mir zu. »Guten Morgen, herzallerliebster Enkelsohn.«

Mum erwiderte meinen Blick überrascht, blieb aber stumm.

Brecas Miene verdüsterte sich schlagartig. »Lord Belzac und Mr Park haben sich angekündigt«, antwortete er an ihrer statt.

»Und Adlard?«, hakte ich sofort nach.

Ein Blick in Mums Gesicht sagte mir, dass dies die falsche Frage gewesen war.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie matt.

Ich kam um ein Stirnrunzeln nicht herum, verkniff mir jedoch jede weitere Bemerkung über ihn. Was auch immer ihre Unterhaltung in der letzten Nacht ergeben haben mochte, Mum schien alles andere als zufrieden damit zu sein.

Ich setzte mich auf. »Und jetzt?«

Mum strich mit den Fingerkuppen über meine Bettdecke. »Mach dich fertig«, erwiderte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Und dann sehen wir zu, dass wir deine Magie in den Griff bekommen.«

Breca runzelte tadelnd die Stirn. »Ihr solltet auf Lord Belzac warten.«

»Dafür wird der Sekretär Verständnis aufbringen müssen«, erklärte Mum resolut und erhob sich von meinem Bett.

»Ich glaube, er wird vor allem wenig Verständnis für deine Alleingänge aufbringen«, entgegnete Breca nüchtern.

»Darüber kann ich ihm reinen Gewissens Rechenschaft ablegen«, erwiderte sie. »Ich lasse mich nicht herumschubsen. Nicht von Lestard und nicht von ihm.«

Breca blieb gelassen. »Und du hältst das für klug? Das hier ist keine Frage des Stolzes, Charlotte.«

Mum funkelte ihn an. »Wenn es mir um meine Eitelkeit ginge, würde ich ganz andere Dinge tun«, gab sie zurück und heftete den Blick auf mich. Ich zögerte einen Moment, noch unentschlossen, wem ich nun beipflichten sollte.

Aber Mum erwartete gar keine Meinungsäußerung von mir.

»Steh auf«, sagte sie. Fordernd, aber nicht unfreundlich.

Ich nickte schweigend und sah ihr nach, als sie mein Zimmer verließ.

Breca schüttelte nur den Kopf. Er warf mir einen kurzen, bedauernden Blick zu, dann folgte er ihr hinaus.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, robbte ich vor und langte nach dem Skizzenbuch, das Mum auf der Kommode am Fußende meines Bettes abgelegt hatte. Mit zittrigen Händen schlug ich die Skizze von Mr Cobbald auf; mein Blick sog sich an der Signatur fest. Langsam strich ich mit dem Finger darüber und rieb mit dem Daumen das Graphit ab, das an meiner Haut haften geblieben war.

Ich würde herausfinden, was mein Vater mit Atlantis zu tun gehabt hatte.

Irgendwie.
 

Ich wusste nicht, wie Lord Belzac es fertigbrachte, aber er schien die Eigenschaft zu besitzen, immer dann aufzutauchen, wenn er am wenigsten erwünscht war.

Mum wollte gerade in den Wagen steigen, als das schwere Automobil des Ersten Sekretärs auf dem Hinterhof vorfuhr. Die Scheiben waren getönt, sodass man nicht ins Innere hineinsehen konnte, aber dass es sich um Lord Belzac handeln musste, sagte mir Mums Reaktion. Ich sah, wie sie bei dem Anblick gequält das Gesicht verzog und einen stummen Fluch ausstieß. So entschlossen sie zuvor Breca abgefertigt hatte, so betreten wirkte sie jetzt. Egal, wie gut sie sich auf die erneute Konfrontation mit dem Sekretär vorbereitet haben mochte: Es handelte sich um ein Treffen, das sie am liebsten so lange wie möglich hinausgezögert hätte.

Ich verharrte reglos neben unserem Wagen, die Hand am Griff der Beifahrertür. Liebend gerne hätte ich mich einfach hineingesetzt und die Tür zugeschlagen, aber ich wollte Mum nicht allein draußen stehen lassen.

Als Lord Belzac die Fahrertür aufstieß, klappte mir die Kinnlade herunter. Ich hatte angenommen, dass ein Mann seines Kalibers nicht selbst fuhr, sondern chauffiert und von ausgebildetem Wachpersonal eskortiert wurde. Was die Anwesenheit letzterer betraf, so war ich überzeugt, dass sie irgendwo außerhalb meines Blickfeldes alles beobachteten. Park, der Inquisitor, stieg auf der Beifahrerseite aus. Sein Blick wanderte erst über unsere Gesichter und dann weiter zu Lord Belzac, als wollte er ausloten, was der Sekretär von dem Bild hielt, das wir abgaben. Lord Belzac erwiderte den Augenkontakt mit ihm nicht; er hatte den Blick fest auf Mum geheftet und trug eine ausdruckslose Miene zur Schau. Gemessenen Schrittes trat er auf uns zu.

Mum begrüßte beide Männer mit ihren Amtstiteln. Ihre Stimme klang beinahe gelassen, aber als sie die Hand ausstreckte, um sie dem Sekretär zu geben, sah ich, dass Venen und Fingerknöchel deutlich hervortraten.

»Sie haben Ihren eigenen Kopf, wie ich sehe «, stellte Lord Belzac fest. »Ich meine, wir hätten ausgemacht, dass Sie die Wohnung nicht verlassen. Denken Sie nicht, dass ein Verstoß genügt?«

Ich konnte sie nur anstarren. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass der Sekretär meine Reaktion mit einem freudlosen Lächeln quittierte.

Mum setzte zu einer Antwort an, doch er hob gebieterisch die Hand. »Ich weiß, Mrs Furlong«, sagte er. »Nichtsdestotrotz ziehe ich eine gemeinsame Absprache vor.«

Ich spürte, wie sich meine Faust fest um den Griff der Beifahrertür schloss. Die Sender. Natürlich wusste er Bescheid.

»Hören Sie uns auch beim Furzen zu?«, fauchte ich.

Die erste Antwort war vollkommene Stille. Mum starrte mich geschockt an. Der Sekretär legte verblüfft den Kopf schief, die Hand in der Luft erstarrt. Ich ignorierte den Gallegeschmack, der sich in meinem Mund sammelte, und hielt ihren Blicken trotzig stand. Als niemand etwas auf meine Bemerkung erwiderte, brach Park in schallendes Gelächter aus. Es fing sich zwischen den Häuserwänden und hallte noch nach, als der Inquisitor längst zum Atemschöpfen innegehalten hatte.

Lord Belzac ließ sich zu einem schiefen Lächeln hinreißen. »Dafür haben wir unsere loyalen Schergen«, sagte er glatt.

Ich war mir nicht sicher, ob er mich einfach nicht ernst nahm, oder ob genau das Gegenteil der Fall war und er sich schlichtweg keine Blöße geben wollte. Deshalb sagte ich nichts weiter. Mir war klar, dass ich damit die Auseinandersetzung verlor. Aber das war mir lieber, als blind in mein Verderben zu rennen, indem ich jetzt eine falsche Bemerkung machte.

Park wandte sich Mum zu. »Wie hat Ihr Vater das Schöpfen gemeistert?«

Sie leckte sich über die Lippen. »Es hat an ihm gezehrt«, sagte sie kühl. »Danke der Nachfrage.«

Jetzt verstand ich, dass der Inquisitor von dem Memorium sprechen musste. Ich gab mir keine Mühe, meine Abneigung zu verbergen. Was für ein Gewäsch! Er wusste doch, wie schwach Breca gewesen war. Er hatte alles mitangehört.

Park lupfte über unsere Ablehnung die Augenbrauen, als sei er tatsächlich überrascht.

Lord Belzac hakte die Arme locker vor der Brust ineinander. »Mrs Furlong, die Bänder werden vorrangig von meiner Garde abgehört, nicht von der Inquisition.«

Ich wollte dazu eine Bemerkung machen, aber diesmal kam mir Mum zuvor. »Ich kenne Ihre Vollmachten, Sekretär«, entgegnete sie, in einem Tonfall, als sei das letzte Wort darüber noch nicht gesprochen.

Lord Belzac hob den Zeigefinger zum Kinn. »Haben Sie Mr Adlard heute Nacht angetroffen?«

Mum schüttelte mit bemerkenswerter Ruhe den Kopf. »Seitdem er gestern Abend gegangen ist, nicht. Er hat mir heute Nacht nicht aufgemacht.«

Ich musste schlucken. Deshalb hatte sie auf meine Frage nach ihm so unterkühlt reagiert.

»Dann werde ich sehen, wo er zu finden ist.« Lord Belzac nickte ihr knapp zu und wandte sich ab. Für ihn schien das Gespräch beendet zu sein.

»Sekretär, ich denke nicht, dass er etwas mit Lestard zu tun hat«, sprang Mum in die Bresche. »Sie wissen, dass ich ihn gebeten habe, die Augen offen zu halten.«

Lord Belzac drehte sich noch einmal zu uns um. »Nun, dann hat er bestimmt Einiges zu erzählen«, erwiderte er.

Mum und ich trugen einen gleichsam verwirrten Gesichtsausdruck zur Schau.

»Sie dürfen jetzt fahren«, fügte er hinzu und entließ uns mit einem Handwink. »Lassen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen. Machen Sie Ihre Besorgungen. Aber Mr Park wird Sie begleiten.«

Mum versteifte sich merklich. Der Inquisitor zeigte keine Regung. Offenbar hatte Lord Belzac sich diesen Schachzug nicht spontan einfallen lassen. Mum und ich wechselten einen Blick miteinander.

»Wie Sie wünschen, Sekretär«, sagte sie.

Lord Belzac bedachte sie mit einem undeutbaren Blick. Dann wandte er sich endgültig ab und trat flink den Weg durch die Unterführung an, um zur Haustür zu kommen. Zumindest nahm ich an, dass er dorthin wollte; ins Haus, um meinen Großvater auseinanderzunehmen.

Ich sagte gar nichts mehr. Meine Verwirrung war in der Tat perfekt.

Parks Blick wanderte zwischen uns und dem sich entfernenden Sekretär hin und her. »Mr Adlard wird sich außerdem vor der Inquisition für das Antidot verantworten müssen, das er Ihrem Sohn zugesteckt hat«, erklärte er nüchtern.

Mum verdrehte mit einem entwaffneten Seufzer die Augen. Ich glaube, beides galt Adlard. Ich wollte fragen, was dieses Antidot eigentlich bewirkte, biss mir aber auf die Zunge. Nachher konnte ich immer noch den Arzt damit löchern. Der wäre die bessere Adresse, sowohl die Kompetenz, als auch die Neutralität betreffend. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie amüsant Park meine Verwirrung über das Memorium gefunden hatte.

»Haben Sie das Medikament da?«, fragte der Inquisitor in dem Moment.

»Ich wollte es Faraday zeigen«, antwortete Mum und kramte die beiden Kapseln aus ihrer Jackentasche.

Ich horchte auf. Hatte Breca ihr den Brief gezeigt, den mir der Augenarzt mitgegeben hatte? Vielleicht, dachte ich dann in einem Anflug von Sarkasmus, ist Faraday aber auch bloß noch ein weiterer alter Bekannter von ihr. Vielleicht würde er sogar alle anderen Termine umlegen, nur um Mum einen Gefallen zu tun? Ich verlor mich für einen Moment in meiner stillen Gehässigkeit. Das tat ungemein gut.

»Eine Verpackung haben Sie nicht?«, hörte ich Park sagen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder ihm zu, wie er die Kapseln begutachtete.

»Er hat Yuriy nur die zwei Tabletten gegeben«, erwiderte Mum.

Parks Blick flackerte kurz zu mir herüber und ich nickte bekräftigend. Von der dritten, die ich verloren hatte, sollte er besser nichts erfahren. Ich hielt es für klüger, erst einmal den Mund zu halten und Mum das Feld zu überlassen.

»Wenn Sie gestatten, wäre ich bei der Untersuchung gern dabei.« Der Inquisitor wartete Mums Nicken ab, dann warf er einen Blick auf seine Uhr. »Ich nehme an, sie haben einen Termin?«

Mum bedachte mich mit einem kurzen Blick. »Nicht sofort«, erwiderte sie.

Ein lauernder Ausdruck mischte sich in Parks aufmerksame Miene.

»Ich hatte vor, im Deutschen Viertel Informationen zusammenzutragen«, räumte Mum ein.

Ich musste aussehen, als hätte ich überraschend eine Ohrfeige bekommen. Park blickte skeptisch zwischen mir und Mum hin und her. »Mit dem Jungen im Schlepptau, meinen Sie?«

Mums Züge verhärteten sich. Sie hatte mich sicherlich zum Warten im Auto verdammen wollen. Meine Fäuste öffneten und schlossen sich, und ich konzentrierte mich auf die Bewegung, bis ich spürte, dass ich ruhiger wurde.

»Wird Mr Belzac denn nichts dazu sagen, Mr Park?«, fragte ich süßlich.

»Die Inquisition ist Sekretär Belzac keine Rechenschaft schuldig«, antwortete er gelassen.

»Dann jagen Sie beide Lestard?«, bohrte ich weiter.

»Für Lestard ist die Garde zuständig«, entgegnete er und wandte sich wieder Mum zu.

Ich beobachtete sie, wie sie mit zusammengepressten Lippen auf weitere Worte von ihm wartete.

»Sekretär Belzac hat mich Ihnen als Begleiter zugeteilt, nicht als Wächter«, sagte er. »Ich werde Sie zu Faraday fahren und auch zum Deutschen Viertel, aber ich habe dort eigenen Geschäften nachzugehen.«

Mum bedachte ihn mit einem langen Blick. »Das vergesse ich Ihnen nicht«, sagte sie.

Park runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen irgendeinen Gefallen getan hätte«, erwiderte er. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, und tun Sie nichts, was meine Aufmerksamkeit als Inquisitor erregen muss. Was ich sehe, sehe ich. Was ich nicht sehe, sehe ich nicht. Aber sollte Lord Belzacs Garde mich im Anschluss befragen, bin ich zur Wahrheit verpflichtet. Ich kann nicht beeinflussen, welche Schlüsse er daraus ziehen wird.«

Ich musterte ihn eingehend. Falls er das bemerkte, ignorierte er es gekonnt. Mir kamen Mr Pilgrims Worte vom Vortag in den Sinn, dass wir uns an den Inquisitor halten sollten. Wenn er nicht zu den Lakaien des Ersten Sekretärs gehörte, war das womöglich ein besserer Rat gewesen, als Belzacs Gardist beabsichtigt hatte.

LESTARD (IV): »Dieser Tage scheinen Sie gefragt zu sein.«

Die Fenster der Untergrundbahn zogen Schlieren vom Dreck. Urian Adlard musterte sein Spiegelbild zwischen den Köpfen zweier ihm gegenübersitzender Passagiere hindurch in der Scheibe und hatte das Gefühl, sich einem restlosen Versager gegenüberzusehen. Obwohl er geduscht hatte, standen seine Haare wüst vom Kopf ab. Im Neonlicht der Deckenlampen war seine Haut aschfahl, die dunklen Tränensäcke gruben sich schroff in seine Augenhöhlen und ließen sie noch tiefer erscheinen. Seine Augen glänzten wie im Fieber; er konnte nicht sagen, ob es an der Lichtreflexion im Bahnwaggon lag oder an dem Antidot, das er genommen hatte. Urian senkte den Blick auf den Boden vor seinen Füßen. Seine Jacke stank nach Schießpulver, Alkohol und Schweiß. Die Tatsache, dass er, seit er wieder auf den Beinen war, diverse Leute in ähnlich verwahrloster Aufmachung angetroffen hatte, war ein schwacher Trost. Das also war das Bild, das man aktuell von ihm gewann: Ein übermüdeter Taugenichts, der sich über den Jahreswechsel im Suff den Schädel eingeschlagen hatte. Kümmerlich.

Urian fuhr sich mit der Hand an die Stirn und berührte das Pflaster, das seine Platzwunde verdeckte. Er hatte eine Gehirnerschütterung davongetragen. Eine leichte. Faraday hatte die Wunde versorgt und auf Schonung bestanden, und Urian hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie »im Dienst« erhalten hatte. Das Kopfschütteln des Arztes sah er noch deutlich vor sich.

»Sie haben ein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen.«

Urian hatte ihm ein schiefes Lächeln geschenkt. »Dann verraten Sie mir Ihr Geheimnis.«

Faraday hatte ihn eindringlich gemustert. »Das Geheimnis ist offen: Lassen Sie es sein.«

»Ich habe eine mitfühlende Ader, wie Sie wissen.«

»Mitfühlend.« Faraday hatte ausgesehen, als müsste er ein Schnauben unterdrücken. »Sie sehen schlechter aus als vor zwei Wochen. Was sagen die Tabletten?«

Als Urian ihn daraufhin widerstrebend um ein neues Rezept gebeten hatte, war Faradays erste Reaktion ein weiteres Kopfschütteln gewesen.

»Sagen Sie nicht, Sie haben sie schon aufgebraucht.«

Also hatte Urian geschwiegen und seinen Blick das Übrige tun lassen.

Faraday war vor Fassungslosigkeit aufgestanden. »Urian, die letzten Male haben Sie die Einnahme verweigert, wann immer es ging. Ich musste Sie schier treten, damit Sie sich an die Zeiten hielten. Und jetzt muss ich aus Ihnen herausquetschen, dass Sie keine Medizin mehr haben.«

»In den letzten Tagen war ziemlich viel los. Zu Silvester ist London ein Wespennest.«

»Dann meiden Sie die Stadt an solchen Tagen. Bleiben Sie zu Hause.«

»Ich bin kein Einsiedler!«

»Wenn es Ihnen aber gut tut!« Faradays Stimme hatte an Schärfe und Strenge zugenommen. »Und bitte halten Sie Sich an unsere abgesprochene Dosierung, Urian.«

»Das Antidot betäubt alle Sinne.«

Faraday hatte ihm einen bedauernden Blick zugeworfen. »Das ist seine Wirkungsweise. Ich würde Ihre Behandlung gern umstellen, das wissen Sie.«

»Das Gespräch haben wir schon einmal geführt«, hatte Urian erwidert. »Von welchem Geld, Doktor?«

»Dann schränken Sie bitte Ihre Unternehmungen ein. London bekommt Ihnen nicht. Zu viele Menschen. Sie sollten für eine Weile an die Küste fahren, irgendwo aufs Dorf. Einsam unterwegs, meine ich.«

Da hatte Urian lachen müssen. »Ich möchte Sie nicht vor den Kopf stoßen, aber auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: von welchem Geld? Ich danke Ihnen, aber ich kenne meine Situation.«

Faraday hatte ihn ohne Frage für einen jugendlichen Sturkopf halten müssen. Der Arzt hatte geschlagen geseufzt und eine Zeit lang geschwiegen, um dann das Thema zu wechseln. »Wie geht es Mireille?«

»Besser. Sie arbeitet wieder.«

Faraday hatte zufrieden genickt. »Was macht Ihr Antrag?«

»Abgewiesen.«

»Schon wieder?«

Urian hatte bloß genickt.

Faraday hatte schlucken müssen. »Der wie vielte war es jetzt?«

»Der sechste«, sagte Urian laut – und zuckte in seinem Bahnsitz zusammen. Der unverhoffte Klang seiner eigenen Stimme holte ihn schlagartig in die Gegenwart zurück. Blinzelnd sah er sich um.

Die Passagiere auf den Plätzen ihm gegenüber hatten gewechselt. Zwei Mittelschüler, die sich irgendwann dort niedergelassen hatten und denen der Schlaf noch in den Augen stand, starrten ihn an, unsicher, ob dieser verlebte Kerl mit seinem unverständlichen Halbsatz womöglich sie angesprochen hatte.

Es war der vertraute Klang der Computerstimme, der schließlich ihren Blickkontakt beendete. Urian knöpfte seinen Jackenkragen zu. Eigentlich musste er noch zwei Stationen fahren, aber er hatte das Gefühl, nicht länger sitzen zu können. Er erhob sich mit Bedacht – als er nach dem Praxisbesuch gerannt war, um die Bahn zu erwischen, hatte es ihm sein Kopf mit Schwindel und Schmerz gedankt. Aus Gewohnheit griff er in seine Hosentasche, um nach dem Mobiltelefon zu tasten.

Es war nicht da. Urian wirbelte zu dem Platz herum, auf dem er gesessen hatte, und kippte seitlich weg. Sein geschundener Kreislauf arbeitete einträchtig mit dem Bremsvorgang der Bahn zusammen, um ihn straucheln zu lassen. Erst, als er sich an einer der Haltestangen abgefangen hatte, fiel ihm wieder ein, dass sein Handy bis frühestens zum nächsten Tag noch dazu verdammt war, unbrauchbar bei ihm zu Hause zu liegen.

Er verdrehte die Augen: Diesen Umstand vergaß er andauernd. Während er sich zur Waggontür schleppte, stellte er fest, dass die beiden Teenager ihn immer noch befremdlich musterten.

Urian schenkte ihnen ein Lächeln, das einem Zähnefletschen gleichkam. »Frohes Neues«, sagte er weich und trat auf den Bahnsteig hinaus.
 

Izhak Hendel führte das Deutsche Viertel in der dritten Generation. Schon zu Zeiten, da seine Großeltern noch die Geschäfte getätigt hatten, waren offizielle, inoffizielle und selbsternannte Staatsdiener zahlreicher Nationen bei ihnen eingekehrt. Das Deutsche Viertel hatte die Immigrationswelle miterlebt, den Bürgerkrieg und die Spaltung Englands. Seitdem seine Familie vor der Zusammenlegung Europas zum Kontinentalstaat ins Vereinigte Königreich geflohen war, schrieb dieses Haus die Geschichte mit. Hendel wusste, dass sein Lokal nicht der einzige Anlaufpunkt in London war, und er unterhielt ein gepflegtes Netzwerk mit seinen Kollegen. Niemand hatte es je festgeschrieben, aber die Räume des toten Briefkastens waren neutrale Zufluchtsorte. Staatenlose Flecken auf den Stadtplänen, wenn man es so wollte.

Die Silvestertage waren eine von mehreren Feierlichkeiten, zu denen das Deutsche Viertel seine Tore zu jeder Stunde geöffnet ließ. Ein anstrengendes Geschäft, wenngleich auch ein über die Maßen lukratives. Das alljährliche Straßenfest gehörte zu den Veranstaltungen, an denen Izhak Hendel neben der klingelnden Kasse vor allem des guten Tones wegen teilnahm. Seine Stammgäste brachten sein Auskommen auf angenehme Art und Weise ein, aber sich als einziger Nachbar nicht an der örtlichen Gaudi zu beteiligen, wäre wie ein Schlag vor den Kopf gewesen. Seitdem das Fest vorüber war, verkehrte hier zum überwiegenden Teil wieder die alteingesessene Kundschaft, und das Geschäft war ruhiger geworden. Der altbewährte Fluss hatte sich wieder eingestellt; Tag und Nacht existierten nicht mehr, nur der Feiertag und der Schichtwechsel.

Hendel ließ den Blick über die Köpfe seiner Gäste schweifen. In den letzten Wochen war sein Haus zu jeder Tages- und Nachtzeit gut besucht gewesen; erfahrungsgemäß war dies ein Zeichen dafür, dass der nächste größere Zusammenstoß bevorstand. Seit einiger Zeit vergab Hendel die Schlüssel für die Hinterzimmer mehrmals täglich. Söldner und Gardisten rotteten sich zusammen. In geschlossener Gesellschaft wurden stündlich legitime und noch öfter illegitime Konferenzen abgehalten, während die Kundschaft im Schankraum mit konsequenter Gelassenheit weghörte. Der Wirt war sich sicher: Der einzige Grund, weshalb die Regierungen Häuser wie seines duldeten, war, dass sie gelernt hatten, sie mitzubenutzen.

Eine Bewegung gegen das gemäßigte Treiben ließ Hendel innehalten. Inmitten der Gäste tauchte ein junger Mann auf. Mitgenommen sah er aus, aber fest entschlossen. Für bekannte Gesichter hatte er nur ein Nicken und ein knappes »Morgen« übrig. Raschen Schrittes durchquerte seine ausgefranste Erscheinung den Schankraum in Richtung des Tresens.

Der Wirt verkniff sich eine gutväterliche Floskel und lächelte matt, als Urian Adlard vor ihm zum Stehen kam.

»Dieser Tage scheinen Sie gefragt zu sein«, sagte er beiläufig. »Käffchen?«

Urian spürte, dass er unwillkürlich zu grinsen begann. »Später vielleicht«, erwiderte er und wandte sich dem Flur hinter dem Schankraum zu.

Auf diese Auskunft hatte er seit dem vorigen Mittag gewartet. Lestards Nachricht an Charlotte vom Vorabend war nicht mehr gewesen als ein ungeplanter Zwischenfall: der Brief in seinem Fach, nur eine Finte; der Weg über Dritte, weil Charlotte mit ihm verkehrte und sich der von Lord Belzac auferlegten Ausgangssperre zu unterwerfen hatte. Urian schauderte beim Gedanken daran, in welch kurzer Zeit Lestard Informationen sammelte und evaluierte.

Und darauf reagierte.

Mit einem herrischen Kopfrucken zwang Urian sich zur Konzentration. Der Brief, den er eigentlich wollte, musste ein Wachssiegel tragen. Dolch und Schlüssel.

Er wartete auf Antwort von Phinæus Sheldon. Eigentlich, dachte er, schon viel zu lange. Der atlantinische Präsident verfügte über einen ganzen Stab Boten. So schwer er persönlich ausfindig zu machen war, so leicht war es üblicherweise, als Bekannter mit ihm über den toten Briefkasten in Schriftwechsel zu treten. Wer auch immer seinerzeit dieses System eingeführt hatte, Urian dankte ihm im Stillen dafür.

Mit klopfendem Herzen schloss er sein Postfach auf.

Und erstarrte.

Inmitten dunkelroter Wachssplitter lag ein winziger Zettel, in vertraut geschwungener Handschrift mit nur einer Zeile beschrieben.
 

Du bist unverbesserlich.
 

Urian sackte innerlich zusammen. Seine Hand glitt von dem Schlüssel ab. Er musste sich zusammenreißen, damit ihm nicht die Beine nachgaben.

Mit fahrigen Bewegungen angelte er den Zettel und die Wachsreste aus seinem Fach. Normalerweise kam es nicht vor, dass Nachrichten des toten Briefkastens abgefangen wurden. Selbst die Garde verlangte nur im Zweifelsfall Einsicht in den Schriftverkehr. Urian knetete einen der Splitter zwischen den Fingerkuppen. Mit seiner Anfrage an Phinæus musste er Lestard gründlich ins Handwerk gepfuscht haben. Dies hier war die letzte Warnung, dessen war er sich sicher.

Ein Frösteln überlief ihn. Es war an der Zeit, sich einzugestehen, dass er in diesem Spiel verloren hatte.

Die Auskunft des atlantinischen Präsidenten hätte ihn von jedem Verdacht reingewaschen, den Lord Belzac oder der Inquisitor gegen ihn hegen mochten. Tatsächlich wäre sie Gold wert gewesen. Zeugnis seiner persönlichen Unbedarftheit. Eine dezente Ermahnung, sich in atlantinische Geschäfte nicht einzumischen.

Oder das genaue Gegenteil.

Dieser Gedanke ließ ihn stocken: Das war alles andere als Nichts.

Urians Atmung beschleunigte sich. Der Schlag auf die Finger, den Lestard ihm versetzt hatte, hatte ihm zugleich eine ungemein wichtige Information geliefert.

Phinæus Sheldon hatte, seitdem Atlantis ins Leben gerufen worden war, nie Interesse an einer direkten Herausforderung der Behörden gehabt. Dass Lestard den Kontakt zwischen ihm und Urian unterbinden wollte – nein, dass die Antwort für den Princeps überhaupt von Interesse war, bedeutete im Endeffekt nichts anderes, als dass Phinæus an seinen Aktivitäten nicht beteiligt sein konnte. Mehr noch: dass er womöglich gar nicht eingeweiht war. Sollte dies der Fall sein, dann musste Lestard sein Eingreifen fürchten und es um jeden Preis verhindern wollen. Und anders als bei Urian, hatte er es bei Phinæus offensichtlich nicht gewagt, dessen Postfach zu sabotieren. Mit wem auch immer er und Jean Laval kooperierten, sie genossen nicht die Rückendeckung ihrer Organisation.

Und schlussendlich belegte Lestards Reaktion auch, dass er, Urian, nicht in seine Pläne verwickelt war. Der Princeps misstraute ihm. Was auch immer Phinæus ihm geantwortet hatte – Lestard hatte vorgesorgt, damit Urian es nicht in die falschen Hände gab.

In Charlottes Hände. Und über sie zwangsläufig weiter an Lord Belzac.

Urian spürte, wie sich eine tiefe Ruhe in ihm ausbreitete. Der Schock wich einem regelrechten Hochgefühl. Leichtfüßig kehrte er zum Schankraum zurück. Er hatte, was er brauchte. Wenn er diese Information weitergab, war er aus dem Schneider.

Hendel erblickte ihn, noch bevor er den Tresen erreicht hatte. »Das Gesicht sieht nach Sieg aus«, stellte der Wirt fest.

Urian schenkte ihm ein Grinsen und legte eine Fünfpfundnote auf die Theke. Er war in Feierlaune. »Ich würde gerne auf den Kaffee zurückkommen. Und ich muss euer Telefon benutzen.«

Ein zufriedenes Lächeln spielte um Hendels Lippen. »Jederzeit«, sagte er und reichte Urian das Wechselgeld. »Kaffee kommt sofort.«

Urian schaute dem Wirt nach, der an der gewaltigen Kaffeemaschine zu hantieren begann. Ein unbezahlbares Monstrum, ausgestattet mit drei Hähnen, verkleidet mit gebürstetem Aluminium. Im Deutschen Viertel gab es, so sagte man, den besten Kaffee Londons. Urian hatte den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung niemals überprüft. Und wenn er gewollt hätte, dann hätte ihm sein leerer Geldbeutel entgegengegähnt. Tatsache war: Der Kaffee hier schmeckte. Und er hatte seinen Preis. Als Urian hörte, wie sich das Geräusch der Kaffeemühle unter die Stimmen der Gäste mischte, ließ er sich auf den nächstbesten Barhocker sinken und öffnete die oberen Knöpfe seiner Jacke. Wann war er zuletzt nur auf ein Getränk hier gewesen? Und zwar eines, zu dem man ihn nicht großzügiger Weise eingeladen hätte. Im letzten Oktober, als er vor Lestard geprahlt hatte, diesmal würde sein Ausreiseantrag angenommen? Nein, rief er sich ins Gedächtnis. Damals hatte der Princeps bezahlt.

Urian seufzte. Er konnte sich nicht erinnern. Seine Finger spielten mit den Münzen in seiner Hand. Er ließ sie sachte auf die blankpolierte Holzplatte des Tresens klappern und beobachtete, wie sie in seinem Schatten flackernde Reflexionen auf die Maserung warfen.

Dann sah er den zweiten Schatten über seiner Schulter.

Urian rutschte das Herz in die Hose. Er fuhr auf dem Absatz herum – da traf ihn die Faust.

Ächzend sackte er auf dem Hocker zusammen, das Gesicht in den Händen vergraben.

»Oh, das wollte ich nicht«, sagte eine Männerstimme, die das Gelächter kaum zurückhalten konnte. »Was drehst du dich auch so schnell um?«

»Wie ungeschickt von mir«, stöhnte Urian und betastete seine Augenbraue. Der Schlag hatte gesessen. Vermutlich würde er sogar seine Gesichtshälften einander wieder angleichen: links die Platzwunde, rechts das Hämatom.

Urian ließ die Hände sinken und hob den Kopf. Um ihn herum waren die Gespräche schlagartig verstummt. Dafür, so stellte er fest, war er der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit. Als die Leute sahen, dass er ihre Blicke erwiderte, schlugen sie die Augen nieder.

Mit einem flauen Gefühl im Magen wandte er sich um, nur um im nächsten Moment mitten in der Bewegung zu erstarren.

Das erste, worauf sein Blick fiel, waren die Schusswaffe und das Paar Tonfas, die an einem ledernen Waffengurt hingen. Zwei glänzende Knopfreihen zogen sich über den schweren, dunkelblauen Stoff einer Uniform. Urian folgte ihnen mit den Augen aufwärts, über Absatznähte und ein ganzes Arsenal von Rangabzeichen hinweg. Je höher er kam, desto mehr spürte er sich selbst auf dem Hocker schrumpfen. In dieser Ehrfurcht gebietenden Uniform steckte ein noch mehr Ehrfurcht gebietender Hüne.

Urians Mund fühlte sich staubtrocken an. Mit einer Mischung aus Schreck und Faszination beobachtete er, wie sich über ihm das Gesicht eines Mannes in den Vierzigern vor lauter Schalk verjüngte, bis er einem Schuljungen glich, dem ein vortrefflicher Streich geglückt war.

»Morgen, Urian«, sagte der Hauptmann der Garde.

»Jorrin«, stieß Urian lahm hervor.

Sein Gegenüber stützte sich mit einem Ellenbogen auf dem Tresen ab und nickte zwinkernd in Richtung der anderen Gäste. »Sind wir wieder unter die ehrlichen Häute gegangen?«

Urian zwang sich, der Geste des Hauptmanns nicht mit dem Blick zu folgen. »Und du, ziehst du mir meine ehrliche Haut jetzt ab?«

Jorrin de Rijk lachte. »Nicht in diesen Wänden.«

Urian rang sich ein Lächeln ab. Zu seiner Erleichterung kam just in dem Moment Izhak Hendel mit seinem Kaffee zurück, sodass er sich um einen Kommentar drücken konnte.

»Morgen, Herr Gardehauptmann!«, sagte der Wirt beschwingt. »So hochoffiziell trifft man Sie selten.«

»Ich mache nur einen Abstecher.« Jorrin blinzelte Urian neckisch zu, bevor er sich ganz Hendel zuwandte. »Bin bald wieder weg, keine Sorge.«

Urian ließ die beiden Männer plaudern, kauerte sich auf seinem Hocker zusammen und nippte an dem Kaffee. Verstohlen suchte er mit den Augen den Schankraum ab. Kein weiterer Gardist war zu sehen, aber einige Gäste beobachteten ihn immer noch argwöhnisch.

»Was kann ich Ihnen bringen?«, hörte er Hendel in dem Moment fragen.

Jorrin warf einen schnellen Blick auf Urians Tasse. »Das Gleiche, bitte.«

Hendel zögerte einen Moment, dann entfernte er sich raschen Schrittes. Urian sah seine Felle davonschwimmen.

»Du siehst erschöpft aus«, stellte Jorrin fest. »Lange Nacht gehabt?«

»Silvester«, murmelte Urian zwischen zwei Schlucken Kaffee.

»Natürlich.« Jorrin grinste. »London im Rausch. Hier soll wieder viel ziviles Volk unterwegs gewesen sein. Warst du auch da?«

»Nicht lange.« Urian ließ seinen Blick über die Köpfe der anderen Gäste schweifen: Fürs Erste hatten sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zugewandt. »Du weißt, wie ich zu Menschenmengen stehe.«

»Ah, immer noch das alte Leiden, was?« Der Hauptmann zog sich nach kurzem Umsehen einen Aschenbecher heran und angelte eine Schachtel Zigaretten aus der Rocktasche. »Kann ich dir damit was Gutes tun?«, fragte er und streckte Urian die offene Packung hin.

Urian schüttelte dankend den Kopf und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.

»Hast du aufgehört?«

Als Urian bloß in seine Tasse lächelte, zuckte Jorrin die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. »Man sieht dich immer alleine herumziehen. Was machen Frau und Kinder?«

Urian zwang sich, die Tasse endlich einmal abzustellen. »Welche Frau? Welche Kinder?«

Jorrin schnaubte amüsiert. »Urian Adlard. Der ewige Eigenbrötler.« Er nahm einen weiteren Zug, wandte sich dem Wirt zu, der den Kaffee brachte, und reichte ihm einen Schein. »Danke, mein Freund. Der Rest ist Trinkgeld.«

Urian beobachtete, wie Hendel überrascht die Augenbrauen hochzog und sich ebenso schelmisch wie geehrt vor dem Hauptmann verneigte, um die beiden dann endgültig allein zu lassen.

»Also, Urian.« Jorrin schnippte Asche in den Aschenbecher. »Immer noch keine gute Partie in Aussicht?«

Urian starrte auf die glühende Zigarettenspitze. »Um ehrlich zu sein, habe ich dafür im Moment keinen Kopf.«

»Bis zum Hals in Arbeit?«

Urian nippte an seinem Kaffee.

Jorrins Miene verdüsterte sich. »Ist es wegen Mireille?«

Urian nickte stumm, dankbar für diese Ausflucht, die nicht einmal gelogen war.

Jorrin seufzte und ließ sich auf einem Hocker neben ihm nieder. »Die Krankheit nagt sehr an ihr, was?«

Urians Finger glitten fahrig über den Tassenrand. »Im Moment sieht es wieder recht gut aus«, gab er zu. »Aber das kann sich jeden Tag ändern.«

»Sie ist eine Kämpfernatur«, erwiderte Jorrin. »Sie wird es schon packen.«

Urian zwang sich zu einem tapferen Lächeln. Zumindest hoffte er, dass es eher tapfer als verbissen wirkte.

Jorrin klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und nahm zum ersten Mal einen Schluck von seinem Kaffee. »Eben sahst du ganz glücklich aus«, meinte er. »Was gab es zu feiern, bevor ich dich halb niedergestreckt habe?«

Urian zuckte die Achseln. »Ich habe einen guten Job gemacht.«

Da lachte der Hauptmann auf. »Ah, die mageren Zeiten sind vorbei, was?«

Urian fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Das wird sich zeigen.«

»Meine Güte, du hast genug Optimismus, um ein Dutzend Todgeweihte in Seligkeit vergehen zu lassen.« Jorrin schüttelte den Kopf. »Weißt du, was dein Problem ist?«

»Klär mich auf.«

Jorrin musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen und zeigte mit der Zigarette auf ihn, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückte. »Dir fällt hier die Decke auf den Kopf«, erklärte er. »Du solltest mal raus aus London. Was Anderes sehen. Einen Urlaubsflirt haben.«

Urian verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen. »Das Gleiche hat mein Arzt auch gesagt.«

»Guter Mann«, befand Jorrin und wandte sich nun ausgiebiger seiner Kaffeetasse zu. »Wir fahren diesen Sommer auch endlich mal wieder weg. Und zum ersten Mal ganz ohne Kinder.«

Urian hob die Augenbrauen. Er wusste, dass der Hauptmann zwei Töchter hatte. Zuletzt hatte er sie vor genau einem Jahr in Begleitung ihrer Eltern auf dem Silvesterfest hier in Camden gesehen. Wenn er sich recht erinnerte, war das ältere der beiden Mädchen ungefähr im selben Alter wie Charlottes Sohn.

»Und wohin geht es?«

Urian fragte aus reiner Höflichkeit. Wenn Jorrin das bemerkte, überspielte er es gekonnt. »Alexandria, mein Freund«, verkündete er verschwörerisch und lehnte sich mit leisem Lachen auf seinem Hocker zurück. »Was sagt man dazu: Da macht der Hauptmann der Garde mit seiner Frau Urlaub in verdienter Zweisamkeit – und wo fährt er hin? In die Stadt, in der die Congregatio ihr Hauptarchiv hat.«

Erneut ließ Urian ihm ein Lächeln zuteilwerden. »Die Arbeit verfolgt dich.«

»So weit lasse ich es nicht kommen.« Jorrin streckte den Arm zu einer ausladenden Geste aus. »Wir haben ein Landhaus gemietet. Auf der einen Seite liegt die Stadt, auf der anderen das Meer. Das wird eine Zeit purer Entspannung. Wir tun nur, wonach uns der Sinn steht.« Er bleckte vergnügt die Zähne. »Romantisch, was?«

Gegen seinen Willen musste Urian das Grinsen erwidern. »Absolut«, sagte er und ließ den Hauptmann weiter von den geplanten Ferien erzählen, ohne ernsthaft hinzuhören. Stattdessen versenkte er sich endgültig in den Geschmack seines Kaffees und in seine Überlegungen, wie er Jorrin am gescheitesten abwimmeln konnte. Lord Belzac würde früher oder später wieder bei Charlotte auflaufen. Idealerweise wollte Urian sie zu dem Zeitpunkt bereits eingeweiht haben. Sein Blick ruhte auf dem kabellosen Telefon, das neben der Kasse stand. Fast in Reichweite. Bisher war es gut gelaufen, aber jetzt musste er schleunigst zusehen, dass er den Hauptmann loswurde. Zwar hatte er noch ein wenig Geld in der Tasche, aber er konnte sich weit bessere Investitionen vorstellen als noch mehr Kaffee, bloß um den Schein zu wahren. Urian bemerkte, dass seine Fingerkuppen ungeduldig gegen das Porzellan in seinen Händen trommelten, und packte fester zu. Mittlerweile musste er die Tasse fast waagerecht kippen, um noch an Kaffee zu kommen.

In diesem Moment schlug Jorrin ihm herzhaft auf die Schulter. Urian spuckte den Schluck in die Tasse zurück und beugte sich hustend über den Tresen.

Jorrin brach in Gelächter aus, das sowohl seiner Anekdote, als auch Urian gelten mochte. »Ich sag dir: Töchter! Als Vater hast du keine Chance. Sie wickeln dich immer wieder um den Finger.«

Urian räusperte sich und warf dem Hauptmann einen Seitenblick zu. »Wir haben wohl einen guten Start ins neue Jahr gehabt«, brachte er hervor.

Jorrin zwinkerte ihm zu. »Und es verspricht auch, gut weiterzugehen.«

Urian stürzte den Rest Kaffee in einem Zug hinunter. Der Hauptmann schien sich regelrecht an ihm festgesaugt zu haben. Charlotte hier zu kontaktieren, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ein paar Straßenzüge weiter gab es eine Telefonzelle, die er benutzen konnte. Urian stellte seine Tasse ab und erhob sich von dem Hocker. Ein wenig trauerte er dem Geld nach, das er Hendel für die Benutzung des Telefons bereits gezahlt hatte, aber noch länger wollte er nicht warten.

Bevor er überhaupt ein Wort des Abschieds über die Lippen bringen konnte, fasste Jorrin abermals nach seiner Schulter. »Willst du noch einen?« Mit der freien Hand zeigte der Hauptmann auf seine leere Tasse.

Urian schüttelte dankend den Kopf.

»Komm schon, ich lade dich ein!«

»Ich würde gerne. Aber ich muss wieder los.« Urian schüttelte die Hand ab und machte sich daran, seine Jacke zuzuknöpfen.

Jorrin erwiderte nichts.

Als der Hauptmann schweigsam blieb, fiel Urian auf, dass es im Schankraum abermals still wurde. Mit betont trotziger Miene sah er auf, um sich den Blicken der Leute zu stellen, und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Jorrin ihn scharf beobachtete. Jede Spur eines Lächelns war von den Zügen des Hauptmanns abgefallen.

»Dann ist dies der Moment«, sagte er ernst, »wo ich dich bitten muss, mit mir nach draußen zu kommen.«

Urian spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Die Blicke der Leute bohrten sich in seinen Rücken. Er setzte zu sprechen an, aber die Stimme versagte ihm und er brachte nur einen kehligen Laut heraus. Mit aufgerissenen Augen starrte er den Hauptmann der Garde an und schluckte.

Jorrin klopfte ihm auf die Schulter; eine halb kameradschaftliche, halb fordernde Geste. »Komm.«

Urian hielt sich aufrecht, den Blick beständig auf Jorrins Hinterkopf gerichtet, und mied den Augenkontakt mit den anderen Gästen, während er dem Hauptmann mit steifen Schritten durch die Mitte des Schankraums zur Tür folgte. Auf den Treppenstufen am Eingang wurden seine Beine bleischwer. Jorrin stieß die Holztür auf und wartete im Türsturz, um Urian vorbeizulassen. Tageslicht sickerte die Stufen hinab in den Schankraum; Urian kniff unter der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammen.

Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, sah er sich drei Gardisten gegenüber, die neben dem Eingang Stellung bezogen hatten. Sie waren nicht einmal so alt wie er, Mitte Zwanzig, wenn er großzügig schätzte. Und sie besaßen die Abgebrühtheit, ihn völlig ausdruckslos anzustarren. Urian biss die Zähne zusammen.

Hinter ihm fiel die Tür des Wirtshauses ins Schloss. Jorrin de Rijk ging mit ausladenden Schritten an ihm vorbei und nickte einem der drei Jungspunde zu. Urian zwang sich zur Ruhe, als der beauftragte Gardist hinter ihn trat und seinen Arm ergriff. Er hörte Metall klirren. Gleich darauf spürte er, wie sich das kalte Eisen der Handschellen um seine Handgelenke schloss.

»Urian Adlard«, sagte der Hauptmann der Garde. Sein Tonfall war jetzt offiziell; die Kameradschaft, die sie im Deutschen Viertel gepflegt hatten, existierte hier draußen nicht. »Sie sind vorläufig festgenommen im Auftrag des Ersten Sekretärs.«

Urian schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die beiden verbliebenen Gardisten zu seiner Linken und zu seiner Rechten Stellung bezogen. Keiner von ihnen legte Hand an ihn.

»Kommen Sie«, sagte der Gardist, der hinter ihm stand. Urian setzte sich in Bewegung, sorgsam darauf bedacht, sich nicht dem Gleichschritt der Soldaten anzupassen. Er wandte sich noch einmal zu Jorrin um, doch der machte keine Anstalten, sich ihnen anzuschließen. Stattdessen lehnte der Gardehauptmann an der Mauer der Schankstube und erwiderte seinen Blick gelassen. Seine Aufgabe hier war noch nicht beendet.

Der junge Gardist hinter ihm legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn vorwärts; eine unmissverständliche Geste. Urian wandte sich wieder nach vorn. Die Menschen auf der Straße warfen ihnen erstaunte Blicke zu; einige blieben stehen, um das Schauspiel zu verfolgen, andere sahen peinlich berührt weg oder beschleunigten ihre Schritte.

Urian musterte die Uniform des Gardisten, der rechts von ihm ging. In seiner momentanen Verfassung musste er sich inmitten dieser gestriegelten Lackaffen wie der hinterletzte Lump ausnehmen. Ein verwahrloster Penner, am Neujahrsmorgen in irgendeiner Spelunke aufgegabelt und abgeführt von der erlesenen Garde des Ersten Sekretärs höchstpersönlich. Eine gestrandete Seele, zur Schau gestellt inmitten dreier vielversprechender Jungoffiziere, die allesamt in eine schillernde Zukunft blickten. Na, der Saufkopf würde es mit Bestimmtheit verdient haben.

Ein grimmiges Lächeln stahl sich auf Urians Gesicht. Das neue Jahr wurde immer besser.

LESTARD (V): »Vielleicht solltest du einfach tun, was sie dir sagt.«

Ich hatte Recht behalten mit meiner Annahme, dass Lord Belzac und der Inquisitor nicht alleine gekommen waren.

Als der Streifendienst der Congregatio uns vor unserer Haustür abgeholt hatte – höflich, zuvorkommend und in voller Montur – war Mum die Schamesröte ins Gesicht geschossen. Der Fahrer hatte bei ihrem Anblick kurz die Augenbrauen gelupft und ihr dann zugenickt. Es war nicht derselbe Gardist wie am Vortag, aber auch er schien ihr bekannt zu sein: Mum hatte seine Geste steif erwidert und sogar ein kleines Lächeln bewerkstelligt. Park hatte sie nicht fahren lassen wollen. »Nicht nach zwei offensichtlich durchwachten Nächten«, hatte er gesagt. Es war augenscheinlich, dass sie in diesem Moment am liebsten im Boden versunken wäre.

Ich, für meinen Teil, biss mir auf die Zunge. Hier auf dem Rücksitz, hinter den getönten Scheiben, mit Blick auf die Silhouetten von Park und dem Fahrer vor mir und Mums angespanntem ¬Körper an meiner Seite, drückte ich mich so platzsparend wie möglich in den Sitz. Irgendwann während der Fahrt hatte Mum mir zur Beruhigung die Hand aufs Knie gelegt, aber ihre Finger waren selbst so steif gewesen, dass ich mich nur noch mehr verkrampft hatte. Da hatte sie die Hand zurückgezogen. Seitdem starrte sie beflissen aus dem Fenster und mied meinen Blick.

Innerlich kochte ich vor Wut. Ich hatte allen Ernstes angenommen, dass wir endlich wieder miteinander reden könnten. Aber durch Zufall hatte ich erfahren, dass Mum mich nur weiter hinzuhalten versuchte. Durch Zufall hatte ich erfahren, dass sie gar nicht mit Adlard gesprochen hatte. Durch Zufall hatte ich erfahren, dass Lord Belzac sie in unserer Wohnung unter Arrest gestellt und Breca zum Schmieden des Schlüssels abkommandiert hatte. Ich war Adlard hinterhergeschlichen, weil ich nicht wusste, dass er für Mum Informationen über Lestard besorgen sollte. Und wäre ich nicht so überstürzt aus dem Deutschen Viertel aufgebrochen, um sie vor ihm zu warnen, hätte ich bestimmt weder von den Sendern erfahren, noch davon, dass mein Vater Kontakt zu Atlantis gehabt hatte. Vielleicht sogar zu Lestard Calhoun.

Wie gerne hätte ich Mum ein paar Dinge gesagt, aber dies war weder die richtige Umgebung, noch der richtige Zeitpunkt dafür. Ich spähte durch die Glasscheibe, die uns von Park und dem Streifendienst trennte, und sah, dass der Inquisitor meinen Blick durch einen zweiten Rückspiegel erwiderte. Ob er uns schon die ganze Zeit beobachtete? Es kostete mich Unmengen von Willenskraft, nicht die Hand zu heben und ihm eine bestimmte Geste unmissverständlicher Verachtung zuteilwerden zu lassen.

Ich zwang mich, den Blick von Park abzuwenden und stattdessen aus dem Fenster zu sehen. Die Straße, die wir gerade entlangfuhren, kannte ich von einer Tour im Wagen von Matts Vater. Damals hatte ich das Wochenende bei ihm zu Hause verbracht und der Fahrer der Familie hatte uns am Samstagmittag von der Schule abgeholt. Matt wohnte in Hampstead, in einer Natursteinvilla, die dem Ruf der Gegend zu mehr als nur Ehre gereichte und in der ich mich auch nach acht Jahren enger Freundschaft noch ab und an verlief. Und offensichtlich war Faradays Praxis nur wenige Straßenzüge entfernt. Ich erinnerte mich daran, wie ich zwei Tage zuvor dem Ophthalmologen gegenübergesessen und mir den Kopf darüber zerbrochen hatte, dass Faraday, dessen Klientel vornehmlich aus Regierungsabgeordneten, Großunternehmern und hochrangigen Beamten bestand, bestimmt zu teuer für uns sein musste. Der Blick aus dem Wagenfenster trieb mir die Galle hoch: Ich hatte gut geschätzt.

Park hatte sich von Mum die Überweisung des Ophthalmologen geben lassen. »Dann geht es schneller«, war sein ganzer Kommentar dazu gewesen. Kein bisschen herablassend, vielmehr nüchtern. Er hatte angeordnet, dass wir zuerst zu Faraday und dann zum Deutschen Viertel fahren sollten. Damit wir dort alle Zeit hätten, die wir brauchten, hatte er gesagt. Mum hatte nur die Lippen zusammengepresst und den Befehl des Inquisitors hingenommen.

Wer weiß, dachte ich grimmig, vielleicht stürmt er uns voran in die Praxis und zückt seine Dienstmarke und seine Vollmachten, und Faraday lässt auf der Stelle alle Instrumente fallen und kniet vor ihm nieder, begierig, ihm zu Diensten sein zu dürfen? Ich war mir nicht sicher, ob Belzac ihn angewiesen hatte, so bald wie möglich mit uns zurückzukehren, oder ob Park nicht vielmehr selbst der Ansicht war, mit uns abgeschoben worden zu sein. Besonders lieb war mir keine der beiden Möglichkeiten.

Das plötzliche Klingeln meines Handys ließ Mum und mich gleichermaßen zusammenzucken. Hektisch fingerte ich in meinen Hosentaschen nach dem Telefon; im Display leuchtete Matts Festnetznummer.

»Morgen, Matt«, sagte ich gedehnt und beobachtete, wie Mum sich verstohlen zu mir umwandte. Ha! Damit hatte ich gerechnet. Ganz bestimmt kam sie gerade auf die Idee, mich bei ihm zwischenzuparken, bis sie im Deutschen Viertel alles Wichtige erledigt hatte – wo sein Zuhause doch so gut wie auf dem Weg lag. Aber das würde ich mir nicht gefallen lassen. Diesmal nicht.

Allerdings war es nicht Matt, der mir antwortete, sondern Solweig.

»Endlich erreicht man dich mal«, schimpfte sie. »Du hast gesagt, du wolltest dich melden. Matt und ich haben uns Sorgen gemacht!«

Wollte ich das?, dachte ich. Dann fiel es mir wieder ein: Ich hatte sie beide in der Kneipe stehen lassen. »Entschuldige«, sagte ich platt, »Ich hab’s verschwitzt.«

»Verschwitzt!«, echote sie spitz.

»Was machst du bei Matt?«, fragte ich im Gegenzug. Ich hatte keine Lust, mich weiter zu rechtfertigen.

»Ich hab hier übernachtet«, erwiderte sie. »Wir haben uns überlegt, dass ich mitten in der Nacht besser nicht alleine durch halb London nach Hause fahren sollte.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ihre Worte waren nicht als Rüge gemeint, aber das schlechte Gewissen meldete sich trotzdem. Von Camden Town bis nach Richmond war es nicht gerade ein Katzensprung. Und eigentlich hatte ich ja mit ihr zurückfahren sollen.

»Was war denn mit Garreth?«, entfuhr es mir.

»Der hat Leute kennen gelernt«, erwiderte Solweig. Ich konnte mir ihr Achselzucken bildlich vorstellen. Ihr Bruder lernte des Öfteren Leute kennen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die sich gern mit anderen Menschen umgab und schnell neue Kontakte knüpfte. Das war eine Sache, die er und Solweig gemeinsam hatten. Überhaupt hingen die beiden auch ständig aufeinander. Selbst zu den Musikfestivals fuhren sie immer noch gemeinsam und achteten darauf, einen Teil der Zeit zusammen zu verbringen, obwohl dort jeder seine eigene Clique traf. Ich musste an Solweigs Fotowand denken und daran, dass ihre verstreuten Freunde, mit denen sie zu den Konzerten fuhr, sie mittlerweile am laufenden Band zu sich nach Hause einluden. Unsere gemeinsamen Unternehmungen hatten seitdem abgenommen. Plötzlich fühlte ich mich schuldig, sie in der letzten Nacht einfach sitzengelassen zu haben.

»Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«, fragte Matts Stimme verzerrt aus dem Hintergrund. Anscheinend hatten sie die Lautsprecherfunktion eingeschaltet.

»Worüber denn?«, erwiderte ich ironisch. Ich bemerkte, dass Mum mich aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ihr Blick glitt immer wieder zu mir herüber. In diesem Moment wurde ich mir dessen bewusst, dass ich das Gleiche tat. Bestimmt hatte sie das längst gesehen. Wenn ich viel Pech hatte, dann hatte sie auch bereits verstanden, dass ich über sie sprach.

Ich beschloss, aus der Not eine Tugend zu machen. »Wir sind auf dem Weg zum Arzt«, fügte ich schroff hinzu. Angriff ist die beste Verteidigung.

Neben mir verkrampfte Mum die Hände. Dass offensichtlich auch Solweig und Matt vor ihr Bescheid gewusst hatten, traf sie ins Mark. Ich musste schlucken. Ihr geknickter Anblick war nicht so triumphal, wie ich gehofft hatte.

»Halleluja«, befand Solweig in dem Moment. »Du hast endlich die Zähne auseinanderbekommen.«

»Ich hatte gute Gründe«, entgegnete ich.

Solweigs Antwort belief sich auf ein abfälliges Schnauben.

»Was hat es mit dem komischen Typen gegeben?«, fragte Matt.

Zuerst war ich verwirrt; dann wurde mir klar, dass er Adlard meinte. Das war kein guter Themawechsel. Ich ertappte mich gerade noch rechtzeitig dabei, dass ich drauf und dran war, Mum einen Seitenblick zuzuwerfen. »Kann ich euch das später erklären?«

»Später?«, wiederholte Matt skeptisch.

»Ja«, sagte Solweig zur selben Zeit.

Einen Moment lang herrschte Stille auf ihrer Seite der Leitung. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie einander anstarrten und ihren Disput schweigend ausfochten. Schließlich hörte ich Matt geschlagen ächzen.

»Wann dürfen wir auf deinen Bericht hoffen?«, fragte er mich. Was für ein schlechter Verlierer er doch war!

»Vielleicht eher, als mir lieb ist«, gab ich zurück und mied Mums Blick.

»Yuriy«, sagte Solweig zögerlich, »vielleicht solltest du einfach tun, was sie dir sagt.«

»Was wer sagt?« Matt brach noch mitten im Satz ab; der Groschen war gefallen.

Ich schaffte es nicht, mich Solweig gegenüber unter Kontrolle zu halten. Die hatte Nerven! »›Steck nicht immer zurück‹ – ›Tu, was sie sagt‹«, äffte ich sie nach. »Was denn nun?«

»Lass deinen Ärger nicht an mir aus«, fauchte sie zurück. Und dann, weniger forsch: »Ich habe darüber nachgedacht, was du mir erzählt hast. Und ich glaube, dass sie triftige Gründe für ihr Schweigen haben wird. Wirklich triftige Gründe, meine ich.«

»Danke sehr«, sagte ich und achtete darauf, eine angemessene Portion Ironie in meinen Tonfall zu legen.

Aber Solweig war noch nicht fertig. »Die Congregatio hat die Grenzen gesperrt, Yuriy. Keiner kommt raus oder rein. Sie haben es vorhin im Radio gesagt. Und meine Eltern haben angerufen. Sie wissen nicht, ob sie heute schon zurückkommen können. Die ganzen Flugpläne haben sich nach hinten verschoben.«

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ob Mum davon wusste?

»Das hängt ganz sicher mit den Flugblättern von gestern zusammen«, sagte Matt. »Da ist wieder irgendwas im Gange.«

»Bestimmt«, sagte ich schnell.

Solweig enthielt sich eines Kommentars. »Hör auf deine Mum«, wiederholte sie stattdessen. »Sie wird schon wissen, was sie zu tun hat. Und wenn dazugehört, dass sie dir nichts erzählen darf, dann lass sie auch.«

»Glaubst du, das weiß ich nicht?«, knurrte ich verhalten.

Solweig seufzte auf. »Schon klar, aber gib ihr auch die Zeit, hörst du? Gib ihr einfach Zeit.«

Das waren die letzten Worte, die wir wechselten. Und sie hatten mich kein Stück vorangebracht. So weit war ich auch allein gekommen. Matt sagte nichts dazu. Ich hatte regelrecht vor Augen, wie er bei Solweigs Worten die Stirn runzelte; ich vertraute darauf, dass sie dichthielt. Anders als er, war sie dazu in der Lage.

Als ich aufgelegt hatte, drehte ich mich zu Mum um.

Und sah ihr direkt ins Gesicht.

»Was?«, zischte ich. »Nimmst du’s mir übel?«

»Nein«, sagte sie nur.

»Weil’s dir egal ist?«, bohrte ich weiter. Ich wollte Widerspruch.

Mum sank gegen die Rückenlehne und schüttelte den Kopf. »Weil ich an deiner Stelle wahrscheinlich das Gleiche machen würde.«
 

Die gemeinste Eigenschaft von Ärzten ist, dass sie mit Seelenruhe vorgehen, scheinbar zusammenhanglose Fragen stellen und unablässig in sachverständiger Manier nicken, während sie im Eigentlichen ihr umfassendes Wissen für sich behalten. Dieses Verhalten mochte auf viele Patienten sachverständig und beschwichtigend und damit zwangsläufig beruhigend wirken; bei mir erreichten sie damit das genaue Gegenteil. Auch Jeod Faraday machte da keine Ausnahme.

Für sein Alter von Ende fünfzig war er ein kahler Mann. Unter dem kurzen hellen Haupthaar schimmerte die Kopfhaut hindurch, sein Hinterkopf war gänzlich unbedeckt und zwei breite Geheimratsecken zogen sich bis weit über seine Ohren hinaus. Er machte sich keine Mühe, die lichten Stellen zu kaschieren. Und soweit ich das beurteilen konnte, war er alles andere als elitär.

»Die Attacken haben sich über die Zeit angehäuft, oder?«, fragte er mich, während er sein Stethoskop absetzte.

Ich saß mit entblößtem Oberkörper vor ihm auf der Bahre und ließ ihn meine Atmung untersuchen. Seine erste Frage war die nach meiner Nase und meiner Blessur an der Wange gewesen. Natürlich hatte ich den zerknirschten Burschen gemimt, der die Prügelei mit seinem Klassenkameraden bereut. Mum hatte sich bei Faradays Worten nervös auf die Lippe gebissen. Sie wirkte beinahe verloren, so tief versank sie in dem braunen Lederstuhl. Neben ihr trutzte ein gigantischer Schreibtisch aus Teakholz, der die eine Hälfte des Raumes dominierte. Zu Mums Unmut hatte ich probehalber auf die Tischplatte geklopft, nachdem die Sprechstundenhilfe uns alleingelassen hatte; er war tatsächlich massiv. Auf Faradays Platz lagen der Befund des Ophthalmologen und erste Notizen des Facharztes selbst. Links und rechts des Tisches türmten sich Regale bis unter die Decke des Raumes, gefüllt mit Büchern, Ordnern, Kladden – und Anschauungspräparaten diverser Organe. Auf meine Frage hin hatte Faraday mir todernst versichert, dass sie alle echt seien. Mir so etwas in einem Museum oder einer Ausstellung anzusehen, hätte ich ja reizvoll gefunden, auch als Wissensquelle für meine Zeichnungen. Aber mich tagtäglich mit den Überresten toter Menschen zu umgeben? Ich musste um die Nase ziemlich blass ausgesehen haben; jedenfalls hatte er so viel Mitleid mit mir, dass er mir am Ende augenzwinkernd erklärt hatte, es wären Kunststoffimitate.

»Zuletzt kam es ein paarmal am Tag«, sagte ich zu Faraday und streifte meinen Pullover wieder über.

Zu allem Überfluss lehnte Phillip Park draußen an der geschlossenen Tür. Als wir ihn auf dem Flur zurückgelassen hatten, hatte er ununterbrochen an den Kapseln von Adlard herumgefingert. Wenn ich die Augen zusammenkniff und mich konzentrierte, sah ich durch das fein satinierte Glas, dass er das anscheinend immer noch tat. Es war sicher, dass er Faraday darüber ausfragen würde, sobald meine Untersuchung beendet war. Parks Anwesenheit – obwohl er sich nicht im selben Raum befand wie wir – machte mich nervös. Ich konnte nicht umhin, immer wieder verstohlen zur Tür herüberzuschauen.

»Ich kann nicht kontrollieren, wann es kommt«, sagte ich. »Und die Schmerzen sind immer schlimmer geworden. Am Anfang habe ich nur ein bisschen Kopfschmerzen gehabt, aber letzte Nacht« – ich stockte und warf Mum einen Blick zu – »letzte Nacht ist mein Kreislauf zusammengebrochen, glaube ich.«

»Glaubst du?«, wiederholte Faraday.

»Mir war schwindelig«, sagte ich. »Ich hatte Nasenbluten.«

Da runzelte Faraday die Stirn.

»Er ist auf dem Weg zum Badezimmer umgekippt«, räumte Mum halblaut ein.

Ich spürte meine Ohren heiß werden. »Aber nur, weil ich kein Blut sehen kann«, sagte ich.

Faraday schmunzelte. »Aber meine Präparate anhimmeln, ja?«

Faraday musterte mich. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sich meiner Lüge bewusst war.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Mrs Furlong«, sagte er dann zu Mum und wandte sich seinem Apothekerschrank zu. Zielgerichtet tippte er mit den Fingerspitzen eine der Schubladen an, und ich beobachtete, wie sie nahezu geräuschlos nach vorn glitt. Selbst Mum bekam runde Augen bei dem Anblick.

»Dass er es vor Ihnen geheim halten wollte, ist nicht verwunderlich«, sagte Faraday. »Viele tun das, wenn bei ihnen die Sensibilisierung einsetzt. Kaum ein Magier macht seine Umwelt auf die Veränderung aufmerksam, die er spürt.«

»Aber bei den Ausmaßen?«, warf Mum ein.

Faraday schloss die Schublade. »Es wurde Zeit bei Yuriy, das muss ich sagen. Noch können wir es gut therapieren und in die gewünschte Richtung lenken. Aber ich habe schon ganz andere hier gehabt. Und nicht zu selten.« Er seufzte und wandte sich wieder zu mir um. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein Stift aus rotem Metall. Kupfer oder Messing vielleicht.

»Was ist das für eine Therapie?«, fragte ich.

»Du wirst lernen müssen, deine Magie zu steuern«, erwiderte er. »Wir können das medikamentös unterstützen, sofern das nötig ist. Hast du außer dem Unwohlsein irgendwelche Veränderungen gespürt? Temporärer Natur, meine ich. Und zwar nicht nur dann, wenn die Attacken kamen, sondern vor allem vorher. Geh ruhig um ein paar Stunden zurück.«

Ich zuckte die Achseln. »Gestern beim Feuerwerk haben meine Sinne verrückt gespielt. Ich habe alles intensiver wahrgenommen.«

»Erträglich intensiver?«

»Ich konnte es kaum aushalten«, gab ich zu.

Hinter Faradays Rücken beugte Mum sich mit steifen Bewegungen vor. Ich wandte schnell den Blick ab.

Da nickte Faraday zum ersten Mal wissend. »Gab es noch mehr?«, fragte er mich. »Alles, was dir irgendwie seltsam vorkam.«

Ich wartete einen Augenblick, ob er mir etwas anbieten würde, aber das tat er nicht. Welcher Arzt redet seinen Patienten schon Symptome ein?

Zuerst schüttelte ich den Kopf. Dann fiel mir etwas ein. Als ich mit Adlard zusammengestoßen war, hatte es uns beide von den Beinen gerissen. Zuerst hatte ich angenommen, dass er es eilig gehabt hätte und gerannt wäre. Aber dann hätte er sich niemals so viel Zeit genommen, um mich wieder auf die Beine zu bringen, geschweige denn mir ob meiner Kopflosigkeit nachzustarren. Entweder hatte er das ausgelöst, was uns voneinander hatte abprallen lassen, oder – und das erschien mir im Augenblick wahrscheinlicher – ich.

Als ich Faraday davon erzählte, nickte er abermals. »Das war eine Schutzreaktion deinerseits. Solche Reaktionen, oder eine wie beim Feuerwerk, werden in nächster Zeit häufiger auftreten. Das ist Teil der Sensibilisierung.«

Wie mich das freute!

»Und es leuchtet«, fügte ich hinzu. »Also … die Augen der Leute haben immer geleuchtet. Hinter den Pupillen. In den Pupillen. Es ist schwer zu beschreiben.«

Faraday hob die Brauen; das machte mich unsicher. Ich wagte gar nicht, Mum anzusehen. »Ist das etwa nicht normal?«

Aber Faraday winkte ab. »Das kann deine Ausprägung sein. Du visualisierst Magie. Andere schmecken, hören oder erfühlen sie, oder mehreres davon zugleich. Im Lauf der Sensibilisierung kann sich das bei dir auch noch ändern. Wie sieht Magie aus, wenn du auf sie stößt?«

Ich zuckte die Achseln. »Vielfarbig, irisierend. Ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll.«

»Mancher vergleicht sie mit einem Ölfilm«, sagte Faraday verschmitzt und beugte sich über mich.

Wollte er mich hochnehmen? »Vom Effekt her stimmt es«, erwiderte ich skeptisch.

»Aber?«

»Es leuchtet eben«, wiederholte ich hilflos.

Und Faraday nickte. Und beließ es dabei. »Setz dich ganz entspannt hin«, sagte er. »Ich muss einmal testen, wie du auf Magie reagierst.«

Ich machte es mir so bequem wie möglich. Faraday tastete mit der freien Hand meinen Nacken ab, und ich spürte, wie sich auf meinen Armen die Haare aufstellten.

»Bist du immer so sensibel?«, fragte er ruhig.

»Ja«, sagte ich. Ich hasse es, wenn jemand mich von hinten anfasst. Da kribbelt es mich am ganzen Körper.

Faradays Finger stoppte knapp über meinem Haaransatz. »Jetzt wird es gleich ein wenig kalt werden«, warnte er mich. Dann spürte ich das eisige Metall des Stiftes auf der Haut und zuckte schaudernd zusammen.

»Das nennen Sie ›ein wenig‹!?«, entfuhr es mir. Genauso gut hätte er mir Eiswürfel in den Kragen werfen können!

Mum schüttelte nur den Kopf.

Faraday wartete ab, bis ich mich wieder gefangen hatte. Ich spürte, wie sich der Druck des Metallstiftes verstärkte, und hätte mich am liebsten schon wieder geschüttelt.

»Ich fange jetzt an«, sagte er. »Das wird unangenehm werden. Gib mir Bescheid, sobald du etwas spürst. Und dann noch einmal, wenn es dir zu viel wird.«

»Also wird es wehtun«, schlussfolgerte ich.

»Es wird nicht direkt schmerzhaft, aber unangenehm«, erwiderte er seelenruhig.

Diese diffuse Abfertigung verursachte mir größeres Herzklopfen, als wenn er einfach »Ja« gesagt hätte. Ich wechselte einen Blick mit Mum und sah, dass sie sich das Schmunzeln verkneifen musste. Wahrscheinlich sprach mein Gesicht Bände. Hätte dies hier zwei Tage früher stattgefunden, hätte sie mich sicherlich ausgelacht. Sie wusste, dass mich das zum Durchhalten angestachelt hätte. Aber jetzt standen genau diese beiden Tage zwischen uns wie eine unsichtbare Barriere.

»Locker lassen«, bemerkte Faraday geduldig.

Ich heftete den Blick auf meine Knie und bemühte mich, die Gedanken an Mum beiseitezudrängen.

Die ersten Sekunden wartete ich vergeblich auf eine Veränderung. Dann zog sich von der Stiftspitze aus ein leichtes Prickeln über meinen Rücken. Ich gab Faraday ein Zeichen und spürte, wie sich das Prickeln auf meinen ganzen Körper ausweitete, als wäre ich in Bewegung. Ich schloss die Augen. Den Stift in meinem Nacken vergaß ich schnell. Eine Art Aufregung durchflutete mich, die mich erfrischte, und der ich mich völlig hingab. Ich hatte das Gefühl, eine ganze Weile so dort zu sitzen. Mum sagte mir später, es wäre insgesamt nur knapp eine Minute vergangen, bis Faraday den Stift wieder abgesetzt hatte. Ganz am Rande bemerkte ich irgendwann, dass das Hochgefühl umzuschlagen begann. Die Aufregung machte mich unruhig; ich konnte kaum mehr still sitzen. Das Prickeln wurde zu einem dumpfen Stechen, als würde sich von innen herausetwas durch mein Fleisch bohren. Überaus lästig. Ich wollte aufspringen, das Gefühl loswerden, aber ich war wie an der Liege festgefroren. Es dauerte, bis ich mich endlich daran erinnerte, dass ich nur den Mund aufmachen musste.

»Stopp!«, sagte ich. Lauter als geplant.

Das Prickeln verschwand nicht sofort. Es ebbte langsam ab; viel zu langsam für meinen Geschmack. Ich spürte, wie Faraday das kalte Metall aus meinem Nacken nahm, und ein Schauder überlief mich.

»Das war’s schon«, sagte er. »Du kannst aufstehen.«

Als ich mich neben Mum an dem Tisch niederließ, hatte ich das Gefühl, dass mein Nacken immer noch kribbelte. Kratzen half überhaupt nichts. Mum warf mir einen besorgten Blick zu. Da ließ ich die Hände sinken.

Unterdessen packte Faraday sein Werkzeug wieder ein. »Es gibt ein leichtes Antidot«, sagte er und wandte sich zu uns um, »das wir während der Sensibilisierung verabreichen, um deinen Zustand zu stabilisieren. Deine Reaktionen flauen ab. Du wirst zwar immer wieder welche haben, bis die Sensibilisierung abgeschlossen ist, aber sie werfen dich nicht mehr so aus der Bahn.«

»Klingt gut«, sagte ich überflüssigerweise, was Faraday ein wissendes Lächeln entlockte. Mum legte mir eine Hand aufs Knie.

Faraday setzte sich uns gegenüber und reichte mir über die Tischplatte hinweg ein braunes Fläschchen. Es klebte kein Etikett darauf, aber auf dem Glas entdeckte ich eine Prägung. Vier Säulen, umschlossen von zwölf fünfzackigen Sternen. Das Siegel der Congregatio. Auf der gegenüberliegenden Seite der Flasche verlief ein kurzer Querstrich. Ich drehte sie in den Händen und beobachtete, wie schnell das dünnflüssige Antidot darin den Bewegungen folgte. Wenn ich eines wusste, dann das: Flüssigkeiten schmeckten immer lange nach.

Mein Blick glitt zu Faraday, der das Rezept ausfüllte, und wieder zurück zu dem Antidot in meiner Hand. »Trink mich«, wisperte ich.

Faraday lachte. Sogar Mum entlockte meine Bemerkung ein kleines Schmunzeln.

»Vor dem ersten Benutzen musst du den Deckel nach unten drücken. Deine Tagesdosis liegt bei zehn Tropfen«, erklärte er und wies mit dem Stift auf die Flasche. »Das Beste ist, wenn du sie in eine Wasserflasche gibst und über den Tag hinweg aufbrauchst. Ein geringer, aber kontinuierlicher Nachschub wird meist besser vertragen als die Einzeldosis am Stück.«

Ich nickte bloß und gab ihm die Flasche zurück. Den Medizingeschmack hatte ich regelrecht auf der Zunge.

Faraday packte das Antidot in sein Fach im Apothekerschrank zurück. Augenscheinlich hatte er sich nur hingesetzt, um vertrauensvoller zu wirken. Ich beschloss, mir die Geste zu merken.

»Dann wollen wir mal schauen, was du dir da zur Einnahme besorgt hast.«

Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss, als er die Tür des Behandlungszimmers öffnete.

»Mr Park? Die Kapseln, bitte.«

Der Inquisitor folgte ihm in den Raum, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen, während Faraday die Tabletten in Augenschein nahm.

»Haben Sie eine Verpackung oder einen Beipackzettel?«

Das kam mir sehr bekannt vor. Ich wandte mich zu Park um, aber der hatte den Blick auf Mum gerichtet und machte keine Anstalten, einzugreifen.

Mum schüttelte den Kopf. »Es sind Urians Tabletten«, sagte sie.

»Urian Adlard?«, stieß Faraday hervor. »Wie ist der Junge da rangekommen?«

Ich spürte, wie ich unter der Aufmerksamkeit der drei Erwachsenen schrumpfte. Mum sah mich fordernd an; dieses Geständnis würde sie mir nicht abnehmen.

»Er hat sie mir gegeben, als ich einmal fast zusammengebrochen bin«, nuschelte ich und spürte Mums bohrenden Blick auf mir. »Er sagte, wenn ich noch einmal einen Anfall bekomme, soll ich eine nehmen.« Dass er damit meine Sensibilisierung vor Park und dem Ersten Sekretär hatte vertuschen wollen, würde ich für mich behalten. Ich hätte Adlard zwar mit Freuden eins ausgewischt, aber nicht in diesem speziellen Fall. Eine Hand wäscht die andere. Und wer konnte schon sagen, ob sich das nicht auch auf Mum und mich auswirken würde? Faraday hatte zwar gesagt, dass man meinem Versuch, das Leuchten geheimzuhalten, nicht viel Bedeutung beimessen sollte, aber ich wollte der Congregatio nicht noch mehr Angriffsfläche bieten. Park sah ohnehin schon sehr gut, dass bei uns im Moment so Einiges im Argen lag. Also hielt ich den Mund.

Faraday beobachtete mich genau. »Hast du noch mehr davon?«

Einen Moment lang fehlten mir die Worte. Er musste gemerkt haben, dass ich nicht alles erzählt hatte, aber mit solch einer Schlussfolgerung hatte ich nun gar nicht gerechnet. Ich zwang mich, Park nicht anzusehen. Neben mir spannte Mum sich an. Anscheinend traute sie mir tatsächlich zu, dass ich irgendwo noch mehr von den Dingern versteckte. Zwei Tage früher hätte sie das nicht von mir gedacht, da war ich ganz sicher. Ich schluckte den Ärger herunter und schüttelte den Kopf.

Faraday setzte sich auf und gab Park die Kapseln zurück. »Prinzipiell ist es der gleiche Wirkstoff, den wir zur Umstellung verschreiben, nur in höherer Konzentration«, erklärte er. »Er unterdrückt die Sensibilität. Die zwei Tabletten hätten Yuriy nicht geschadet – wahrscheinlich hätte er sich sogar blendend gefühlt. Würde er sie aber auf Dauer nehmen, würden sie die Umstellung behindern, wenn nicht gar eine Allergie fördern.«

»Man kann gegen Magie allergisch sein?«, echote ich. Vor meinem inneren Auge blitzte Adlards Gesicht auf, wie er aschfahl bei uns in der Einfahrt gestanden und mir gut zugeredet hatte. »Falls es wieder so schlimm wird wie gestern. Aber immer nur eine.«

»Kann man. Davon ist bei dir aber nichts zu sehen.« Faraday betrachtete mich eindringlich und reichte mir das Rezept für das Antidot.

»Zehn Tropfen«, sagte er. »Jeden Tag.«
 

Der Rücksitz des Streifenwagens musste sich während unseres Praxisaufenthalts in eine stoffbezogene Stahlplatte verwandelt haben. Die ganze Fahrt über rutschte ich von einer unbequemen Sitzposition in die nächste. Ich konnte die Augen nicht von Mums Fingern lassen, die unablässig an ihrem Kettenanhänger herumfummelten. Im Versuch, meine eigenen Hände zu beschäftigen, fühlte ich in meiner Jackentasche nach dem Rezept von Faraday und ertastete noch ein anderes Stück Papier. Ich zog eine Ecke hervor; es war das atlantinische Flugblatt.

»Mum«, sagte ich, »Solweig meinte vorhin am Telefon, dass die Congregatio die Grenze abgeriegelt hat.«

»Ich weiß.« Sie ließ von ihrem Anhänger ab und musterte mich scharf. »Du hast ihr nichts erzählt, oder?«

Ich zuckte zurück. »Ihre Eltern sind im Urlaub und wollten heute zurückkommen«, sagte ich geistesgegenwärtig. »Sie stecken am Flughafen fest. Solweig meinte, es lief auch schon im Radio.«

Mum nickte matt; sie hatte mir die Lüge tatsächlich abgenommen.

Ich ließ nicht locker. »Haben sie das wegen Lestard gemacht?«

Mum zuckte die Achseln. »Zuzutrauen wäre es ihnen. Er hat Kontakte ins Ausland, soweit ich weiß.«

Die magischen Regierungsbehörden legten für einen einzelnen Mann den ganzen Grenzverkehr lahm. Bei dem Gedanken schüttelte es mich.

»Waren die Flugblätter gestern auch von ihm?«

Mum runzelte die Stirn.

»Ich hab es an der U-Bahnstation auf dem Infobildschirm gesehen«, log ich. Park sollte nichts davon mitbekommen, dass ich leibhaftig dabei gewesen war.

Da begann Mum erneut, an ihrem Anhänger herumzufingern. »Sie wissen es nicht«, erwiderte sie. »Die Principia hat dazu keine öffentliche Stellungnahme abgegeben.«

Das brachte mich auf eine Idee. »Haben sie denn etwas zu dem Memorium gesagt, das Lestard haben will?«, fragte ich. »Natürlich nicht offiziell. Du hast doch heute Morgen schon mit Lord Belzac gesprochen.«

Als ich den Sekretär erwähnte, versteifte sie sich.

»Bevor du mich geweckt hast«, setzte ich hinzu, damit sie sich nicht herausreden konnte.

Mum stopfte den Anhänger unter den Jackenkragen zurück und verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln.

»Und wenn, dann wären wir trotzdem die Letzten, die davon erfahren.«

LESTARD (VI): »Ihr Galgenhumor ist bewundernswert.«

Urian Adlard gehörte zu den Menschen, die beim Nachdenken nicht stillsitzen können. Dass man seine Handgelenke an die Stuhllehne geschnallt hatte, machte den Bewegungsdrang nur umso schlimmer. Von der unbequemen Haltung waren seine Schultern steif geworden und ein unangenehmes Ziehen in den Muskeln wetteiferte nun mit seinen Kopfschmerzen darum, sich als lästigste Nebenwirkung zu behaupten. Die zwei Gardisten in seinem Rücken schienen zu beiden Seiten der Stahltür eingefroren zu sein, denn sie gaben keinen Laut von sich. Kein Räuspern, kein Schaben von Schuhsohlen bei Gewichtsverlagerung. Nicht einmal ein Stoffrascheln. Urian war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt direkt im Blick behielten. Es gab nicht gerade viel her, sich über Menschen Gedanken zu machen, die man weder hören, noch beobachten konnte. Zumindest, wenn man nicht vor Nervosität verrückt werden wollte. Darüber hinaus hatte er auch nichts anzusehen als die graue Putzwand, die im Licht der Neonröhren grünlich wirkte, und die Tischplatte direkt vor sich. Einundvierzig Kratzer in der Plastikbeschichtung. Er hatte dreimal nachgezählt und sich für jeden einzelnen einen Grund einfallen lassen, wie er dort hingekommen war.

Mittlerweile begann die Wirkung der Tablette nachzulassen; Urian spürte, wie seine Sinne zurückkehrten und sich im Raum ausdehnten. Dort, wo die beiden Gardisten standen, gähnten ihm zwei tote Flecken entgegen. Sie mussten sich abgeschirmt haben. Hätte Urian es darauf angelegt, hätte er ihren Widerstand vielleicht überwinden können, aber das Risiko ging er lieber nicht ein.

Er ertastete die magische Barriere in den Wänden und der Stahltür. Darüber hinaus kam er nicht. Ihm blieb nichts Anderes übrig, als zu warten, bis Eustace Belzac endlich erscheinen würde, um ihn blank zu schälen. Das neue Jahr war kaum zehn Stunden alt und er hatte es bereits geschafft, einen atlantinischen Princeps und den Ersten Sekretär der britischen Congregatio gegen sich aufzubringen. Im Geiste spielte er die Ereignisse der letzten Stunden wieder und wieder durch und kam zu dem Schluss, dass seine Situation im Grunde nur noch zum Lachen war. Die entsprechende Reaktion folgte auf dem Fuße.

Es sollte auch just dieser Moment sein, da Lord Belzac den Raum betrat. Der Erste Sekretär legte die Stirn in Falten, als er den ramponierten Kerl ins Auge fasste, den er an den Stuhl hatte ketten lassen, und der nichts besseres mit sich anzufangen wusste als sich darüber halbtotzulachen. Urian war sich der befremdlichen Wirkung seines Benehmens durchaus bewusst, was es ihm ungleich erschwerte, damit aufzuhören. Jetzt war es so oder so zu spät.

»Mensch, Belzac, altes Haus!«, stieß er hervor.

Der Sekretär nahm ihm gegenüber Platz und schob wortlos einen Papierfetzen über den Tisch, den Blick auf Urian gerichtet. Der Zettel erstickte Urians Hochgefühl; er verschluckte sich an seinem eigenen Gelächter.

Du bist unverbesserlich. Welch Ironie.

Lord Belzac wartete mit ineinander gefalteten Händen ab, bis Urian sich wieder gefangen hatte.

»Ihr Galgenhumor ist bewundernswert.«

Urian bleckte die Zähne zu einem Lächeln. »Ich hatte zehn Jahre, um mich auf ein zweites Treffen dieser Art vorzubereiten.«

Lord Belzac nickte. »Ich bin gespannt, was ich dieses Mal zu hören bekomme.«

Urian streckte den Rücken gegen die Schulterschmerzen. »Sie wollen wissen, woher ich die Platzwunde habe?«, erwiderte er.

Lord Belzac blickte ihn mit gerunzelter Stirn an, den Mund leicht geöffnet. Als er begriff, spielte ein dünnes Lächeln um seine Lippen. »Ich bin ganz Ohr, Mr Adlard.«

Urian verdrängte das Bedürfnis, die Arme vor der Brust zu verschränken. »Wo haben Sie den Inquisitor gelassen? Heute keine Memorien?«

»Ob ich Mr Park dazu hole, mache ich von Ihrer Geschichte abhängig.«

Urians Grinsen wurde noch breiter. »Ist er Ihnen schon ein Klotz am Bein?«

»Er begleitet Mrs Furlong zum Arzt«, erklärte der Sekretär. »Er hat etwas von einem Antidot gehört, das jemand ihrem Sohn zugesteckt hat. Sie werden also noch Gelegenheit haben, ihn wiederzusehen.«

Urian spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

Lord Belzac erlaubte sich die Andeutung eines triumphierenden Lächelns. »Heute sind Sie in der Bringpflicht. Ich warte.«

Urians Nasenflügel blähten sich. »Rufen Sie Park an«, sagte er schroff. »Wenn ich fertig bin, stehen Ihnen die Haare zu Berge.«

Lord Belzac lächelte unverändert. »Und das können Sie mir garantieren?«

Einen Moment lang musterte Urian den Sekretär. »Ich bin nicht mit leeren Händen hier«, sagte er schließlich.

Die Augen des Sekretärs blitzten auf.

»Ich habe Besuch bekommen. Und Post«, fuhr Urian fort. »Ein Brief liegt noch bei mir zu Hause.«

Lord Belzac schnalzte mit der Zunge. »Ich nehme an, da Sie jetzt die Zeit gefunden haben, mich davon in Kenntnis zu setzen, werden Sie ihn mir mit Freuden aushändigen.«

Urian zuckte die Achseln. Dass der Sekretär so schnell auf ihn eingehen würde, hatte er nicht gedacht. Vielleicht sollte er vorsichtiger sein.

Lord Belzac schaute ihm prüfend ins Gesicht. Als Urian seinem Blick standhielt, wandte er sich an die Gardisten, die bisher unbeweglich neben der Tür verharrt hatten.

»Holen Sie den Inquisitor zurück«, befahl er. »Und geben Sie mir Jorrin de Rijk.«

LESTARD (VII): »Kein Ding schickt sich, dünkt mich, bass, als gut Trank und gute Lieder.«

Der Name der Kneipe war in Metalllettern an die Außenmauer geschlagen. Auf Deutsch. Und er sprach sich absolut schrecklich aus. Deutsches Viertel. Das vertrug sich nicht mit unserer Satzgrammatik. Dagegen klang Solweigs Formulierung »irgend so eine Kneipe« hochgradig elaboriert. Deutsches Viertel. Ich spürte regelrecht den Pelz auf der Zunge.

Noch dazu trugen die Umstände, unter denen wir ankamen, maßgeblich zu meiner dürftigen Laune bei. Der entscheidende Grund, weshalb Mum mich nicht dazu verdonnerte, im Auto auf ihre Rückkehr zu warten, ist simpel: Das besagte Auto war nicht ihres. Schlimmer noch – es war ein Streifenwagen. Ein Gardewagen.

Zumindest diesmal konnte sie mich nicht einfach so abwimmeln. Beim Aussteigen genehmigte ich es mir, meinen kleinen Triumph zu feiern, indem ich die Wagentür mit einem breiten Grinsen im Gesicht und viel mehr Schwung als nötig zuschlug. Die Erwachsenen warfen mir dafür skeptische Blicke zu, und ich stellte mit Genugtuung fest, dass Mum sich die Rüge verbiss. Sie wusste genau, dass ich all das nur tat, um ihr eins auszuwischen, und später würde sie mir für mein Verhalten die Ohren langziehen. Ich beschloss, die verbleibende Zeit zu nutzen, um so viele Informationen wie möglich aufzusaugen. Dann hatte ich hoffentlich etwas, das ich ihr entgegenhalten konnte.

In der nächsten Sekunde sollte sich mein Siegesgefühl jedoch ins genaue Gegenteil verkehren. Wir hatten die Straße noch nicht einmal überquert, da verließ ein blau uniformierter Kerl das Deutsche Viertel und trat auf uns zu, um Park beiseite zu ziehen und ihm irgendetwas zuzuflüstern. Ich beobachtete, wie der Inquisitor die Augen aufriss, einen kurzen Blick in unsere Richtung schickte und, als der Gardist weitersprach, das Gesicht verzog, als hätte er auf etwas Saures gebissen. Mums Hand krallte sich um meine Schulter. Als ich hochschaute, hatte sie nur Augen für die beiden Beamten und kaute angespannt auf ihrer Unterlippe.

Bis Park auf uns zustiefelte und erklärte, dass er uns nun verlassen müsse, uns aber in der Obhut der Garde wohlverwahrt wisse.

Ich musterte den Blaurock, der noch immer an der Stelle stand, an der Park ihn nach ihrem Gespräch zurückgelassen hatte. Er war im Höchstfall zehn Jahre älter als ich und herausgeputzt wie ein Paradepferd. Schwerer Stoff, gestärkt und erstklassig in Form gebügelt. Kein krummes Nähtchen, keine Bartstoppel, und unter seiner Kappe lugte nicht ein Härchen hervor. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, aber die Form seiner Augenbrauen hatte etwas Künstliches an sich, als würde er sie zupfen. So also musste man aussehen, wenn man der Garde angehörte: Das auf Hochglanz polierte Aushängeschild der Congregatio Magica. An seinem Waffenrock ruhten ein Paar Schlagstöcke und eine Schusswaffe. Mit Sicherheit beherrschte er beide, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Bubi sie jemals in einer ernsthaften Auseinandersetzung in Gebrauch gehabt hätte. Die alten Herren vom Vorstand der Gordon Stout wären mit der Nasenspitze aufs Pflaster gestoßen, so tief hätten sie sich vor ihm verneigt.

Mum verschränkte die Arme vor der Brust. »Hat Lord Belzac Sie zurückgerufen?«, fragte sie Park.

Der Inquisitor schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln und schritt ohne ein weiteres Wort an uns vorbei. Mir schoss der Gedanke an einen gut gezielten Faustschlag durch den Kopf. Mums Blick nach, musste sie an etwas Ähnliches denken.

»Richten Sie dem Sekretär aus, dass ich mich nicht länger gängeln lasse«, fauchte sie hinter ihm her.

Park drehte sich zu ihr um. »Wir wollen Ihnen nichts Böses, Mrs Furlong«, sagte er, »auch wenn wir Sie nicht in jeden unserer Schritte einweihen. Sie sollten damit aufhören, unsere Operation zu boykottieren.«

»Oh, empfiehlt sich das?«, fauchte Mum ironisch.

»Halten Sie sich zurück«, entgegnete er.

Ich konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. Sie sollten damit aufhören. Er klang schon genauso wie der Sekretär.

Mum kochte vor Wut, sagte aber nichts mehr. Ich streckte eine Hand nach ihrer aus, bremste mich jedoch mittendrin. Mein Großvater hätte hier sein müssen – von ihm ließ sie sich wenigstens beeinflussen.

Also drückte Park uns den Blaurock aufs Auge (oder umgekehrt – der Blick des Gardisten ließ beide Schlüsse zu) und stieg zurück ins Auto, um sich zu Lord Belzac fahren zu lassen.

Mum und ich standen auf dem Bordstein und starrten dem Streifenwagen nach, bis er außer Sicht verschwunden war. Da angelte Mum ihre Zigaretten aus der Jackentasche.

Der Gardist räusperte sich. »Das wird noch ein wenig warten müssen.«

Mum verdrehte die Augen, senkte aber das Feuerzeug.

»Der Hauptmann will Sie sprechen«, sagte der Gardist.

Seufzend nahm Mum die Zigarette aus dem Mund und packte sie wieder ein. »Na, das überrascht mich aber.«
 

Als wir den Schankraum betraten, wandte sich uns eine Schar Gesichter zu. Die rege Geräuschkulisse riss ab, als hätten alle Gäste zugleich ihre Zungen verschluckt. Vom Tresen her hörte ich ein Glas klirren – der Kellner hatte danebengegriffen. Die Leute tauschten irritierte bis ungläubige Blicke miteinander. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass unsere Ankunft in Begleitung eines Gardisten nicht gerade ein feierlicher Umstand war.

Der Einzige, der kein bisschen irritiert schien, war ein ebenfalls uniformierter Zweimetermann, der am Tresen stand und sich mit einem Lächeln auf den Zügen zu uns umgedreht hatte. Den Abzeichen auf seiner Uniform nach, musste er um Einiges höher stehen als der Gardist, der uns hergebracht hatte. Also war er der Hauptmann. Ich beobachtete, wie der Wirt sich zu ihm hinüberbeugte und mit strenger Miene irgendetwas murmelte. Der Riese lächelte ihm entschuldigend zu und winkte mit einer knappen Erwiderung ab. Dann richtete er sich auf und kam zwischen den Tischen hindurch auf uns zu.

Ich schaute über die Schulter. Mum stand stocksteif hinter mir, die Lippen zusammengepresst und die Augen auf den Hünen gerichtet, ohne einmal zu blinzeln. Das war ein ganz schlechtes Zeichen.

Die Leute am Tresen und an den Tischen verfolgten jede seiner Bewegungen, als hätten sie Angst, dass er sie im nächsten Moment vom Stuhl zerren könnte. Da blieb er stehen und blickte kopfschüttelnd in die Runde. »Also bitte. Weitermachen, Leute.«

Und tatsächlich wandten sich die Gäste nach und nach wieder ihren Tischnachbarn zu. Die Gespräche hoben erneut an, wenn auch merklich gedämpfter.

»Hallo Charlotte«, sagte er.

»Hallo Jorrin«, sagte sie steif. »Du hast dich gemausert, wie ich sehe.«

Er zwinkerte ihr zu. »Was treibt dich her?«

Mum neigte den Kopf und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. »Das weißt du sehr gut.«

Er seufzte tief. »Du kennst die Regeln. Uniform hin oder her.«

Ich schluckte. Zeitgleich bemerkte ich jedoch, dass Mums Verkrampfung sich löste. Ich musterte den Hauptmann, mit dem sie augenscheinlich per Du war. Welche genaue Bedeutung seine Worte auch haben mussten, sie konnte nicht schlecht für uns sein.

Ich spürte, dass sie mir eine Hand auf die Schulter legte. »Jorrin de Rijk«, sagte sie, »das ist Yuriy.«

Sein Blick heftete sich auf mich, und er war freundlicher, als ich erwartet hätte. Als er mir die Hand gab, deutete er eine Verbeugung an, damit ich den Kopf nicht ganz so hoch recken musste. Dann legte er Mum den Arm um die Schultern und führte sie von der Tür weg. Der junge Gardist richtete seinen Waffengurt – anscheinend nur, um etwas zu tun zu haben, denn er saß jetzt nicht anders als zuvor – und folgte uns.

»Du wirst dich nicht erinnern«, sagte der Hauptmann zu mir, »aber als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du mir nicht mal ans Knie gereicht.«

In Gedanken feierte ich mein Glück: Noch einer mehr, bei dem ich auf jedes Wörtchen achten musste. »Bis an die Nasenspitze werde ich Ihnen wohl auch nie reichen«, sagte ich.

Da breitete sich ein spitzbübisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Charlotte, so gern ich dich hab – aber das ist der Vater, so viel steht fest.«

Ich spitzte die Ohren. Prompt bohrten sich Mums Finger in meine Schulter. Nicht fragen. Klappe halten. Eine klare Ansage. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass ich mir noch unsicher war, wie ich diesen Jorrin zu nehmen hatte. Ansonsten hätte ich ihn nach allen Regeln der Kunst ausgehorcht. Ich wusste, wie man als Kind Erwachsene umgarnte. Dafür hatte sie mir oft genug die Leviten gelesen.

»Ich muss hier etwas erledigen«, erklärte sie schroff.

Jorrin de Rijk ließ von ihr ab und hob abwehrend die Hände. »Dann wollen wir dich nicht aufhalten.«

Sie betrachtete ihn eingehend. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Er zuckte die Achseln und zündete sich demonstrativ eine Zigarette an. »Wir haben Zeit.«

»Das hab ich befürchtet«, erwiderte sie und fasste mich an der Schulter, um mich ein Stück weit zurückzuziehen. »Warte hier«, sagte sie zu mir und wollte sich an den Blauröcken vorbeischieben.

Der junge Gardist fasste nach ihrem Arm, aber Mum zuckte schneller zurück als er zupacken konnte.

»Das unterlassen Sie besser«, sagte er.

»Dito«, zischte sie.

Der Hauptmann klopfte ihm auf die Schulter. »Sachte – was könnte eine Dame in Herrenbegleitung in einer gastronomischen Lokalität in Ruhe tun wollen?«

Der Gardist runzelte skeptisch die Stirn, aber als er dem Blick seines Vorgesetzten begegnete, zog er sich von Mum zurück.

»Herzlichen Dank«, zischte sie den jungen Kerl an. Dann bedachte sie den Hauptmann mit einem dankbaren Nicken und nahm, anders als zuvor beabsichtigt, jetzt den Weg mitten zwischen ihnen hindurch.

Ihr Ziel war der schmale Flur hinter dem Schankraum, in den ich Adlard in der letzten Nacht gefolgt war. Ich reckte den Hals, um an den Gardisten vorbeisehen zu können. Als Mum abgebogen war, ließ ich mich gegen die Tischplatte sinken. Ich musste mich zusammenreißen, um Jorrin de Rijk nicht von Kopf bis Fuß zu mustern. Wie gerne hätte ich ihn ausgefragt! Zur Ablenkung stieß ich mit dem Fuß gegen eines der Tischbeine.

Der Hauptmann warf mir einen Seitenblick zu. »Ich glaube, ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte er. »Aber dein Benehmen wirft kein besonders gutes Licht auf deine Mutter.«

Ich setzte beide Füße auf dem Boden auf und schaute von ihm zu seinem Lakaien und wieder zurück. »Die Bemerkung über die gastronomische Lokalität … Was sollte das gerade?«

Der Gardist bedachte mich mit einem Blick, der mir eindeutig mitteilte, dass mich das einen feuchten Kehricht anging. Ich erwiderte seine Freundlichkeit mit gleicher Münze.

Der Hauptmann zwinkerte mir zu. »Diese vier Wände sind wie eine eigene kleine Welt, weißt du.«

Und wie ich das wusste! Mums Worte von unserem Gespräch in der letzten Nacht hatte ich noch deutlich im Ohr. »Im Deutschen Viertel gibt es genug Leute, die ihre Finger im Spiel haben könnten.« Und das war nicht das Einzige, was ich behalten hatte.

Der Hauptmann lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Guck nicht so böse, Jungchen, das sind alles nette Leute, die hier rumlaufen.«

Ich verkniff mir eine Bemerkung und widerstand dem Drang, mich umzusehen. Stattdessen behielt ich die beiden Blauröcke im Auge. Der junge Gardist schien alles andere als zufrieden mit seiner Lage zu sein. Sein Blick glitt prüfend in Richtung des Flurs, der zu den Hinterzimmern führte. Er traute Mum kein Stück. Er sah aus, als würde er sie, sobald er sie gefunden hatte, ohne viel Federlesens mit sich in den Schankraum zurückschleifen wollen. Ihre Drohung schien ihn nicht zu interessieren.

Er weiß ja auch nicht, wie sie zuschlagen kann, dachte ich und ließ einem entsprechenden Kurzfilm vor meinem inneren Auge freien Lauf.

Jorrin de Rijk schaute sich das Verhalten seines Gefolgsmanns nicht lange an. Bevor der Gardist den Hals überhaupt richtig recken konnte, klopfte der Hauptmann ihm herrisch vor die Brust. »Hast du Bewegungsdrang? Geh und hol dem Jungen was zu trinken.«

Der Gardist starrte ihn an, als hätte er sich eine Maulschelle gefangen. »Verzeihung, Hauptmann«, erwiderte er zackig und wandte sich zu mir um, damit ich bloß schnell meinen Wunsch äußerte.

In diesem Moment bemerkte ich, dass mir die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben stand, und bemühte mich um etwas mehr Ernsthaftigkeit. »Danke, aber ich möchte nichts.«

Der Hauptmann schüttelte entschieden den Kopf. »Nur ein Dummkopf schlägt eine Einladung aus.« Damit pfiff er seinen Gardisten bei Fuß und erklärte: »Eine Limo für den Jungen. Geht auf meine Rechnung.«

Der arme Kerl wagte nicht einmal, mit der Wimper zu zucken, aber wir wussten alle drei, wie gern er jetzt im Boden versunken wäre. Als er sich zum Tresen aufmachte, sah ich, dass noch andere Gäste Zeugen seiner Disziplinierung geworden waren und teils mehr, teils weniger auffällig hinter ihm hergrinsten.

Der Hauptmann drückte seine Zigarette aus. »Dass junge Leute immer glauben müssen, sie wüssten alles besser.«

Ich verkniff mir eine Bemerkung und zwang mich, den Tisch loszulassen.

»Es gibt einen Kodex in diesem Laden«, meinte er zu mir. »Was im Deutschen Viertel passiert, bleibt auch im Deutschen Viertel

Ich konnte mir nicht erklären, weshalb ich so interessant für ihn sein sollte. Zumindest Mum musste ein gewisses Vertrauen zu ihm haben, wenn sie mich einfach bei ihm zurückließ. »Warum erzählen Sie mir das?«

»Damit du dich beruhigst.« Er lächelte und wies zu dem Stützgebälk hinauf, das sich über den Tresen spannte. »Kannst du lesen, was da steht?«

Die Verse, die er meinte, waren sorgfältig von Hand ins Holz geschnitzt und weiß eingestrichen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Trinkspruch. Die Buchstaben waren schön anzusehen, aber leider war der Text auf Deutsch verfasst. Kein Wunder.

Darunter, auf Augenhöhe, kam gerade der Gardist mit meinem Getränk zurück. Der Wirt grüßte in unsere Richtung und der Hauptmann hob im Gegenzug die Hand. Als ich schweigsam blieb, las er vor:
 

»Bitte, meine guten Brüder

Auf die Musik und ein Glas!

Kein Ding schickt sich, dünkt mich, bass

Als gut Trank und gute Lieder.

Lass ich gleich nicht viel zu erben,

Ei, so hab ich edlen Wein!

Will mit andern lustig sein,

Muss ich gleich alleine sterben.«
 

Was für ein Angeber. Ob man das während der Ausbildung lernte? Ich schielte zu dem Wirt herüber, der emsig damit beschäftigt war, zwischen Zapfhahn, Flaschen und Kaffeemaschine hin und her zu wuseln und dem Kellner, der um die Tische flitzte, neue Tabletts zu beladen. Vielleicht hatte der Hauptmann ja auch einfach die Deutschen gefragt. Das lag zumindest nahe, wo sie sich doch anscheinend so gut verstanden.

»Ich spreche kein Deutsch«, betonte ich und nahm dem Gardisten mit einem Dankeswort von Engelszungen die Limonade ab.

Da grinste der Hauptmann mich an. »Es bedeutet, dass du deine Zeit zum Guten nutzen sollst. Zum Frohsinn und Genuss. Und zur Geselligkeit.«

Ich zwang mich, das Lächeln zu erwidern, verkorkste es aber.

Jorrin de Rijk musterte mich. Mit Wohlwollen, aber intensiv. Ich riss mich zusammen.

»Soweit ich weiß, hat dir niemand verboten, dich umzusehen«, sagte er. »Aber fass nichts an.«

»Keine Sorge«, erwiderte ich gedehnt.

Unter dem wissenden Blick des Hauptmanns entfernte mich von ihnen. Ich drehte das Glas in den Händen und ließ den Blick über die Tische schweifen, während ich auf den Tresen zulief. Die Leute, die mein Interesse bemerkten, warfen mir ihrerseits Blicke zu. An sich keine verwunderliche Reaktion. Ein Minderjähriger hatte hier nichts zu suchen. Ich atmete tief durch. Ein ganz normaler Pub – genauso wie in der Nacht zuvor, als ich das Deutsche Viertel tatsächlich für nichts anderes gehalten hatte. Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte.

Innerlich zählte ich die Sekunden. Mum war immer noch nicht zurückgekommen. Ich wollte wissen, was sie so lange trieb. Der Kodex des Hauptmanns konnte mir gestohlen bleiben.

Wahrscheinlich würden die Blauröcke mich im Auge behalten. Aber wenn ich es ganz, ganz geschickt anstellte, konnte ich mich vielleicht außer Sicht und dann in den Flur zu den Hinterräumen schleichen.

Ich warf einen prüfenden Blick zurück zu der Stelle, wo ich Jorrin de Rijk und seinen Gefolgsmann zurückgelassen hatte, und stockte, als ich nur den jungen Gardisten dort stehen sah. Der schaute missmutig zwischen dem Flur und mir hin und her. Sofort suchte ich den Schankraum mit den Augen ab, aber den massigen Körper des Hauptmanns entdeckte ich nirgendwo.

Der Fall lag auf der Hand.

So ein Stinktier!

Ich knallte das Glas auf den Tresen, dass die Limonade spritzte. Der Wirt und ein Gast, der direkt neben mir auf einem Hocker saß, starrten mich aus großen Augen an, aber ich ignorierte sie und stampfte auf die Eingangstür zu. Der Gardist blickte hinter mir her, augenscheinlich nicht ganz sicher, ob er mir nun auch noch würde hinausfolgen müssen. Als ich auf der Straße stand, sah ich, dass er sich immerhin ans Fenster bemüht hatte, um mich nicht aus den Augen zu verlieren.

Es hatte wieder angefangen zu schneien. Die Straßen hatten sich geleert; die Leute, die es an Tagen wie heute auf die umliegenden Märkte trieb, waren entweder bereits dort angekommen oder hatten für die Dauer des Schneefalls einen Unterschlupf gesucht.

Ich spielte mit dem Gedanken, den Gardisten zu einer Runde »Katz und Maus« herauszufordern, verwarf die Idee jedoch recht schnell wieder. Ich hatte keine Ahnung, was der Hauptmann gerade mit Mum besprach. Für den Fall, dass es sich um keine allzu freundliche Unterhaltung handelte, wollte ich nicht auch noch querschlagen und ihr noch mehr Schwierigkeiten bescheren. Also würde ich notgedrungen hier vor der Tür warten und Däumchen drehen. Wenn ich auch nur einen Fuß zurück in diese Kneipe setzte, würde ich explodieren.

Ich sollte ihr wenigstens Bescheid sagen, schoss es mir durch den Kopf.

Fahrig kramte ich mein Handy aus der Hosentasche. Ich hatte das SMS-Menü schon geöffnet, da hielt ich inne.

Nein.

Zumindest das sollte der Gardist ruhig für mich übernehmen.
 

Sich an Charlotte Furlong heranzuschleichen, war normalerweise ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest während ihrer Ausbildung hatte Jorrin de Rijk stets das Gefühl gehabt. Sie alle hatten Techniken gelernt, um sich lautlos zu bewegen, doch bei Charlotte war es so gewesen, als liefe sie auf Luft. Umso mehr überraschte es ihn jetzt, dass er direkt an sie herantreten und sie zweimal ansprechen musste, ehe sie reagierte.

»Und, alles erledigt?«

Charlotte lächelte mild und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Heute nicht bei der Neujahrsparade, Hauptmann?«

»Dort sind andere.« Jorrin grinste und blickte sich im Innenhof um. Im Sommer herrschte hier ein reger Biergartenbetrieb, aber zu dieser Zeit des Jahres lag das Pflaster brach und eisüberzogen vor ihnen. In der letzten Nacht musste hier eine ansehnliche Menge Leute herumgelaufen sein; braune Fußspuren hatten den Schnee zerwühlt. Sie waren das Einzige, das noch von der Feier zeugte.

»Uns zieht es eher an zwielichtige Orte, was?«, fügte er hinzu. »Was dagegen, wenn ich mitrauche?«

Charlotte zuckte die Achseln.

»Du hast lange nichts von dir hören lassen«, bemerkte er.

»Ich hatte eigentlich auch nicht vor, mich hier noch einmal sehen zu lassen«, erwiderte sie.

Er zögerte einen Moment. »Vielleicht hättest du es dabei belassen sollen.«

Sie wandte sich zu ihm um. »Hat der Sekretär dich auf mich angesetzt?«

Jorrin lachte. »Selbstverständlich hat er das. Und er weiß genauso gut wie wir, was für ein Ort das Deutsche Viertel ist.«

Charlotte schüttelte den Kopf. In diesem Moment begann es wieder zu schneien. Sie nahm sich die Zeit, den letzten Zigarettenzug schweigend zu genießen, zusammen mit dem Blick auf die weiße Fläche, die sich vor ihren Füßen schloss. Sie wollte den Stummel gerade in den Schnee fallen lassen, als Jorrin ihr den Aschenbecher hinhielt. Darin befanden sich bereits zwei Kippen – jemand hatte eindeutig vor ihr die Idee gehabt, hier seiner Sucht zu frönen.

Sie kam um ein Lächeln nicht herum. »Du bist so korrekt.«

Er zwinkerte ihr zu und stellte den Aschenbecher auf die Fensterbank zurück, von der er ihn genommen hatte. »Ist nicht die schlechteste Eigenschaft.«

Sie verdrehte die Augen und fingerte in ihrer Jackentasche nach dem Feuerzeug und nach ihren Zigaretten. Letztere klemmten. Schon wieder. Jorrin schaute ihr einen Moment lang schmunzelnd zu, dann bot er ihr seine Packung an.

»Alles, was Recht ist«, meinte er.

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu, nahm die Zigarette aber an. »Also«, fuhr sie fort und zog die Glut an. »Warum lässt er zu, dass ich mich hier aufhalte? Dass ich tue und lasse, was ich will?«

Er betrachtete sie aus dem Augenwinkel. »Willst du ihm wieder querkommen?«

»Ich will wissen, was gerade passiert«, gab sie zurück. »Und wage es nicht, mir jetzt zu raten, dass ich ihn einfach machen lassen soll. Das steht mir bis Oberkante Unterlippe!«

Jorrins Mundwinkel zuckten. »Dann halte ich wohl besser die Klappe, was?«, sagte er und schnippte mit gewichtiger Miene Asche in den Schnee.

Charlotte warf ihm unter gehobenen Augenbrauen einen Blick zu, den er mit einem breiten Grinsen quittierte, die Zigarette zwischen den Zähnen. Jorrin sah die Belustigung, mit der sie ihn betrachtete. Ihre Haltung hatte sich ein wenig entspannt.

Die restlichen Minuten standen sie schweigend nebeneinander. Schließlich streckte Charlotte fordernd die Hand aus und er reichte ihr mit einer kleinen Verbeugung erneut den Aschenbecher.

»Und, was machst du jetzt?«

Ihr Blick glitt zwischen der Eingangstür und dem Innenhof hin und her. »Ich weiß noch nicht. Nach Hause gehen und mir etwas überlegen.«

»Ich kann euch fahren«, erklärte er.

Charlottes Augen wurden schmal. Sie suchte die Stellen im Schnee, wo zuvor die Asche hingerieselt war, doch unter den frischen Flocken war kaum mehr etwas auszumachen.

»Ich glaube, das wäre mir recht.«

LESTARD (VIII): »Das ist eine miese Aktion, weißt du das?«

Der Gardist beobachtete mich wie ein Wachhund. Zwar hatte er sich mittlerweile auf ein Gespräch mit drei anderen Gästen eingelassen, aber über ein seichtes Palaver schien es nicht hinauszugehen. Offenkundig störten seine Gesprächspartner sich auch nicht daran, dass er mich die gesamte Unterhaltung über penibel im Auge behielt.

Natürlich verfuhr ich ebenso mit ihm, auch wenn ich versuchte, es nicht so offensichtlich zu tun. Nebenbei fand ich heraus, dass das Deutsche Viertel immer über Mittag schloss und erst ab Neun Uhr abends seine Pforten wieder öffnete. Ich schaufelte die Reste einer Rakete, die beim Aufräumen vergessen worden war, mit dem Fuß aus einer Schneewehe. Auf der Anschlagtafel ging ich die Namen sämtlicher angebotener Biere durch und schloss anhand der Namen darauf, dass die Liste international war. Das ließ mich stocken. Damit sich der rege Import lohnte, musste der Wirt enorme Abnehmerzahlen dafür haben. Dabei war diese Straße abseits der Märkte gelegen und das Deutsche Viertel sicherlich kein Ort, der Touristen anzog.

Mein Blick ging wieder zu dem Fenster zurück, wo der Gardist beiläufig mit den Gästen sprach – keine Briten, womöglich. Ich lehnte mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite gut sichtbar an die Hauswand und erwiderte das unablässige Starren des Gardisten demonstrativ. Weil der Boden des Deutschen Viertels unterhalb des Straßenniveaus lag und die Fenster entsprechend niedrig eingelassen waren, sah es so aus, als wuchsen die Oberkörper der vier Männer geradewegs aus dem Pflasterstein.

In diesem Moment horchte der Gardist auf und der sichtbare Teil seines Körpers wandte sich vom Fenster ab. Ich sah, wie er sich stockgerade aufbaute und dann aus meinem Blickfeld eilte. Bestimmt hatte er Mum und den Hauptmann gesehen. Ich bohrte die Schuhspitze so tief wie möglich in den Grund. Hoffentlich fing er sich für mein Verschwinden wenigstens eine ordentliche Standpauke ein.

Nur Sekunden später traten sie auf die Straße hinaus; Mum vorweg, dann Jorrin de Rijk und zum Schluss der Gardist, der die Tür aufgehalten hatte. Weder er, noch der Hauptmann schienen unzufrieden zu sein. Jetzt ärgerte ich mich, dass ich die Sache nicht ausgereizt hatte.

Selbst Mum wirkte entspannter, wie sie da an der Seite des Hauptmanns stand. Als ihr Blick auf mich fiel, starrte ich so finster zurück, wie ich konnte. Ich würde nicht einen Schritt tun.

Also biss Mum in den sauren Apfel und überquerte die Straße, um mich abzuholen.

»Jorrin fährt uns nach Hause«, sagte sie.

»Ich komme nicht mit«, erwiderte ich. Das war ein spontaner Entschluss.

Meine Aufmüpfigkeit ging ihr quer, aber sie wartete schweigend ab. Sie hatte ein schlechtes Gewissen.

»Ich fahre zu Matt«, bluffte ich unterkühlt und fand mich ziemlich überzeugend.

Mum zögerte einen Moment. »Ich denke, wir können dich da absetzen«, sagte sie schließlich.

»Das ist nicht nötig«, ließ ich sie wissen. »Ich fahre U-Bahn.«

Sie warf einen Blick zu dem Gardehauptmann zurück, der mit seinem Lakaien geduldig wartete.

»Warum fragst du ihn nicht um Erlaubnis?«, fauchte ich.

Da wirbelte sie herum. »Halt deine Zunge im Zaum. Ich versuche, die besten Bedingungen für uns herauszuholen.«

»Was für Bedingungen?«, blaffte ich.

»Ich habe dir gesagt, dass ich unter ihrer Beobachtung nicht so mit dir reden kann, wie ich es gerne würde.«

»Richtig, du redest überhaupt nicht mehr mit mir«, gab ich zurück.

»Verdreh mir nicht die Worte! Ich erwarte nicht von dir, dass du vor ihnen im Staub kriechst, aber hör auf, mir andauernd in den Rücken zu fallen!«

»Hör du auf, mich ins offene Messer rennen zu lassen«, entgegnete ich. »So wie mit deinem Ausgehverbot und den Sendern.»

Sie setzte zu einer Erwiderung an, aber ich ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

»Oder mit Adlard«, warf ich ihr entgegen und nickte zu dem Hauptmann hinüber, der angefangen hatte, sich mit seinem Gardisten zu unterhalten. »Der sieht nicht aus, als hätte er dich gezwungen, mit ihm zu fahren. Wenn du unbedingt Tacheles mit mir reden willst, wieso nutzt du dann jede Gelegenheit, um in der Nähe der Congregatio zu bleiben?«

Sie biss die Zähne zusammen. Ich sah ihre Kiefermuskeln arbeiten. Ich hatte sie durchschaut und sie wusste, dass sie sich nicht mehr herausreden konnte.

»Du schiebst es nicht bloß auf«, sagte ich. »Du willst mir gar nichts erklären.«

Mum sackte sichtbar zusammen. Die Bemerkung hatte gesessen. Ihr Blick huschte zwischen mir und dem Schnee zu unseren Füßen hin und her. Sie hatte Mühe, mich anzusehen. Als sie es endlich schaffte, sich zusammenzureißen, waren ihre Augen glasig.

»Es ist nicht so einfach, weißt du«, sagte sie. »Ich hatte damit abgeschlossen. Ich will nicht, dass jetzt alles, was wir haben, zugrunde geht.«

Ich wich vor ihr zurück. Sie starrte mich an wie einen Fremden.

»Hör auf, immer um mein Verständnis zu betteln«, rief ich mit überkippender Stimme. »Ich verstehe gar nichts!«

Sie presste die Lippen aufeinander und streckte die Hand nach mir aus, aber ich warf mich herum. Ich wollte keinen Moment länger bleiben.

»Es tut mir Leid«, hörte ich sie hinter mir sagen.

Ich atmete tief durch die Nase ein und stiefelte weiter, ohne mich umzusehen. Die Erleichterung gönnte ich ihr nicht, und ich wollte auch genauso wenig, dass sie sah, wie hart ich schlucken musste.

Als die U-Bahnstation in Sicht kam, verlangsamte ich meinen Schritt. Am Fuß der Treppe hielt ich an, fischte mein Handy aus der Hosentasche und drückte die Kurzwahl für Solweigs Nummer.

»Bist du noch bei Matt?«, fragte ich, als sie endlich abhob. Meine Stimme war heiser; ich musste mich mehrmals räuspern.

»Ja, bin ich«, erwiderte sie verdutzt.

Verdammt! Ich trat mit der Ferse gegen die unterste Treppenstufe.

Mein Schweigen dauerte lange genug, um Solweig in Alarmbereitschaft zu versetzen. »Was ist passiert?«, stieß sie hervor.

»Mir fällt die Decke auf den Kopf«, erklärte ich. Die Heiserkeit ließ sich nicht unterdrücken. »Können wir uns treffen? Ich muss dir was erzählen.«

Solweig ächzte gequält. »Das ist eine miese Aktion, weißt du das?«

Natürlich wusste ich das. Wieso musste sie es mir auch noch unter die Nase reiben? Ich schluckte und überflog den Fahrplan, um zu sehen, wann der nächste Zug nach Hampstead fuhr. Am liebsten hätte ich das Handy in der Faust zerquetscht.

»Yuriy?«, erkundigte sie sich, als ich nicht antwortete.

Da gab ich mir einen Ruck. »Ich kann in vierzig Minuten bei euch sein.«
 

Als ich in Hampstead den U-Bahnschacht verließ, schneite es noch immer. Die Wolkendecke hatte die Farben geschluckt und tauchte alles in eine diffuse graue Dämmerung. Auf den Straßen lag eine unberührte Schneefläche. Meine Füße pflügten eine tiefe Spur mitten hindurch, die sich nur wenige Meter hinter mir wieder in den frischen Wehen auflöste. Von der Bahnstation aus war es bis zu Matts Haus ein Weg von knapp über zwanzig Minuten, wenn man in strammem Tempo lief. Meine Hosenbeine hatten sich bis zur Mitte meiner Unterschenkel mit Wasser vollgesogen und die dünne Eisschicht, die sich gebildet hatte, knackte bei jedem Schritt. Kälte spürte ich nicht – die würde kommen, sobald der Stoff wieder auftaute. Ich hatte vielleicht noch einen Kilometer Weg zurückzulegen, da sah ich, wie mir jemand entgegenstapfte. Ich erstarrte, als ich Solweig erkannte.

»Was wird das denn?«, entfuhr es mir, noch ehe sie vor mir zum Stehen kam.

»Ich gehe dir entgegen«, erwiderte sie.

»Wieso?« Ich stockte. »Hast du ihm irgendwas gesagt?«

Sie runzelte missbilligend die Stirn. »Matt ist nicht blöd, weißt du. Er meinte, dass du in seiner Gegenwart ja nicht sprichst. Also sollte ich alleine gehen.«

»Er schickt dich vor?« Ich traute meinen Ohren nicht. Was für eine Memme.

Da schüttelte Solweig den Kopf. »Sei kein Idiot! Er ist weder beleidigt, noch versteckt er sich«, sagte sie. »Er macht sich Sorgen um dich und er denkt, dass du dich besser fühlst, wenn wir alleine sind.«

»Und deshalb hat er dich mal eben rausgeworfen, oder was?«, fauchte ich. »Wie nobel von ihm, bei dem strahlenden Sonnenschein.«

»Zwischen ihm und mir ist alles in Ordnung«, gab sie zurück. »Du bist derjenige, der sich zurückgezogen hat. Er weiß nicht, was er denken soll. Ich hab ihm gesagt, dass es nicht an ihm liegt, aber glaubst du, das kauft er mir ab, wenn du ihn immer schneidest?«

Ich erwiderte ihren Blick schweigend. Warum konnte ich nicht wenigstens hier ein leichtes Spiel haben?

»Sag an«, forderte sie. »Mir wird kalt.«

Ich trat von einem Bein aufs andere. »Was würdest du an meiner Stelle machen?«

Sie versteifte sich augenblicklich. »Das ist ein Scherz, oder?«

Ich zuckte nur entschuldigend die Achseln. Auf noch einen hitzigen Wortwechsel hatte ich keine Lust. Außerdem stand mir wahrscheinlich noch ein dritter mit Matt bevor. Ich gestattete mir einen tiefen Seufzer, dann schob ich mich an Solweig vorbei und stapfte weiter auf Matts Haus zu.

Sie schloss wortlos zu mir auf. Ich muss einen ziemlich verlorenen Eindruck auf sie gemacht haben, denn irgendwann spürte ich, wie ihre Finger nach meiner Hand tasteten. Sie waren eiskalt, aber ich griff dankbar zu.

So brachten wir die letzten paar hundert Meter hinter uns. Sobald das Anwesen von Matts Familie vor uns aufragte, fiel ich zurück. Aus den hohen Sprossenfenstern streute sich das Licht wie weiße Spiegelscherben in die verschneite Einfahrt. Ich hatte das Gefühl, unter der dichten Schneedecke das jahrhundertealte Kopfsteinpflaster zu spüren. Mit jedem Schritt fürchtete ich zu straucheln. Solweig drückte meine Hand und zog mich weiter.

Vor der Haustür verließ mich der Mut. »Gib mir ein paar Sekunden zum Sammeln«, murmelte ich.

Hätte Solweig nicht irgendwann die Sache in die Hand genommen, hätten wir da wohl endlos gestanden. Sie war es, die die eiserne Schelle betätigte, und sie war auch diejenige, die Matts Vater mit einem strahlenden Lächeln begrüßte, als er uns die Tür öffnete.

Im Großen und Ganzen sah Mr Carrol mit seinem blonden Lockenkopf aus wie Matt, nur um dreißig Jahre gealtert und in einen maßgeschneiderten Anzug gepfercht. Wahrscheinlich wirkte er auch genauso unwiderstehlich auf Frauen wie sein Sohn und genauso unnahbar, weshalb ihn niemals eine ansprach. Zumindest hatte er das Gesicht und den Körper dafür, die stolze Haltung und den gut betuchten Auftritt. Und eine Dame an seiner Seite, die seiner imposanten Erscheinung in nichts nachstand. Er hatte sich bis zum Personalchef aufgeschwungen – in demselben Konzern, für den Breca den Großteil seines Lebens als Schmiedemeister und Ausbilder gearbeitet hatte. Den Posten hatte Mr Carrol aber erst nach der Pensionierung meines Großvaters bekommen – nicht, dass ihr etwas Falsches von Matts Vater denkt.

»Guten Tag, Mr Carrol«, sagte ich höflich.

Er musterte mich aus halb geschlossenen Lidern, ohne den Kopf auch nur ein Stückweit zu mir herunter zu neigen. »Grüß dich, Yuriy«, sagte er und reichte mir fahrig die Hand. »Wie geht es deiner Mutter?«

»Gut, Mr Carrol, danke«, sagte ich und kam nicht um den Gedanken herum, dass er in seinem glattzüngigen Verhalten auf bizarre Weise Lord Belzac ähnelte.

Unser unterkühltes Begrüßungsritual beschränkte sich jedes Mal auf genau diese sechzehn Wörter, und zwar, seit Mum Matts Eltern kennengelernt hatte. Sie und Mr Carrol hatten »Standpunkte ausgetauscht«, wie Mum es genannt hatte. Sie mochte es auch tatsächlich so gemeint haben. Aber sie war niemand, der seine Gesprächspartner mit Samthandschuhen anfasste. Wenn meine Mutter diskutierte, kamen die wenigsten Leute mit oder gar gegen sie an. Von dem Tag an herrschte zwischen ihr und Mr Carrol eine mit gegenseitigem Respekt gepflegte Abneigung. Trafen sie sich auf der Straße, grüßten sie sich; ansonsten existierten sie in gegenseitigem Einvernehmen einfach nebeneinander her. An sich sollte man meinen, dass das für Matt und mich keine Rolle spielte. Das eigentliche Problem daran war aber, dass Mr und Mrs Carrol, seit sie meine Mutter getroffen hatten, auch mich mit einiger Reserviertheit behandelten. Kam Matt zu uns, war er genauso willkommen wie vor dem Treffen unserer Eltern. Wenn ich mich aber im Haus der Carrols aufhielt, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich beobachteten. Als wollten sie sichergehen, dass ich nicht in die falsche Richtung schlug. Meine heimliche Sorge war, dass sie irgendwann zu ebendieser Überzeugung kommen und als Konsequenz daraus ihrem Sohn den Umgang mit mir verbieten würden. Aber mit Matt konnte ich darüber nicht reden.

Aus diesem Grund überließ ich auch Solweig jede weitere Plauderei, bis sie und Mr Carrol sich endlich voneinander loseisen konnten. Bei meinem ersten Besuch im Haus der Carrols hatte ich minutenlang nur in der offenen Haustür gestanden und die Weitläufigkeit der Eingangshalle bestaunt. Zu beiden Seiten wuchsen Treppen aus Naturstein aus dem Mauerwerk, die, beleuchtet von schlanken Wandstrahlern, in die Galerie hinaufführten. Flügeltüren aus dunklem Holz wiesen den Weg in die Wohnräume, und dazwischen streckten sich Statuen von Menschen aus weißem Metall auf ihren Sockeln. Ich liebte die Lebendigkeit, die ihren Gestiken innewohnte; sie wirkten, als hätte man sie mitten in der Bewegung eingegossen. Einen Tag hatte ich mich auf die unteren Treppenstufen gesetzt, um sie abzumalen, und war verzweifelt, weil meine Zeichnungen nicht an die Anmut der Statuen herangereicht hatten. Die aufwändige Lichtinstallation an der Decke goss einen schattenlosen, diffusen Lichtschleier auf den Parkettboden. Ohne jeden Zweifel war die Atmosphäre bei jedem Empfang spektakulär und derart repräsentativ, dass selbst den Herren vom Vorstand der Gordon Stout die Kinnladen heruntergefallen wären. Damals hatte ich mich daran nicht satt sehen können. Heute verwendete ich nicht einen Blick darauf. Ich hatte die breite Steintreppe noch nie so flink erklommen wie an diesem ersten Januar; Solweig hatte fast Mühe, mitzuhalten.

»Flüchtest du immer so vor ihm?«, wisperte sie verständnislos, als ich auf dem oberen Treppenabsatz innehielt.

»Nicht so«, wiegelte ich ab. Wenig überzeugend, aber immerhin war ihr einziger Kommentar dazu ein tadelndes Augenverdrehen. Jetzt wurde mir auch siedend heiß wieder bewusst, dass ich vom Regen in die Traufe geraten war. Auf dem Weg zu Matts Zimmer ließ ich Solweig vorangehen.

Matt staunte nicht schlecht, als ich in ihrem Kielwasser durch die Tür schlich. Er saß auf seinem Bett – der krausen Decke nach zu urteilen, hatte er bis eben gelegen – und verfolgte mein Eintreten mit offenem Mund. Über ihm sah ich sein Snowboard an der Wand hängen; den Aufdruck mit den auffliegenden Rabensilhouetten hatte ich drei Jahre zuvor für ihn entworfen, als seine Eltern es ihm geschenkt hatten.

»Angenehme Wanderung gehabt?«, fragte er uns.

Solweig ließ sich achselzuckend auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Ich beobachtete, wie sie ihre Zehen zum Auftauen in den Teppich grub. »Ich hab dir gesagt, dass ich zurückkomme«, antwortete sie gelassen. »Mit ihm.«

Ich warf ihr einen Seitenblick zu und atmete hörbar aus. Sie sollte nicht denken, dass sie damit einfach durchkommen würde.

Auch Matt schien von ihrem »Erfolg« völlig überrumpelt zu sein. Zumindest sagte er erst einmal nichts mehr. Er war offensichtlich wirklich davon überzeugt gewesen, dass ich ihm etwas verschwieg und dass ich mich mit Solweig zurückziehen und mich bei ihr ausheulen würde. Umso peinlicher, dass mein eigentlicher Plan im Grunde nicht anders ausgesehen hatte. In diesem Moment verspürte ich allerdings eher den Drang, mich auf der Stelle umzudrehen und wieder in das Schneegestöber hinaus zu stampfen. Das war dieser Situation hier ohne große Überlegung vorzuziehen. Ich musste unbedingt Dampf ablassen.

»Du weißt schon, dass das eine miese Aktion war?«, sagte ich ironisch zu Solweig.

Sie setzte zu sprechen an, aber Matt kam ihr zuvor.

»Ich hab ihr gesagt, dass sie alleine mit dir reden soll«, sagte er.

»Das weiß ich schon«, erklärte ich.

Solweig biss sich auf die Lippen. Ihr Plan, zwischen uns zu vermitteln, ging nicht auf. Selbst Schuld.

Matt ließ sich nicht durcheinanderbringen. »Ich weiß nicht warum«, fuhr er fort, »aber seit wir diesen Streit vor dem Physikraum hatten, meidest du mich. Du warst die ganze Zeit völlig neben der Spur und Solweig schien mehr zu wissen. Also dachte ich, wenn du sie einweihst und mich aber nicht, dass meine Anwesenheit dich nur bedrängen würde.«

»Und fühlst du dich damit jetzt edel?«, zischte ich. »Es liegt nicht an dem Streit.«

Meine Hosenbeine begannen schwer zu werden – der Schnee taute auf. Ich zögerte einen Moment, dann fügte ich hinzu: »Es ist auch nicht deine Schuld. Ich habe bloß den Kopf voll mit Dingen.«

Weshalb hatte ich mich breitschlagen lassen, Matt jetzt und hier unter die Augen zu treten? Ich schaute zu Solweig, die neben mir still geworden war. Plötzlich überkam mich ein schlechtes Gewissen. Sie hatte sich einfach nicht zwischen die Stühle ziehen lassen wollen. Und ich hatte sie immer wieder vor diese Entscheidung gestellt.

Ich hätte im Boden versinken mögen. »Es tut mir Leid, dass ich dich mit da reingeritten habe«, sagte ich zu ihr und wandte mich zur Tür.

Hinter mir sprang Matt vom Bett auf.

»Bleib gefälligst hier!«, bellte er.

Ich fuhr auf dem Absatz herum. Den Tonfall kannte ich gar nicht von ihm. »Pfeif mich nicht so von hinten an«, sagte ich und achtete darauf, dass der drohende Unterton nicht zu kurz kam.

Matt baute sich vor mir auf. »Dann hör auf, so ein Theater zu veranstalten«, entgegnete er. »Erst ignorierst du mich. Dann jammerst du Solweig die Ohren voll. Dann kommst du in mein Haus und blaffst sie an, weil sie dir helfen wollte, und dann haust du wieder ab, ohne auch nur ein Problem mal angepackt zu haben – was ist eigentlich los mit dir?«

Ich stand vor ihm wie ein geprügelter Hund und schwieg, unfähig, auch nur einen seiner Vorwürfe auszuhebeln. Solweig anzusehen, wagte ich nicht. Ich wollte zwar wissen, wie sie Matts Worte aufnahm. Aber es würde ohne Zweifel so aussehen, als würde ich schon wieder von ihr erwarten, dass sie sich vor mich stellte. Stattdessen zwang ich mich, Matts Blick zu erwidern. Ich war ihm nie unterlegen gewesen. Niemals.

Empfindet Mum das Gleiche?, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder ihr müdes Gesicht und wie verzweifelt sie um Worte rang. Ich hatte das Gefühl, innerlich zusammenzufallen.

»Also?«, forderte Matt. Hinter seinen Schläfen sah ich die Gedanken schier heißlaufen. Ich musste reden, bevor er sich seine eigene Erklärung für mein Verhalten ausgedacht hatte. Dann wäre es egal, was ich sagte, wir würden so oder so aneinandergeraten.

»Was hat denn dein Arztbesuch ergeben?«, kam er mir zur Hilfe.

»Ich bin Magier«, erklärte ich schroff. Angriff ist die beste Verteidigung.

Matt starrte mich ungläubig an. Also erzählte ich ihm von Faraday, dem Test mit dem Metallstift und von dem Prozess, den der Arzt »Sensibilisierung« genannt hatte und der meine Anfälle auslöste.

Matt nickte eine kurze Weile vor sich hin, als erleichterte ihm diese Geste das Verarbeiten.

Ich erlaubte es mir, Solweig einen kurzen Blick zuzuwerfen. Sie sah mich an, aber ich hatte keine Ahnung, was sie denken mochte.

»Und das nimmt dich so sehr in Anspruch?«, fragte Matt dazwischen.

Ich zuckte zusammen. Er wusste, dass er bloß an der Oberfläche gekratzt hatte, und war kein bisschen zufriedengestellt. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

»Erinnerst du dich noch an den Typen, den ich gestern Abend verfolgt habe?«, fragte ich.

Matt hob die Brauen.

»Er ist ein Bekannter von Mum. Er hat rausbekommen, dass ich auf –«, ich unterbrach mich und suchte einen Moment nach dem passenden Wort, »dass sich mein Körper umstellt. Und als er gemerkt hat, dass ich Mum nichts erzählt habe, hat er mir Tabletten zugesteckt, damit ich nicht mehr solche Attacken bekomme. Aber Mum hat das herausgefunden und wollte ihn zur Rede stellen. Eigentlich sind die nämlich nicht für die Einnahme während der Sensibilisierung gedacht. Also für die Umstellung. Was ich gerade durchmache.«

Er nickte erneut, ungeduldig diesmal, damit ich endlich zum Punkt kam.

»Und jetzt ist der Kerl wie vom Erdboden verschluckt und Mum tut ganz geheimnisvoll und rückt nicht mit der Sprache raus. Und wir haben einen unglaublichen Hickhack mit den Behörden wegen meiner Magie, weil ich so spät dran bin und weil ich Mum so lange nichts davon erzählt habe, und wegen diesem Typen. Und vorhin haben wir uns deshalb gestritten und ich bin abgehauen.«

So klang die Geschichte doch recht überzeugend. Zumindest für Matts Ohren, der mir offenbar jedes Wort glaubte. Solweig gab vor, ihre Fingernägel vom Dreck zu säubern und warf mir hinter der Deckung einen strengen Blick zu, den ich aber ignorierte. Wie ich schon so reuevoll eingesehen hatte, war das hier allein meine Sache. Ich wagte es nicht, Matt noch mehr zu erzählen. Er würde darüber mit seinen Eltern sprechen, weil das viel zu groß für ihn allein war, und das konnte ich ihm nicht einmal verdenken. Aber seine Eltern waren eben nicht wie Mum. Seine Eltern würden …

Sie würden was auch immer mit ihm tun. In jeder Hinsicht würden sie ihn beeinflussen, und so, wie ich die Sache sah, wohl eher zum Negativen hin. Gegen mich, soll das heißen. Wenn ich Pech hatte, genügte schon die Information, dass Mum sich augenscheinlich mit so fragwürdigen Gestalten wie Adlard abgab. Von dem und unserem netten Zusammentreffen in der vergangenen Nacht hatte Mr Carrol bestimmt auch schon gehört.

Aber das konnte ich Matt nicht an den Kopf werfen. Nicht jetzt. Wenn ich in dieser Situation damit herausrückte, würde ich alles kaputtmachen. Irgendwann würden wir darüber reden. Dann, wenn ich mit Mum ins Reine gekommen war.

Ich schaute Matt wieder an. Meine kleine Geschichte hatte er mir abgenommen. Aber er wartete immer noch auf eine Begründung, warum ich ihm nicht eher davon erzählt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er reagieren würde, falls ich ihm irgendwann gestand, was wirklich passiert war. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken.

»Gib mir noch ein bisschen Zeit«, sagte ich überstürzt. »Du bist mein Freund und das bleibst du auch –«

Ich unterbrach mich. Das klang so bescheuert.

Matt wartete weiterhin ab.

Ich sah hilfesuchend zu Solweig, aber sie schaute betreten zu Boden.

»Ich erklär es dir irgendwann«, seufzte ich. »Ich finde jetzt nicht die passenden Worte dafür.« Das waren zwar weniger salbungsvolle Phrasen, aber immerhin waren sie ehrlich.

»Die passenden Worte, damit es gut klingt?«, hakte Matt säuerlich nach.

Ich schnappte nach Luft. Das reichte. Ich hatte mich genug entblößt.

»Weißt du, solche Kommentare haben auch dazu beigetragen, dass ich dir nichts erzählt habe«, sagte ich hart.

Matt fuhr zusammen und erbleichte. Auf den Gegenschlag war er nicht gefasst gewesen. Das war meine Gelegenheit, das Ruder herumzureißen.

»Ich will nicht schon wieder streiten«, erklärte ich schnell. »Aber ich muss ein paar Sachen klären, die einfach Vorrang haben.«

Ich bot ihm ein zaghaftes Lächeln an. Er dachte einen Moment schweigend nach und musterte dann Solweig, aber sie verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte seinen Blick geradeheraus. Als er schließlich nickte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Hauptsache, ich hatte ihn erst einmal ruhig gestellt. Später konnte ich mich immer noch um ihn kümmern. Im Augenblick hatte ich an genug Fronten zu kämpfen – vor allem musste ich mich bei Mum entschuldigen.
 

Das Schneetreiben nahm kein Ende. Als ich am Leicester Square umgestiegen war, hatte ich auf dem Infobildschirm gesehen, dass die Schneemassen den Beginn der Neujahrsparade verzögert hatten. Räumfahrzeuge befuhren Londons Straßen im Dauereinsatz und – was für mich wesentlich interessanter war – auch die Landesgrenzen, wo immer noch der Ausnahmezustand herrschte. Mittlerweile konnten die ersten Reisenden passieren, aber nur unter strengsten Sicherheitskontrollen. Die Bilder zeigten Schlangen von Wagen, auf den Flughäfen und an den Bahnhöfen wimmelte es von Leuten. Mitarbeiter, Sicherheitspersonal und Reisende, alle regten sich auf und keiner konnte ein Ende absehen. Lestard ließ sich seine kleine Revolte viel kosten. Wer wusste schon, ob wir die Einzigen waren, die Belzac observieren ließ?

Ich dachte kurz an Solweig, deren Eltern irgendwo in dem Getümmel feststeckten, und wieder befiel mich das schlechte Gewissen.

Nicht, schalt ich mich selbst. Ich musste eine Baustelle nach der anderen abarbeiten.

Vor unserem Haus stand ein schwarzes Automobil. Es war zur Hälfte eingeschneit, aber die Jugend und die hochwertige Verarbeitung sah man ihm trotzdem an. Unter dem Lack schimmerte die Bronzefarbe des Ultraleichtmetalls hindurch, mit dem sie auch die Hochbahnen bauten. Auf den Türflügeln prangte gut sichtbar der Adler der Garde. Der Wagen gehörte ohne Zweifel dem Hauptmann.

Kurz bevor ich in unsere Einfahrt einbog, sah ich, wie Jorrin de Rijk aus der Haustür trat. Schlagartig spürte ich meinen Puls unter der Bauchdecke. Die letzten Schritte legte ich im Laufschritt zurück. Als der Riese mich erkannte, lächelte er.

»Grüß dich, Jungchen.«

Ich holte tief Luft. Eine solche Gelegenheit kam einmal in tausend Jahren.

»Herr Hauptmann«, stieß ich hervor, »woher kennen Sie meine Eltern?«

Jorrin de Rijk verzog spöttisch den Mund. »Warum viele Worte lassen, was?«

Ich wartete ab. Er neckte mich nicht unfreundlich, aber ich hatte keinen Nerv für Spielchen.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf über mich und zündete sich eine Zigarette an. »Ich nehme an, du rauchst noch nicht?«, scherzte er.

Eine Zigarettenlänge. Das war alles, was ich an Zeit von ihm erwarten konnte. Und ich fand es mehr als in Ordnung. Er ließ sich Zeit für den ersten Zug und beobachtete, wie ich ungeduldig herumzappelte. Er musste mich auf die Folter spannen. Das gehörte dazu.

»Wir waren zusammen in der Grundausbildung, dein Vater und ich«, sagte er schließlich.

»Waren Sie das, ja?« Meine Stimme schraubte sich in ungeahnte Höhen. Jeder Versuch, mich zurückhaltend zu geben, war hoffnungslos. Ich war hibbelig wie ein Kleinkind zu Weihnachten.

Der Hauptmann zwinkerte mir zu. »Ist ein guter Kerl gewesen, dein Vater. Estelan.« Als er den Namen erwähnte, huschte ein Grinsen über sein Gesicht. Er rauchte eine Weile gedankenverloren.

Ich merkte am plötzlichen Schmerz, dass ich mir vor lauter Erwartung auf die Wange gebissen hatte. Jedes Mal, wenn die Zigarettenspitze aufglomm, hoffte ich auf weitere Worte, aber Jorrin de Rijk schwelgte offensichtlich in Erinnerungen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.

»Kannten Sie meinen Vater gut?«, fragte ich ihn. Die beiden Worte wurde ich nicht Leid.

»Wir kamen eine Zeit lang ziemlich gut miteinander aus«, sagte der Hauptmann achselzuckend. »Ein Schlitzohr war er. Und ein schlechter Verlierer, oh, und dann konnte er wettern!« Da riss er die Augen auf und zeigte mit der Zigarette in meine Richtung. »Apropos!«

Ich zuckte zusammen.

Er betrachtete mich streng. »Erinnerst du dich an deine Limonade? Hendel musste das Glas wegwerfen, so einen Sprung hatte es.«

Ich biss mir auf die Lippen.

Da schmunzelte Jorrin de Rijk. »Du hast ganz eindeutig seinen Charme.«

Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Von der Zigarette war nicht mehr viel übrig, und viel Neues hatte ich nicht erfahren.

»Haben Sie ihn auch so aufs Glatteis geführt?«, fragte ich.

»Estelan hat schnell dazugelernt, vor allem, wie die Leute ticken.« Der Hauptmann lupfte die Augenbrauen. »Außerdem war er der schlimme Finger. Ich war nur der Mitläufer. Was nicht heißt, dass ich keinen Gefallen an den Streichen gefunden hätte, aber den Ruf hatte er weg. Er hat sich mit jedem angelegt, der ihm querkam. Hat sich gerne Ärger eingehandelt. Ohne einen ordentlichen Zwist war ihm langweilig. Das haben zumindest die Leute gesagt.«

Ich nickte; das hatte ich schon öfter gehört.

Er schaute nachdenklich auf seine Zigarette. »Ich hab selten jemanden mit einem so starken Selbstantrieb gesehen. Er war einer von den wenigen, die deine Mutter ausstechen können«, sagte er. »Zumindest manchmal.«

Ich beobachtete, wie er den letzten Ascherest vom Filter schnippte. Mein Magen zog sich zusammen.

Der Hauptmann rückte seinen Mantel zurecht und wandte sich mir wieder zu. »Wie dem auch sei. Vielleicht ergibt sich ja mal eine Gelegenheit.«

Ich schluckte bloß. Ich brachte kein Wort heraus.

»Frohes neues Jahr, Yuriy.« Er klopfte mir auf die Schulter und schritt an mir vorbei. Während er seinen Wagen vom Schnee befreite, schaute ich ihm wie hypnotisiert zu. Erst, als der Motor zum Leben erwachte und das Automobil langsam davonrollte, kam ich wieder zu mir.

»Frohes Neues«, stammelte ich viel zu spät.

Jorrin de Rijk hatte ja keinen Schimmer, was er soeben für mich getan hatte.
 

Breca öffnete mir die Tür, als ich gerade den Finger auf die Klingel setzen wollte.

»Habt ihr euch gut unterhalten?«, fragte er verschmitzt.

Ich erwiderte seinen Blick argwöhnisch.

»Keine Sorge, ich schweige wie ein Grab. Komm rein«, sagte er und zog mich in den Flur. »Und sei leise. Charlotte hat sich hingelegt.«

»Mum hat was?«, echote ich gepresst.

Breca schloss die Tür hinter mir und betrachtete eingehend die Klinke. »Dein Hauptmann wirkt Wunder, wie mir scheint.«

»Er hat sie dazu überredet?«

Breca zuckte die Achseln. »Ich hab mir den Mund fusselig geredet, aber auf den eigenen Vater hört man ja nicht.«

Ich grinste ihn an. »Was musste er tun?«

Breca legte den Kopf schief und beobachtete mich aus dem Augenwinkel. »Sagen wir, er findet offensichtlich die richtigen Worte.«

Ich kopierte seinen verschwörerischen Gesichtsausdruck und schwieg.

Da stieß er mich in mein Zimmer. »Zieh deine nassen Sachen aus, oder du holst dir was weg.«

»Zu Befehl, Herr Gardegeneral«, erwiderte ich. Mittlerweile war ich in Hochstimmung.

»Der Gardegeneral verdonnert dich gleich zum Spießrutenlauf«, brummte Breca und ließ mich allein, damit ich mich umziehen konnte.

Als ich mein Zimmer wieder verließ, hörte ich das Blubbern der Kaffeemaschine und folgte ihm in die Küche. Breca stand vor der Küchenzeile, die Lesebrille auf der Nase, und überflog die Titelseite der Zeitung, die auf der Arbeitsplatte lag.

Ich füllte mir ein Glas mit Leitungswasser; eher, um etwas zu tun zu haben denn vor Durst. »War Lord Belzac noch bei dir, als Mum und Mr de Rijk zurückgekommen sind?«

»Der gute Sekretär hatte mir heute Morgen nicht sehr viel zu erzählen«, antwortete Breca, ohne seinen Lesefluss zu unterbrechen, und blätterte die Seite um. »Er hat die Memorien mitgenommen.«

Ich ließ beinahe das Glas fallen. »Du hast mehrere gemacht?«

Ich hatte noch lebhaft vor Augen, wie gebrechlich er bei meiner Rückkehr in der vorherigen Nacht im Türrahmen gestanden hatte.

»Zwei«, erwiderte er.

Ich starrte ihn an. Als von mir nichts mehr kam, sah er auf.

»Das war eine von Lestards Bedingungen«, sagte er schlicht. »Er hat mir für zwei Erinnerungen die Artefakte dagelassen. Von der zweiten sollte Lord Belzac eigentlich nichts erfahren.«

»Wie hat er es dann rausgefunden?«, fragte ich.

Breca wandte sich wieder der Zeitung zu. »Die Inquisition verfügt über Vollmachten, die ihnen mehr oder weniger tiefgreifende Einsichten erlauben. Für nichts anderes hat Lord Belzac Mr Park dazugeholt.«

An meinen Armen stellten sich die Haare auf. »Mr Adlard meint, die Inquisition zieht den Leuten ihren Geist zur Nase heraus«, lästerte ein Echo von Parks Stimme in meinem Kopf. Ich schüttelte mich unwillkürlich.

»Haben sie Mum auch –«, ich zögerte, »– was auch immer sie denn tun?«

Breca hielt im Lesen inne und warf mir einen Blick zu. Er musste nicht antworten, damit ich Bescheid wusste.

Ich konnte mich nur mit Mühe beherrschen. Die Sender waren überall um uns herum und ich hatte große Lust, Belzacs Lakaien darüber in Kenntnis zu setzen, was ich von ihnen hielt. Hätte Mum sich nicht gerade jetzt ausgeruht, hätte ich meinen Schöpfergeist lautstark an einem Katalog von Kraftausdrücken ausgetobt. Wenn Belzac oder dieser Park meinen Weg das nächste Mal kreuzten, würde ich ihnen die Köpfe abreißen und sie am großen Zeiger des Uhrenturms aufhängen, damit sie im Themsegestank verrotteten. Das hätte ich unglaublich gerne laut gesagt – das Bild gefiel mir viel zu gut, um es totzuschweigen.

»Haben sie sich wenigstens auch diesen Adlard vorgenommen?«, fauchte ich halblaut.

Breca atmete hörbar aus. »So schnell, wie der Sekretär heute Morgen war, haben sie ihn schon wieder am Schlafittchen«, murmelte er und schüttete sich eine Tasse Kaffee ein.

»Ich hoffe es«, knurrte ich.

Breca warf mir einen strengen Blick zu. »Das ist kein Spaß, Yuriy.«

»Was mischt er sich ein?«, gab ich zurück.

»Tja.« Breca klang nicht im Geringsten überzeugt. »Wo wir gerade von ihm sprechen«, fuhr er fort, »was hat denn Faraday gesagt?«

Ich spielte mit meinem Glas herum. »Es ist nicht gefährlich bei mir. Er hat mir ein Medikament verordnet und jetzt kriegen wir es in den Griff.«

»So?« Er musterte mich.

»Ja«, sagte ich und stellte mein Glas auf dem Spülstein ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Ich sehe mal nach Mum.«

»Weck sie nicht auf«, wisperte Breca hinter mir her.

Ich verdrehte die Augen.

Breca bedachte mich mit einem strafenden Blick, bevor er mich entließ. Reiß dich ein bisschen am Riemen.

In Mums Zimmer war es bitterkalt. Das Fenster stand einen Spalt weit offen und der Sichtschutz war zur Seite geschoben. Draußen fiel immer noch Schnee; der Himmel war so zugezogen, dass ohnehin nicht viel Licht den Boden erreichte. Mum lag mit dem Gesicht zu mir und hatte sich halb aus der Decke gewühlt.

»Du tust auch alles dafür, todkrank zu werden, oder?«, fragte ich sie und schloss das Fenster.

Sie ließ einen dumpfen Laut hören, der annähernd wie »Stuss« klang.

»Mum«, flüsterte ich. »Bist du wach?«

Ich sah, wie sie zu lächeln begann. Behutsam zog ich ihr die Decke über die Schultern und fuhr mit dem Finger ihre Augenbraue nach. Ihre Lider zuckten unruhig. Sie klopfte sachte auf die Matratze. Als ich stehen blieb, tastete sie mit der Hand nach mir. Ich berührte ihre Finger und ließ mich neben ihr aufs Bett sinken. Sie legte den Arm um mich und zog mich an sich, ohne die Augen auch nur einmal zu öffnen. Ich konnte es kaum glauben, aber sie war warm wie ein Backofen.

»Was ich vorhin gesagt habe«, raunte ich, »das nehme ich zurück.«

Sie antwortete nicht. Also schaute ich sie an. Ihre Lippen waren vollkommen entspannt; sie war kurz vorm Einschlafen. Jetzt fiel mir auf, dass sie ihren Anhänger nicht trug. Ich drehte mich vorsichtig um, damit ich den Nachttisch einsehen konnte, ohne sie wieder aufzuwecken, doch bis auf die kleine Leuchte, ihren Wecker und ihre Armbanduhr war er leer.

Ich spürte, wie Mums Arm auf meiner Brust schwer wurde, und ließ mich neben ihrem Gesicht aufs Kissen sinken. Sollten sich Lestard, die Congregatio und Adlard doch die Augen auskratzen. Im Moment waren wir weit von all dem entfernt.



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Kommentare zu dieser Fanfic (86)
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Von:  Enisocs
2013-01-11T09:28:22+00:00 11.01.2013 10:28
So, habe die letzten Kaps jetzt auch durch und heul, weils nicht weiter geht. Durchziehn durchziehn, statt auf Youtube rumzusurfen! :3 hehe

Mir haben auch die letzten Kapitel gut gefallen, wobei ichs schade fand, dass das mit Urian so kurz war. Ich hoffe es kommt bald mal wieder ein längeres Kapitel aus seiner Sicht. Yuriy ist starrsinnig wie eh und je und bringt einen immernoch zum Schmunzeln. Das mit dem Limo-Glas hab ich mir irgendwie schon gedacht *g* Und es freut mich, dass Urian Belzac ausgelacht hat (endlich mal wieder etwas das ihn von Seik unterscheidet, der lacht nämlich nie), ich hab bei ihm so nen Galgenhumor auch gar nicht erwartet, macht ihn umso sympathischer :)
Jorrik gefällt mir auch sehr gut, ist ne coole Sau soweit ich das bisher beurteilen kann. Mir hats auch richtig gut gefallen, wie du wieder so kleine Nebensächlichkeiten beschreibst, zB Matts Eltern (übrigens sehr authentisch beschrieben, diesen Elternzwist) und den Trinkspruch im Deutschen Viertel. Es sind diese Kleinigkeiten, die eigentlich nichts zur Sache tun, aber die eine Geschichte einfach abrunden. Und ich finde es genial, dass Yuriy aus der ich-Perspektive seine Ecken und Kanten hat, also ein Chara der nicht immer "perfekt" handelt, wie man es von ner Hauptperson erwartet. Und doch stimmt man ihm manchmal dabei zu.

Bisschen Kritik hab ich auch, aber nichts schlimmes. Erstmal, ein kleiner Fehler, den ich noch entdeckt hab:

-Ich wollte zwar wissen, wie sie Matts Worte aufnahm. Aber es würde ohne Zweifel so aussehen, als....-

Vor aber gehört ein Komma, alleine ergibt der erste Satz für mich keinen Sinn.

Und dann wieder dein liebes "echote", so langsam kann man wirklich mitzählen :) Das er jemanden nachspricht merkt man auch so, da kannst du es einfach weglassen, oder mal ein anderes Wort dafür verwenden. Auch bei Sachen wie "lupfte eine Braue" oder "fauchte". Kommt einfach ziemlich oft vor. Wobei es auch schon wieder fast stilistisch ist für dich :D

Dann stimm ich dem Kommentar von -Zoria- zu, das mit den Infobrocken ist echt ziemlich müßig zu lesen, nach so vielen Kapiteln hat man das Gefühl nicht wirklich schlauer zu sein, genau wie Yuriy eben. Ich finds an sich ja klasse, wenn Rätsel erst so Stück für Stück aufgedeckt werden, aber hier ist es teilweise schon etwas anstrengend. Auch die Gespräche mit Yuriy und Charlotte sind nicht viel weiter als am Anfang. Aber ich fands gut, dass man endlich mal mehr über die "Erweckung" eines Magiers erklärt wurde und dass sich Yuriy geoutet hat. Die Szene fand ich übrigens auch seeeehr geil beim Arzt. Ich konnte Yuriy absolut nachvollziehen.
Ich weiß nicht, ob das bloß meine eigenen Erfahrungen sind, aber ich habe immer das Gefühl, dass Yuriy und Charlotte nicht Sohn und Mutter sind, sondern Kumpels die sich nicht so grün sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Mutter so mit ihrem Sohn redet, aber ich denke es hat vllt auch mehr mit Charlottes Charakter zu tun. Frei nach dem Motto "Leute gibts, die gibts gar nicht".

Auf jedenfall hoffe ich, dass du bald weiterschreibst. Die Kapitel machen einfach Spaß. Du hast ja tolle Charaktere erschaffen und deine Dialoge sind erfrischend zu lesen.



Von:  Belfert
2012-10-16T12:38:08+00:00 16.10.2012 14:38
hmm.. wieso kann man keine Kommentare zu einer kompletten FF schreiben?
Egal.
Ein gewisser Jemand meinte ich sollte mir Perlmutt durchlesen und ich habs auch schnell getan, spricht für dich ^^
Technik und Stil finde ich gut, die Welt an sich sehr interessant.
Zweiter britischer Bürgerkrieg mit Teilung des Landes?
Eine rückentwicklung der Technik wie es den Anschein hat mit der Steinschloßpistole (wtf mit Schalldämpfer? ich will ne Konzeptzeichnung davon!)
Was mich etwas stört, diese Welt die so anders ist als unsere, scheint großen Einfluß auf die Geschichte zu haben. Atlantis, die Teilung, wilde Magier und mehr. Aber man erfährt nie etwas darüber.
Am Anfang hielt ich Atlantis mit Lestards Einführung für eine Terror- oder Untergrundorganisation. Auch wenn die Geschichte nur um Yuriy "Erweckung" geht, fände ich es besser wenn der Leser etwas vom Gesamtbild erfahren würde. Yuriy regt sich ja auch immer auf das niemand ihm etwas erklärt^^
Von:  Enisocs
2012-10-12T08:12:12+00:00 12.10.2012 10:12
So, bis hier hin bin ich gekommen, und heute wollte ich weiterlesen, deswegen schnell noch ein Kommentar :)

Ich hab mich die ganze Zeit schon gefragt, ob das Gesicht auf Lestards Stabknauf was zu bedeuten hat :D Find ich richtig cool die Idee.
Und Urian wächst mir so langsam richtig ans Herz. Yuriy auch, ich mag seine schroffe Art einfach unheimlich gern. Und jetzt hat der Arme schon wieder eine platte Nase, bald muß er sich das Ding operieren lassen.
Die Szene im Deutschen Viertel war absolut tollig, hatte neulich unter Kopfschmerzen und Übelkeit auch ne laute Stimme über Mikrophon ertragen müssen, und konnte mich richtig gut reinfühlen. Und dann noch Matts geistreichen Sprüche, an Yuriys Stelle wäre ich auch leicht angepisst.
Dass ich die Szene mit Lestard und Urian geil find, hab ich ja schon gesagt. Da hab ich mich wirklich gefreut, auch wenn mir Urian natürlich schreeeeecklich leid tat. (selber die Lieblingscharas immer quälen tut, lalala)
Charlotte ist wiederum son Chara, den ich nicht zum Freund haben wollte. Ich stell sie mir anstrengend vor, sie hat genau so einen Dickkopf wie Yuriy, erwartet aber soviel von ihrem pubertierenden Jungen, und dann diese Geheimhalterei. Sie macht mich beim Lesen manchmal echt wahnsinnig :) hehe

Kritik hab ich wirklich keine, ich mag deinen Schreibstil und dann fallen mir Kleinigkeiten meist eh nicht mehr auf. Vielleicht eine Sache, die mir aufgefallen ist, du benutzt hin und wieder gern die selben Worte für eine bestimmte Beschreibung. zB "echote er" Vielleicht benutzt du stattdessen doch einmal "widerholte er" oder so. Nach dreimal fiel es mir ein bisschen auf, weil es ein Wort ist was ich sonst nicht so oft lese. Aber das ist jetzt keine direkte Kritik, man schreibt ja auch oft "sagte er", ich verbuchs mal unter Geschmackssache. Ein anderes Beispiel fällt mir jetzt auf Anhieb auch nicht ein.
Von:  Enisocs
2012-10-04T08:43:28+00:00 04.10.2012 10:43
Bohhh, Yuriy, du kleines...! Ich schwanke zwischen -mich an seiner Bissigkeit zu freuen- und -ihm eine klatschen zu wollen- :D Urian tut mir leid. Ne, absolut herrlich. Auch wie die Dialoge inszeniert sind, die ganzen versteckten Seitenhiebe und so. Ich mag Park *g* Und ich hab mich dabei ertappt mir kurz Ylan vorzustellen, weil sich Ylan und Seik ja auch nicht ausstehen können. Gibt von dem ein Artwork?

Ich bin echt beruhigt, dass Yuriy genau so dumm darsteht wie man selber. Wie das alles mit der Magie in deiner Story funktioniert, da blickt man erst nur so teilweise durch. Aber ich denke mal, dass ist beabsichtigt und gut so. Ich mag gut gespinnte Fantasy in der Neuzeit, so dass es trotzdem erdig bleibt.
Von:  Enisocs
2012-10-04T08:03:48+00:00 04.10.2012 10:03
So viele neue Charaktere und ich finds toll wie du es schaffst alle gleichmäßig zu beschreiben, ohne dass es erstmal im totalen Wirrwarr ausartet. Für mich blieb die Szene schön übersichtlich.

Mir machts echt Spaß das ganze aus Yuriys Sicht erzählt zu bekommen. Sein Dickkopf bringt mich manchmal echt zum Schmunzeln, ob er nun versucht seine Mum oder Urian zu provozieren oder selber total ins Fettnäpfchen tritt. :D Einfach geil!
Und bin nach wie vor von deinem Schreibstil beeindruckt, auch wie du die Congratio beschreibst und wie das alles zusammenhängt. Sowas finde ich selber total schwierig, da muß man sich schon wirklich gut mit auseinander setzen.

Bin gespannt wie es jetzt mit den Charakteren weitergeht. Hab das nächste Kapitel auch schon angelesen und mache gleich weiter.
Von:  Enisocs
2012-08-15T15:51:40+00:00 15.08.2012 17:51
Sooo, habs ja schon angedroht, hier endlich mal einen Kommi zu verfassen. Bin jetzt bis zum 3. Kap vom Silvester-Akt gekommen und bin nach wie vor begeistert von deiner Art zu schreiben. Man merkt einfach, wieviel Liebe in den Charakteren und der Story steckt. Die sind nicht nur hingerotzt, sondern versprühen alle ihren ganz eigenen Charme, und wirken sehr lebensecht dabei, nicht gekünstelt. Sogar die Nebencharas sind interessant dargestellt, was nicht jedem gelingt. Die Dialoge bauen total sinnvoll aufeinander auf, das klingt alles sehr durchdacht. Und dir gelingt es auch gut, Humor reinzubringen. Wie lange schreibst du so an einem Kapitel, bis es wirklich so ist wie du es haben willst?
Achja, was ich noch positiv fand, mir sind wirklich keine Rechtschreibfehler aufgefallen. Hast sehr gute Lektoren wies aussieht :)

Weiß nicht, wie das jetzt klingt, aber was ich sagen will: Ist ne echt gut und angenehm geschriebene, interessante Story mit coolen Charakteren. Nichts hingeklatschtes, und viel zu schade für die Fanfic Ecke. Schreib gefälligst weiter und schick es einem Verlag ;)

Von:  Biskuit
2012-03-17T14:03:30+00:00 17.03.2012 15:03
ein kommentar von mir :D du weißt was das bedeutet XD ich warte in skype auf dich.







und ich hasse dich dafür das mich gespoilert hast v.v
Von:  _Myori_
2011-11-23T08:42:03+00:00 23.11.2011 09:42
wahhh, so spannend, dass ich gleich zwei kapitel auf einmal gelsen hab
*auf die uhr schiel* und jetzt hab ich keine zeit mehr- verdammt ><
aber fürn kommentar reicht die zeit noch aus- muss einfach! :P
hab ich eigentlich schon mal erwähnt, dass du mit erklärungen ziemlich rumgeizt XD das ist zum einen echt fies, aber auf der anderen seite machts die geschichte noch spannender und ich ertappe mich immer häufiger dabei, über jeden dialog dreimal nachzudenken. der arztbesuch war sehr interessant und ich frage mich, was der doc yuriy da in den nacken gelegt hat, bzw. wie dieses ding funktioniert... sehr merkwürdig und geheimnisvoll...
es muss echt ein verstörendes bild sein, wenn jemand gefesselt auf einem stuhl sitzt und wie ein irrer lacht- ich könnte den typen glaub ich für nicht ganz voll nehmen oO
und ich liebe es, wie du die stimmung immer wieder kippen lässt und wie du es stilistisch schaffst, dass die charaktere sich gegenseitig die überlegenheit wegschnappen; die szene mit urian und belzac ist da ein gutes beispiel. ich mag das an deinem schreibstil total ^^
*auf die uhr schau* *nervös rumrutsch* >_<
lg Myori
Von:  _Myori_
2011-11-12T10:37:49+00:00 12.11.2011 11:37
mir ist das herz ebenso in die hose gerutscht wie urian, als die stimmung seines gesprächs mit jorrin so krass gekippt ist- ich hatte echt die hoffung gehabt, dass urian da noch heile aus der sache rauskommt... tja, pustekuchen uu"
aber sehr spannendes kapitel!
Von:  _Myori_
2011-11-12T09:57:03+00:00 12.11.2011 10:57
die beschreibung von charlottes reaktion auf das skizzenbuch war überwältigend. ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie da sitzt und mit ihren gefühlen kämpft- wirklich toll :)
hach, bei yuriys bissigen kommentaren musste ich wieder schmunzeln ^^ da sieht man mal wieder, wie jung er eigentlich noch ist- an manchen stellen kommt er mir schon ziemlich erwachsen rüber, da kann man schon mal sein richtiges alter vergessen.
hm...dieser park scheint ja doch nicht ganz so unangenehm zu sein, wie ich zu anfang gedacht habe oO
mal sehn, wie das so weitergeht ;)


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