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Perlmutt

von

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LEUCHTEN (III): »Es tut mir Leid, aber ich erlaube keine Feilscherei.«

»Oh Yuriy, nicht schon wieder!«

Mum ließ sich seufzend gegen die Bartheke sinken, als ich ihr zerknirscht von der Strafarbeit in Physik berichtete und davon, wie Mr Cobbald mich zum Narren gehalten hatte. Ich regte mich auch wortgewaltig darüber auf, dass er Solweig als einzige Spötterin neben mir hatte bestrafen wollen. Und dass er sie nur verschonte, um mich persönlich besser in die Mangel nehmen zu können.

»Nur, weil sie meine Freundin ist!«, schloss ich. Dass Solweig mir in den Rücken gefallen war, verschwieg ich wohlweislich. Das Geständnis, dass ich sie erst dazu provoziert hatte, brachte ich einfach nicht über die Lippen.

Mum hatte nur ein Kopfschütteln für mich übrig. Sie war erst Minuten zuvor vom Dienst nach Hause gekommen und hatte mich erwischt, wie ich Breca mein Leid über den Zwischenfall klagte.

Breca war mein Großvater. Ich hatte mir angewöhnt, ihn beim Vornamen zu nennen, seit er und ich uns einmal im Freizeitpark an der Küstenseite von Plymouth aus den Augen verloren hatten, als ich noch klein war.

Gott sei Dank war ich noch nicht auf das Leuchten zu sprechen gekommen, als Mum die Wohnung betreten hatte. Mein Entschluss, sie damit nicht zu behelligen, stand nach wie vor fest. Dafür hatte ich ihr prompt eine erholsame Tasse Tee aufgeschwatzt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens wirkte sie ausgebrannt, und meine bevorstehende Diskussion mit ihr – denn darauf würde sie bestehen – würde ebenfalls anstrengend werden. Zweitens hoffte ich für mich, dass sich ihre Laune durch den Tee bessern würde. In Grund und Boden argumentieren konnte sie mich selbst mit dem strahlendsten Lächeln; allerdings fiel diese lächelnde Argumentation dann etwas humaner im Hinblick auf mein kleinwüchsiges, hilfloses »Aber ...« aus. Ich musste sie neben all meiner Menschlichkeit also zumindest eigennützig in Versuchung führen, was ein Leichtes war. Immerhin war sie ein Tee-Junkie. Hätten es also meine Worte nicht getan, dann spätestens der aromatische Duft.

»Warum hast du nicht einfach den Mund gehalten? Du wusstest doch genau, dass deine Argumente haltlos waren«, erklärte Mum zwischen zwei Schlucken.

»Bei ihm war es doch genauso«, protestierte ich. »Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen!«

Sie sah diesen Lehrer ja nur zu den Sprechtagen! Wenn sie ihn einmal im Unterricht erlebt hätte, wäre ihr Bild von ihm ein ganz anderes gewesen, da war ich mir sicher. Als sie durch den offenen Doppeltürrahmen in Richtung Wohnzimmer stiefelte, lief ich ihr nach, um ihr mindestens zehn gute Gründe aufzuzählen, weswegen ich Solweig und mich hatte verteidigen müssen.

»Warum hast du dich überhaupt dazu herabgelassen, ihn so anzugehen? Darüber ärgerst du dich doch eigentlich«, sagte sie schlicht, bevor ich überhaupt anfangen konnte. »Und – was ich nicht verstehe – darüber, dass dein Lehrer Solweig ebenfalls bestrafen wollte. Zu Recht, will ich meinen, wo sie dich doch die ganze Zeit über angefeuert hat.«

»Sie hat mich nicht angefeuert!«, brauste ich auf.

Mum fuhr mitten in der Bewegung herum. Dass sie dabei fast ihren Tee verschüttete, schien sie gar nicht zu bemerken.

»Nicht? Dann will ich dich mal ins Bild setzen: Sie lässt sich von dir ablenken und lenkt dich ab. Sie wagt es, eine Entschuldigung für ihr respektloses Verhalten zu heucheln. Sie hält dich nicht zurück, sondern lacht auch noch über deine Aufsässigkeit, und das nur, um ihn zu ärgern. Und du sonnst dich selbstzufrieden in ihrem Gelächter, bis Mr Cobbald die Zügel strammzieht!«

»Ich habe mich nicht in ihrem Gelächter gesonnt!«

Welch miserable Verteidigung! Wie konnte ich ihr nur erklären, dass Solweig und ich viel gescheiter waren als diese Spottvögel von Klassenkameraden?

»Doch, das hast du«, setzte Mum nach. »In ihrem Gelächter und in deinem eigenen Geschwafel. Die anderen interessieren dich doch gar nicht.«

Meine sorgsam ausgewählten Gegenargumente zischten wie ein durchlöcherter Luftballon davon. Dass wir uns unsere Missfälligkeiten offen an den Kopf warfen, gehörte in unserem Hause zum guten Ton, deshalb war ich abgehärtet. Breca, der gerade eine neue Kanne Tee aufsetzte, unterdrückte ein Lachen. Ich sah genau, wie seine Schultern bebten, als er sich von uns abwandte, um das kochende Wasser aufzuschütten.

Dass Mum mich tadeln würde, war mir klar gewesen. Aber dass sie eine derartige Verständnislosigkeit aufbringen konnte! Wenn mein geschundener Stolz Rückendeckung und Streicheleinheiten brauchte, rammte ihre Vernunft ihn zusätzlich treffsicher in den Boden.

»Ich komme mir nicht cool vor«, sagte ich zu ihr. »Aber ich lasse nicht zu, dass er auf Solweig herumhackt, obwohl die anderen wiehern wie die Esel.«

Mum lupfte die Augenbrauen.

»Warte – hat sie das nicht auch?«

»Du weißt genau, was ich meine!«

»Allerdings, und ich verstehe nicht, dass du so darauf beharrst«, erwiderte sie. »Mr Cobbald hat sogar Recht. Immerhin ging das ganze Theater von euch aus.«

»Mum!«, rief ich entrüstet.

»Da will sie ihre Eltern stolz sehen, die sich den Rücken bucklig schuften, damit sie und ihr Bruder auf diese Schule gehen können. Und was tut sie? Anstatt sich auf den Lehrer und seine Macken einzustellen, ist sie so ignorant wie du –«

»Das stimmt nicht«, murrte ich, doch sie ging gar nicht auf mich ein.

»– und erwartet, dass Mr Cobbald Männchen für die Klasse macht und euch den Lernstoff zu Brei kaut, damit ihr nur noch schlucken müsst. Seit er euch übernommen hat, ist euer Kursmittel überdurchschnittlich gut. Also erzähl mir nicht, dass es an eurem Lehrer liegt, wenn ihr beide absackt.«

Während ihrer Rede hatte ich stets nach einem Luftloch gesucht, um einen Protest an den Mann zu bringen, der über meine schwächliche Sammlung von Eigentlich-ist-das-ja-ganz-anders-gelaufen-Varianten hinausging. Nun blieben mir die Worte im Halse stecken. So vernichtend abgefertigt, stand ich eine ganze Weile wie versteinert vor ihr, ohne einen Ton herauszubringen.

»Charlotte, lass gut sein. Ich denke, du bist zu ihm durchgedrungen«, erklang schließlich Brecas Stimme neben mir. Mein Großvater nahm Mum die Tasse ab, die inzwischen leer war, und reichte sie ihr gefüllt zurück, ein lammfrommes Lächeln auf den Lippen.

»Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, woher der Wind weht, lieber Vater«, knurrte Mum, nahm die Tasse aber an. Schnaubend wandte sie sich zur Seite und ertränkte ihre Wut in einem Zug, der den kochend heißen Tee in einer einzelnen Welle in ihren Magen spülte. Ich verstand nicht, wie sie ihn so einfach hinunterstürzen konnte.

Der Moment, den sie danach zum Atemschöpfen brauchte, war meine Chance, die weiße Flagge zu hissen.

»Und wenn ich ein B hole?«

Ein B war natürlich nicht so imposant wie das A, das ich Solweig am Nachmittag versprochen hatte. Allerdings wollte ich ja nicht gleich hingehen und Luftschlösser bauen! So sehr ich von mir selbst überzeugt war – ein bisschen Luft nach oben musste ich mir schon lassen.

Mum setzte die Tasse ab. Ihre Augen bohrten sich abermals in meine. In Erwartung eines weiteren treffsicheren Hiebes versuchte ich, zumindest eine gewisse Haltung anzunehmen.

Aber der Schlag blieb aus.

»Ein bisschen mehr Eigeninitiative ist alles, was Mr Cobbald von euch erwartet«, sagte sie streng. »Und ich weiß auch, dass dein Referat gut wird, wenn du dich wirklich damit auseinandersetzt. Du brauchst nur immer wieder einen Tritt in den Allerwertesten, um in Gang zu kommen, und das muss aufhören.«

Ich nickte ergeben. Ich fand die Strafe immer noch ungerecht, aber ein guter Feldherr sieht, wann seine Position unhaltbar ist.

Mum spähte in ihre Tasse und seufzte. Es schien ihr überhaupt nicht bewusst gewesen zu sein, dass sie sie bereits wieder geleert hatte. Sie fuhr mir versöhnlich mit der Hand über die Wange. Ich legte mir noch ein paar erweichende Worte zurecht und wollte gerade beginnen, als mir die Türklingel dazwischenfunkte.

Brecas Blick wanderte vielsagend zur Zimmerdecke. »Ihr habt wieder den Arbeitsprozess gestört«, sagte er verschmitzt.

»Der soll froh sein, dass in seinem Leben noch ab und zu etwas Anderes bewegt wird als seine Augen von links nach rechts über den Bildschirm!«, knurrte Mum und durchquerte zielstrebig den Flur in Richtung Haustür.

»Der« war niemand Geringeres als der Mann, dem die Wohnung über unserer gehörte. Sein Name war Mr Collins. Er arbeitete im Bankenviertel in der Altstadt und hatte Ohren wie ein Hütehund. Wenn er nicht gerade mit Schlips und Frack hinterm Schalter stand, war er oben in der Wohnung mit seiner kabellos transportierbaren Familie beschäftigt. Genaugenommen, war er mit seinem Notebook verheiratet und hatte ein Kind, das rund und verchromt war und in seine Ohrmuschel passte, und dessen Tasten führendes Pendant irgendeine klassische Musik säuselte, sobald jemand ihn anrief. Wahrscheinlich teilten sie sich auch noch ein Bett. Wenn er überhaupt jemals schlief.

Mum atmete ein letztes Mal tief durch, bevor es daran ging, den verbiesterten Workaholic in Empfang zu nehmen.

Nach einem Blick durch das in die Tür eingelassene Bullauge verharrte ihre Hand jedoch einige Atemzüge auf der Klinke, bevor sie sie herunterdrückte.

»Guten Abend, die Dame.«

Das war nicht Mr Collins. Die Stimme war rau und dunkel und behutsam wie Fingerspitzen, die über Daunen streichen. Weil ich sie nicht kannte, spähte ich neugierig in den Flur.

Im offenen Türrahmen stand ein einzelner Mann, die schwarze Melone tief ins Gesicht gezogen. Langer schwarzer Mantel, schwarze Hose, schwarze Schuhe – eine hochoffizielle Aufmachung. Seine Kleidung war abgetragen, aber sauber, und ihr haftete noch die Anmutung ihrer einstigen Eleganz an.

Überrascht erwiderte Mum seinen Gruß. Der Besucher zog den Hut vor ihr und lächelte sie gewinnend an. Sein Gesicht war übersät mit roten Narben, ebenso der sichtbare Teil seiner Unterarme; sie waren alt und überwiegend gut verheilt, aber immer noch spektakulär genug, um den Kerl mit offenem Mund anzustarren. Eine besonders lange, brüchige zog sich diagonal von seiner Stirn bis zum Kinn und schnitt in sein rechtes Auge, das bleich und milchig in seiner Höhle ruhte. Die Narben machten es schwer, sein Alter einzuschätzen, aber ich vermutete, dass er sich in den späten Vierzigern bewegte. Was für eine Gestalt. Als er an Mum vorüber in den Flur spähte, streifte mich sein gesundes Auge und blieb kurz an mir haften. Unter seinem durchdringenden Blick überlief mich ein Schauer, den ich eilig niederrang. Der Mann schien es bemerkt zu haben, denn seine Mundwinkel zuckten spöttisch.

»Möchten Sie mich nicht hereinbitten?«, fragte er Mum charmant. Seine Kleidung mochte fast welk sein – seine Stimme war es nicht. Ich beschloss, ihn nicht aus den Augen zu lassen.

»Es ist spät, also bitte ich Sie zuerst, sich zu erklären.« Mums Hand umklammerte immer noch von innen die Klinke. Die andere Hand legte sie nun wie beiläufig auf den Türrahmen. Plötzlich wurde mir klar, dass sie diesen Mann nicht hereinlassen würde – egal, wie überzeugend seine Erklärung ausfiel.

»Mrs Charlotte Furlong. Es ist mir eine Ehre.« Er streckte die Hand nach ihrer aus, schien jedoch vergessen zu haben, sich selbst vorzustellen. Oder er ging davon aus, dass sie ihn kannte.

Mum nickte ihm zu, verschränkte aber demonstrativ die Arme vor der Brust, und der Narbige zog mit einem Schulterzucken und einem gespielt traurigen Seufzer seine Hand zurück.

Sie musste ihn kennen.

»Ich möchte gern Mr Breca Furlong sprechen«, fuhr er in nicht minder höflichem Tonfall fort. »Ist er im Haus?«

Mum musterte demonstrativ sein Erscheinungsbild und versuchte sich an dem typischen geduldigen Lächeln, mit dem sie sonst Mr Collins aus der Wohnung über uns begegnete. Es wollte ihr nicht recht gelingen.

»Sind Sie geschäftlich hier?«

»In gewisser Weise. Ehrenamtlich trifft es besser.«

»Das muss ja ein sehr wichtiges Gespräch sein, wenn Sie sich so spät noch herbemühen. Es tut mir leid, aber es wäre uns sehr recht, wenn Sie bitte morgen oder nach Neujahr wiederkämen«, sagte sie eindringlicher. »Breca Furlong ist gerade beschäftigt und bedeutsame Geschäfte bespricht man besser bei Tageslicht.«

»Es tut Ihnen nicht leid.«

Trotz der Narben brachte der Kerl es fertig, ihre freundliche Miene noch zu übertreffen. Plötzlich war es mir sehr recht, dass Mum ihn an der Tür aufhielt.

»Bedauerlicherweise kann das, was ich mit Ihrem Vater zu besprechen habe, nicht bis morgen warten.« Er zwinkerte und rief in die Wohnung hinein: »Mr Breca Furlong?«

Ich trat nun vollends in den Flur, Breca blieb in der Küche zurück. Mir kam der Gedanke, dass ich mir irgendetwas als Waffe hätte mitnehmen sollen. Nicht, dass ich mit meinen fünfzehn Jahren den Hauch einer Chance gegen das Narbengesicht gehabt hätte. Aber ich wusste, dass ein Moment, in dem der Kerl straucheln würde, Mum bereits genügen konnte, um die Kontrolle über die Situation zu erlangen. Sie hatte nicht umsonst jahrelang beim Außendienst gearbeitet.

»Heute Abend sind Sie unerwünscht«, knurrte sie und wollte dem Mann die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch er stemmte sich mit der bloßen Hand dagegen, so mühelos, als hielte er anstelle von massivem Holz ein Kissen ab. Mum ächzte.

Der Narbige schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn ich jetzt gehe, bin ich immer unerwünscht«, sagte er. »Egal wann ich wiederkomme.«

Mum wagte nicht zu blinzeln. »Ich fordere Sie zum letzten Mal auf, dieses Haus auf der Stelle zu verlassen. Wenn Sie nicht in einer Minute draußen sind, rufe ich die Polizei.«

Der Narbige lächelte sie breit an. »Sehr gut. Sehr diszipliniert. Eine Minute, sagen Sie? Wenn alles glatt geht, dauert es auch nicht länger.« Er klopfte an den Türrahmen. »Mr Breca Furlong!«

Resolut schob sich Mum an ihm vorbei, verriegelte die Wohnungstür und griff nach dem Telefon, das in einer Vorrichtung neben dem Türrahmen hing. Der Narbige wirbelte zu ihr herum, langte in seinen Mantel und hielt ihr im nächsten Moment einen Steinschlossrevolver unter die Nase.

Vor Schreck verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke. Mum erbleichte, den Rücken gegen die Tür gepresst.

Der Narbige zuckte mit den Achseln. »Sie sollten Sich wirklich anhören, was ich zu sagen habe«, sagte er ruhig.

Widerwillig hängte Mum das Telefon wieder ein. »Hol bitte Breca her«, sagte sie zu mir, ohne den Narbigen aus den Augen zu lassen.

»Nicht nötig, bei solch guten Manieren komme ich Ihnen entgegen«, ertönte Brecas Stimme neben mir. In seinem Tonfall lag unverkennbare Missbilligung.

Der Narbige zeigte für einen kurzen Moment deutliches Interesse. Ich warf Mum einen Blick zu, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf und ich war zur Bewegungslosigkeit gezwungen.

Breca stellte sich vor mich. »Sie haben gewettert, mein Herr?«

»Und einen Auftrag für Sie«, erwiderte der Narbige unvermittelt, Blick und Waffe nach wie vor auf Mum gerichtet.

Breca musterte zuerst den Revolver, dann den Narbigen. »Weg mit dem Ding. Ich verhandle nicht mit Ihnen bei vorgehaltener Waffe.«

Die Narbenbacke lächelte ihn an. »Dann sind wir immerhin einen Schritt weiter. Es tut mir Leid, aber ich erlaube keine Feilscherei. Und damit Sie« – er warf meiner Mutter einen Blick zu – »nicht hinter meinem Rücken unsere Verhandlungen stören, gehe ich auf Nummer Sicher.«

Er verengte die Augen zu Schlitzen. Mit einem Klicken verkündete die Waffe ihre Schussbereitschaft. Mum stand bleich und steif vor dem Lauf.

»Nicht!«, stammelte Breca und machte einen Schritt auf den Fremden zu.

Dann sprang der Zündfunke über. Ich zuckte zusammen, als der Schuss fiel, und noch einmal, als unser Telefon implodierte.

Mum hatte die Arme um ihren Körper geschlungen. Finger um Finger löste sich ihre Verkrampfung und offenbarte sie unverletzt.

Vor Erleichterung sank ich gegen die Wand.

Brecas verkrampfte Hand suchte mach meinem Arm, verfehlte mich aber. Ich klopfte ihm auf die Schulter, zum Zeichen, dass er sich um mich keine Sorgen machen sollte.

Der Schuss war nicht laut gewesen; ein Schalldämpfer hatte den Knall abgefangen. Ich hoffte auf eine Reaktion von dem Bankier über uns, wurde aber enttäuscht. Mr Collins hatte nichts gehört.

Der Narbige betrachtete die schmauchenden Überreste des Telefons. Er sah nicht zufrieden aus. Besonders gerührt wirkte er allerdings auch nicht. Dann wandte er sich erneut an Mum, die noch immer zwischen ihm und der Wohnungstür stand und den Atem anhielt.

»Möchten Sie ihnen nicht Gesellschaft leisten?«, fragte er mit einem Nicken auf uns und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen.

Mum hatte die Augen aufgerissen und tat keinen Schritt. Ihr Blick lag auf dem Narbigen und klagte ihn traurig an.

Erst bei einem neuerlichen Wink seinerseits schien sie sich zu besinnen und entschied, dass es das kleinere Übel sei, ihm den Fluchtweg freizumachen. Um mich herum schien die Luft zu prickeln. Auf meinen Armen stellten sich die Haare auf. Der Narbige hatte uns vor dem Lauf und die Wohnungstür im Rücken.

»Ich bitte Sie nun, sämtliche Mobiltelefone auszuschalten und mir auszuhändigen«, erklärte er und ließ den Blick herausfordernd über unsere Gesichter wandern.

Mum trug ein Handy in ihrer Hosentasche. Ohne eine Miene zu verziehen, legte sie es in seine offene Handfläche.

Der Narbige warf einen kurzen Blick auf das Display. Über sein Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. »Ah, von dem Ding hat er erzählt«, murmelte er. Laut genug, dass wir ihn auch ja verstehen konnten.

In stummer Übereinkunft widerstanden wir dem Drang, »Wer?« zu fragen. Nervös drückte Mum meine Schulter. Ich bemerkte, dass ich zitterte, und versuchte vergeblich, mich unter Kontrolle zu bekommen.

Mum musste irgendwie die Kurzwahl betätigt haben, die sämtliche Telefone in unserem Haus mit dem Büro verband, in dem sie arbeitete. Die Nummern aller vernetzten Gebäude waren mit einem Computer in ihrer Behörde verbunden, sodass jedes Haus, von dem der Anruf ausging, genau bestimmt werden konnte. Haustelefone aktivierten kleine Kameras, die in den Zimmern aufgehängt waren und die Szenerie ablichteten. Ich hatte nicht schlecht gestaunt, als ich sah, wie scharf die Bilder dank der Lasertechnik geworden waren. Wie genau der Computer Mobiltelefone zu orten wusste, entzog sich meiner Kenntnis, aber hier in der Innenstadt waren Handysignale ein Witz in Tüten, und es gab natürlich keine Bilder. War der Anrufer lokalisiert, wurde automatisch eine Eingangsbestätigung in Form eines kurzen Rückrufsignals gesendet. Bei Gelegenheit versuchte man, eine Fangschaltung herzustellen, die jeden Ton im Haus überwachte, und ein angemessenes Polizeiaufgebot wurde losgeschickt. Das war sicherlich nicht alles, was das Ding konnte, aber alles, was ich mit Sicherheit wusste. Das Gerät war für die Sicherheit der Behördenmitglieder entwickelt worden, unerschwinglich teuer und für Mittelständische wie uns normalerweise überhaupt nicht zugänglich, deshalb glaubte ich, das Ding musste wesentlich mehr draufhaben. Was Letzteres betraf, hatte ich Mum mit meinen Fragen geflissentlich zur Weißglut treiben müssen, bevor sie mir widerstrebend von irgendeinem Gönner ganz niedrigen Ranges von der Regierung erzählt hatte. Angeblich hätten alle Angestellten aus ihrer Abteilung so einen Computer bekommen – eine »kleine Anerkennung im Namen der Regierung« für die Beamten, die ihnen unter Lebenseinsatz Schutzdienst gewährleisteten.

Eigentlich hatte ich es mit Freuden aufgenommen, dass Mum seit fast drei Monaten nur noch im Büro arbeitete, weil die Straßen in der letzten Zeit gefährlich geworden waren. Ihre Arbeitskollegen von der Streife waren mehrheitlich von Banden angegriffen worden, die in ihrer Verbohrtheit immer wieder mal ein Zeichen setzen wollten. Es war eine schweigende Rebellion gegen die Regierung, die sich nur vereinzelt in schlecht organisierten Boykotts und Übergriffen Luft machte. Seit dem Bürgerkrieg hatte es ständig Auseinandersetzungen und Aufstände solcher Art gegeben. Aber in jüngster Zeit häuften sie sich.

Anscheinend hatte sich die schweigende Rebellion nun von der Straße auch in die Institutionen verlagert. Wir hatten die kleinen Kameras erst vor wenigen Wochen installieren lassen, nachdem Mum plötzlich darauf gedrängt hatte. Irgendjemand hatte sie aus irgendeinem Grund gewarnt, dass jemand wie der Narbige vorbeischauen könnte. Und irgendjemand hatte wiederum dem Narbigen Informationen über den Computer übermittelt. Für meinen Geschmack trafen sich da zu viele unwahrscheinliche Dinge.

Der Narbige schaltete das Mobiltelefon aus und sackte es ein. Der Anruf war noch nicht erwidert worden, und wir drei beteten, dass die Verbindung lange genug aktiv gewesen war, um das Telefon zumindest ungefähr zu orten.

»Noch jemand?«, fragte der Narbige in die Runde. Sein Blick richtete sich gezielt auf mich. Ich beeilte mich, den Kopf zu schütteln. Mein Glück war, dass ich mein Handy tatsächlich nicht bei mir hatte, denn das ersparte mir die Möglichkeit, den Narbigen zu belügen. Ich konnte ausgezeichnet lügen, und außer unter Mums Argusaugen ließ ich es auch gerne darauf ankommen. Aber dass ich unter dem prüfenden Blick dieses Mannes den Schwindel aufrechterhalten hätte, traute ich mir dann doch nicht zu. Ich konnte ihn nicht einschätzen; vielleicht hätte er mir, ohne lange zu fackeln, durch meine Jacken- und Hosentaschen ins Fleisch geschossen, um meine Behauptung zu überprüfen?

Er schien mir allerdings zu glauben.

»Sehr schön«, lobte er mich, senkte die Waffe und wandte sich meinem Großvater zu. »Sie werden mir die Ehre erweisen, einen Transcensionsschlüssel für mich zu schmieden.«

Mum wandte sich zu Breca um, als käme ihr der Begriff bekannt vor. Ich verstand überhaupt nichts. Meine Familie schien eine ganze Menge mehr zu begreifen als ich, denn Breca betrachtete Mum eine ganze Zeit lang mit argwöhnisch gehobenen Augenbrauen, als wollte er ihre Zustimmung zu irgendetwas einholen.

Ich musste mein Unverständnis offen zur Schau tragen, denn der Narbige lächelte mich mitleidig an. Augenblicklich warf ich ihm einen bitterbösen Blick zu. Da zwinkerte er verschwörerisch.

Ich schnaubte.

In diesem Augenblick ergriff Breca entschieden das Wort: »Ich schmiede nicht mehr.«

Der Narbige lächelte erneut, und hätte ich nicht den Spott in seinen Augen gesehen, hätte seine Miene sogar verständnisvoll gewirkt. »Ich denke, ich kann Ihnen ein Angebot machen, das Sie unmöglich ausschlagen können, Mr Furlong.«

Mein Großvater verschränkte die Arme vor der Brust und wies mit dem Blick auf die Pistole. »Ihre Bedingungen kenne ich schon.«

Der Narbige lachte wie über einen mittelmäßigen Scherz. »Sie kennen eines meiner schwächsten Argumente«, erwiderte er.

»Ich bitte Sie!« Breca rümpfte die Nase. »Ihre Debattierfreude kennt keine Grenzen, ja? Was soll das für ein Schlüssel sein?«

Mit wohlwollender Gebärde wies der Narbige auf die Küchentür. »Ich würde mich darüber sehr gern unter vier Augen mit Ihnen unterhalten.«

Breca kniff ein Auge zusammen und unterzog die Narbenbacke einem abschätzenden Blick. Schließlich stellte er sich vor Mum und mich und dirigierte den Kerl mit einer ausladenden Geste an sich vorbei in die Küche. Beunruhigt beobachteten Mum und ich, wie der Mann die Waffe im Futter seines Mantels verschwinden ließ. Wir verfolgten jeden seiner Schritte durch den Flur, auf jedes Geräusch lauschend, das nicht nach Schuhen klang, die den Boden berührten, und jede Bewegung prüfend, ob sie zum Wiegen des Körpers bei Schritttempo gehörte.

Bevor die Küchentür hinter Breca und der Narbenbacke ins Schloss fiel, machte Mum einen Schritt auf die beiden Männer zu, doch Breca wies sie mit einer knappen Geste an, zurückzubleiben.

Sobald wir allein waren, tippte sie mich an. Als ich mich zu ihr umwandte, steckte sie mir einen Zettel zu, zeigte zur Flurdecke und legte dann die Faust ans Ohr, Daumen und Zeigefinger abgespreizt. Mir dämmerte, dass auf dem Papier die direkte Durchwahl zum Kopf ihrer Abteilung oder zu sonst einem hohen Tier stehen musste, und ich dankte ihr insgeheim dafür, dass sie die Nummer anscheinend ständig mit sich herumtrug.

Ich nickte und stahl mich zur Wohnungstür. Auf dem Weg nach oben würde ich hoffentlich genug Zeit haben, mir etwas auszudenken, damit Mr Collins mir Flegel sein Telefon überließ. Seit Solweig, Matt und ich ihm vor ein paar Jahren regelmäßig Streiche gespielt hatten, pflegte er mir nämlich kein einziges Wort zu glauben. Als ich die Klinke hinunterdrücken wollte, sah ich durch das Bullauge, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenhauses ein Mann zu mir umdrehte.

Melone. Schwarzer Mantel. Ein ziemlich düsterer Trend. Er sah mich unverwandt an und hob die Hand zum Gruß. In Sekundenschnelle war meine Zuversicht wie weggeblasen.

Den Schlüssel im Anschlag, hielt ich mitten in der Bewegung inne, fluchte und stieß die Faust gegen die verschlossene Tür. Hinter mir räusperte sich Mum ungeduldig. Ich zeigte zuerst auf die Küche, dann nach draußen ins Treppenhaus. Mum verdrehte die Augen und schlug resignierend die Handflächen auf die Hüften.

Ich kehrte zu ihr zurück. »Was sind Trans... Dings ... diese komischen Schlüssel?«

Mum seufzte. »Die magischen Behörden benutzen sie, um von einem Ort zum anderen zu kommen.«

Ich musste ehrlich verwirrt dreinschauen.

Sie zeigte auf die Wohnungstür. »Ein Beispiel: Du gehst da durch und kommst in Solweigs Zimmer wieder heraus. Deswegen heißen sie Transcensionsschlüssel. Artefakte zum Überbrücken weiter Strecken. Oder zum Errichten von Sicherheitsmaßnahmen.«

»Und was habt ihr damit zu tun?«

»Wenn ich das wüsste.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nichts wusste. Aber dies war wohl kaum der richtige Augenblick, sie zum Reden zu drängen. Mit Blick auf die Küchentür prägte ich mir den Begriff ein. Transcensionsschlüssel. Wider Mums Willen schlich ich mich zur Küchentür und drückte das Ohr dagegen, um zu lauschen.

Augenblicklich klopfte von der anderen Seite jemand herrisch gegen das Holz.

»Das gehört sich nicht«, sagte der Narbige düster.

Ertappt stolperte ich zurück.

»In alten Häusern haben Türen und Wände Ohren«, fügte er spitzbübisch hinzu. Während er an Breca gewandt weitersprach, verebbte seine Stimme und mit ihr jedwedes andere Geräusch aus der Küche. Ich hielt die Luft an. Mein Herz hämmerte mir gegen die Rippen. Etwas in mir brach auf, und ich verlor die Kontrolle.

»BRECA!«, brüllte ich und wollte mich auf die verschlossene Tür stürzen, doch Mum war bereits neben mir und hielt mich zurück. Von der Decke her ertönte ein ungeduldiges Stampfen. Ich hatte es tatsächlich geschafft, Mr Collins zu stören.

Das dumpfe Geräusch trieb mir die Tränen in die Augen. In meiner Verzweiflung schrie ich weiter Brecas Namen, in der Hoffnung, dass es nicht bei einem bloßen Fußstampfen von oben bleiben würde.

Mum packte meine Hände so fest, dass ich es nicht schaffte, mich loszureißen. Sie schloss die Arme um mich und führte mich von der Küchentür fort.

Als sie mich in Richtung Treppenhaus umdrehte, begriff ich, warum sie mich aufgehalten hatte. Der schwarz gekleidete Passant stand direkt vor der Wohnungstür und schaute uns durch das Bullauge hindurch interessiert zu.

»Entschuldigung«, sagte er freundlich, »ich möchte wirklich nicht unhöflich erscheinen, aber möchten Sie mich nicht hereinlassen?«

Trotz fließendem Englisch war seine französische Herkunft nicht zu überhören. »Hier draußen ist es mittlerweile recht frisch geworden«, fügte er mit charmantem Lächeln hinzu und zuckte die Achseln.

Ich warf Mum einen unschlüssigen Blick zu. Sie zögerte, bis auch er eine Schusswaffe zückte.

»Ich kann Sie unmöglich in Unkosten stürzen«, erklärte er und zielte auf das Türschloss.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  SakuraxChazz
2011-06-19T18:54:31+00:00 19.06.2011 20:54
Okay.. du hast es Geschafft... Ich werde die ersten Tage Angst vor Leuten mit Melone und langem Mantel haben... Wobei ich beides sehr schick finde^^
Da fällt mir ein, das mir ein Freund seinen Mantel mal zeigen wollte.. Wozu FFs wieder alle gut sind..
So ja mal wieder zum Kapitel an sich. Es ist wirklich spannend. Und ich bereue nicht schneller gelesen zu haben. Sonst hätte ich heute noch mehr lesen können. Das ist einfach so unglaublich toll. Ich mag Yuriys Mum jetzt schon. Wie sie sich streiten. Und der Großvater ist auch eine interessante Person. Was es mit dem Schlüssel auf sich hat wüsste ich auch nur zu gerne. Aber das muss dann wohl noch bis morgen oder Dienstag warten. Die Geschichte hat es verdient langsam und ordentlich gelesen zu werden.
Und mir gefallen diese düsteren Gestalten. Aber das sie gleich eine Waffe auspacken müssen. Da bin ich ja echt mal auf die 'Stärkeren' Argumente gespannt.
Und ich bin mal gespannt was denn aus dem Physikreferat dann wird^^ Jetzt wo Yuriy ja noch mehr Sachen hat, wo er sich Gedanken zu machen kann.
Ich steuere wieder auf eine neue Sucht zu. Ich hab die Idee. Ich lern fünf Englischsätze und dann darf ich einen Abschnitt lesen^^ Da hab ich im Nu alles drauf. Man ich bin genial^^
Und ich hatte noch was, was ich anbringen wollte, was ich natürlich glanzvoll wieder vergessen habe.. vielleicht fällt es mir ja später wieder ein.. Aber es war noch etwas positives.. Deswegen ist es ja so ärgerlich, das ich es vergessen habe^^'

LG Saku^^
Von:  _Myori_
2011-03-30T09:53:14+00:00 30.03.2011 11:53
sehr spannendes kapitel und hut ab für die diskussion am anfang. sehr schlüssig und interessant geschrieben- ich persönlich tu mir bei längeren argumentationen immer schwer.
das kapitel verspricht viel, ich bin gespannt ^^
lg

Von: abgemeldet
2010-11-14T23:15:39+00:00 15.11.2010 00:15
Eine Narbenbacke und eine dubiose Gestalt in schwarzer Klamotte mit schwarzer Melone.
Ja... so langsam wird es doch.
Bei Transcensionsschlüssel hab ich zwar auch erstmal das Grübeln gekriegt, aber Yus (ich kürz den Namen jezze einfach mal) Mutter hats ja halbwegs gut erklärt. Funktionieren dann eben wie Wurmlöcher, eh?
Wird es noch genauer erklärt?
Sicherlich.
Ich würd annehmen, dass man dann halt immer so schmiedet, dass man nur zu einem bestimmten Ort kommt, oder?
Schlüsselmacher hatten schon immer nen sehr faszinierenden Job. Im Grunde die perfekten Einbrecher.
Egal.
Ähm... was noch?
Ach ja... die Mutter. Die haut einen ja echt um. Mit Argumenten. Mit ihrer Präsenz. Dabei ist sie doch eigentlich angeschlagen von Arbeit gekommen.
Herrje... ich möcht sie nicht ausgeschlafen am Wochenende erleben.
Nein... irgendwie nicht.


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