Zum Inhalt der Seite

Perlmutt

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

LEUCHTEN (I) : »Machst du etwa immer noch bei diesem bescheuerten Wettbewerb mit?«

22 Jahre später


 

»Der Umhang ist noch etwas zu kurz, das passt nicht zu seinem Stil«, flüsterte Solweig mir zu. »Aber die Mimik ist klasse: Dieser flammende Blick – mal ihm doch noch einen Spitzhut!«

»Nein!«, schnaubte ich, während ich die Zeichnung eines urgewaltigen Magiers, der seine Kräfte heraufbeschwört, auf meinem Schreibblock verbesserte. Mein heimliches Modell gestikulierte soeben vor der Tafel und erklärte der Klasse mit Feuereifer, wie man den Ein- und Ausfallswinkel des Lichtes bei einem Zerrspiegel berechnet. Außerdem hatte mein Modell erstaunlich gute Ohren, weshalb ich schnell die Stimme senkte, bevor ich weitersprach.

»Spitzhüte sind was für Kleinkinder an Halloween!«

Auch Solweig vergewisserte sich kurz, dass unser Physiklehrer nichts von unserer Unterhaltung mitbekommen hatte.

»Deine ganze Zeichnung ist ein Schauermärchen«, feixte sie.

»Na, wenn schon! Und überhaupt«, setzte ich nach, »sehen Spitzhüte affig aus!«

»Eben drum!«

»Wenn du erwischt wirst, gibt's Saures«, murmelte zu meiner linken Seite Matt kaum hörbar, ohne den Blick von seinem Heft zu heben.

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, auf meinen Freund zu hören. Nur ihm zuliebe, denn er half mir oft genug dabei, das aufzuarbeiten, was ich im Physikunterricht nicht verstand. Ulkiger Weise brauchte Matt für Themen, die Mr Cobbald mir in einer ganzen Unterrichtsstunde nicht vermitteln konnte, selten mehr als zehn oder fünfzehn Minuten, bis ich kapiert hatte, worum es ging.

Ich schaute auf und musterte Mr Cobbald stirnrunzelnd. Matt hatte einmal gesagt, unser Lehrer könne den Stoff durchaus vermitteln. Ich verstünde Mr Cobbalds Erklärungen nur deshalb nicht, weil ich den Menschen nicht riechen konnte. »Du stellst einfach auf Durchzug«, hatte er es formuliert. Aber – und das wusste Matt genauso gut wie ich – Mr Cobbald blühte in seinem Beruf nur aus einem Grund auf: absolute Herrschaft. Neben Physik unterrichtete er ein Fach namens »Politik und Zeitgenössische Geschichte« und es hielt sich die Meinung, dass er in seiner Lehrtätigkeit das perfekte Substitut für seinen Hang zur Sklaventreiberei gefunden hatte. Matt hatte beide Kurse bei Mr Cobbald belegt; er vergötterte diesen Lehrer. Ich hätte mir Mr Cobbald niemals freiwillig in zwei Fächern zugleich angetan. Er hatte ein untrügliches Gespür für vergessene Hausaufgaben, für unter den Tisch geklebte Kaugummis, für Ruhestörungen und Ruhephasen jedes Härtegrades. Wer auch immer fehl trat: Mr Cobbald bemerkte und sanktionierte das Vergehen. Seine Kurse fürchteten ihn. Er war ein Tyrann höchster Güte; unter seinem erhobenen Zeigefinger krochen die Schüler im Staub. Ein besseres Modell konnte ich mir für meinen Magier gar nicht vorstellen!

»Machst du etwa immer noch bei diesem bescheuerten Wettbewerb mit?«, zischte Matt, als ich Anstalten machte, den Stift erneut anzusetzen, aber ich ignorierte ihn. Solweigs Idee begann mir zu gefallen und die Herausforderung kitzelte mich in den Fingerspitzen. Der »Wettbewerb« bestand darin, Mr Cobbalds Unterricht zu sabotieren, ohne dass er es bemerkte, und hatte sich mittlerweile über mehrere seiner Kurse ausgebreitet. Dem Sieger würde für den Rest des Schuljahres das Geld fürs Mensaessen erstattet werden. Dafür warfen wir, die wir uns verschworen hatten, jede Woche ein Sümmchen zusammen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass die Gordon Stout zu meiner Zeit eine Privatschule mit ausgesucht deliziöser und – für Mittelständler wie Solweig und mich – horrend teurer Mensa war. Ein überaus würdiger Wetteinsatz also.

Ich pustete einige Radiergummireste von meinem Block, zog eilig ein paar neue Striche – unter Anderem, um den Spitzhut zu skizzieren – und zeigte Solweig die Zeichnung noch einmal. Matt hielt ich da heraus. Schließlich sollte er nicht meinetwegen in ein schlechtes Licht gerückt werden, falls Mr Cobbald meine Beschäftigungstherapie bemerkte. Bei Solweig lag die Sache anders. Immerhin kommentierte sie meine Zeichnung schon, seit ich den ersten Strich gezogen hatte. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.

»Besser?«

»Ja, viel besser!«, sagte sie, nachdem ihr prüfender Blick meine Zeichnung mit dem Original verglichen hatte, das trotz seiner beachtlichen Körpermasse energiegeladen vor der Tafel herumturnte, um seine Erklärungen zu veranschaulichen.

Ihr Lob beflügelte mich zu dem ein oder anderen Detail, und während Matt sich weiterhin Stichpunkte notierte, verpasste ich meinem Magier einen aufwändigen Anzugsaum und eine dicke Pelzkrempe am Spitzhut.

»Tierquäler«, wisperte Solweig amüsiert.

»Dann ist das eben Webpelz!«, fauchte ich zurück.

Ich war gerade damit beschäftigt, sein Gesicht zu schraffieren, um die prägnanten Züge besser zum Ausdruck zu bringen, als die volle, penetrante Stimme meines untersetzten Physiklehrers direkt über mir ertönte.

»Yuriy Furlong!«

Erschrocken schaute ich von meinem Block auf.

»Wir haben einen neuen Rekord«, wisperte Solweig, doch unter Mr Cobbalds Blick fiel der als triumphal veranschlagte Tonfall recht kleinlaut aus.

Sabotageversuch Nummer Drei war soeben in eine Phase getreten, da er kurz vorm Scheitern stand. Allmählich mussten wir wohl anfangen zu beten, dass uns niemand zuvorkommen würde. Die meisten Wettbewerbsteilnehmer waren Schüler im letzten Jahr, die von Mr Cobbalds Groll nicht mehr allzu viel zu befürchten hatten. Nur wenige aus der Mittelstufe hatten sich wie Solweig und ich an die Aufgabe herangetraut. Außerdem war die Hälfte des Schuljahres bereits vorbei und ich wollte weder das Essen für einen anderen bezahlen, noch einen allzu kurzzeitigen Gewinn einheimsen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Matt sich ein kleines, hämisches Grinsen nicht verkneifen konnte. Im Geiste sah ich eine karikierte Matt-Figur, hin und her gerissen zwischen loyaler Beschämung und Freudentanz, die immerfort sang: »Ich hab's euch ja gesagt! Ich hab's euch ja gesagt!«

Mr Cobbald heftete seinen Zerberusblick auf mich.

»Kannst du die Formel wiederholen?«, fragte er. Natürlich wusste er, dass ich es nicht konnte. Weil es bei ihm niemand wagte, mir die Antwort vorzusagen, suchte ich aus dem Augenwinkel die Tafel ab. Aber die einzige Formel, die neben der Spiegelzeichnung zu sehen war, hatte ein anderer Schüler schon vor einer Viertelstunde wiederholen müssen. Da war sie allerdings auch schon angeschrieben gewesen, und Mr Cobbald hatte getreu seinem Ruf das Ablesen bemerkt. Jetzt trommelten seine Fingerkuppen ungeduldig auf meinen Tisch. Ich sah ein, dass ich fürs Erste geschlagen war.

»Nein, Mr Cobbald«, knurrte ich mein Geständnis.

Mr Cobbald und ich pflegten eine besonders ausgeprägte Feindschaft. Dabei ging es nur vordergründig um den Wettbewerb. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich seinen Teil zu der Verschwörung nicht dachte, aber er hatte es nicht auf mich abgesehen, weil ich einer von vielen dahergelaufenen Störenfrieden gewesen wäre. Im Gegenteil: Ich pflegte meinem Ärger Luft zu machen, und zwar wie durch die Posaune, mit ausdauernder Bläserlunge. Das war inakzeptabel. Mr Cobbald schien sich vorgenommen zu haben, mir zu zeigen, wer die Hosen anhatte. Der absolutistische Herrscher und der Widerstand. Und was ärgert einen Tyrann mehr als ein aufmüpfiger Untertan?

Noch ein aufmüpfiger Untertan.

Mr Cobbald wandte sich von mir ab und durchbohrte stattdessen Solweig mit seinem Blick. Sie schüttelte bedauernd den Kopf und setzte den glaubwürdigsten Treuherzblick auf, den sie zustande bringen konnte.

»Tut mir Leid, Mr Cobbald. Ich habe gerade nicht zugehört.«

Das Verhalten meiner Freundin war beispielhaft für das der ganzen Klasse: Einen schüchternen Referendar hätten sie in Fetzen gerissen, aber vor Mr Cobbald kniffen sie den Schwanz ein wie geprügelte Hunde. Bei meinen Mitschülern kratzte mich das wenig; ich hatte gelernt, stillschweigend darüber hinwegzugehen. Das Schlimme war, dass Solweig sich auf ihr Niveau herabgelassen hatte. Insgeheim war ich ja der Auffassung, dass die Sache schon ganz anders aussähe, wenn sie ihre Entschuldigungen wenigstens ernst meinen würden. Ich glaubte aber, dass Mr Cobbald in dem Moment das Gleiche dachte wie ich, und wollte nicht das Gefühl haben, meiner Freundin in den Rücken gefallen zu sein. Beinahe ließ ich mich zu einer leeren Phrase hinreißen, um ihm einen Denkzettel zu verpassen, doch glücklicherweise funkte mir mein Stolz rechtzeitig dazwischen und fuhr mir über den Mund.

»Bitte? Wolltest du etwas sagen?«, fragte Mr Cobbald mich. Er hatte sich offenbar mit Solweigs Ausflucht abgefunden und erwartete nun, dass ich wieder einmal gegen ihn in den Kampf zog.

Ich schwieg beharrlich.

»Was war es denn diesmal? Eine Erklärung ist nur recht und billig. Immerhin haltet ihr es nicht einmal für nötig, Rücksicht auf den Teil der Klasse zu nehmen, der dem Unterricht folgt.« Sein Blick huschte bedeutsam zu Matt, dem über das verdiente Lob merklich die Brust schwoll. Sollte sie ruhig – eine so übertriebene Loyalität verlangte ich nun auch wieder nicht.

Da schnappte Mr Cobbald sich meinen Block.

Ich konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Ob er sich erkennt? Ich verwehrte es mir, in diesem aufregenden Moment die Luft anzuhalten.

Mr Cobbald fuhr sich prüfend über die Kinnpartie. »Du solltest Unterkiefer noch üben«, stellte er fest.

»Jawohl, Mr Cobbald«, sagte ich herausfordernd.

Mr Cobbalds Blick war steinhart, die Stille, die sich einstellte, vollkommen. Meine Mitschüler gafften uns sensationslustig an, als erwarteten sie, dass jeden Moment einer von uns beiden über den Tisch springen und sich mit Urwaldgeschrei auf den anderen stürzen würde.

»Ich lasse mir nicht die Zeit stehlen. Wir sprechen nach der Stunde«, sagte Mr Cobbald tonlos und wandte sich an die Klasse: »Nun, wo waren wir stehen geblieben?«

Matt tippte mit der Stiftspitze auf sein Heft. Ich warf einen unmerklichen Blick auf die Worte, die er zuletzt geschrieben hatte. »Bei der Beschaffenheit des Lots am Zerrspiegel«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen zu Mr Cobbald, ohne zuvor aufgerufen worden zu sein, und hängte mit sagenhafter Unschuldsmiene abermals seinen Namen hinten an.

Für einen Sekundenbruchteil entgleisten meinem Physiklehrer nun tatsächlich die Gesichtszüge. Ob dieses denkwürdigen Augenblickes musste ich mich zusammennehmen, um nicht triumphierend zu grinsen. Ich hatte Blut geleckt. Der offene Boykott grenzte an Selbstmord. Nein, an einen Ehrentod. Geradezu ein Martyrium! Die Siegstrategie überhaupt!

Meine Kursmitglieder hatten ihren Spaß an meiner Aufsässigkeit. Einige wagten es sogar, öffentlich zu kichern. Jetzt, wo ich vorne lag, machten sie mit wie eine Schafherde. Solweig lächelte verhalten. Matt lehnte sich unschuldig zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als ginge ihn der ganze Zirkus nichts an.

Mr Cobbald suchte und fand die Köpfe der Schüler, die sich über ihn lustig machten. Stimme für Stimme verebbte das Lachen. Dann blieb sein Blick an Matt hängen; ein Blick, der jeden gönnerhaften Zug eingebüßt hatte. Etwas in seinen Augen loderte auf. Nicht enttäuscht. Nicht wütend. Es war überhaupt kein Resultat einer Gefühlsregung. Vielmehr war es ein plötzliches Blitzen hinter seinen Pupillen; ein kaltes, irisierendes Leuchten, das die Iris zum Flackern brachte. Mr Cobbalds Augen erschienen spiegelblank.

Meine Finger zuckten unruhig. Kurzentschlossen setzte ich mich darauf. Schon ahnend, was mich erwartete, biss ich die Zähne zusammen. Ich begann zu frieren und zu allem Überfluss pochten meine Schläfen schmerzhaft.

Dass Matt jetzt doch in unsere Auseinandersetzung hineingezogen wurde, tat mir Leid. Allerdings war ich in gleichem Maße glücklich, dass nicht die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse auf mir lastete, während ich gerade einen Schwächeanfall erlitt. Meine Muskeln verkrampften; in einem plötzlichen Anflug von Übelkeit beugte ich mich über die Tischplatte.

Dann sprach Mr Cobbald, und die Kälte in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken.

»Du enttäuschst mich, Matt. Ich hätte nicht gedacht, dass du betrügen würdest.«

Auf der Stelle saß ich kerzengerade. Solweig stieß hörbar den Atem aus. Matt versank fast unter der Tischplatte, kalkweiß und zu verblüfft, um zu verbergen, wie verletzt er war. Bisher hatte unser Physiklehrer immer große Stücke auf ihn gehalten. Seinen Ruf wanken zu sehen, rüttelte den gesamten Kurs auf. Das gebannte Schweigen, das Mr Cobbalds Worten folgte, war zum Schneiden dick.

Endlich wandte Mr Cobbald sich von Matt ab. Er drehte sich zu Solweig und mir um, und unsere Mitschüler wussten, dass sie aus dem Schneider waren. Ich hörte ihre halbherzig unterdrückten Seufzer und hasste sie dafür.

»Ich denke, ihr solltet euch zu Hause eingehend mit dem auseinandersetzen, was ihr in der Stunde versäumt habt«, beschloss Mr Cobbald.

»Warum Solweig?«, erwiderte ich empört. Sie hatte nichts Anderes getan als meine Mitschüler – abgesehen von unserem anfänglichen Geflüster über meine Zeichnung. Aber provoziert hatte ich Mr Cobbald, und all dies sagte ich laut.

»Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen«, war sein ganzer Kommentar zu meinen Worten.

Ich schnappte nach Luft. Aber ich hielt den Mund.

Gelassen sackte er meinen Block ein und sagte über die Schulter: »Ihr könnt euch die Aufgabenstellung und die Zeichnung nach der Stunde bei mir abholen.«
 

»Was versprecht ihr euch davon, meinen Unterricht zu stören?«

Solweig und ich sagten kein Wort. Das gehörte zum Wettbewerbskodex.

Mr Cobbald lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Schlagstock hing hinter ihm an der Wand. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, er hätte ihn noch nie benutzt. Ich hatte wenig Lust, den Wahrheitsgehalt des Gerüchtes auszutesten.

»Ihr habt euch den A-Level-Schülern angeschlossen, was?«

Keine Antwort.

Er lächelte. »Sie haben sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Wenn sie im nächsten Juni die Schule verlassen, sind sie fein raus. Ihr habt dann noch zwei Jahre vor euch.«

Das machte es für uns umso verlockender. Berüchtigt in die Oberstufe einzutreten, war es allemal wert!

»Also frage ich euch, ob ihr euch über die Konsequenzen einigermaßen im Klaren seid, oder so dämlich, dass ihr euren Leichtsinn für Mut haltet.«

Solweig und ich widerstanden dem Bedürfnis, einen Blick zu wechseln.

»Über den ganzen schulischen Kram rede ich erst gar nicht«, sagte Mr Cobbald. »Schüler sind mal aufmüpfig, fahren mal eine schlechte Note ein, bleiben mal stecken. Manche gewöhnen sich auch daran. Sie schreiben weiterhin schlechte Noten, sie beziehen Prügel, die sie ertragen und schlucken, und bleiben aufmüpfig, aus welchen Gründen auch immer. Und was die Leute dagegen unternehmen, ist Irrsinn. Sie müssen nicht herausfinden, warum ein Schüler kein Interesse hat, sondern wie er sich locken lässt.«

Ich trat demonstrativ von einem Bein auf das andere, bis er seinen Sermon beendet hatte. Mr Cobbald schlug die Beine übereinander und musterte uns. Es vergingen einige Sekunden blanken Einander-in-die-Augen-Starrens. Dann wurde es mir zu blöd.

»Tja, dann finden Sie das mal heraus«, sagte ich. Man musste den Wettbewerbskodex nun auch nicht zu genau nehmen. Schließlich sollten wir nicht kooperieren, sondern sabotieren.

Er hob die Augenbrauen. Seine Stirn wellte sich zu Falten. »Das Interessante ist ja, dass meine Tour euch geradewegs zum Stören animiert.«

»Überaus interessant«, gab ich zurück.

Solweig stieß mir sachte gegen den Fuß, aber ich hatte Blut geleckt.

»Versuchen Sie gar nicht erst, mich zu locken. Offen gestanden, habe ich einfach keinen Draht zu Ihnen. Wenn ich mir den Stoff selbst anlese, komme ich schneller voran, als wenn ich hier versuche, mich darauf zu konzentrieren, welche von Ihren Äußerungen gerade nicht schreit: Ich bin der Lehrer und ihr seid mir ausgeliefert!«

Solweig trat mir so schwungvoll in die Kniekehle, dass ich fast einknickte. Aber ich hielt Mr Cobbalds prüfendem Blick stand.

Plötzlich grinste er amüsiert. Ich hätte ihm gern eine gelangt.

»Beweise es«, sagte er.

Ich hätte mir gern eine gelangt.

»Und ich habe auch genau die richtige Aufgabe dafür!« Er setzte sich so schnell auf, dass er beinahe von seinem Stuhl hüpfte.

Solweig warf mir einen stechenden Blick zu. Ich lächelte schlapp.

Mr Cobbalds Blick wanderte prüfend zwischen unseren Gesichtern hin und her.

»Solweig, meinst du, du hängst da mit drin?«

»Nein«, erklärte ich, bevor sie überhaupt den Mund aufgemacht hatte.

Solweig starrte mich an. Ich starrte zurück. Sie ließ ein missbilligendes Schnalzen vernehmen und verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein.

»Nein, wenn ich drüber nachdenke, glaube ich das wirklich nicht«, sagte sie mit einem Achselzucken.

Mr Cobbald bleckte die Zähne. »Cleveres Mädchen.«

Meine Ohren wurden verdächtig heiß.

Mr Cobbald beugte sich gönnerhaft zu mir vor. »Was hältst du davon, wenn ich dir das Thema der nächsten Stunde vorgebe? Dann kannst du zeigen, was du drauf hast. Du wirst die Stunde leiten und deinen Klassenkameraden Rede und Antwort stehen. Was sagst du?«

Das war eine rhetorische Frage.

Mein Stolz erlag einem Anflug von Unschlüssigkeit: Er wollte den Wettbewerb gewinnen. Aber er wollte sich auch nicht von Mr Cobbald lumpen lassen.

»Ich sage Ja, Mr Cobbald«, erklärte ich und staunte fast selbst über die Entschlossenheit in meiner Stimme.

Das schien ihn ehrlich zufriedenzustellen. Mit einem wohlwollenden Wink und dem besagten Stundenthema entließ er uns.

Sobald wir aus dem Raum waren, gab ich mich einer mannigfaltigen Fluchsalve hin.

Solweig lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Du Idiot!«, fauchte sie. »Das hast du wirklich verdient für so viel Blödheit!«

»Ihr lebt ja noch«, stellte Matt mit spröder Stimme fest.

Überrascht wandten wir uns zu ihm um.

»Du bist noch hier?«, sprach Solweig für uns beide.

Matt lehnte zusammengesunken an der Flurwand und malte mit dem Fuß unsichtbare Kreise auf den Fußboden. Er lächelte Solweig scheu zu und mied meinen Blick. »Meinen Ruf reinwaschen, denke ich«, sagte er achselzuckend.

»Jedem sein Fettnäpfchen«, erwiderte ich trocken. Wenn er erwartete, dass ich mich bei ihm entschuldigte, hatte er sich geschnitten. Den Ärger hatte er sich selbst eingebrockt, so wie Solweig und ich uns den unseren.

»Jungs, nervt mich nicht«, stöhnte Solweig.

Matt stellte den Angriff ein.

»Also, wie ist es gelaufen?«

Solweig übernahm die Aufgabe, ihm Bericht zu erstatten; mir war es nun doch zu peinlich. Matt lachte über meine Verbitterung, aber er klang säuerlich. Fast schien es mir, als bereute er es, nicht auch einen Vortrag halten zu müssen, um sich seine bevorzugte Stellung bei Mr Cobbald zurückzuverdienen.

Ich wollte ihm den Vorschlag gerade machen, da stieß er sich von der Wand ab und schob sich an mir vorbei. Solweig trat von der Tür zurück, um ihm Platz zu machen, und schenkte ihm ein warmes Lächeln. Ich wusste nicht, ob ich sie bewundern oder ihr an die Gurgel gehen sollte. Wenn Matt sich in seinem Selbstmitleid suhlen wollte, sollte er das tun. Aber man musste ihm die Erde nicht noch zu Schlamm wässern!

Ich wartete, bis er nach der Klinke griff.

»Tja, dann viel Glück«, sagte ich und stiefelte los.

»Für mich wird’s wohl nicht so einfach werden«, gab er bissig zurück.

Ich fuhr mitten im Schritt herum. Solweigs warnenden Blick übersah ich mit Absicht. Freund oder nicht, das ließ ich nicht auf mir sitzen.

»Weißt du, Matt«, sagte ich, »wir beide bauen mal Mist. Ich öfter als du. Aber wenn's mal wieder so weit ist, dann stehe ich dazu.«

»Man denkt, bevor man handelt«, blaffte er.

»Und man ignoriert seine Fehler nicht. Ich rede von Courage. Kannst du das auch?«

»Courage!« Matt funkelte mich kampflustig an. »Also, besonders dankbar bist du heute nicht.«

»Ich bin dankbar, dass du mir geholfen hast. Aber ich lasse mir nicht anhängen, dass dein Plan nach hinten losgegangen ist.«

Solweig räusperte sich vernehmlich.

»Ja, ich habe nicht aufgepasst«, fuhr ich ungerührt fort und durchmaß meine Entfernung zu Matt mit langen Schritten. »Ich habe deinen Rat zwar nicht befolgt – was übrigens allein in meinem Ermessen lag – aber ich habe dich auch nicht in den Streit hineingezogen. Die Entscheidung hast du ganz allein getroffen. Ich habe schon dafür geradegestanden, Matt. Solweig auch. Was ist mit dir? Wirst du Mr Cobbald sagen, warum du mir mit den Notizen geholfen hast?«

»Yuriy, halt die Klappe«, sagte Solweig.

Matt war still geworden und drückte sich mit dem Rücken an die Tür. Ich stand jetzt genau vor ihm. Er kam mir erstaunlich klein vor, und das machte mich nur noch wütender.

»Nein, wirst du nicht. Du wirst nur dasitzen. Du wirst verzweifelt von deinen Händen auf die Tischplatte und wieder zurück starren und dich selbst bedauern. Du wirst dein Maul halten, weil du dich nicht traust, für deine Fehler geradezustehen. Mann, Matt! Ich habe Besseres zu tun, als für dich den Sündenbock zu spielen!«

Matt starrte mich aus schmalen Augen an. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und presste die Lippen zusammen. Dann wandte er mir den Rücken zu und drückte die Türklinke herunter.

»So, wie du jetzt auch nichts sagst«, erklärte ich und holte zum Finalschlag aus. »Glaubst du denn, dass du Mr Cobbald mit der Einstellung umstimmen kannst?«

Matt zuckte zusammen, als hätte ich ihn auf eine empfindliche Stelle geschlagen. Seine Hand erstarrte am Türgriff. Ich hoffte, dass er endlich explodieren würde.

Ich wurde enttäuscht.

»Wasch dir das Gesicht, Hitzkopf«, murmelte er bloß und schob sich durch die Tür.

Ich griff nach seiner Schulter. Hätte Solweig mich nicht beherzt zurückgehalten, wäre ich wahrscheinlich mit einem Satz vor ihm gewesen. Ich hätte die Tür ins Schloss zurückgestoßen und ihn auf die Fliesen und ... weiter weiß ich nicht. Vielleicht war es besser, dass er sich in den Physikraum retten konnte.

»Komm wieder runter«, zischte Solweig und schob mich von der Tür weg. »Sonst bist du auch nicht so empfindlich.«

Ich ließ mich nur widerwillig von ihr mitziehen. »Er muss nicht meinen, dass er seine Schuld auf mich abwälzen kann!«

Solweig verdrehte die Augen. »Dass du immer denkst, die Leute wollten dir was!« Inzwischen schien sie sich sicher zu sein, dass ich auch ohne ihre führende Hand mitkommen würde, denn sie ließ meinen Arm los.

»Natürlich war er ungerecht. Aber was Mr Cobbald zu ihm gesagt hat, war für ihn genauso schlimm wie es für dich wäre, wenn Stamenkovic dir sagen würde, dass du nicht zeichnen kannst!«

Der Kommentar traf mich ins Mark.

»Das ist etwas ganz Anderes!«, fauchte ich. Sie wusste genau, wie sehr ich Jole Stamenkovic verehre. Mit jedem Farbstrich hauchte er dem Geist seines Modells auf dem Blatt Papier mehr Leben ein. Seine Bilder erzählten, wie er die Leute kennenlernte, die er malte, und was er von ihnen aufsog. Und war das Bild vollendet, sah man den Menschen vor sich, nicht sein Portrait. Selbstverständlich fühlte ich mich verpflichtet, Solweig dies ein weiteres Mal vor Augen zu führen.

»Wie poetisch«, feixte sie.

»Es ist ja wohl ein Unterschied, ob ich Kritik annehme oder nicht«, erwiderte ich.

»Wenn du die Chance hättest, Stamenkovic persönlich kennen zu lernen, würdest du wollen, dass er eine schlechte Meinung von dir hat?«

»Ich würde ihn gar nicht erst hintergehen!«

»Yuriy, der Punkt ist, dass Matt von einem Vorbild abgelehnt wurde.«

»Nein, der Punkt ist, dass er sein Vorbild hintergangen hat!«

»Nein, der Punkt ist, dass er einen Fehler gemacht hat und damit so gehörig aufs Maul gefallen ist, dass er ein wenig Starthilfe braucht. Wenn er ungerecht ist, ignoriere das einfach. Niemand erwartet, dass du ihm Hand auflegst, aber reibe – zum Donner – nicht auch noch Salz in die Wunde! Trag's mit Fassung. Der beruhigt sich auch wieder.«

Ich verkniff mir den bissigen Kommentar, der mir auf der Zunge lag. Mir war nicht danach, auch noch einen Streit mit Solweig anzuzetteln.

Missmutig schlurfte ich hinter ihr her.

»Eigentlich müsstest du jetzt eine besonders gute Arbeit abliefern«, sagte sie plötzlich.

»Vielleicht.« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

»Du enttäuschst mich, Matt. Ich hätte nicht gedacht, dass du betrügen würdest«, sagte ein Echo von Mr Cobbalds unterkühlter Stimme in meinem Kopf. So verhasst und gefürchtet er auch war, Matt hatte schon immer zu ihm aufgesehen, mit ehrlicher Bewunderung für sein Fachwissen. Und er hatte sich die Hochachtung dieses Lehrers erarbeitet. Sein Ansehen bei Mr Cobbald hatte eine spürbare Kerbe erhalten.

Mr Cobbalds Blick hatte ich noch deutlich vor Augen. Vielleicht hatte Solweig gar nicht Unrecht.

Ich stockte.

Und dann dieses Leuchten hinter seinen Pupillen.

Ich kannte dieses Licht. Seit einem Monat sah ich es immer wieder. Es tauchte völlig zusammenhanglos irgendwann am Tag bei irgendeinem Menschen auf, der zufällig meinen Weg kreuzte. Als ich es zum ersten Mal wahrgenommen hatte, war ich ohnehin nicht ganz auf der Höhe gewesen. Die Kopfschmerzen hatte ich nörgelnd hingenommen und das Leuchten für eine einfache Sinnestäuschung gehalten. Dass mir meine Augen den gleichen Streich aber mehrmals und völlig unwillkürlich spielten, war Blödsinn; ich sah das Leuchten immer häufiger, seit einer knappen Woche rund einmal täglich, und das stets in Verbindung mit diesen Schmerzen, die mir manchmal vom Kopf aus die gesamte Wirbelsäule hinunter zogen. Mittlerweile fragte ich mich, ob ich vielleicht Kreislaufprobleme hatte.

»Willst du da Wurzeln schlagen?«, hallte Solweigs Stimme über den Schulhof.

Erschrocken schaute ich auf.

Ich war mitten auf der Außentreppe stehen geblieben. Solweig war schon ein gutes Stück weitergegangen, bevor sie bemerkt hatte, dass ich ihr nicht länger folgte, und wartete ungeduldig vor dem Eisentor.

»Also, ich an deiner Stelle würde Mr Cobbald bestimmt nicht den Triumph gönnen, mich vor der Klasse zu blamieren«, meinte sie, als ich sie eingeholt hatte. »Hol dir die A-Note!«

Ich schaute sie verblüfft an. Meine Solweig hatte richtig Mumm!

Ihr Elan weckte meine Kampflust.

»Darauf kannst du Gift nehmen!«, versprach ich.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  SakuraxChazz
2011-06-18T21:16:27+00:00 18.06.2011 23:16
Das wäre nichts für mich. Ich würde so versagen..
Physik.. Referieren über ein Thema vor der Klasse. Hatte ich letztes Jahr und ich habe versagt -.- Was zum Teil auch an meinem miesen Partner lag. Aber ich hatte ihn ja mit bedacht gewählt, weil ich sicher gehen konnte alleine zu arbeiten.
Die Partnergeschichte vorher lief ja auch nicht so toll und da hatte der Gegenpart Ahnung -.- Nur weil ich ein Mädchen bin. Pah!
Aber ich finde es schön, das Solweig sich da rausreden konnte^^
Und das Yuriy (ich muss erst üben den zu schreiben, dann erwähn ich ihn vielleicht auch öfter) sich jetzt mit Matt so gefetzt hat. Es ist wirklich schlimm von einem Vorbild gesagt zu bekommen, das man mies ist. Und Matt hat es ja immerhin für ihn getan. Das war echt ein mieser Tag für die beiden.
Und ich ifinde es schön, das jetzt in die Ich-Perspektive gewechselt wurde^^
Ach und ich mag den Lehrer^^ Er ist zwar total streng und alles, aber die Beschreibung ist toll. Ich mag Lehrer die Durchgreifen können. Das schaffen ja nur noch sehr wenige hab ich so das Gefühl. Ich will so einen Lehrer für meine Klasse. Allerdings würde ich dann gerne die Rolle von Matt haben nur ohne das mit dem 'hintergehen'.
Ich liebe die Geschichte jetzt schon^^
Und mir gefällt die Kapitelüberschrift^^ die macht sofort neugierig und ich hab schon wilde Vermutungen wegen dem Leuchten^^
Wirklich sehr spannend^^ So sollte es sein xD

LG Saku^^
Von:  _Myori_
2011-03-29T20:18:54+00:00 29.03.2011 22:18
hi
ich bin- mehr oder weniger- nur durch zufall auf deine story gestoßen, aber ich bin froh, dass ich sie angefangen habe zu lesen.
ich beneide dich um deinen schreibstil! du schreibst so wortgewandt und interessant, es macht echt spaß, deine geschichte zu lesen- wirklich sehr gut :)
und die story selbst verspricht viel. ich bin gespannt, wie sich das alles entwicklt, werde auf jeden fall weiterlesen :P
lg Myori
Von:  Brollonks
2010-12-03T15:47:44+00:00 03.12.2010 16:47
Respekt - mir ist die Szenerie im Klassenzimmer/innerhalb der Schule noch geläufig, vor vielen Jahren las ich dies das erste Mal - ich finde, dass du unbedingt weiter so bildreiche Einflüsse in deinen Erzählstil einbauen solltest. Natürlich liegt es an der Phantasie des Lesers selbst - aber ich hatte im Prolog und dem ersten Kapitel wirklich sehr gute Unterhaltung. Es war nahezu wie ein Kopfkino, in welchem ich einen Film ansah - sehr gut. Ich lese bald weiter, aber ich brauche erstmal Wasser und muss weiterzeichnen.^_^
Von: abgemeldet
2010-11-14T21:22:52+00:00 14.11.2010 22:22
Erinnert mich an meine Schulzeit.
In Physik war ich auch immer chronisch abwesend. War aber meist auch Montags die erste Stunde ich bin bin immer mit dem Rad zur Schule. Nach 12km ist man nicht mehr so aufnahmefähig, aber ich hatte da nicht so nen Genie zum Freund, der mir das dann mal so flockig erzählt hat.
Yuriy ist übrigens nen toller Name.
Nur passt Matt dann nicht wirklich. Ein Russe unter Amerikanern oder ein Amerikaner unter Russen?
Im Grunde egal.
Das Schülerdasein ist echt trist.
Und dann noch bei so einem Lehrer. Meistens kriegen die ja doch mit, was man so treibt. Dummerweise, aber er hat ja sehr lange dafür gebraucht.

Und...
nicht übel nehmen...
Man merkt wirklich, dass du Deutsch LK machst. XD
Der Stil ist gut... aber umfangreich und komplex und... ach du weißt schon, was ich mein. Bildgewaltig halt, obwohl hier nicht viel Platz für Bilder war. Vielleicht lag es am Satzbau?
Ich muss noch nen Yuriy irgendwo einbauen.
Ich find den Namen wirklich cool.
Ja... meine sinnvollen Kommentare~


Zurück