Zum Inhalt der Seite

Phönixasche

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Supper Club & Weihnachtsmarkt

SUPPER CLUB & WEIHNACHTSMARKT
 

Ich fiel fast aus dem Bett, als ich einen Blick auf meinen Wecker warf. Es war halb acht und ich hatte Amita versprochen, dass ich sie um acht zu Hause abholen würde, damit wir zusammen zu Mimi gehen konnten. Verdammter Dreck. So lange hatte ich gar nicht schlafen wollen — einmal ganz abgesehen davon, dass ich nicht einmal hatte ein Schläfchen halten wollte! Ich hatte mich aufs Bett gelegt, um noch ein bisschen Unizeug durchzuarbeiten und war dabei weggeratzt. Na wunderbar.
 

Hastig wurstelte ich mich aus dem Bett und wirbelte dabei die Blätter auf, die wirr darauf herumlagen. Ich stolperte zu meinem Schrank, riss ein schwarzes Hemd von einem der Bügel. Die Hose, die ich anhatte, war noch okay. Schnell warf ich einen Blick in den Spiegel. Dabei stellte ich fest, dass ich aussah, als wäre ich vor kurzer Zeit durch einen Fleischwolf gedreht worden. Längs über meine rechte Gesichtshälfte zogen sich tiefe Schlafnarben. Meine Haare sahen dafür aber aus, als hätte ich sie gerade perfekt stylen lassen. Das war einer der Vorteile kurze Haare zu haben: Man rollte aus dem Bett und der Schopf sah direkt hochglanzmagazinmäßig aus. Ich zerrte den Pullover über meinen Kopf, bevor ich mir das Hemd überwarf und mich umdrehte. Beinahe packte ich mich auf die Schnauze, als ich über einen Teller stolperte, den ich achtlos auf dem Boden abgestellt hatte. Fluchend fing ich mich im letzten Moment.
 

Ich hetzte ins Bad, um mir das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Zumindest war Fernando nicht da, um sich über mich lustig zu machen. Er war heute wieder auf irgendeiner Party unterwegs und drehte wahrscheinlich wieder irgendeinen armen Kerl um. Das restliche Wasser lief noch über mein Gesicht, während ich eilends die Knöpfe meines Hemds verschloss. Erst als ich fertig war, griff ich nach dem Handtuch, um mich abzutrocknen. Ich fühlte mich auf jeden Fall wacher und die Schlafnarben waren eindeutig nicht mehr so präsent wie noch wenige Minuten zuvor.
 

Zurück in meinem Zimmer stopfte ich Portemonnaie, Schlüssel und Handy in meine Hosentaschen, schlüpfte in meine Jacke und schnappte mir Schal und Handschuhe, um sie im Gehen anzuziehen. Dafür blieb wirklich keine Zeit mehr, wenn ich noch halbwegs pünktlich bei Amita ankommen wollte.
 

Unterwegs legte ich mich ein paar Mal fast hin. Schwitzend und keuchend kam ich bei Amita an, sieben Minuten zu spät. Ich klingelte kurz. Es antwortete niemand, stattdessen erschien Amita wenige Augenblicke später an der Tür und lächelte mich an. Sie trug wieder ihren roten Mantel. Offenbar war das tatsächlich ein Wintermantel und nicht nur irgend so ein Übergangsding.
 

»Hey«, sagte ich, bevor ich kurz tief Luft holte. »Sorry. Ich bin weggepennt und zu spät wieder aufgewacht.«
 

Amita lachte herzhaft auf. »Lass mal, ich kenne das. Hauptsache, du bist gekommen.«
 

Ich konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. Dann gingen wir los. Unterwegs schimpften wir über den schlechten Winterdienst hier. Keine der Straßen, außer der Privatwege, war wirklich geräumt, stattdessen wurde nur irgendein total sinnloser und unnützer schwarzer Kiesel gestreut, der wirklich absolut gar nichts bewirkte, außer dumm auszusehen. Es hatte heute wieder den ganzen Tag geschneit. Mimi würde morgen wahrscheinlich nicht nur ordentlich mit dem Abwasch zu tun haben, sondern auch damit, den ganzen Dreck der Schuhe aus ihrem Flur zu bekommen. Darum beneidete ich sie wirklich nicht.
 

Amita und ich waren nicht die ersten, die da waren. Aus Mimis Wohnzimmer war Stimmgewirr zu hören, als wir hereinkamen, und es standen schon einige Paar Schuhe im Flur. Mimi empfing uns mit einem Strahlen im Gesicht. Ihre Haare waren zurückgebunden und sie trug eine olivgrüne, seidene Bluse mit einem hochgeschnittenen, taillierten schwarzen Rock. Sie gab mir bei der Umarmung wieder einen Kuss auf die Wange. Ich musste mich zusammenreißen, um sie nicht länger als angemessen festzuhalten.
 

»Schön, dass ihr da seid«, sagte Mimi. »Einfach durch ins Wohnzimmer. Wir sind fast vollzählig.«
 

Amita und ich zogen Schuhe und Jacken aus, bevor ich hinter ihr ins Wohnzimmer ging. Zwei Tische standen einander, um genug Platz für alle zu bieten. Es war bereits gedeckt, im Hintergrund lief Musik und auf dem Fensterbrett stand ein Lichterbogen.
 

Ich schaute mich um. Am Fenster stand ein Kerl, der mit einem Mädel Händchen hielt. Sie waren ganz offensichtlich ein Paar und zusammen hier, und unterhielten sich mit einem anderen Mädchen. Auf der Couch saßen zwei Typen, die je ein Bier in der Hand hielten, und miteinander redeten, und dann stand ein weiterer Kerl mit dem Rücken zu mir und sprach mit zwei Mädels, deren Gesichter ich sehen konnte. Sie waren deutlich kleiner und mussten zu ihm hinaufsehen, aber sie hingen unmissverständlich an seinen Lippen.
 

Einen Moment lang stutzte ich, weil irgendetwas mich an diesem Bild störte, bis mir klar wurde, dass ich diesen Rücken und die Schultern da kannte. Sie gehörten nämlich zu Raphael. Ich glotzte seine Rückseite an, während es in meinem Hirn ratterte und ich versuchte, mich zu erinnern, wie er mir erzählt hatte, dass er auch hier sein würde. Aber das hatte er mir nicht gesagt.
 

»Alles okay?«, fragte mich Amita von der Seite. Ich wandte den Blick von Raphaels Rücken zu ihr. Sie schaute mich halb fragend, halb amüsiert an. »Du siehst ein bisschen … entgeistert aus.«
 

»Ja«, meinte ich, meine Augen schweiften zurück zu Raphael. »Ich meine, nein!«
 

Hastig wandte ich mich wieder an Amita, die inzwischen zweifelnd die Stirn gerunzelt hatte. Ich lächelte flüchtig, dann schüttelte ich den Kopf. »Alles gut. Ich hab nur jemanden entdeckt, den ich kenne, und ich wusste nicht, dass er auch kommt.«
 

Amita schaute mich fragend und unsicher an. »Wer denn?«, wollte sie dann wissen, während sie sich mit einem prüfenden Blick umsah. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um nach Raphael zu rufen, da fiel mir ein, dass er nicht so begeistert auf Amita reagiert hatte. Gut, das war falsch ausgedrückt. Ihn hatte mein Date nicht interessiert (und das war immerhin Amita). Ich zog bei dem Gedanken kurz die Augenbrauen zusammen, doch dann verwarf ich meine Bedenken. Raphael konnte unmöglich etwas gegen Amita haben, immerhin kannte er sie gar nicht. Wahrscheinlich war er nur von meinem Geplapper genervt gewesen.
 

»Warte kurz«, sagte ich dann an Amita gewandt und ging hinüber zu Raphael, um ihn zu begrüßen. Ich tippte leicht gegen seinen Oberarm. Er drehte sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck um, der jedoch in ein Lächeln umschlug, als er mich erkannte.
 

»Adrian«, sagte er völlig unüberrascht. »Ich hab mich schon gewundert, wo du steckst.«
 

Es wunderte mich nicht, dass er das sagte, immerhin wusste er, dass ich Mimi für den Supper Club zugesagt hatte. Er drehte sich halb von den Mädels weg, mit denen er eben gesprochen hatte, und die beiden funkelten mich beleidigt an.
 

»Ja, wir haben uns ein bisschen verspätet«, sagte ich dann und schaute wieder Raphael an, aus Angst, ich würde gleich tot umfallen, so böse, wie die Hühner mich anschauten. Raphael zog kurz eine Augenbraue hoch.
 

»›Wir‹?«, wiederholte er. Ich grinste breit. Amita war zu uns herübergekommen und schaute zwischen Raphael und mir hin und her. Ich konnte erkennen, dass etwas wie Erkenntnis über sein Gesicht huschte. Zwar konnte ich nicht sagen, ob er sich noch vom Speed-Dating an Amita erinnern konnte — ob er damals überhaupt darauf geachtet hatte —, aber mit welchem Mädchen hätte ich sonst kommen sollen? Außerdem hatte Mimi gesagt, ich solle Amita einladen. Er musterte sie flüchtig, dann lächelte er kurz.
 

»Amita«, sagte er, völlig ohne Zweifel in der Stimme. Er reichte ihr die Hand. Sie erwiderte den Händedruck, warf mir aber einen irritierten Blick zu, bevor sie Raphael wieder anblickte. Ein fragendes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie seine Hand wieder losließ.
 

»Hi, entschuldige«, sagte Amita, bevor sie mir erneut flüchtig anschaute. »Ich weiß leider nicht, wer du bist.«
 

Raphaels Mund schmälerte sich für den Bruchteil eines Augenblicks.
 

»Raphael«, stellte er sich dann vor. Er hatte sich inzwischen ganz von den beiden Mädels weggedreht und die beiden tuschelten aufgeregt miteinander, uns immer wieder giftige Blicke zuwerfend. »Adrian hat von dir erzählt.«
 

»Oh, wirklich?«, erwiderte Amita mit einem breiten Lächeln und sah mich an. Ich senkte kurz den Blick, bevor ich sie wieder anschaute. Sie schien sich sehr darüber zu freuen. Ich behielt für mich, dass ich Raphael eigentlich nichts von ihr erzählt hatte und dass dieser Umstand darin begründet lag, dass Raphael sich nicht dafür interessierte.
 

»Entschuldigt«, sagte er dann und lächelte knapp. »Ich war gerade mitten im Gespräch …«
 

Er wandte sich den beiden Frauen zu, die auf einmal wieder bestens gelaunt schienen, als Raphael ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Ich musste grinsen. Na, da hatte er direkt zwei Weiber am Start, die ihm zu Füßen lagen. Er konnte sich nicht beschweren.
 

Ich war gar nicht dazu gekommen, ihn zu fragen, warum er mir nicht erzählt hatte, dass er auch zum Supper Club kommen würde. Aber das würde ich wahrscheinlich später noch machen können. In dem Moment klingelte es an der Tür und Mimi wuselte am Wohnzimmer vorbei, um zu öffnen.
 

Wenig später saßen wir schließlich alle am Tisch. Es hatten sich zwei weitere Mädels zur Runde gesellt und nun waren wir vollständig. Raphael saß mir schräg gegenüber, rechts Huhn eins und links Huhn zwei von vorhin. Rechts von mir saß Amita und links hatte die männliche Hälfte des Pärchens Platz genommen. Noch bevor wir uns alle hingesetzt hatten, hatten wir etwas wie eine Vorstellrunde veranstaltet. Das war eigentlich zu viel gesagt, wir hatten uns nur einander vorgestellt, damit wir wussten wie alle anderen hießen. Patrick heißt der Typ mit der Freundin, und die heißt Diana. So weit, so gut. An die restlichen Namen würde ich mich schon erinnern, wenn ich es musste.
 

Mimi servierte die Vorspeise: überbackene Chilischoten. Ich war ziemlich gespannt, das war mein erstes mexikanisches Essen. Die Chilischoten versprachen Schärfe, aber ich konnte nicht sagen, in welchem Grad. Immerhin gab es unterschiedliche Sorten mit unterschiedlichem Schärfegrad. Es sah aber trotzdem ziemlich verführerisch aus.
 

»Das sieht ziemlich lecker aus, oder?«, sagte Diana und schaute von Patrick zu Amita und mir. Amita beugte sich vor, sodass sie die beiden besser sehen konnte. Sie sah schon sehr gespannt aus, wie offensichtlich die meisten hier. Wahrscheinlich aßen viele, die hier waren, zum ersten Mal mexikanisch. Vielleicht war das auch besser so. Immerhin hatte Mimi das Zeug auch erst das erste Mal gemacht, und so hatte man keine Vergleichsbasis zu professionell zubereitetem mexikanischen Essen. Möglicherweise hatte sie es total verhunzt. Aber davon ging ich nicht aus. Mimi konnte gut kochen und so, wie ich sie kannte, hatte sie sicherlich einen Probelauf gemacht.
 

Es stellte sich als relativ scharf heraus. Einige Mädels japsten und hatten tränende Augen, während sie ordentlich mit Wasser nachgossen — was es nur noch schlimmer machte — oder Brot aßen. Die Hühner neben Raphael benutzten ihre Servietten, um sich wild um ihre Augen herum zu tupfen, damit ihre kostbare Schminke bloß nicht durch ihre Tränen verwischt wurde. Raphael hingegen sah ziemlich unbeeindruckt aus. Entweder die Schärfe machte ihm nichts aus und er war es gewöhnt oder er versteckte das Brennen auf der Zunge einfach nur sehr gut.
 

Amita holte mit offenem Mund Luft. »Das haut ordentlich rein.«
 

Ich grinste. Es war nicht ganz ohne, aber es trieb mich nicht an meine Grenzen. Amita wischte sich mit der Fingerspitze um den Augenwinkel. Dann lächelte sie mir kurz zu. Sie hielt sich tapfer und jammerte nicht. Ich warf Raphael einen Blick zu, doch der unterhielt sich gerade mit Huhn zwei. Er nickte, wohl auf Antwort zu etwas, das sie gesagt hatte, dann lachte er kurz auf. Ich hätte nur zu gern gewusst, was sie ihm erzählt hatte, aber die Gespräche um mich herum waren zu laut, um es verstehen zu können. Mir fiel auf, dass er ein weißes Hemd mit Krawatte und darüber eine wollene Weste mit V-förmigem Kragen trug. Gestern hatte er auch schon eine Krawatte um gehabt, fiel mir jetzt wieder ein. Warum sollte jemand zu legeren Anlässen Krawatten tragen? Egal, es stand ihm.
 

Als Hauptgang gab es sogenannte Chiles en Nogada, gefüllte Paprika mit Walnuss-Sauce, wie Mimi erklärte, mit Reis. Die waren nicht so extrem scharf wie die Chilis, aber nicht minder lecker.
 

»Bist du die Schärfe gewohnt?«, wollte Amita von mir wissen, bevor sie einen kleinen Schluck Wasser nahm. Die Paprika schien für sie gut erträglich zu sein, aber scharf nach extrem scharf anzubieten war vielleicht auch ein bisschen gemein von Mimi, zumindest was alle die anging, die sich mit der Vorspeise abgemüht hatten.
 

»Nee, eigentlich nicht«, sagte ich zwischen zwei Bissen. »Ich esse zum ersten Mal mexikanisch, aber ich war in der Hinsicht auch noch nie sonderlich empfindlich. Außerdem ist scharf zur Abwechslung mal ganz nett.«
 

»Ich esse gern scharf«, meinte Amita, während sie mit einem Stück Paprika Sauce vom Teller wischte. »Aber die Chilis vorhin waren wirklich ein Hammer. Einmal war ich in einem indischen Lebensmittelladen und da gab es grüne Chilis. Der Verkäufer hat mir eine angeboten. Ich bin einigermaßen skeptisch gewesen, aber er hat sich auch eine genommen und einfach abgebissen und gekaut und es kam überhaupt keine Reaktion, als würde er irgendetwas Geschmacksneutrales essen. Deswegen dachte ich, dass es gar nicht so schlimm sein kann und hab auch abgebissen. Im nächsten Moment hab ich gedacht, ich muss sterben. Das war unglaublich. Ich begreife bis jetzt nicht, wie der Typ das Zeug wegessen konnte wie Kekse.«
 

Ich musste lachen. Wenn ich mir Amita so ansah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie zu dem Typ Frau gehörte, der sich nicht zu schade war, mal etwas völlig Unbekanntes auszuprobieren oder eben einfach mal so in eine Chili zu beißen. Das war beeindruckend für jemanden, der eigentlich so klein und zierlich war.
 

»Na, zumindest weißt du jetzt, dass du nicht einfach irgendetwas probieren solltest, was ein Inder dir anbietet«, erwiderte ich immer noch lachend und Amita stellte feixend ihr Glas ab.
 

Als zweiten Durchgang gab es Poc-chuc de Pollo, zu Deutsch ganz einfach gegrillte Hähnchenbrustfilets, mit Wachtelbohnen. Währenddessen erfuhren Amita und ich, dass Patrick und Diana verlobt waren. Ich hatte mich fast verschluckt, als sie davon erzählten. Die beiden wirkten nicht sehr viel älter oder jünger als ich — ich konnte mich natürlich auch irren — aber ich hatte bisher nicht einmal ansatzweise über Hochzeit oder Verlobung oder so nachgedacht. Selbst, als ich noch mit Mimi zusammengewesen war, war mir der Gedanke nicht gekommen, zumindest nicht so dringend und unmittelbar. Klar, hatte ich darüber nachgedacht, aber die Möglichkeit schien mir fern und überhaupt, ich wollte erst einmal irgendetwas schaffen, bevor ich ans Heiraten dachte.
 

Amita beglückwünschte die beiden und erkundigte sich, wie lange sie sich schon kannten und zusammen waren und wie es überhaupt dazu gekommen war. Diana und Amita verfielen direkt in eine sehr angeregte Unterhaltung, in deren Zwischenzeit ich die Gelegenheit nutzte, um wieder einen Blick auf Raphael zu werfen. Die Gesellschaft der beiden Hühner schien ihn außerordentlich zu erheitern: Er lachte die ganze Zeit und war stets sehr tief in irgendwelche Gespräche mit den beiden verwickelt. Und die beiden machten ihm schöne Augen. Es war unübersehbar, wie sie ihn angierten. Das war ja schon peinlich.
 

Nach dem zweiten Hauptgang war ich schon ziemlich voll und kam nicht umhin, Mimis Kochkünste zu bewundern, weil alles bis jetzt wirklich richtig gut geschmeckt hatte. Als sie dann mit dem Dessert kam, wusste ich nicht, ob das noch reinpasste, aber es sah viel zu verlockend aus, um abzulehnen. Mimi nannte mir den Namen für die Nachspeise, irgendein Zungenbrecher, den ich weder aussprechen noch mir merken konnte, aber es war, wie sie sagte, ein sehr einfacher Pfirsich-Nachtisch. Pfirsichstückchen mit überbackenem Eisschnee.
 

»Mh«, machte ich nach dem ersten Bissen entzückt. Amita war genauso begeistert wie ich. Es war ausgesprochen gut und leicht. Ich sah, wie Diana ihren Eisschnee Patrick auf den Teller häufte, weil sie es wohl nicht mochte. Raphael hingegen sah zu wie Huhn zwei — die sehr offensive der beiden, wie es schien — ein Stück Pfirsich mit Eisschnee von seinem Teller klaute. So weit waren sie also schon.
 

Den ganzen Abend über kam ich nicht dazu, mit ihm zu sprechen. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass er sich neben mich setzen würde, aber das hatte er nicht getan. Stattdessen ließ er zu, dass diese Hühner sich ihm an den Hals warfen. Na gut, aber er schien auch nichts dagegen zu haben. Welcher Kerl sagte schon nein, wenn da gleich zwei Schnitten waren, die auf ihn abfuhren? Zumal die Hühner — das musste ich dann doch zugeben — nicht schlecht aussahen.
 

Nach dem Essen gesellte Mimi sich aus der Küche zu uns und servierte jedem, der wollte, mexikanischen Kaffee. Alle lobten ihre Kochkünste und Mimi erntete wohl verdient rundum Komplimente zum Essen.
 

Es war ziemlich spät, weit nach Mitternacht, als Amita und ich beschlossen zu gehen. Wir gaben Mimi in der Küche, unter Ausschluss der verbliebenen Gäste, das Geld für das Essen und verabschiedeten uns von ihr. Amita und ich klopften beide zum Abschied auf den Tisch im Wohnzimmer, winkten und verließen, nachdem wir uns angezogen hatten, die Wohnung.
 

Draußen war es eiskalt und es schneite in dicken Flocken. Amita zog sich ihre blaue Mütze über die Ohren. Es war eine dieser Mützen, die aussah, wie ein gestrickter Stofflappen, der beinahe nur wie auf den Kopf draufgelegt aussah und nicht wie aufgesetzt. Keine Ahnung, wie die Dinger heißen, aber viele Mädels liefen mit solchen Mützen durch die Gegend. Es war fraglich, ob die wirklich warmhielten oder einfach nur modische Accessoires waren.
 

Ich brachte Amita noch nach Hause. Wir unterhielten uns unterwegs über das Essen, die Verlobung von Diana und Patrick — wir hatten uns beide noch keine Gedanken über Verlobung oder Heirat gemacht — und über unsere Pläne für Weihnachten und Neujahr.
 

Als wir an ihrer Haustür angekommen waren, blieben wir noch eine Weile davor stehen und führten unsere Konversation fort. Darüber hinaus vergaß ich die Kälte beinahe vollkommen und ignorierte sie, als sie anfing, sich penetrant bemerkbar zu machen. Um uns herum war alles ruhig und schon beinahe gespenstisch still. Lautlos fiel der Schnee vom rabenschwarzen Himmel und unser Atem verpuffte in deutlich sichtbaren Wolken in der klirrend kalten Nachtluft.
 

Irgendwann wurde es uns dann doch zu kalt. Amita und ich umarmten uns zögerlich zum Abschied, und ich wartete noch, bis die Haustür hinter ihr zugefallen war, bevor ich mich auf den Weg nach Hause machte. Fast eine Stunde hatten wir vor der Tür gestanden und noch geredet, bevor wir uns schließlich ergeben hatten. Um halb drei war ich erst zu Hause. Ich war halb erfroren und mein Gesicht fühlte sich taub an. Glücklicherweise hatten sich meine Füße beim Laufen wieder aufgewärmt, denn vom Herumstehen waren sie zuvor auch ziemlich taub gewesen. Schnell sprang ich unter eine warme Dusche. Durch den Kaffee war ich noch nicht sonderlich müde, fühlte mich aber dennoch erschöpft. Ich fuhr meinen Laptop hoch und schaute kurz bei Facebook vorbei. Ich nutzte die Zeit, um Mimi noch einmal zu loben. Dann schaltete ich den Computer wieder aus und ging schließlich schlafen.
 

Am Donnerstagabend der folgenden Woche stand unser jährliches Weihnachtsmarkttreffen an. Mittags hatten wir uns zum Essen verabredet, so kam es, dass Fernando, Christie, Simon, Raphael und ich in der Mensa einen Fenstertisch besetzten. Mimi war die einzige im Bunde, die nicht anwesend war, da es für sie ein Umweg gewesen wäre, extra von der FH noch hier runterzukommen, zumal sie mittags Vorlesung hatte.
 

Christie und Simon saßen nebeneinander. Sie hielten nicht direkt Händchen, aber ihre Finger berührten sich die ganze Zeit und bewegten sich umeinander herum, so, als würden sie sich ineinander verhaken wollen, doch das geschah nicht. Ihr drittes Date letzten Freitag war wohl auch sehr gut verlaufen, aber etwas Offizielles gab es von den beiden immer noch nicht. Fernando und ich hatten bereits die Augen verdreht, als Christie gesagt hatte, es wäre (noch) nichts.
 

»Willste nich’ Amita fragen, ob sie mitkommen will?«, fragte Christie mich dann und nutzte die Hand, die nicht in einen lasziven Fingertanz mit Simon verwickelt war, zum Essen. Ich schaute sie grüblerisch an. Über die Idee hatte ich sogar auch schon nachgedacht.
 

Doch ich schüttelte nur kurz den Kopf. »Nein, eher nicht. Das ist eine Sache zwischen uns, unsere Tradition, und na ja … wir sind eben eine verschworene Gemeinschaft.«
 

»Aber Raphael is’ dies’ Jahr doch uch neu dabei«, meinte Christie, bevor sie Raphael entschuldigend anschaute. »Nichts für ungut.«
 

Er schüttelte lediglich den Kopf.
 

»Das ist was anderes«, erwiderte ich. »Ihr kennt ihn ja und Mimi kennt ihn auch. Amita kennen bis jetzt nur Simon, Mimi und Raphael.«
 

»Das wär’ uch die Mehrheit unsrer Gemeinschaft. Außerdem wär’ das doch ma’ ’ne Gelegenheit, dass Fernando und ich endlich ma’ deine neue Flamme kennenlernen«, meinte Christie. Sie schob sich ein Stück Brokkoli in den Mund. Ich sah sie an, während ich kaute. Sie hatte nicht Unrecht, das stand fest, aber … ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass es schon soweit war, Amita zu unserem Weihnachtsmarkttreffen mitzunehmen. Einmal abgesehen davon würden Christie und Fernando noch genügend Gelegenheiten haben, sie kennenzulernen.
 

Ich fasste meine Gedanken noch einmal für die anderen laut zusammen und damit war das Thema auch beendet.
 

Als Fernando und ich abends am vereinbarten Treffpunkt ankamen, waren Mimi und Raphael schon da, und Simon und Christie tauchten nur ein paar Minuten nach uns zusammen auf. Wir machten uns zusammen auf den Weg.
 

Der Weihnachtsmarkt war nicht sehr groß und auch nicht sonderlich bombig, reichte aber für unsere Zwecke. Wir besorgten uns gebrannte Mandeln und kandiertes Obst. Ich fror mir beim Essen meines Apfels die Finger komplett ab, weil ich meine Handschuhe nicht einsauen wollte. Raphael verzichtete auf den Glühwein, während der Rest von uns so gut wie alle paar Minuten am Stand vorbeilaufen musste, um unsere Becher auffüllen zu lassen.
 

Simon machte Halt an einem Stand mit Lebkuchenherzen und ließ sich ein großes buntes mit der Aufschrift Du bist zuckersüß geben. Dann holte er Christie ein, die mit Raphael und Mimi vorgelaufen war, und schenkte es ihr. Christie hatte sie ihm beinahe um den Hals geworfen, zumindest ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stattdessen umarmte sie ihn vorsichtig und gab ihm als Dank einen kurzen, aber — so wie es schien — doch intensiven Kuss auf die Lippen. Danach war es um die beiden geschehen und sie liefen für den Rest des Abends Händchen haltend durch die Gegend.
 

Da Weihnachten in uns allen das Kind zum Vorschein brachte, quetschten wir uns in ein Karussell, deren Wagen im Kreis auf einer gewellten Bahn fuhren. Es ging relativ langsam los, wurde irgendwann aber ziemlich schnell und mir schwirrte die Birne. Irgendwann gab’s dann auch ein paar Runden rückwärts.
 

Nach der Fahrt torkelten wir lachend von der Karussellfläche und hielten uns aneinander fest, um nicht umzufallen. Raphael war der einzige, dem das alles nicht so ganz zusetzte, aber der Rest von uns hatte schon ein bisschen was gebechert, da ließ es dann irgendwann schon leicht nach mit der Koordination.
 

Mimi und Raphael schienen sich blendend zu verstehen, sie fanden immer ein gemeinsames Thema, über das sie sprechen konnten und teilten, so, wie ich das mitbekam, auch einige Ansichten zu bestimmten Sachen. Auch, als Fernando und ich vorhin gekommen waren, waren die beiden in ein tiefes Gespräch verwickelt gewesen. Das war fast gruselig. Bei ihrem ersten Treffen hatten sie gar nicht miteinander geredet.
 

Wir beschlossen schließlich, dass wir uns noch in eine Bar setzen würden, da der Weihnachtsmarkt um zehn wieder zumachte, und setzten uns langsam in Bewegung, während wir angeregt eine Unterhaltung darüber führten, was das beste Geschenk für unsere Eltern war.
 

Fernando trumpfte mit einem Wellness-Wochenende für seine Eltern, an dem er auch die Aufsicht für seine beiden jüngeren Geschwister übernehmen würde. Simon und ich waren immer sehr einfallslos was Geschenke für unsere alten Leute anging. Was sollte man ihnen denn schenken? Meistens hatten sie doch schon alles, was sie haben wollten und wenn es etwas gab, das sie dann doch haben wollten, dann lag es außerhalb unserer Preisklasse. Aber nichts schenken war auch scheiße, daher suchten wir beide jedes Jahr in der letzten Minute händeringend nach etwas Schenkbarem. Einmal hatte Simon seiner Mutter tatsächlich einen Seifenspender gekauft und ich hatte nicht gewusst, ob ich lachen oder ihn einfach nur für völlig bekloppt erklären sollte.
 

»Und Adrian, was hast du dir dieses Jahr Kreatives einfallen lassen?«, fragte Fernando. Das war ein Seitenhieb, er grinste breit, während er mich dreist anfunkelte. Er wusste um meine Unfähigkeit Bescheid und es bereitete ihm grenzenlose Freude, jedes Jahr darauf herumzuhacken.
 

»Meine Mutter bekommt einen Douglas-Gutschein und für meinen Vater konnte ich eine Fahrt in einem Panzer arrangieren. Das wollte er schon immer mal machen und ich hab mal im Internet nachgesehen und was gefunden«, meinte ich schulterzuckend. Ich fühlte mich beinahe wieder schlecht, dass meine Mutter nur so ein luschenhaftes Geschenk bekam und mein Vater etwas, mit dem er schon seit Ewigkeiten liebäugelte. Aber da meine Mutter sich nicht einmal ansatzweise für Panzerfahrten interessierte …
 

Wir redeten noch ein wenig weiter über unsere Eltern und was wir an Weihnachten machen würden und welches Festessen es geben würde, als mir irgendwann auffiel, dass Raphael sich ein kleines Stück hatte zurückfallen lassen und alleine langsam hinter uns her ging. Ich beobachtete ihn über die Schulter lang einige Augenblicke. Er schien nicht auf uns zu achten, sah sich in der Gegend um, und doch wirkte es fast erzwungen. Als würde er sich anstrengend müssen, um uns nicht zuzuhören.
 

Ich blieb stehen und wartete, bis Raphael bei mir angekommen war, ehe ich mich wieder in Bewegung setzte. Er hatte die Hände tief in seinen Manteltaschen vergraben und warf mir einen Blick zu.
 

»Alles okay bei dir?«, fragte ich ihn und befand den Einstieg schon mal für Scheiße, denn ganz offenbar war nichts okay. Raphael sah mich weiter an, dann wandte er den Blick ab und schaute auf den Boden, während wir durch die Straßen gingen. Fernando, Christie, Simon und Mimi waren so tief in ihre Unterhaltung versunken, dass sie nichts von uns mitbekamen.
 

Dann sah Raphael mich wieder an, mit einem überzeugenden Lächeln auf den Lippen. »Ja, alles gut.«
 

Ich sah ihn zweifelnd an. Ich kaufte es ihm nicht ab. Schweigend liefen wir nebeneinander her. Irgendwie hatte ich gehofft, dass er mir doch sagen würde, was los war, aber Raphael blieb wieder beharrlich stumm. Dabei dachte ich, dass er jetzt wusste, dass er mit mir reden konnte. Und wenn wir ihm versehentlich mit irgendetwas auf den Schlips getreten waren, dann konnte er das doch ruhig sagen. Dafür würde ihm niemand den Kopf umdrehen.
 

Eine Idee schoss durch meinen Kopf. Ich blieb stehen und angelte nach meinem Handy. Raphael lief weiter, ohne auf mich zu achten. Entweder er hatte nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war, oder er machte sich keine Gedanken darüber. Na, das war auch besser so.
 

Ich wählte seine Nummer und beobachtete still seine Reaktion. Sein Handy klingelte nicht, er hatte es wahrscheinlich auf Vibrationsalarm gestellt. Dann nahm er ab. Ich konnte nicht sagen, ob er vorher auf das Display geschaut hatte oder nicht.
 

»Hey, ich bin’s«, sagte ich in den Hörer. Raphael blieb abrupt stehen, dann drehte er sich komplett zu mir herum, eine Hand mit dem Telefon am Ohr, die andere weiterhin in seiner Tasche. Er stand im Halbschatten, sodass ich sein Gesicht noch einigermaßen gut ausmachen konnte. Er wirkte überrascht. Offensichtlich hatte er nicht aufs Display gesehen, bevor er rangegangen war.
 

»Ich dachte, wenn du so nicht mit mir reden willst, machst du’s vielleicht am Telefon«, meinte ich dann und sah, wie er den Kopf senkte. Er scharrte mit einem Fuß über den verschneiten Boden.
 

»Ich hab doch gesagt, dass alles gut ist«, erwiderte er nach einer kurzen Pause. Er hatte den Kopf nicht wieder gehoben und starrte vermutlich immer noch auf den Boden.
 

»Das glaub ich dir aber nicht«, antwortete ich ihm ruhig. Ich konnte ihn seufzen hören. »Ich dachte, wir hätten das Thema schon durch. Schweig mich nicht wieder in Grund und Boden. Die anderen sind schon lange außer Hörweite und so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht mal mitkriegen, dass wir zurückhängen.«
 

»Das ist es diesmal nicht. Zumindest nicht in erster Linie«, erklärte er leise. Dann hob er den Kopf wieder und schaute mich an. Seufzend legte er anschließend den Kopf in den Nacken. Er dachte vielleicht gerade darüber nach, ob er wirklich mit mir reden sollte.
 

»Na, komm schon«, meinte ich und musste grinsen. Da Raphael sich bei dem Thema Eltern ausgeklinkt hatte, ging ich davon aus, dass es darum ging. »Alle Eltern nerven mal und deine müssen dir auch nicht peinlich sein. Ich meine, hör mal, mein Vater wünscht seit einer Ewigkeit eine Panzerfahrt und manchmal denke ich echt, dass er einen Scha—«
 

»Meine Eltern sind tot, Adrian.«
 

Für einen Moment verschlug es mir die Sprache. Er sah mich wieder an, ruhig, abwartend. Ich starrte zurück und wusste nicht, was ich sagen sollte. Da hatte ich wohl mal wieder ein Fettnäpfchen erwischt. War ja klar, ich hatte schon seit einer Weile nichts mehr berissen, da war es kein Wunder, dass ich jetzt wieder so ein intergalaktisch großes abbekam und nein, ich trat nicht nur hinein, ich nahm Anlauf und machte direkt einen Bauchplatscher hinein.
 

»Ich … also … das tu—«
 

»Mach das nicht«, unterbrach Raphael mich schnell und eindringlich. »Okay? Bitte? Kein Mitleid. Kein ›Es tut mir so Leid‹. Kein ›Wie kommst du damit klar?‹ oder ›Geht es dir gut?‹. Keine mitleidigen Blicke oder Samthandschuhe. Ich möchte das nicht, also … sag einfach nichts.«
 

Er blieb noch einen Moment in der Leitung, dann legte er auf und ich sah, wie er das Handy zurück in seine Tasche gleiten ließ. Ich steckte mein Telefon ebenfalls weg. Raphael stand immer noch am selben Fleck. Erst, als ich ihn eingeholt hatte, gingen wir zusammen weiter.
 

Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um Raphaels Offenbarung und ich kam mir so unendlich dumm vor.
 

»Tut mir leid«, sagte ich. Raphael sah mich an und öffnete den Mund, doch ich kam ihm zuvor. »Ich meine, dass ich dich quasi dazu gezwungen habe, mir das zu erzählen.«
 

»Du hast mich nicht gezwungen«, versicherte er mir ruhig. Er fuhr sich durchs Haar. »Weißt du, es ist das erste Mal, dass ich es so offen gesagt habe.«
 

Ich sah ihn unentwegt an und war unschlüssig, wie ich reagieren oder was ich sagen sollte, könnte, müsste und überhaupt. Ich hatte nicht das Bedürfnis eine Arschbombe ins nächste Fettnäpfchen zu machen.
 

»Das ist mein erstes Weihnachten ohne sie«, fuhr er fort und schaute dabei wieder auf den Boden. »Ziemlich eigenartig, wenn ich daran denke, dass das Haus in Greifswald still und dunkel und leer sein wird.«
 

»Was machst du denn an Weihnachten? Ich meine … du bist doch dann nicht allein in Greifswald, oder?«, fragte ich ihn besorgt. Allein die Vorstellung, dass er dieses Jahr während dieser Zeit allein sein sollte, gefiel mir nicht. Zumal es das erste Mal für ihn wäre. Das war eindeutig kein angenehmer Gedanke. Außerdem schien es noch kein ganzes Jahr her zu sein, dass Raphaels Eltern gestorben waren und die Wunde war noch frisch, das wäre eine zusätzliche Belastung. Zumindest würde ich das vermutlich so empfinden, wenn ich an seiner Stelle wäre.
 

»Nein, ich bleibe hier. Das Haus für mich allein ist zu groß und da … gibt es einfach zu viel, was mich an sie erinnert. Das würde nur deprimierender werden, als es ohnehin schon ist«, antwortete er und hob den Kopf, um mich anzusehen. Ein freudloses Lächeln lag auf seinen Lippen.
 

»Aber du kannst doch nicht wirklich allein sein wollen«, meinte ich stirnrunzelnd. Ich musterte ihn abschätzend. Raphael sah ziemlich geknickt aus. Ich hätte mich dafür ohrfeigen können, dass ich ihn dazu getrieben hatte, darüber zu reden.
 

»Von wollen kann auch gar keine Rede sein«, erwiderte er nur. »Aber was bleibt mir denn für eine andere Wahl? Henri und Richard haben mir zwar angeboten, bei ihnen zu feiern, aber ich will mich ihnen auch nicht aufdrängen. Außerdem kann ich diese ganzen Mitleidsblicke nicht mehr sehen, das ist schlimmer als alles andere.«
 

Wir schwiegen wieder eine Weile, in der ich über seine Worte nachdachte. Mitleid war wohl doch nicht so tröstend, wie man denken mochte. Jedenfalls nicht für Raphael. Er hatte gesagt, dass die Familien von Henri und Richard sozusagen auch seine Familien gewesen sind, aber es musste schwer für ihn sein, wenn er von allen Seiten Blicke, Gesten und Worte erntete, die es nicht einfacher machten, sondern nur schwerer. Auch wenn die Leute es nur gut meinten. Meine Mutter sagte gerne: »Mit guten Absichten ist der Weg in die Hölle gepflastert.« So war es wohl.
 

»Hör mal«, fing ich an. Wir waren inzwischen bei der Bar angekommen. Raphael und ich blieben vor dem Eingang stehen und sahen einander an. »Es ist Weihnachten, du kannst nicht alleine bleiben.«
 

»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«, wollte Raphael wissen, ein leicht genervter Tonfall schwang in seiner Stimme mit. Vermutlich war das gerade nicht die erste Unterhaltung über Weihnachten und Alleinsein, die er führte.
 

Es kam schneller, als ich erwartet hätte, und entschiedener, als ich es mir zutraute: »Du kommst mit zu mir.«
 

Raphael setzte kopfschüttelnd zum Protest an, doch ich gab ihm keine Gelegenheit zum Reden.
 

»Pass auf«, sagte ich hastig. »Erstens: Du drängst dich niemandem auf, alles klar? Zweitens: Meine Familie hat keine Ahnung, was bei und mit dir los ist, du kannst also sicher sein, dass es keine wehleidigen Blicke, Samthandschuhe oder sonst etwas in der Art geben wird. Und drittens: Es ist allemal besser, als zu Weihnachten allein in deiner Einzimmerbude zu hocken und in Einsamkeit zu versinken. Vor allem jetzt brauchst du ein bisschen Ablenkung. Also, denk nicht darüber nach und sag einfach ja.«
 

Einige wortlose Minuten vergingen, in denen Raphael nichts anderes tat, als mich anzusehen. Seine Miene war unergründlich und ich hätte eine Menge gegeben, um in diesem Augenblick in seinen Kopf sehen zu können. Ich schaute ihn ungeduldig, aber dennoch abwartend an. Ein nein war nicht akzeptabel, das musste er doch merken.
 

Schließlich seufzte er lang und tief. »Also schön.«
 

Ich kam nicht umhin zufrieden zu lächeln. Raphael atmete tief ein und aus, dann öffnete ich die Tür zur Bar und wir gingen hinein. Als ich mich zu ihm umdrehte, konnte ich sehen, wie er ungetrübt lächelte. So, als hätten wir nie über seine Eltern gesprochen.
 

___

tbc.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (8)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2011-08-30T15:28:35+00:00 30.08.2011 17:28
Okay, das war wirklich süß und wirklich traurig ;___;

Ich würd ja sagen, dass Raphael mir schrecklich leid tut, aber da er das ja nicht hören will, lass ich das bleiben. Trotzdem...Weihnachten ohne Familie ist eine grauenhafte Sache und ich liebe Adrian für sein beharrliches Mitgefühl. Und die Idee mit dem Telefonanruf war unglaublich toll und süß. Ich musste breit lächeln :)!

Ich freu mich sehr darüber, dass die zwei sich immer näher kommen und mehr miteinander teilen. Und ich meine zu bemerken, dass Raphael...ja...eifersüchtig auf Amita ist und die Hühner (Hühner^^!) nur benutzt hat, um Adrian ebenfalls eifersüchtig zu machen. Und ich fands cool, dass Adrian beim Supper-Dings die ganze Zeit an Raphael gedacht hat und sich gewundert hat, dass sie noch nicht miteinander gesprochen haben und so. Solche Gedanken sind GUUUUT :)!

Das einzige, was mich stört, ist die Tatsache, dass ich Amita gern habe^^. Also, es wäre so viel leichter, wenn ich sie hassen könnte. Denn irgendwie steht sie ja zwischen Adrian und Raphael - natürlich unwissendlich, aber trotzdem - und das soll sie nicht. Andererseits hab ich bei Adrians und Amitas Verabschiedung nach dem Essen auf ihren ersten Kuss gefiebert...><! Naja, wie auch immer. Ich bin sehr gespannt, wie du das letztendlich auflöst und freue mich sehr - und das sag ich im August^^ - auf das Weihnachtsfest bei Adrians Familie. Da werden wir auch Lydia kennen lernen, oder OO? Wie du sie schreiben wirst, darauf bin ich schon total gespannt :)!

Bis dahin - Carry on ;)
Von:  Glimmer
2011-07-14T13:59:00+00:00 14.07.2011 15:59
Das war mal wieder ein super Kapitel.
Die Entwicklung die Adrian und Raphael durchmachen gefällt mir sehr gut. Und auch wenn Adrian es noch nicht weiß (hehe) kann man an seinen Reaktionen schon erkennen, dass ihm viel mehr daran liegt Raphael zu 'lösen' als er sich vllt selber eingestehen mag.
Witzig finde ich auch, dass Mimi und Raphael sich so gut verstehen, nachdem er rausgefunden hat das zwischen ihr und Adrian nichts mehr läuft und Mimi im gegenteil noch sehr daran interessiert ist das Adrian wieder eine neue Beziehung anfängt.
Eigentlich hatte ich gehofft das Fernando vllt auf den richtigen 'Weg' kommt. Irgendwie herrscht in meinem Kopf immernoch dieses Vorurteil von wegen 'Schwule erkennen Schwule'- aber das entspringt nur meiner Fantasie <.<
Christie und Simon sind richtig süß und Amita wächst mir irgendwie auch ans Herz. Trotzdem war ich froh das es zu keinem Abschiedkuss kam, als Adrian sie nach Hause brachte.

Weihnachten wird spannen. Adrian hofft bestimmt das Raphael mehr über sich erzählt. Ich bin nur gespannt wie viel Raphael 'zeigt' wenn er 24/7 mit Adrian zusammen ist. Und er wird sich wahrscheinlich innerlich freuen weil er mehr über Adrian rausfinden kann. Mit der Familie interagiert man ja anders als mit Freunden.

so nun aber genug gelabert ich hoffe es geht schnell weiter und warte wie immer gespannt auf deinen ENS :)

LG
Glimmer

Von:  Inan
2011-07-12T20:59:08+00:00 12.07.2011 22:59
Adrian kann so knuffig sein xD
Es ist, als ob er Raphael lösen will, wie ein Rätsel x3
Und dem tut es bestimmt gut, wenn jemand ein ernsthaftes Interesse an ihm entwickelt und er das auch merkt~
Tolles Kapitel, wird bestimmt noch interessant, was an Weihnachten passiert =D
Von:  -ladylike-
2011-07-11T21:14:31+00:00 11.07.2011 23:14
ein schönes kapitel.
ein wirklich seeeehr schönes kapitel.
zwar ist es am ende nicht mehr so locker und leicht, wie diese geschichte häufig rüberkommt, aber wie soll eine geschichte locker und leicht sein, wenn man eröffnet bekommt, dass die eltern eines freundes tot sind? ... geht nicht. außer man hat einen völlig gefühlskalten menschen als hauptchara, was schrecklich wäre.
du hast das wirklich sehr gut hinbekommen und ich freu mich auf weitere entwicklungen. endlich beginnt der "riesen-raphael-knoten" sich zu lockern. :D

lg,
Pia
Von:  chaos-kao
2011-07-11T16:23:06+00:00 11.07.2011 18:23
Wollte Raphael Adrian mit den Mädchen am Anfang eifersüchtig machen? Anders kann ich mir das nicht so wirklich erklären ^^' Und ich bin gespannt, was bei dem gemeinsamen Weihnachtsfest so alles geschehen wird, auch wenn es bis dahin wahrscheinlich noch ein paar Kapitel dauern wird, right? ^^

Ich freu mich schon auf das nächste Kappi! ^^
Lg
Kao
Von:  Bloody_princess
2011-07-11T14:51:12+00:00 11.07.2011 16:51
Hihihi...
ich hab mich sooo gefreut als ich deine ENS
gelesen habe! :D

Zum einen weil es bei dieser Geschichte wieder weiter
geht, und zum anderen weil du eine One-Shot Reihe startest!

Die ich auf jedenfall Lesen werde! :D
Ich Liebe deine Art zu schreiben einfach! <3

So, jetzt mal zu diesem Kapitel:

Also ich hoffe das die beiden
sich jetzt doch mal endlich etwas näher kommen,
bzw. eben Raphael zumindest mal ein paar Annäherungsversuche
unternimmt, weil sonst wird das mit den beiden wohl nichts mehr.. :D

Allerdings find ich es super süß, dass Adrian ihn zu
Weihnachten zu sich nach Hause einlädt!

Vielleicht funkt es da ja mal dann zwischen den beiden?! :D

Bin auf jedenfall gespannt wie's weiter geht! ;D
Von:  Minouett
2011-07-11T10:03:32+00:00 11.07.2011 12:03
Normalerweise verdreh ich schon die Augen wenn Elterntod zur Sprache kommt, aber hier passt es einfach XD
Ein schönes Kapitel :) Und so schön laang BD
Ich mochte den Gedanken, dass Adrian Raph dabei haben wollte aber seine Flamme nicht...die Begründung hat für mich total Sinn gemacht XD
Und auch dass du einige Situationen anschneidest, aber sie nicht gleich überdramatisierst...
Ich bin und bleibe gespannt auf das, was noch kommt! C:

Von:  Julee
2011-07-11T09:32:25+00:00 11.07.2011 11:32
Ich fands toll, dass es so lang ist. :D Es war kein bisschen zäh, sondern hat sich wirklich gut lesen lassen.
Und beide an Weihnachten zusammen. Hrhrhr~ 8D


Zurück