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Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

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Der Alchimeister

Der nächste Morgen kam schneller als Rumo es sich gewünscht hätte und wartete mit penetrantem Sonnenschein auf, der sich rücksichtslos durch einen Spalt im Vorhang zwängte und dem müden Wolpertinger direkt ins linke Auge schien.

Dieser setzte sich gähnend und ächzend in dem etwas zu klein geratenen Bett auf und rieb sich die schmerzenden Oberarme. Ob Blaubär und Mythenmetz bereits wach waren? Er vermochte es nicht zu sagen, natürlich nicht. Auf alle Fälle sollte ihm zumindest etwas Zeit bleiben, um seine Gedanken zu ordnen, Zeit die langsam aber sicher bitter nötig wurde.

Rumo betrachtete träge einen Wasserfleck an der oberen Zimmerecke direkt über dem Kleiderschrank, der, nebst Tisch, Stuhl und Bett, für die Pensionsgäste im Zimmer bereitgestellt worden war. Wie lange war er nun schon unterwegs? Sechs Tage waren insgesamt vergangen, bis er die Finsterberge hatte hinter sich lassen können, dann waren zwei Tage für den Weg zur Lindwurmfeste angefallen - rechnete man die Zeit mit ein, die er auf Blaubär gewartet hatte. Einen Tag war er grob gerechnet ohnmächtig gewesen und noch einmal fünf Tage hatte der Marsch nach Sledwaya gedauert, etwas länger, als Rumo gehofft hatte, aber er hatte es nicht ändern können.

Summa-summarum machte das… vierzehn Tage. Genau zwei Wochen also.

Rumo erschrak so heftig, als sei gerade eben ein gekochtes Gespenst aus der Wand neben ihm gefahren. Zwei Wochen? Sollte das etwa heißen, dass ihnen nur noch rund eine Woche blieb, um nach Atlantis zurück zu kehren? Und das auch noch mit der Formel?

Faktisch gesehen war das völlig unmöglich, so schlecht Rumo bei dem Gedanken auch werden mochte. Allein der Weg dorthin würde die gesamte restliche Zeit kosten, ließ man die unwesentliche Tatsache außer Acht, dass sie die Formel noch nicht einmal ansatzweise hatten.

Wie hatte er nur so dermaßen die Zeit aus den Augen verlieren können?

Andererseits, was hätte er ändern sollen?

Rumo wurde elend zumute.

Mir einer einzigen hektischen Bewegung schlug er die Bettdecke zur Seite und sprang auf, fest entschlossen etwas zu tun. Nur was, das war die Frage.

Ohne eine weitere zeitraubende Überlegung stürmte der Wolpertinger aus dem Zimmer und die schmale Holztreppe hinunter, die in den Gastraum der Privatwirtschaft führte, wo ein überraschter Blutschink hinter dem Tresen stand und einen Bierkrug mit etwas polierte, das aussah, wie seine eigene Unterhose. "Kann ich irgendetwas für dich tun, Junge?", fragte der Wirt, stellte das Glas ab und legte sich das Unterhosen-Geschirrtuch über die linke Schulter, um den aufgebrachten Gast eingehend mustern zu können, wohl abschätzend, ob es sich bei ihm um eine potentielle Gefahr für sein Mobiliar handelte.

Rumo kam schlitternd vor ihm zum Stehen. "Ja, in der Tat, das können Sie", keuchte er etwas außer Atem. "Sagen Sie, halten Sie hier irgendwo Brieftauben?"

Der Blutschink kratzte sich am Kopf und ließ dümmlich die Zunge aus dem Maul hängen. "Öh, ja, die haben wir. Hinterm Haus steht der Schlag. Einfach nur hier raus." Er deutete auf eine verwitterte Hintertür neben den Toiletten unweit der Bar. "Is' gar nich' zu verfehlen."

Rumo nickte kurz zum Dank, eilte durch besagten Ausgang und fand sich daraufhin in einem kleinen Hinterhof mit nett möblierter Terrasse gesäumt von Blumenbeeten und einer überschaubaren Rasenfläche wieder. Ein einsamer Baum warf mit mächtigen Ästen Schatten über den gesamten Platz. Direkt zu seiner linken hatte jemand einen winzigen Holzverschlag zusammengezimmert, der etwas windschief anmutete und durch dessen offen stehende Tür lautes Gegurre hervordrang.

Offenbar der Taubenschlag.

Viele Gaststätten in Zamonien boten ihren Gästen den Service hauseigner Brieftauben, die diese nutzen konnten, um Geburtstagsgrüße und Urlaubspostkarten zu versenden oder auch - und das war eher im Sinne der Besitzer - die zu Hause Gebliebenen um Geld anzuflehen, wenn sie die Wirtshausrechnung nicht bezahlen konnten, was durchaus häufig vor kam, denn Zamonier tranken gerne einmal einen über den Durst und vergaßen dann schnell, dass sie mit begrenztem Budget angereist waren.

Rumo betrat die wackelige Holzkonstruktion durch die enge Tür und sah sich sofort erschlagen von eine übermächtigen Woge aus Geräuschen und Gestank der grau-weißen Federtiere, die aufgeregt in ihren Käfigen auf und ab staksten. Es roch penetrant nach Kot und viel zu altem Stroh und nach etwas, zu dem Rumo einfach nur das Wort 'Vogel' einfiel, anders war es nicht zu beschreiben, obwohl ohne Zweifel allgegenwärtig. Er versuchte so wenig wie möglich zu Atmen, um seine Lungen nicht mit Tonnen der feinen Staub- und Flaumpartikel anzufüllen, die permanent die Luft verunreinigten, und zog Pergament, Federkiel und Tinte aus dem ebenfalls wackeligen Regal an der Wand gegenüber der Taubenkäfige. Dann setzte er sich an den für seine Größe eigentlich unpassenden Schreibtisch und verharrte dort einige Sekunden regungslos, bevor er den Kiel in das Tintenfässchen tauchte und in seiner krakeligen Handschrift genau vier Zeilen auf das raue Papier kratzte:
 

Smeik,

keine Sorge, ich schaffe es. Ich finde die Formel.

Allerdings werde ich den Termin nicht halten können.

Zögere die Übergabe so weit wie möglich hinaus!
 

Er unterschrieb mit seinem vollen Namen und pustete einige Male auf das Pergament, um die Flüssigkeit zum Verdunsten zu bringen und die Tinte zu trocknen, rollte dann das Blatt zusammen und stand auf. Ein wenig ruppiger als er es ursprünglich angedacht hatte, fischte er einen der schreienden Vögel aus einem Käfig in seiner Griffhöhe. Das Tier versuchte sich zu wehren, schlug hysterisch mit den Flügeln und drehte und wand sich in der Pranke seines Fängers, doch der war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu merken, dass er dem kleinen Wesen die eine oder andere Rippe quetschte.

Er rupfte ein Stück Schnur aus demselben Schränkchen, aus dem er auch die Schreibutensilien entnommen hatte, und versuchte der Taube das zusammengerollte Pergament ans Bein zu binden. Das stellte sich jedoch als weit schwieriger heraus, als er zunächst angenommen hatte. So ein Taubenbein war erstaunlich dünn, und dass das kleine Tierchen sich zierte, wie eine Jungfrau vor dem ersten Kuss, machte dich Sache nicht gerade leichter.

Alles in allem kostete es Rumo fünf Versuche und einen waschechten Wutausbruch, bis er es endlich geschafft hatte und auch der Navigationsmagnet, der seinen Träger zum Postamt von Atlantis lotste, seinen Platz in dem kleinen Samtbeutelchen am Hals der Taube gefunden hatte.

Der Wolpertinger trug das zappelnde Bündel in seiner Hand aus dem Schuppen und warf es wie einen kleinen Drachen in die Luft, in der Hoffnung, dass Vögel so etwas wie einen Fall-Start drauf hatten. Die Taube trudelte verwirrt über ihre plötzliche Freiheit einige Meter hinab und Rumo befürchtete schon, sie umgebracht zu haben, da steckte sie mit einem Mal die Flügel, begann hektisch zu flattern und verschwand schon bald aus dem Blickfeld jeglicher erdgebundener Lebewesen. Ausgenommen vielleicht dem des Bolloggs, aber der zählt nicht. Wer keinen Kopf hat, kann auch nichts sehen.

Rumo sah dem kleinen Briefzusteller nach, bis er ihn aus den Augen verlor, seufzte dann und trat den Rückweg in die Pension an. Mehr konnte er im Moment beim besten Willen nicht für Smeik tun. Blieb nur zu hoffen, dass sein Freund es irgendwie schaffte, die Vorvorletzten davon zu überzeugen, die Frist um eine oder zwei Wochen zu verlängern. Andernfalls…

Nun, genau genommen hatte er keinen blassen Schimmer, was andernfalls zu befürchten war, niemand hatte es je laut ausgesprochen, doch der Menschenmann hatte wirklich gefährlich ausgesehen, als er seine Drohung ausgesprochen hatte, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatten seine Worte sogar dem riesigen Wolpertinger Angst gemacht. Folglich ließ er es lieber nicht auf einen Versuch ankommen.

Im Inneren des Gasthofes hatten sich unterdessen Blaubär und Mythenmetz zum gemeinsamen Frühstück eingefunden, sodass Rumo sich zu ihnen gesellen konnte. Er schwieg.

Seine munter plaudernden Gefährten tauschten sich unterdessen über die neueste Entwicklungen ihrer Suche aus und schienen die Ankunft des Wolpertingers kaum bemerkt zu haben.

"Wir könnten eine Liste machen", schmatzte Blaubär und gewährte seinen Tischgenossen einen unfreiwilligen Blick auf sein halb zerkautes Rührei. "Eine Liste mit allen Variationen von Spiegel, die uns einfallen. Und dann gucken wir, welcher Name uns am plausibelsten erscheint."

Mythenmetz schaufelte Müsli von einer Schüssel in eine andere und übergoss es dann mit Milch aus einem Glaskrug. "Und wie sollen wir das bitte anstellen?", fragte er. "In welche Richtung soll das ganze überhaupt gehen? Ist für dich "Reflektor" plausibler als "Schrank"? Das Problem ist, dass wir nicht wissen, als was genau wir "Spiegel" betrachten sollen. Als Möbelstück? Als Bezeichnung für einen Pegelstand, wie zum Beispiel bei der Blutuntersuchung? Himmel, wenn es danach geht - ein Spiegel ist auch eine Art eine Speise anzurichten!"

Blaubär ließ enttäuscht seine Gabel sinken. "Schon gut, schon gut, du hast ja Recht." Dann wandte er sich Rumo zu. "Was sagst du überhaupt dazu? Du bist so still heute Morgen."

Rumo hob den Kopf, den er auf die Pfoten gestützt hatte, und fuhr sich mit einer Pranke durch das Gesicht. "Was ich dazu sage? Ich sage, wir haben ein Problem. Ein viel größeres, als das mit dem Namen."

"Was für ein Problem?", wollte Mythenmetz sofort wissen. Er legte den Löffel, den er bis gerade benutzt hatte, beiseite und neigte misstrauisch den Kopf.

Rumo hatte sich die Worte bereits im Kopf zu Recht gelegt - was tatsächlich einige Zeit gedauert hatte, er war einfach nicht gut in solchen Dingen -, zögerte aber dennoch, bevor er sie aussprach. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, sonst wäre guter Rat Teuer.

"Nachtigaller arbeitet doch an diesem Experiment…" Ein kurzer Seitenblick auf Blaubär, der ein paar Sekunden verwirrt aus der Wäsche guckte, dann jedoch verstand und bekräftigend nickte. "… und dafür braucht er die Formel, so zumindest hat man es mir erklärt. Aber nach allem, was ich weiß, ist dieses Experiment…." Er suchte nach einem intelligent klingenden Wort "…instabil. Sagte der Professor nicht, wir hätten nicht mehr als drei Wochen, um die Formel zu finden? Ich habe das einmal nachgerechnet und festgestellt, dass wir nun schon insgesamt zwei von eben diesen drei Wochen unterwegs sind, nimmt man die Zeit, die Blaubär und ich alleine verbracht haben, dazu. Uns bleibt also nur noch knapp eine Woche, um die Formel zu den Finsterbergen zu bringen. Und diese Zeit würde allein der Weg dorthin in Anspruch nehmen. Wir befinden uns sozusagen bereits im Zeit-Minus."

Rumo hoffte inständig, dass Blaubär sein kleines Spiel mitspielen und seine plötzliche Zeitnot auf den sich verschlechternden Gesundheitszustand seiner angeblich todkranken Verlobten schieben würde. Und tatsächlich schien der gutgläubige Buntbär genau das zu tun, mehr noch, er sprang sofort auf den Zug auf.

"Richtig, das sind wir!", pflichtete er aufgeregt bei. "Die Zeit - das hätte ich ja beinahe völlig aus den Augen verloren!" Er drehte sich zu Mythenmetz um. "Rumo hat Recht, wir müssen uns extrem beeilen. Wenn der Professor die Formel nicht binnen der nächsten Woche bekommt, gelingt sein Experiment nicht. Zu unserem Namensproblem kommt also auch noch ein massives Zeitproblem."

Mythenmetz schob seine Müslischüssel von sich weg und lehnte sich mit verschränkten Armen Distanz suchend zurück. "Und damit kommt ihr jetzt an? Hätte euch das nicht früher einfallen können? Eventuell dann, als wir noch Zeit hatten?"

Blaubär sah Hilfe suchend zu Rumo hinüber, der darauf allerdings ebenso wenig eine Antwort wusste.

"Äh….", stammelte er und wich dem durchdringenden Blick der Echse aus. „Äh.. das ist doch jetzt auch egal. Wir haben wenig Zeit und damit müssen wir leben."

Mythenmetz fuhr hoch. "Nein, das ist nicht egal! Euch mag es vielleicht nichts ausmachen, in einer völlig planlosen Kamikaze-Aktion den wahnwitzigen Ideen eines Pseudowissenschaftlers hinterher zu jagen, aber ich bin zu alt und zu gesetzt für solch einen Kinderkram." Er rauschte aufgebracht in Richtung Eingangstür. "Euch viel Spaß beim Herumrätseln und Leben Riskieren. Ich für meinen Teil bin raus!"

Damit und mit einem lauten Zuschlagen der morschen Holztür war er verschwunden.

Rumo starrte ihm entgeistert nach. Was, bei allen zamonischen Göttern, war das nun schon wieder gewesen? Was gab diesem Schreiberling das Recht so auszurasten?

Wut begann dem Wolpertinger die klaren Gedanken zu vernebeln und lies ihn alles rationale Denken in den Hintergrund schieben. Auf einmal war ihm völlig egal, dass er sich eigentlich hätte mit dem Lindwurm gut stellen müssen, um seine Ziele zu erreichen.

Er sprang ebenfalls auf, wobei er um ein Haar den Tisch umgestoßen hätte.

"Das musst du gerade sagen!", brülltet er dem längst verschwundenen Mythenmetz hinterher. "Du bist doch derjenige, der uns die ganze Zeit etwas von einem ach-so-tollen Plan erzählst, den du in deinem durchgeknallten Hirn ausbrütest. Aber wenn es dann daran geht uns Genaueres zu erklären, bist du plötzlich ganz still und machst einen auf Geheimnisvoll. Wahrscheinlich hast du selbst keine Ahnung. Schön, geh doch! Ich kann auf dich verzichten, Freak!"

Inzwischen hatten die anderen Frühstücksgäste Rumo ins Visier genommen und machten ihrem Unmut über die plötzliche Unruhe durch ärgerliche Rufe Luft. Dem Wolpertinger hätten sie in dieser Situation allerdings kaum gleichgültiger sein können. Wutentbrannt stürmte er aus dem Raum und die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, um seine Sachen zu holen. Die Anspannung der letzten Tage, ja vielleicht sogar der letzten Wochen brodelte in ihm wie kochende Lava, das konnte Rumo deutlich spüren. Dazu kam, dass er eindeutig kein Teamspieler war, schon gar nicht, wenn das Team aus so jemandem wie Mythenmetz bestand. Dass die Emotionen früher oder später überkochen würden, damit war nur zu rechnen gewesen.

Unsanft riss Rumo seine Jacke von Kleiderhaken und legte sich Schwert und Tasche um.

"Was ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte Löwenzahn ängstlich, doch sein Besitzer antwortete nicht. Er polterte die Stufen der schmalen Holztreppen wieder hinunter, knallte dem Pensionsbesitzer das Geld für die Übernachtung auf den Tresen und verließ das Lokal.

Auf den Straßen von Sledwaya waren die Bewohner gerade damit beschäftigt die Überbleibsel des gestrigen Festes zu beseitigen. Sie pflückten Girlanden von den Straßenlaternen und Dächern, fegten leere Becher und schmutzige Servietten aus dem Rinnstein und nicht wenige nutzten die frühen Morgenstunden, um sich etwas die Beine zu vertreten und den beträchtlichen Kater vom spätabendlichen Weingenuss loszuwerden.

Rumo war mit einem Mal sonderbar froh darüber, dass es sich offenbar um ein eintägiges Ereignis gehandelt hatte.

Er brachte die erste Gasse im Laufschritt hinter sich, eilte noch immer recht zügig durch die zweite, wurde nach der dritten Ecke bereits langsamer und blieb schließlich noch einen Straßenzug weiter vor einer Bäckerei stehen, um sich zu fragen, wo genau er eigentlich hinrannte und vor allem warum. Alles, was er wusste, war, dass er kein Ziel mehr hatte - zumindest keines, dass auch nur in irgendeiner Weise erreichbar schien - und, was noch viel schlimmer war, dass keine Zeit mehr war.

So wie es aussah, war es hier und jetzt vorbei.

Smeik hatte gespielt und verloren und nun war er verloren. Und er, sein bester Freund, hatte nichts dagegen ausrichten können, so sehr er sich auch bemüht hatte.

Rumo ließ sich auf der mittleren der drei steinernen Stufen nieder, die zu der Bäckerei hinauf führten, und vergrub das Gesicht in den Händen. Hatte er nicht noch vor knapp eine Stunde einen Brief an Smeik geschickt, in dem er voller Überzeugung behauptet hatte, die Formel sicher nach Hause zu bringen?

Und jetzt - so kurze Zeit später - hatte sich das Blatt so drastisch gewendet, dass ihm nichts anderes zu bleiben schien als aufzugeben.

Hatte es überhaupt eine Chance gegeben, das Elixier zu erreichen? War es seine Schuld, dass sie scheiterten?

Das Klingeln der Türschelle über seinem Kopf riss Rumo aus seinen düsteren Gedanken und veranlasste ihn aufzublicken. Ein zierlicher Schatten trat aus der Ladentür und blieb überrascht stehen, als er den niedergeschlagenen Wolpertinger auf den Stufen bemerkte. Es war ein augenscheinlich ziemlich junger Menschenmann mit schulterlangem, glatten Haar, das blau-grau in der Sonne schimmerte, und einem weichen, freundlichen Gesicht. Sein freier Oberkörper war über und über von jenen schmerzlosen Narben überzogen, von denen auch Rumo sich eine auf dem Jahrmarkt vor Wolperting hatte schneiden lassen, nur dass es bei dem Jungen nicht um Namen handelte, sondern um Symbole, die Rumo seltsam bekannt vor kamen, die er aber in dieser Sekunde nicht zuordnen konnte. Dazu trug er eine zerschlissene, halblange Stoffhose und um seinen Hals hing an einem Lederband eine kleine, hölzerne Flöte. Alles in allem machte er einen netten, harmlosen Eindruck.

Zu spät bemerkte Rumo, dass er dem jungen Mann im Weg saß. "Tschuldigung", nuschelte er mit gesenktem Kopf und stand auf, um einen Schritt beiseite zu gehen und die zierliche Kreatur vorbei zu lassen.

Der Kleine machte jedoch keine Anstalten sich zu bewegen. "Schlechten Tag gehabt?", fragte er frei heraus, während er von einem Schokoladenbrötchen abbiss, und lächelte offenherzig.

Der Wolpertinger nickte nur.

"Und das schon so früh am Morgen? Das ist aber gar nicht gut! Hier…" Er langte in eine Papiertüte mit dem Logo des Bäckers, fischte ein Schinkencroissant heraus und hielt es Rumo hin. "Schenke ich dir. Ich dachte, ich hätte großen Hunger, aber dieses süße Zeug macht doch ganz schön satt."

Rumo zögerte kurz, entschied dann aber, dass ein Croissant frisch aus dem Ofen noch keinem geschadet hatte, und griff zu.

Sein Gegenüber grinste und hüpfte leichtfüßig die Steinstufen hinunter. "Hattest du etwas Bestimmtes vor? Sonst hätte ich vorgeschlagen, dass wir ein Stück zusammen gehen und ein wenig plaudern, damit du auf andere Gedanken kommst. Ich bin nicht oft in der Stadt und kenne kaum jemanden, da freut es mich, wenn ich mal ein Wort mit dem einen oder anderen sprechen kann."

Natürlich hätte Rumo im Grunde etwas vor gehabt, doch sein Trotz ließ ihn das ignorieren und dem außergewöhnlichen jungen Mann zusagen. Und tatsächlich fühlte er sich schon etwas besser, während sie so durch die Straßen schlenderten, an ihren Backwahren kauten und sich angeregt unterhielten.

Der Junge entpuppte sich als auf eine angenehme Art neugierig. "Du kommst also aus Atlantis?", schwärmte er und seine honigfarbenen Augen begannen zu leuchten. "Wow! Da wollte ich auch schon immer einmal hin, aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Schade eigentlich, ich muss das nachholen!"

"Na ja, geboren bin ich auch nicht dort", versuchte Rumo die Aufregung des kleinen Blauhaarigen zu dämpfen. "Ursprünglich komme ich aus Fhernhachingen. Und aufgewachsen bin ich - das klingt jetzt vielleicht etwas komisch, aber es war tatsächlich so - auf den Teufelsfelsen."

Der Menschenjunge machte große Augen. "Wirklich? In deinem Leben ist ja echt was los. Unglaublich!"

"Äh…" Rumo trat verlegen gegen einen kleinen Stein. "Vielleicht, ja… Aber wo kommst du überhaupt her?", brachte er hervor in dem unbeholfenen Versuch das Gespräch von sich abzulenken.

Der Kleine überlegte kurz, als sei ihm seine eigene Lebensgeschichte gerade entfallen. "Also geboren bin ich hier in Sledwaya, schätze ich. Ich habe meine Eltern nie kennen gelernt, daher ist das etwas schwierig zu sagen. Aber da meine ersten Erinnerungen von hier sind, gehe ich einfach mal davon aus. Aufgewachsen bin ich auch hier, aber das ist inzwischen auch schon fünf Jahre her, daher bin ich fast schon wieder fremd in der Stadt."

"Und wieso bist du gegangen?", wollte Rumo wissen.

Die Frohnatur verschränkte im Gehen die Arme hinter dem Kopf. "Sagen wir einfach, ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel. Ich bin eine Weile planlos durch das Land gezogen, bis ich jemanden kennen gelernt habe, der auf einem dieser umher reisenden Jahrmärkte arbeitet. Als ich ihm erzählte, dass ich unter anderem das Gestaltenwandeln beherrsche, bot er mir an, eine kleine Effektshow auf die Beine zu stellen. Und dabei bin ich geblieben. Es ist nichts, womit man angeben kann, aber ganz witzig. Und von dem Gehalt kann man gut leben."

Jetzt war es an Rumo zu staunen. "Du bist Gestaltenwandler? Ehrlich?"

"Ja", antwortete der Blauhaarige, als sei das nichts Besonderes. "Das hier ist nicht meine eigentliche Gestalt. Aber so ist es um ein Vielfaches einfacher zu bekommen, was man, will, glaub mir. Als Kratze wird man meist nicht so ernst genommen."

Rumo blieb abrupt stehen und schluckte den letzten Bissen seines Croissants hinunter. "Kratze? Das heißt normalerweise bist du…" Er machte eine Handbewegung, die etwas sehr Kleines beschreiben sollte.

Der Junge lachte. "Meistens zumindest. Wenn ich gerade Lust habe." Er reckte sich ungeniert und gähnte. "Spaß beiseite. Ja, ich bin eine Kratze. Ich verwandle mich nur während meiner Vorstellungen und - so wie jetzt zum Beispiel - wenn ich mit Daseinsformen ins Gespräch kommen muss, die um einiges größer sind als ich. Da ist das einfach angenehmer zumindest annähernd auf Augenhöhe zu sein. Aber ganz einfach ist das nicht, genau genommen sogar recht anstrengend, daher kann ich diesen Zustand nie länger als etwa eine Stunde aufrechterhalten."

"Aha", machte Rumo verwundert und versuchte, das eben Gehörte in irgendeine der unzähligen Schubladen in seinem Gehirn zu stopfen. Es stellte sich als recht sperrig heraus.

Nachdem er ein paar Sekunden lang Löcher in die zamonische Luft gestarrt hatte, hastete Rumo dem mittlerweile einige Schritte entfernt tänzelnden Sonderling hinterher.

"Sag mal", begann er, als er schließlich aufgeholt hatte, und beschloss, einer plötzlichen Eingebung folgend, aufs Ganze zu gehen. "Du heißt nicht zufällig Spiegel? Oder zumindest so ähnlich?"

Diese Frage war ganz offensichtlich ein Fehler.

Von einer Sekunde auf die andere verschwand das fröhliche Lächeln von den Zügen des jungen Mannes, als hätte es jemand mit einem Tuch einfach weggewischt. Er hörte auf zu schlendern, sein Schritt wurde fest und bestimmt und sein Blick war starr nach vorne gerichtet.

"Nein", sagte er unterkühlt. "Mein Name ist nicht Spiegel." Dann blieb er so unvermittelt stehen, dass Rumo gegen ihn prallte und drei Schritte zurück taumelte. "Wir sollten von hier an getrennt weiter gehen", erklärte er. "Meine Kollegen warten sicher schon auf mich. Das Fest ist vorbei, der Jahrmarkt zieht weiter.“ Er knüllte die leere Papiertüte vom Bäcker zusammen und warf sie in einen metallenen Mülleiner, der an einer Hauswand befestigt war. "War nett mit dir zu plaudern."

Ohne sich ein weiteres Mal umzusehen, setzte sich der Gestaltenwandler wieder in Bewegung und hatte schon die halbe Straßenlänge hinter sich gebracht, bevor Rumo begriff, was gerade passiert war.

"Warte!", rief er dem Jungen nach. "Wenn du irgendetwas über einen Spiegel weißt, dann sag es mir bitte! Es ist wirklich wichtig!"

"Ich weiß nichts von einen Spiegel!", kam die ernüchternde und wenig freundliche Antwort von fern, dann war die seltsame Kratze auch schon hinter einer Hausecke verschwunden und ließ Rumo allein in der leeren Gasse zurück.

Der lehnte sich seufzend gegen einen Laternenpfahl. Was war das denn nun schon wieder gewesen? Hatte er wirklich so wenig kommunikatives Geschick, dass jeder, der mit ihm sprach, früher oder später wütend flüchten musste?

Hinter sich hörte er hektische Schritte.

"Rumo! Rumo!" Es war Blaubär, der aufgeregt auf ihn zu sprintete und schlitternd vor ihm zum Stehen kam. "Hier steckst du also!" Der Buntbär holte ein paar Mal tief Luft, bevor er weiter sprach. "Ich habe die halbe Stadt nach dir abgesucht! Mythenmetz ist zurückgekommen. Er ist zwar noch etwas grantig und wahrscheinlich schlecht auf dich zu sprechen, aber offenbar hat doch seine Neugierde gesiegt. Er will uns weiterhin begleiten, ist das nicht großartig? Wir haben immer noch eine Chance!" Dann bemerkte er den abwesenden Gesichtsausdruck des Wolpertingers. "Ist etwas vorgefallen?"

Rumo schüttelte energisch den Kopf und befahl seine Gedanken zurück ins hier und jetzt. "Nein… Nein, da war nichts… nichts Wichtiges."

"Sicher?"

"Ganz sicher. Und jetzt lass uns zurück zur Herberge gehen. Ich will mir anhören, was Mythenmetz zu sagen hat."
 

Sie betraten den Gasthof durch die kaputte, mächtig in den Angeln quietschende Vordertür, ignorierten den verwunderten Blick des Wirtes, der sich zu fragen schien, was genau diese seltsamen Gäste eigentlich wollten, dass sie immer wieder aus dem Gasthof hinaus stürzten, nur um kurz darauf wieder hinein getrottet zu kommen, und setzten sich zu Mythenmetz an einen der kleinen Ecktische, von dem aus ihnen die Echse bereits missmutig entgegen gestarrt hatte. Rumo entschied sich für einen Platz rechts von ihm, Blaubär nahm zur Linken des Schriftstellers auf der weinroten Sitzgarnitur platz.

"Und was nun?", fragte der Wolpertinger in die Runde, nachdem sie sich gesetzt hatten. Diese Frage war zwar schon gefühlte einhundert Mal gefallen und weiter waren sie seit dem letzte Mal ganz sicher auch nicht gekommen, aber allein die Tatsache seiner Ratlosigkeit zur Sprache zu bringen, gab Rumo das gute Gefühl, nicht die volle Verantwortung zu tragen.

Mythenmetz nippte an einem Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit, von der Rumo ernsthaft hoffte, dass es Traubensaft war, und kratzte sich am schuppigen Schädel. "Gut, machen wir mal was anders und gehen geplant und durchdacht vor. Wir haben wenig Zeit, also sollten wir möglichst schnell die Stadt verlassen. Hier kommen wir ja ganz offensichtlich nicht weiter. Kehren wir lieber zurück zur Lindwurmfeste und durchforsten meine Bibliothek, dort könnten wir, wenn wir Glück haben, den einen oder anderen Hinweis finden. Könnten, wohl gemerkt. Sicher bin ich mir da keinesfalls, es gibt kaum Aufzeichnungen über die Prima Zateria. Alle Alchimisten, die sich bis jetzt damit beschäftigt haben, hatten - um es auf den Punkt zu bringen - nicht mehr wirklich alle Tassen im Schrank." Er warf Rumo und Blaubär einen viel sagenden Blick zu. "Was im Grunde bereits einiges über unser Unternehmen aussagt…"

"Jaja", winkte Rumo ab. Er hatte keine Lust auf weitere Diskussionen über die Absurdität seines Unterfangens. Er war sich dessen sehr wohl bewusst. "Also verlassen wir jetzt sofort die Stadt, oder wie?"

"Falls dir in der Stunde deiner Abwesenheit nicht gerade ein bahnbrechender Hinweis über den Weg gelaufen ist, ja."

Der Wolpertinger lehnte sich zurück. "Nein, da war nichts. Mir ist zwar ein Kratzenjunge begegnet, aber der wusste auch nichts über einen Spiegel. Ist auch nicht weiter verwunderlich, er kam nicht von hier. War Gestaltenwandler beim Jahrmarkt oder so etwas in der Art. Ganz netter Kerl, eigentlich."

Mythenmetz hätte beinahe den Schluck Saft, den er soeben genommen hatte, wieder ausgespuckt. "Sag mit bitte nicht, dass du ihn hast laufen lassen!"

Rumo verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Was hätte ich denn bitte sonst tun sollen? Ihn einfangen und als Haustier halten?"

"Sag mal, bist du eigentlich völlig BESCHEUERT?", fuhr ihn der Lindwurm an und besprühte ihn mit Spucke.

Der Wolpertinger bezweifelte ernsthaft, dass er sich das gefallen lassen musste. "Was ist denn bitte schön nun schon wieder?"

Mythenmetz fuhr sich verzweifelt mit der Klaue übers Gesicht. "Er war ein Gestaltenwandler, Wolpertinger! Ein Gestaltenwandler! Das ist eine der höchsten alchimistischen Fähigkeiten überhaupt!"

"Na und?", rechtfertigte sich Rumo. "Was hat das schon zu sagen? Er wusste nichts von Spiegel. Und auch nichts von irgendwem, der so ähnlich heißt. Das hat er mehr als deutlich gemacht. Und außerdem: Woher soll ich denn bitte wissen, was so ein Alchimist alles drauf hat? Ich habe keine Ahnung von dem ganzen Quatsch und habe es auch nie behauptet!"

Der Schriftsteller atmete ein paar Mal tief durch und schien sich schließlich langsam aber sicher wieder zu beruhigen. "Schon gut, du hast ja Recht." (Historischer Augenblick, fand Rumo.) "Aber diese Kratze muss dich angelogen haben. Wahrscheinlich ist er genau derjenige, nach dem wir suchen. Kratzen haben von Natur aus nichts mit Alchimie am Hut, woher sonst sollte dieses spezielle Exemplar sein wissen haben als von eben jenem Meister, der uns in dem Buch "Spiegel, die Kratze" beschrieben wird?" Er stand auf und raffte seinen Umhang zusammen. "Schnell! Wir müssen ihn finden!"

Rumo hatte gerade noch Zeit sich zu fragen, ob er in den Augen des Lindwurms endlich einmal etwas richtig gemacht hatte, als er auf den seltsamen Kratzen-Jungen gestoßen war, da packte dieser ihn auch schon am Ärmel seiner Jacke und zerrte ihn aus der Sitzbank.

Blaubär blieb wie immer nicht anderes übrig, als den beiden hinterher zu hetzten und zu versuchen, nicht den Anschluss zu verlieren.
 

So schnell, wie es Mythenmetz' nicht vorhandene Kondition erlaubte, hasteten sie zum Stadttor, in der Hoffnung, dass die Jahrmarktstruppe dieses noch nicht passiert hatte. Dort angekommen postierten sie sich vor der hohen Mauer wie ein Trupp besonders gefährlicher Leibwächter und taten das einzige, was ihnen übrig blieb.

Warten.

Das übliche Schweigen stellte sich ein.

Immerhin kein Streit, fand Rumo.

Nahezu eine Stunde verging, zamonische Daseinsformen jeglicher Art durchquerten die Schwelle zur Stadt und wieder hinaus und einige von ihnen warfen dem seltsamen Trio einen fragenden Blick zu. Doch niemand wagte einen Kommentar.

Rumo wurde langsam ungeduldig. Gerade als er missmutig die Arme in die Luft werfen und ausrufen wollte, dass doch ohnehin alles sinnlos sei, da der Zirkus doch sicherlich schon lange abgezogen sei, sprang Blaubär plötzlich einen Schritt vor und deutete aufgeregt die Hauptstraße hinunter. "Da hinten kommen sie. Das müssen sie sein!"

Rumo spähte in die angezeigte Richtung. Tatsächlich, dort, etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt, zogen Pferde sieben oder acht Planwagen die grob gepflasterte Straße hinauf. Begleitet wurden sie von einer Gruppe Zamonier, darunter die seltsamsten und eigensinnigsten Kreaturen, die der Kontinent zu bieten hatte: Zwei Yetis in Gladiatorenrüstung, ein Nebelheimer mit einer großen Trompaune im Gepäck, ein verschlagen dreinblickender Hundling, mehrere Fhernhachen und ein Wildschweinling, der ein Einhorn führte. Es gab eine Schreckse mit großem, gusseisernen Kessel auf dem Rücken und eine Zwiezwergenfamilie, die offenbar einen ziemlichen Lärm machte. Angeführt wurde der auffällige Tross von etwas, das wohl halb Dämon, halb Yeti sein sollte ("Uärgh!", machte Grinzold. "Einige Beziehungen gehören von Natur aus verboten!") und ein kleines Bündel auf der rechten Schulter trug, das sich beim Näherkommen als zierliche, blau-schwarz getigerte Kratze herausstellte.

Rumo stellte sich der Truppe mit ausgesteckten Armen in den Weg. "Verzeihung!", rief er, sobald er sich in Hörweite wusste. "Wäre es möglich, kurz mit einem eurer Mitglieder zu sprechen?"

Der Führer des seltsamen Trosses hob seine linke Pranke, woraufhin der gesamte Zug hinter ihm quietschend, scheppernd und staubend zum Stehen kam. Einige der Schauteller reckten verwundert die Hälse, um zu sehen, was weiter vorne vor sich ging, andere stupsten den neben ihnen Stehenden mit dem Ellenbogen an und wisperten etwas unverständliches, wobei sie auf den wüst aussehenden Wolpertinger deuteten.

Der Yeti-Mischling begutachtete ihn eine Weile misstrauisch und fragte dann gerade heraus: "Wen wünscht du zu sprechen, Hund?"

Doch noch bevor Rumo etwas antworten konnte, begann sich die Tiegerkratze auf der Schulter zu regen. Sie reckte sich, machte einen Buckel, der einmal ihre gesamte Wirbelsäule entlang zu laufen schien wie eine Laola-Welle, und sprang dann leichtfüßig vor dem Wolpertinger auf den Boden.

"Schon gut Faron, er will zu mir", erklärte der Kleine seinem Besitzer. "Ich habe ihn heute in der Stadt getroffen und da scheinen einige Fragen offen geblieben zu sein. Gibst du mir zwei Minuten?"

Der, der Faron hieß, nickte, drehte sich dann zu seinem Gefolge um und rief: "Macht es euch bequem Jungs! Wir bleiben ein Weilchen hier."

Der Gestaltenwandler vergewisserte sich noch kurz, dass seine Gefährten auch wirklich bereits waren zu warten, dann wandte er sich Rumo zu und deutete mit dem Kopf in Richtung einer abseits liegenden Hausecke. "Du und deine Freunde - kommt mit. Das muss jetzt nicht unbedingt jeder mitbekommen. Bei uns wird viel getratscht."

Als er sah, dass alle drei ihm gehorsam folgten, huschte er lautlos an der Hauswand entlang, suchte sich einen Vorsprung in ausreichender Höhe und sprang hinauf, um dann zu warten, bis sich alle um ihn herum versammelt hatten und ihn erwartungsvoll anstarrten. Er seufzte. "Es geht um das Buch oder? Na schön, fragt, was ihr wollt. Ich komme ja ohnehin nicht drum herum."

Mythenmetz entschied prompt, dass es an seiner unzweifelhaften Kompetenz war, die Situation zu regeln. Und dieses Mal hätte es Rumo kaum rechter sein können, immerhin war es die Idee der alten Echse gewesen, mit dem seltsamen Kratzenjungen zu sprechen. "Also, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Du bist, folgere ich, Spiegel, eben jener Spiegel, den uns Gofid Letterkerl in seiner Novelle beschreibt?!"

Die Tiegerkratze machte ein gequältes Geräusch. "Ja, ich bin der Alchimistenschüler aus der Kurzgeschichte. Und nein, mein Name ist nicht Spiegel. Ich heiße Echo. Echo, verdammt! Hätte ich gewusst, dass Letterkerl so etwas im Sinn hatte, als er sagte, er wolle meine Geschichte aufschreiben, ich hätte er kein Wort von mir erfahren!"

Eine Welle unendlicher Erleichterung durchfuhr Rumo. Er packte das zierliche Tier an den Flanken, hob es hoch und schüttelte es wie einen Cocktail. "Du bist es also!", rief er dabei. "Du bist es wirklich!"

Echo fauchte, fuhr die Krallen aus und wand sich geschickt wie eine Schlange aus dem ungeschickten Griff. "Au! Pass auf, du grober Hund! Du brichst mir ja die Rippen!"

Er setzte sich wieder hin und leckte sich ein paar Mal mit der rauen Zunge über den Rücken und den elegant gebogenen Schweif. "Ja, ich bin es", sagte er schließlich. "Präzise gesprochen bin ich ein Alchimeister vierten Grades. Ich habe, bevor ich mich dem Jahrmarkt anschloss, eine Ausbildung zum Alchimisten genossen und nach Abschluss derer an der Akademie von Florinth vier Meistergrade abgelegt. Allerdings sah ich es niemals als erstrebenswert an, in einem düsteren Labor irgendwelchen sinistren Ideen und wahnhaften Träumen hinterher zu jagen. Da begeistere ich lieber ein paar Kinder mit einem schönen Feuerwerk, da hat die Welt mehr von, denke ich. Noch irgendwelche Fragen?"

"Ähh…", machte Rumo, doch Mythenmetz kam ihm zuvor.

"Wie viel weißt du über die Altern Künste?"

Echo zuckte mit den spitzen Schultern. "Eine ganze Menge, schätze ich. Ich wurde speziell in diese Richtung ausgebildet." Dann sah er plötzlich auf und den drei Weggefährten geradewegs in die erstaunten Augen. "Aber jetzt verratet mir bitte einmal, was genau ihr eigentlich von mit wollt. Warum war es euch so verdammt wichtig, mich zu finden? Braucht ihr eine Salbe, ein Heilmittel, eine Tinktur? Gut, ich werde euch das Rezept aufschreiben, sofern ich es kenne. Wenn es euch allerdings darum geht, meine Geschichte aufzuschreiben, dann vergesst es. Ich habe diesem Gofid Letterkerl bereits Rede und Antwort gestanden und was dabei heraus kam, war dieses völlig verdrehte Heftchen, das nicht mal annähernd das wiedergibt, was tatsächlich passiert ist. Außerdem kommen seit jenem Tag ständig irgendwelche Leute zu mir und fragen mich, ob ich denn Spiegel, der Spiegel, sei. Danke, auf noch so etwas kann ich verzichten."

"Nein, darum geht es uns nicht", versuchte Blaubär zu erklären, doch die Kratze bliebt sichtlich skeptisch.

"Und warum, bitte schön, rede ich dann gerade mit Hildegunst von Mythenmetz und seinem Gefolge, wenn es sich nicht um eine erneute Niederschrift handeln soll?"

"Weil wir deine Hilfe brauchen", erklärte Rumo schnell, bevor ihm wieder jemand das Wort abschneiden konnte. "Professor Nachtigaller schickt uns. Wir sind auf der suche nach… nach…."

"Nach der Prima Zateria", ergänze Blaubär, der merkte, dass seinem Gefährten das passende Wort gefehlt hatte. "Der Professor braucht das Elixier für ein Experiment von unermesslicher Tragweite. Und er braucht es möglichst bald. Daher die Dringlichkeit."

Echo lachte trocken. "Die Prima Zateria? Warum nicht gleich die Formel, um Blei in Gold, Blut in Wein oder Brot in Diamanten zu verwandeln? Oder gar die Anleitung zum Bau eines Perpetuum Mobile?" Er sprang zu Boden. "So etwas wie die Essenz des Ewigen Lebens gibt es nicht und wird es auch niemals geben. Eure Suche ist sinnlos, also vergesst es! Ich kann euch nicht helfen und auch sonst wird es keiner können. Geht nach Hause. Ich bin ein Alchimist kein Zauberer!"

Mythenmetz blieb völlig ungerührt. "Eine solche Essenz gibt es also nicht? Seltsam, war es nicht gerade dein Meister, der versucht hat, sie zu vervollständigen? Mir war, als hätte ich da mal so etwas gelesen…"

Echo schnaubte verächtlich. "Herzlichen Glückwunsch, du weißt mehr als der dämliche Rest. Darf man fragen, woher du dein Halbwissen beziehst? Ich wüsste gerne, wer in Zamonien sich traut, so schamlos Gerüchte über meinen Meister zu verbreiten."

"Ach, niemand bestimmtes." Der Schriftsteller verschränkte selbstzufrieden die Arme vor der Brust. "Sagen wir einfach, ich recherchiere recht gern. Das ist ein großer Teil meiner täglichen Arbeit. Und außerdem…" Ein gefährliches Lächeln kroch über seine Züge wie der Schatten eines Dämons. "Außerdem kannte ich Succubius Eißpin persönlich."

"Das tut mir aufrichtig Leid für dich, glaub mir. Auch wenn du ihn sicher nicht wirklich gekannt hast, aber wer will das schon." Echo drehte sich um und entfernte sich, während er sprach. "Trotzdem muss ich euch bitten jetzt zu gehen. Ich möchte mit diesem Irren nichts mehr zu tun haben. Er ist meine Vergangenheit und das bleibt er auch. Vergangenheit."

Damit und mit einem aufgebrachten Peitschen seines langen Schweifes gesellte er sich wieder zu der munter plaudernden Jahrmarktstruppe, die ihn offenbar nicht nach seiner Vergangenheit fragte. Aber das tat man beim Jahrmarkt wohl besser ohnehin nicht.

Rumo blickte ihm enttäuscht nach. "Na das war ja wohl nichts", seufzte er. "So giftig, wie der drauf war, als wir ihn auf die Formel angesprochen haben, ist bei dem sicher nichts mehr zu holen."

"Hmm", machte Mythenmetz und ließ es im nicht vorhandenen Raum stehen, als sei es eine Aussage.

Blaubär schwieg. Dem war nichts mehr hinzuzufügen.

Eine Weile standen die Drei ratlos in der Gegend herum, kauten auf ihren Unterlippen herum und kratzten sich dann und wann nervös am Kopf. Keiner mochte so recht aussprechen, was ihnen nun allen auf der Zunge lag: Das altbekannte "Und was nun?".

"Der Zug ist schon außer Sichtweite, wir haben unsere Chance verpasst."

"Und stehen mal wieder vor dem Nichts", ergänzte Rumo schlecht gelaunt. "Wie immer."

Mythenmetz bliebt weiterhin stumm, folgte ihnen aber, als sie sich auf den Weg zurück in die Stadt machten. Warum sie genau diese Richtung einschlugen, wo sie genau so gut die Stadt hätten verlassen können, vermochte keiner von ihnen zu sagen. Wahrscheinlich hatte die Herberge etwas Tröstliches an sich.
 

Dieses Mal betraten sie den Gasthof nicht, sondern blieben knapp vor seiner Tür auf der spärlich frequentierten Straße stehen. Was hätten sie da drinnen auch tun sollen? Sich wieder an einen Tisch setzten und Trübsal blasen? Das wurde inzwischen ja beinahe zur Gewohnheit.

„Und nun?“, äußerte Rumo schließlich und zog den Reisverschluss seiner Jacke zu. Es war kalt geworden in den letzten Tagen, der scharfe Wind drang inzwischen mit Leichtigkeit durch sein dichtes Fell und ließ ihn frösteln. „Verlassen wir die Stadt und kehren zur Lindwurmfeste zurück?“

„Das wäre wohl das Beste“, antwortet Mythenmetz, während er die Taschen seines Umhangs durchsuchte. Nach einigen Sekunden beförderte er ein Tuch zutage und putze sich die schuppige Nase, faltete den Seidenstoff dann sorgsam wieder zusammen und schob ihn zurück in sein lilafarbenes Gewand.

Die Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Rumo fühlte sich seltsam stumpf, wie betäubt, ganz so, als hätte er wieder einmal einen Schlag auf seinen lädierten Schädel bekommen. Alles um ihn herum drang nur schwer an seine sonst so scharfen Sinne heran, die Geräusche waren dumpf, die Farben der Umgebung milchig getrübt und sogar sein Geruchssinn schien ihn verlassen zu haben.

Müdigkeit überkam ihn. Er gähnte vernehmlich, blickte träge die leere Gasse entlang und wollte den Blick gerade wieder abwenden und seine Gefährten zum gehen animieren, als ihm etwas auffiel.

Zunächst glaubte er, sein getrübtes Augenlicht spiele ihm einen Streich.

Doch auch nach mehrfachem Blinzeln und Reiben wollte der kleine, dunkle Fleck am Ende der Straße einfach nicht verschwinden, mehr noch, er schien größer zu werden, näher zu kommen.

Jetzt war auch Blaubär etwas aufgefallen. „Sagt mal…“, begann er vorsichtig und starrte in eben jene Richtung, in die auch Rumo seit einigen Sekunden angestrengt blickte. „Ist das da hinten…?“

Mythenmetz trat neben seine Gefährten. „Na, das ist doch mal überraschend!“

Das, was da in kleinen, aber dennoch bestimmten Schritten die Gasse hinab auf sie zukam, war eine Kratze.

Eine blau-schwarze Tigerkratze um genau zu sein.

Echo.

Der tierische Alchimist trabte auf die Gruppe zu, sprang auf den letzten Metern auf den Fenstersims eines der Fenster des Gasthofes, verharrte schließlich dort und setzte sich, das Gesicht der erstaunten Reisegruppe zugewandt. "Ich habe nachgedacht."

„Und bist dabei zu genau welchem Ergebnis gekommen?“, wollte Mythenmetz mit hochgezogener Augenbraue wissen. Auch Rumo war skeptisch.

Echo machte ein betretenes Gesicht. „Tut mir Leid, dass ich mich vorhin so benommen habe“, miaute er kleinlaut. „Ich habe eingesehen, dass ihr nicht zu den Leuten gehört, die mich nur aufgrund von Letterkels Buch ansprechen. Euer Vorhaben schien euch wirklich wichtig.“

„Das ist es in der Tat!“, machte Rumo deutlich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also kannst du uns nun doch weiterhelfen, oder wie dürfen wir deine Rückkehr verstehen?“

Die Kratze nickte. "Vielleicht gibt es tatsächlich eine Möglichkeit, wie ich euch helfen kann.“ Er zögerte. „Der Lindwurm hatte schon Recht, ich weiß etwas über die Prima Zateria."

"Aha!", rief Rumo triumphierend, doch Mythenmetz bedeutete ihm mit einer schnellen Handbewegung zu schweigen.

"Wie auch immer", fuhr Echo fort und seine Stimme wurde nun wieder etwas fester. "Ich erwarte eine Gegenleistung für dieses wertvolle Wissen."

"Was?", fragte der Schriftsteller gerade heraus.

Echo holte einmal tief Luft. "Ich habe euch ja von meinem Dilemma mit diesem "Spiegel, die Kratze"-Buch von Letterkerl erzählt. Nun, ich kann nicht zulassen, dass diese Halbwahrheiten weiter auf dem ganzen Kontinent verbreitet werden. Also möchte ich, dass du, Lindwurm…" Er sah Mythenmetz mit durchdringendem Blick an. "…die wahre Geschichte aufschreibst. Alles, so wie es wirklich passiert ist, ohne etwas wegzulassen oder dazu zu erfinden. Ich erzähle es dir und du verfasst es so, dass es für die Allgemeinheit tauglich ist. Nicht mehr und nicht weniger will ich. Also, was sagst du?"

Alle Augenpaare richteten sich auf den Schriftsteller, der selbstbewusst zu grinsen begonnen hatte und zärtlich die Federn in seiner Manteltasche tätschelte. "Ich kriege sämtliche Rechte an dem Werk?"

"Wenn ich den Inhalt abgesegnet habe, dann soll es meinetwegen so sein. Ich könnte ohnehin nicht viel mit dem Geld anfangen, das ich dafür bekäme."

Mythenmetz Grinsen wurde sichtlich breiter. "Also das nenne ich doch mal ein einwandfreies Geschäft."



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