Zum Inhalt der Seite

Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sturm auf die Lindwurmfeste

Rumo sprang mit einem gekonnten Satz auf die Hinterpfoten, zog sich seine Jacke über - dieses Mal über Schwert und Tasche, für alles andere war jetzt keine Zeit - und spurtete los in Richtung Lindwurmfeste. Was auch immer dort passiert war, er hatte das ungute Gefühl, dass es etwas mit Blaubärs Versuch zu tun hatte, zu Mythenmetz zu gelangen. Wer wusste schon, wozu diese exzentrischen Echsen fähig waren, vielleicht hatten sie ihn gefangen genommen und brachten ihn jetzt irgendeiner wütenden Feuergottheit als Opfer dar.

Die wildesten Geschichten zuckten durch Rumos Gedanken und auch wenn die meisten von ihnen sicherlich der größte Schwachsinn waren, die Explosion war real und ebenso war es der Rauch, der von einer der obersten Zinnen der Festung aufstieg.

Sand und kleine Steine flogen hinter ihm auf, als er auf allen Vieren das Seeufer entlang hetzte, die Augen starr auf sein Ziel gerichtet. Sein Wolpertinger-Instinkt war geweckt, hier ging es nicht mehr um strategisches Vorgehen oder dezente Überredungskunst, hier ging es - davon war zumindest auszugehen - um eine Rettungsaktion. Eindringen, draufhauen, abhauen. Das war schließlich seine Spezialität.

Rumo konnte trotz vorherrschender Dunkelheit bereits von Weitem die Wachen erkennen, die am mächtigen, mit eisernen Drachen verzierten Eingangstor zur Lindwurmfeste postiert waren, große, aufrecht gehende Echsen mit Lederpanzer, Helmen und spitzen Lanzen. Sie sahen nicht unbedingt so aus, wie er sich die verweichlichten Dinosaurier aus Smeiks Geschichten vorgestellt hatte, doch aufhalten konnte ihn diese Erkenntnis kaum. Ob Seidenrobe oder Lederkluft, er würde, wenn nötig, sowohl das Eine als auch das Andere in Stücke reißen.

Die Lindwürmer schienen Rumo erst zu bemerken, als dieser schlitternd vor ihnen zum Stehen kam. Sie senkten augenblicklich ihre Waffen in Abwehrstellung und beäugten den hastigen Neuankömmling mit dem wilden Blick misstrauisch.

"Was willst du, Wolpertinger?", fragte der eine von ihnen, offenbar ein Nachfahre eines Triceratops, abfällig. "Das hier ist eine Schrifstellerhochburg und ihr Typen seid, mit Verlaub, nicht gerade dafür bekannt, dass ihr viel lest."

Rumo hatte keine Lust auf lange Diskussionen über sein Leseverhalten, zumal er hätte zugeben müssen, dass er tatsächlich nicht der Belesenste war. Stattdessen baute er sich in voller Lebensgröße vor den Wachposten auf, was jedoch gerade reichte, um ihnen auf die gepanzerte Brust gucken zu können. Eine leicht ernüchternde Feststellung für jemanden, der es gewohnt war, der Größte im Raum zu sein.

"Sagt mal, fällt euch denn gar nichts auf?"

Die Lindwürmer blickten erst einander, dann den aufgeregten Hund vor ihnen an, zuckten dann mit den Achseln. "Nein, wieso?"

"Vielleicht weil euer Berg brennt?!"

"Wissen wir", entgegnete der Triceratops kühl. "Aber das liegt nicht in unserem Aufgabenbereich, wir überwachen nur das Tor. Und das ganz offensichtlich zu Recht."

"Außerdem", mischte sich jetzt auch der zweite Wächter ein, "ist das Feuer meilenweit entfernt von allen normalen Höhlen. Da oben wohnt nur dieser schräge Mythenmetz und der zündet alle Nase langt etwas an. Wenn man sich jedes Mal darum kümmern würde, was dieser Verrückte anstellt, käme man zu nichts anderem mehr."

Rumo wurde es langsam zu bunt. Blaubär, seine einzige Hoffnung auf eine erfolgreiche Reise, war dort oben, in dieser absurden Trutzburg, und ganz offensichtlich in der Gesellschaft eines pyromanischen Schriftstellers mit akutem Größenwahn. Er würde da jetzt hinein gehen, koste es was es wolle.

"Lasst mich durch!", fuhr er die beiden Wachposten an und fletschte sein Raubtiergebiss. "Wenn ihr euch schon nicht darum kümmern wollt, ich werde es tun!"

Doch die Lindwürmer traten lediglich einen Schritt zurück und kreuzten die auf dem Boden abgestellten Lanzen vor dem Tor. "Tut mir Leid, Wolpertinger, aber das können wir nicht zulassen. Seit der Schmach, die wir durch de Huldige erfahren mussten, lassen wir keine Fremden mehr in unsere Feste."

Rumo trat unruhig von einer Pfote auf die andere, während er immer wieder hektische Blicke nach oben warf. Flammen schlugen aus einem der Höchsten Punkte des Berges und tauchten den See in oranges Flackerlicht, wie von Tausenden von Fackeln. "Keine Fremden? Was soll das heißen? Ihr habt den Buntbär hinein gelassen, zählt das nicht?"

"Hier war kein Buntbär."

Zum ersten Mal seit beginn des Gesprächs hatten die beiden Echsen Rumos ungeteilte Aufmerksamkeit. "Ihr macht Witze!"

Der Kleinere von beiden, der ein wenig an einen Feuersalamander erinnerte, verdrehte genervt die Augen. "Ja. Und hier habe ich noch einen guten für dich: Zieh Leine, Hund." Er lachte blöde, verstummte aber, als er sah, dass ihn sein Kumpel missbilligend von der Seite anfunkelte.

Das war der Moment, in dem Rumo endgültig der Kragen platzte. Er packte den Triceratops an den Riemen, die auf der Brustseite seines Lederharnischs herunter hingen, und zog dessen Kopf zu sich herunter, sodass er ihm in die kleinen Augen sehen konnte.

"Sag mir jetzt sofort", brüllte er sein in diesem Moment durchaus bemitleidenswertes Gegenüber an, "ob hier ein Buntbär durchgekommen ist, oder nicht! Oder willst du, dass ich dich einen Kopf kürzer mache?"

Das wollte der Lindwurm natürlich nicht, doch offenbar wollte er ebenso wenig von einem wild gewordenen Fremden vorgeschrieben bekommen, was er zu tun oder zu lassen hatte. Er packte den verdutzten Wolpertinger seinerseits am Fellkragen der Lederjacke und hob ihn mühelos von den Hinterläufen, bis dieser knapp einen halben Meter über dem Boden baumelte.

"Ich sag dir jetzt mal etwas, Straßenköter. Du bist keiner von uns also kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram, verstanden?"

Rumos Pfoten versuchten wie automatisiert die Klauen abzuschütteln, die sich unangenehm in seinen Hals gruben und ihm langsam aber sicher die Luft abschnürten. "Das versuche ich ja gerade", japste er. "Aber zwei idiotische Urzeitmonster haben ja nichts besseres zu tun, als mich daran zu hindern."

Dann hob er sein rechtes Bein und kratzte dem Wachposten so kraftvoll wie er konnte über den Oberschenkel. Es gab ein hässliches Geräusch, das an eine Küchenreibe erinnerte, und eine warme Flüssigkeit sickerte durch das Fell an seinem Fußknöchel. Der Lindwurm jaulte auf und sprang einen schritt zurück, wobei er seine Lanze, die er sich in die Armbeuge geklemmt hatte, und den zappelnden Wolpertinger fallen ließ.

Rumo landete auf allen Vieren auf dem Boden und schnellte sogleich wieder hoch, um dem winselnden Triceratops seine Schulter in den Magen zu rammen. Dieser strauchelte, stolperte über seine in einer Felsspalte steckende Waffe und stürzte dann ungeschickt auf den Rücken. Sein Partner eilte zu ihm und versuchte ihm aufzuhelfen, scheiterte aber daran, dass der andere Lindwurm mehr als einen Kopf größer und augenscheinlich um ein Vielfaches schwerer war als er selbst.

Das war die Gelegenheit, auf die Rumo gewartet hatte. Er tat einen gewaltigen Satz, zog im Sprung Löwenzahn unter seiner Jacke hervor und rammte ihn in das hölzerne Eingangstor, direkt über den Kopf eines grimmig aussehenden Drachen. Das würde dem neuen Schliff nicht gerade gut bekommen, doch er hatte jetzt keine Zeit sich auch noch darum zu kümmern.

Leichtfüßig landete er auf dem hervorstehenden Griff, packte die eisenbeschlagene Oberseite der Pforte und schwang sich hinauf. Dann ließ er sich wie ein Kind an einer Turnstange über Kopf zurück fallen und zog sein Kurzschwert aus dem splitternden Holz, wobei er sich nicht darum scherte, dass sich nun ein tiefer Spalt durch die kunstvolle Tür zog.

Unter ihm blickten sich die beiden Wachposten verwirrt um. Keiner von ihnen schien mitbekommen zu haben, wohin der seltsame Hund verschwunden war, so sehr waren sie damit beschäftigt gewesen, einander wieder zu entwirren und zu sortieren.

"Nächstes Mal bitte etwas sanfter", murrte Löwenzahn, während Rumo sich mit dem Schwert in der Hand aufgerichtet hatte und nun auf der Oberkante der etwa dreißig Zentimeter dicken Pforte balancierte. Er gab seinem körperlosen Freund das halbherzige Versprechen, in dem besten Wissen, dass er sich ohnehin nicht daran halten würde, und schloss die Augen, um besser Witterung aufnehmen zu können.

Vor ihm schlängelte sich eine mit grobem Kopfsteinpflaster ausgelegte Straße zwischen Felsen und liebevoll gebauten Steinhäusern hindurch den Berg hinauf. Viel mehr konnte er jedoch nicht erkennen, denn der schwere Geruch des dichten Rauches hatte sich wie ein Tuch über die Behausungen und kleinen Lärchen der Lindwürmer gelegt und vernebelte ihm als hässlich grauer Dunstschleier die Sicht. Ein paar Echsen waren verwundert aus ihren Behausungen und Höhlen getreten und blickten nun fragend in die Richtung, aus der der orange-rote Schein lodernder Flammen zu sehen war. Die meisten Schreiberlinge hatten sich jedoch ganz offensichtlich nicht in ihrer abendlichen Ruhe stören lassen, sodass sich der allgemeine Tumult in überschaubaren Grenzen hielt.

Niemand schien den fremden Wolpertinger zu bemerken, der sich als unheimlicher Schatten vor dem nachtschwarzen Himmel abzeichnete, die Schnauzen der Quelle des flackernden Lichtes zugewandt.

Rumo selber konnte das nur Recht sein. Die meisten Lindwürmer waren um einiges größer und wesentlich kräftiger gebaut als er selbst, zwei dieser Exemplare, die ihm im Wege gestanden hatten, waren mehr als genug gewesen.

Nachdem er sich einen ausreichenden Überblick über die nähere Umgebung verschafft hatte, ließ er sich mit einer geschmeidigen Bewegung von dem hohen Tor hinab gleiten und landete sanft in einem nahen Gebüsch. Dort klemmte er sich Löwenzahn zwischen die Zähne, sank hinab auf alle vier Pfoten und schloss erneut die schwarzen Augen. Sofort verschwand die finstere Nacht um ihn herum und wich dem bekannten bunten Farbenmeer.

Zeit für ein wenig Action.

So schnell wie ihn seine kräftigen Läufe trugen, schoss Rumo aus seinem Versteck, vorbei an den in die Luft starrenden Lindwürmern, über rote und schwarze Dachschindeln - Farben, die für ihn keinen Unterschied machten - durch liebevoll angelegte Steingärten und Gemüsebeete und über diverse Mauern hinweg, die allerdings kaum höher waren als ein durchschnittlicher Tisch.

Er wusste nicht, was die Urzeitechsen mit unliebsamen Eindringlingen machten, doch die Zeit, dies Auszuprobieren, konnte und wollte er nicht erübrigen. Je weniger die schwerfälligen Gestalten von seinem Besucht mitbekamen, desto besser.

Etwa zweihundert Meter weit führte die gepflasterte Straße an der Außenwand der Lindwurmfeste entlang, dann gabelte sie sich und eine Abzweigung verschwand im inneren des Berges, während der andere Teil sich offenbar ein paar Schritte weiter auf einem größeren Platz verlor.

Rumo beschloss, sich ein weiteres Mal umzusehen, und kam schlitternd vor einem kleineren Holzschuppen in einem der sorgsam angelegten Gärten zum stehen. Kleine Steine begannen unter seinen Halt suchenden Pfoten zu rollen und ließen ihn kurz taumeln, bis er schließlich ein hervorstehendes Brett fand und sich daran hoch zog. Erneut kontrollierte er seine Umgebung. Noch immer war er unbemerkt, alles um ihn herum war still und regungslos, sah man von den Vögeln ab, die, irritiert von den Flammen, wild schreiend durch die Gegend flogen.

'Diese Lindwürmer haben ein ernstliches Sicherheitsproblem', dachte Rumo und drehte sich milde lächelnd um, um sich den Eingang in das Innere der Feste näher anzusehen.

Womit er nicht gerechnet hatte, war der kleine, schlaftrunkene Junge in purpurfarbener Nachtrobe, der soeben auf der suche nach etwas Trinkbarem aus der Hintertür des kleinen Hauses seiner Eltern getapst war und nun mit großen Kinderaugen den seltsamen Gast anstarrte, der sich verdächtigerweise an ausgerechnet jenen kleinen Holzschuppen klammerte, in dem er sein Spielzeug aufbewahrte.

Das Lindwurm-Junges war eine groteske Mischung aus Flugsaurier und etwas, was Rumo beim besten Willen nicht zuordnen konnte, definitiv zu schwer für sein Alter und trug mehr Schmuck an seinem unförmigen Körper, als gut für ihn gewesen wäre. Von seinem reich verzierten Kragen baumelte ein Monokel wie von anderen Kinderpyjamas ein Schnuller und aus seiner Tasche lugten Pergament und Feder. Das Perfekte Klischee.

Sekundenlang geschah gar nichts. Der Junge starrte Rumo an und Rumo starrte zurück.

Gerade als er eine Pfote zum Maul heben und dem Kind Ruhe bedeuten wollte, änderte sich die Situation jedch schlagartig. Der Kleine stolperte einige Schritte zurück, drehte sich dann um und watschelte ungeschickt und ohne Rücksicht auf Verluste in der Gartendekoration zurück ins schützende Haus. Dabei begann er wie am Spieß zu schreien.

"Eindringling!", brüllte er mit schrecklich schriller Stimme. "Eindringling! Er will mich auffressen!"

Das fand Rumo nun doch etwas unfair. Er hatte noch nie etwas gefressen, was nicht schon mindestens zehn Minuten tot war und hatte es auch in naher Zukunft nicht vor… vorausgesetzt das Kind hielt bald die Klappe.

Doch das Schicksal schien andere Pläne mit ihm zu haben. Gemeinere Pläne.

Nur Sekunden nachdem die Schreie des kleinen Lindwurms hinter den Mauern seines Hauses verklungen waren, brach in der gesamten Umgebung die Hölle los. Was das ferne Feuer nicht hatte bewirken können, schaffte das hysterische Gebrüll eines Kindes in wenigen Sekunden. Um Rumo herum wurden Türen aufgerissen und Fackeln angezündet, Schwerter gezückt und die obligatorischen Mistgabeln erhoben. Lindwürmer in seidenen Nachtgewändern und schwerer Abendkleidung stoben aus ihren Häusern, die Brillen und Monokel schief auf den Echsennasen und nicht selten noch mit Buch oder Feder in der Hand.

Rumo wich zurück soweit er konnte, bis er mit dem Rücken gegen die Holzwand des Schuppens stieß. Zu spät fiel ihm auf, dass er Löwenzahn noch immer zwischen den spitzen Zähnen trug. Dass er damit auf die nahende Lindwurm-Meute keinen wirklich guten Eindruck machte, verstand sich eigentlich von selbst, und er bereute es sogleich zutiefst, denn einige der größeren Männchen mit ihren Reptilienzügen und Klauen bewährten Pranken sahen verdammt wütend aus.

'Smeik', rief er in Gedanken. 'Du hast mir gesagt, diese Echsen seien alle weichgespülte Dichter-Snobs! Die sehen aber bei näherer Betrachtung gar nicht so harmlos aus!'

Grinzold lachte. Natürlich. "Weicheier oder nicht, wir machen sie platt."

"Hast du gesehen, wie viele das sind?", kreischte Löwenzahn. "Das müssen mindestens hundert sein, wenn nicht sogar mehr."

Der Stollentroll übertrieb maßlos, so viel war sicher. Nach Rumos Schätzung waren es höchstens vierzig Lindwürmer, die ihm nun unangenehm dicht auf den Pelz rückten, doch auch das war mehr als genug. Ein tiefes Grollen ging von der aufgebrachten Gruppe aus, die angeführt wurde von eben jenem kleinen Jungen, der ihn vor wenigen Sekunden verraten hatte.

Rumo hasste ihn.

Er hatte zwar immer noch keinen Schimmer, was die Schriftsteller schlimmstenfalls mit ihm anstellen würden, doch nach den hoch erhobenen Waffen jeglicher Art zu urteilen - ein Weibchen in knallig roter Schürze hatte allen Ernstes ein Nudelholz auf den potentiellen Feind gerichtet - waren sie tendenziell eher unfreundlich eingestellt. Keine wirklich gute Basis für eine zivilisierte Diskussion, selbst wenn das Rumos stärke gewesen wäre. Doch das bekanntermaßen nicht der Fall.

"Ähm… hört mal…", begann er dennoch probeweise, nachdem er sein Schwert ausgespuckt hatte, und strich sich verlegen über den Hinterkopf. Leider hätte er wohl ebenso gut mit einem Stein reden können, denn die Lindwürmer zeigten sich völlig unbeeindruckt.

Diese waren inzwischen auf etwa zehn Meter herangerückt, sodass Rumo trotz des diffus flackernden Fackelscheins einzelne Rassen erkennen konnte. Er wusste sie nicht alle zu benenn, doch dass sie gefährlich aussahen erschien ihm in diesem Moment so oder so die wesentlichere Information zu sein. Ganz an der Spitze des Trupps drängten sich zwei Männchen mit Langschwertern, die ein wenig an die beiden Wachposten erinnerten, wenngleich sie keine Rüstung, sonder lange Roben aus lila Samt trugen, die ihre massige Körper wie Togen umhüllten. Die Schwerter funkelten und reflektierten das unheimliche Licht, sodass sie beinahe lebendig wirkten und das tiefe, kehlige Knurren ihrer Besitzer tat sein übriges dazu, den sonst so kampfeslustigen Wolpertinger hörbar schlucken zu lassen.

"Komm schon, knickst du etwa ein?", provozierte Grinzold unverhohlen und lachte böse. "Löwenzahn hat sich übrigens mal wieder verabschiedet. Jetzt sag mir bitte nicht, dass du es dieser Memme gleich tun willst. Wir werden doch kämpfen, oder?"

Rumo sah sich um. Kämpfen oder nicht kämpfen, das war hier die Frage, und auch wenn das auf den ersten Blick nicht gerade hochphilosophisch erschien, war es in dieser Situation doch ein erschreckend essentielles Problem. Vor ihm bauten sich etwas über vierzig Lindwürmer auf, die alle durchschnittlich einen Kopf größer und um einiges breiter waren als er. Noch dazu waren sie besser bewaffnet und hatten sicherlich nicht vor wenigen Tagen eine Operation an der Wirbelsäule hinter sich gebracht. Die Antwort ergab sich aus diesen Fakten also quasi von selbst, zwar hätte er sicherlich ein Paar von ihnen ausschalten können, doch ein Paar reichten eben nicht, wenn man sich einer ganzen Meute gegenüber sah.

Ihm blieb also nur noch die Flucht.

Leider fiel Rumo erst jetzt auf, dass es wohl oder übel eine Flucht nach vorne werden würde, da sich hinter ihm der Schuppen und wiederum dahinter die raue Felswand auftürmte. Rechts von ihm lag der Höhleneingang, doch der war unerreichbar, da von einer Legion rasender Urechsen blockiert, und auch zu seiner Linken gruppierten sich die Schriftsteller.

Der Wolpertinger hatte so eine Ahnung, dass Reden nun nicht mehr wirklich angebracht war. Stattdessen verlagerte er sein Gewicht unmerklich auf den hinteren Fuß und hob sein halb bewusstloses Schwert.

Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig.

Zum einen stieß sich Rumo mit aller Kraft vom Boden ab und schnellte auf die Horde Gegner zu, so schnell, dass diese davon eigentlich nichts hätten mitbekommen dürfen.

Zum anderen brüllte unglücklicherweise genau in dieser Sekunde eines der führenden Männchen der Gruppe: "Tötet ihn!" (Aha, das machte man hier also mit Eindringlingen. Nicht gerade zimperlich, diese Viecher!), woraufhin etwa vier Dutzend Dinosaurier ihre Schwerter, Klauen und Nudelhölzer in die Luft rissen und auf den unglücklichen Wolpertinger losgingen, wie ein Rudel Wölfe auf ein Stück Fleisch.

Rumo spürte den Luftzug, als die erste Lanze über ihm durch die Luft sirrte, und sah den Stahl der zweiten auf sich zu rasen, sodass ihm gerade noch die Zeit blieb, sich zur Seite zu neigen. Schwerter zuckten an ihm vorbei wie kleine, silberne Kolibris, Äxte zerteilten die Luft über seinem Kopf und einmal sah er sogar das Nudelholz an seinem linken Auge vorbei rauschen. Er duckte sich, wand und bog sich, um den wild umher schlagenden Waffen und Klauen auszuweichen, Grinzold parierte nach Leibeskräften, doch in all dem Tumult verlor er schon bald den Überblick. Das einzige, was er wusste, war, dass er weg wollte, weg musste, sich einen Pfad durch die Menge schlagen würde und dann…

Ja, und dann?

Wo würde er sich verstecken? Das hier war die Lindwurmfeste, gab es hier überhaupt irgendeinen sicheren Ort?

Rumo zögerte eine Sekunde lang und das war sein Fehler. Eine Keule sauste auf ihn hernieder wie ein Henkersbeil, zielte genau auf den empfindlichen Punkt zwischen seinen Augen. Aus irgendeiner seltsamen Laune der Natur heraus konnte er in den letzten Zehntelsekunden vor dem niederschmetternden Aufprall fast irreal deutlich die kunstvolle Verzierung der Waffe erkennen, die sich vom Kopf in langen, geschwungenen Linien den Schaft hinunter zog und hier und dort mit einigen spitzen Dornen gespickt war.

Das würde wehtun, vermutete Rumo, und ein hysterisches Kichern entfuhr ihm.

Nicht sehr männlich.

Doch seltsamerweise tat es nicht weh, ganz und gar nicht. Es war vielmehr so, als hätte jemand urplötzlich alle Lichter um ihn herum ausgelöscht, nur dass ihm diese Mal auch seine Nase nicht weiterhelfen konnte.

Rumo sank zum wiederholten Male innerhalb weniger Tage zu Boden, nur noch imstande einen einzigen klaren Gedanken formulieren. Und der war nicht gerade optimistisch.

'Ich werde sterben', dachte er seltsam emotionslos. 'Dieses Mal habe ich es zu weit getrieben. Ich werde sterben.'

Dann verschwand die Welt um ihn herum.
 

Das erste, was Rumo sah, als er wieder zu sich kam und einem ersten Reflex folgend die Augenlieder hob, waren große, reptilienartige Kinderaugen.

Es reichte, um ihn sofort wieder Schutz in allumfassender Dunkelheit suchen zu lassen.

'Schade', sinnierte noch halb umnachtet. 'Hat wohl doch nicht für den Himmel gereicht. Was soll's. Hölle kann auch ganz nett sein.'

Dann setzte der Kopfschmerz ein.

Rumo schrie auf und begann wild um sich zu schlagen, so jäh und unerträglich zuckten die Schmerzen durch seinen gesamten Körper, schienen ihm den Schädel zu spalten und jegliche Sinne zu rauben, bis er blind und taub war, leider aber nicht ohne Gefühl. Er wollte losrennen, wollte einfach nur weg, doch irgendetwas hielt ihn zurück, irgendetwas hatte seine Handgelenke gepackt und ließ ihn nicht gehen.

Ihm wurde schlecht und er erbrach sich auf den Fußboden.

"Iiieehh", klang eine Kinderstimme von fern an sein Ohr.

Rumo spürte, wie sich sein Herzschlag langsam beruhigte, ein schwacher Trost, bedachte man die Tatsache, dass er sich nicht bewegen konnte. Sobald er seine Hinterpfoten auch nur um einen Schritt versetzen wollte, war da sogleich wieder dieser unangenehme Druck an seinen Armen.

Und etwas rasselte.

'Ketten', dachte Rumo. 'Sie haben mich mit Ketten an beiden Handgelenken gefesselt.'

Er war wohl immer noch die Bestie und die anderen die Guten.

Aber wo waren die anderen?

Und wo war er?

Er musste seine Augen wieder öffnen und sich umsehen, soviel war klar, zuvor allerdings sollte er sich einen groben Überblick über seine derzeitige persönliche Lage verschaffen.

Er stand, oder befand sich zumindest in einer halbwegs aufrechten Haltung, das wusste Rumo, weil das Übergeben vor wenigen Sekunden sonst um einiges übler ausgegangen wäre. Allerdings war ihm auch klar, dass er sich wohl kaum aus eigener Kraft auf den Beinen hielt, dazu wäre zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht imstande gewesen. Folglich hielt ihn irgendetwas fest, und dieses etwas mussten die Ketten an seinen Handgelenken sein. Der Kopf war ihm auf die Brust gesackt und hinter sich konnte er eine kalte Steinwand spüren, in die aller Wahrscheinlichkeit nach die Enden seiner Eisenfesseln eingelassen waren, das zumindest ließ sich aus der geringen Bewegungsfreiheit schließen.

Zusammengefast hing er also in irgendeinem Raum im Inneren der Lindwurmfeste - denn das war anzunehmen - an beiden Armen gefesselt an einer Wand wie ein nasser Sack und hatte sich soeben vollgekotzt.

Wundervoll.

Rumo widerstand jedem Impuls an Ort und Stelle vor Scham und Kopfschmerz zu sterben und öffnete langsam beide Augen, immer gefasst auf das Schlimmste, was auch immer das sein mochte.

Vor ihm stand leider immer noch dieses Kind - es war lediglich ein paar Schritte zurück getreten um dem Schwall Erbrochenem auszuweichen - dahinter erstreckte sich ein karger, teils aus dem Fels gehauener, teils verklinkerter Raum, dessen einzige Beleuchtung ein riesenhafter Kronleuchter mit mindestens fünfzig Kerzen darstellte, der an einer verrosteten Eisenkette von der grob verarbeiteten Decke hing. Alle Kerzen waren entzündet; trotzdem war das Licht nur diffus und warf geisterhafte Schatten an die niedrigen Wände.

Rumo sah sich so gut wie möglich um. Es befanden sich noch weitere Lindwürmer im Raum: Zwei große Männchen in der gleichen Kleidung, wie sie auch die Wachposten vor dem Tor getragen hatten, standen zu beiden Seiten eines schmalen Durchgangs, der zu seiner Linken in einen offenbar noch spärlicher beleuchteten Tunnel führte. Ihnen genau gegenüber befand sich eine Art Holztribüne, auf der noch einmal etwa zwanzig Exemplare platzgenommen hatten, und dann war da noch ein kleines Rednerpult am anderen Ende der Kammer, hinter dem eine besonders große und kräftige Echse Stellung bezogen hatte.

Der kleine Junge vor ihm kam nun wieder näher und betrachtete ihn misstrauisch von allen Seiten. "Er ist wach", verkündete er schließlich und ließ es sich nicht nehmen hinzuzufügen: "Und er stinkt."

Aus dem Schatten einer Ecke trat ein seltsam dürrer Lindwurm, den Rumo zuvor noch nicht bemerkt hatte. Er legte dem Kind eine Pranke auf die Schulter und schob ihn sanft von dem Gefangenen weg. "Vielen Dank, Horatio. Du kannst jetzt gehen."

Horatio schien diese Ansicht zwar nicht zu teilen, doch ein kurzer, scharfer Blick des Erwachsenen genügte und der Junge tollte sich schmollend aus der Höhle.

Jetzt baute sich der Lindwurm vor Rumo auf. Trotz seiner vergleichsweise geringen Körpergröße war er immer noch um einige Zentimeter größer als der halb ohnmächtige Wolpertinger vor ihm, und die Autorität, die er ausstrahlte, hätte ausgereicht, um eine ganze Horde Wrahoks zu kontrollieren.

"So, du bist also der dreiste Kerl, der sich in unsere Feste geschlichen hat, um uns unserer Geheimnisse zu berauben. Dachtest du wirklich, dass du damit durchkommst? Etwas so Dämliches habe ich selten erlebt."

Rumo bemühte sich um eine möglichst würdevolle Haltung, was nicht ganz einfach war, wenn einem die Hände über dem Kopf gefesselt waren und man nach Erbrochenem roch.

"Bitte", presste er mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Vor seinen Augen begannen die Farben wieder zu verschwimmen und er befürchtete, bald wieder das Bewusstsein zu verlieren. "Hört mich an. Es war nie mein Plan, euch zu bestehlen."

Doch der Lindwurm fiel ihm ins Wort. "Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Du hattest nicht vor uns zu bestehlen? Was hattest du dann vor, als du mit einem Schwert zwischen den Zähnen unser Junges bedroht hast? Wolltest du einfach nur töten?"

Rumo setzte beide Hinterpfoten auf den Boden versuchte etwas Gewicht von seinen schmerzenden Handgelenken zu nehmen, doch er taumelte und sank sogleich zurück in die stützenden Ketten. "Nein! Nein, das wollte ich nicht. Ich…" Es fiel ihm immer schwerer die Konzentration zu wahren, die Ohnmacht tastete mit langen Fingern nach ihm und drohte ihn in ihre schwarze Umarmung zu ziehen. "Ich muss zu… zu diesem Typen..."

Er hatte den Namen vergessen.

"Oho!", rief sein Gegenüber aus. "Der feine Herr muss zu diesem Typen. Also das tut mir jetzt aber Leid dir das sagen zu müssen, mein Lieber, aber dieser Typ ist gerade an diesem Ort sehr weit weg von hier, und da sollte man ihn bei diesen Dingen, die er dort tut, wirklich nicht stören. Sonst wir dieser Typ nämlich ziemlich sauer, weißt du?"

Alle Anwesenden mit Ausnahme von Rumo lachten.

Dann schwang die Stimmung von einer Sekunde auf die andere um. Das Gelächter verstummte wie auf ein unsichtbares Zeichen hin und die Züge des Lindwurms wurden eiskalt. "Werft den Eindringlich in das Verließ. Er wird schon sehen, was er davon hat, mich zu belügen."

Die beiden Wachposten am Tunneleingang verließen ihren Posten und kamen mit gesenkten Lanzen auf Rumo zu, die Mienen wie aus Stein gemeißelt. Einer von ihnen zog einen Verrosteten Schlüsselbund aus einer Tasche in seinem Untergewand und löste die Ketten, an die man den Wolpertinger gefesselt hatte, aus ihren Verankerungen in der Wand.

Rumo fiel hinunter auf alle Viere und erbrach sich erneut. Sein Kopf fühlte sich an, als bearbeite ihn jemand mit einem Vorschlaghammer.

Dann wurde unsanft nach seinen Armen gegriffen und er hörte Handschellen hinter seinem Rücken einrasten, bis er sich kaum noch bewegen konnte. Jemand packte den Kragen seiner Lederjacke und zerrte ihn rücksichtslos auf die wackeligen Beine, sodass er wankend wie ein Betrunkener stehen blieb.

Wo sind meine Tasche und mein Schwert?, wollte Rumo fragen, doch alles, was herauskam, waren "…sche…" und "…schert…", nicht mehr als sinnloses Gebrabbel.

Gerade als ihn jemand an den Schultern fasste und sich anschickte, ihn in den Tunnel hinaus zu stoßen, ertönte aus diesem ein Lauter knall wie von Metall, das gegen Holz schlägt, und wenige Sekunden später stürmten zwei Gestalten wie von bösen Geistern verfolgt in den Raum, wo sie schließlich direkt unter dem Kronleuchter zum Stehen kamen.

Rumos Sehfähigkeit hatte sich mittlerweile so weit verschlechtert, dass er nur noch grobe Umrisse und Farben wahrnehmen konnte, dennoch erkannte er in der wesentlich Größeren der beiden Personen einen Lindwurm. Die Kleinere war zierlich und aus irgendeinem seltsamen Grund blau…

Es dauerte eine Weile, bis Rumos lädiertes Gehirn Eins und Eins zusammenzählen konnte. Dann endlich fiel der Groschen und er fühlte sich mit einem Mal wieder deutlich besser. Blaubär! Es konnte niemand anderes sein als Blaubär. Es durfte niemand anderes sein!

"Hände weg von dem Wolpertinger", donnerte eine Stimme durch den kleinen Raum. Es war ein klangvoller Bass, allerdings nicht ohne eine gewisse Schärfe im Unterton, der die gesamte Kammer von Boden bis zur Decke auszufüllen schien und jeden im Umkreis verstummen ließ. "Der Junge kommt mit mir!"

Wieder wurde Rumo am Kragen gepackt, doch dieses Mal hatte er das unbestimmte aber dennoch gute Gefühl, dass er nichts weiter zu befürchten hatte. Ruhe machte sich in ihm breit und er entspannte sich ein wenig, während er aus der Kammer heraus und den dunklen Tunnel hinunter geführt wurde. Zwar schmerzte sein Kopf nach wie vor, doch er hatte nicht mehr das Gefühl, sich jede Sekunde übergeben zu müssen. Das war gut.

Jemand nahm ihn huckepack, trug ihn eine lange Wendeltreppe hinauf und mehrere Gänge entlang, um endlose Ecken und durch die unterschiedlichsten kleinen und großen Höhlen und Zimmer. Längst hatte er jegliche Orientierung verloren - wenn er hier jemals wieder aus der Lindwumfeste heraus kommen wollte, wäre er mit einem Freund oder Verbündeten Einwohner gut beraten, so viel war sicher.

Plötzlich tauchte Blaubärs Gesicht in Rumos eingeschränktem Blickfeld auf, es schien zu schweben, vor seinen Augen zu tanzen und verwirrte ihn.

"Was hast du dir nur dabei gedacht?"

Die Stimme kam von weit her und hallte unangenehm in Rumos Gedanken nach, sodass er sich wünschte, sich die Ohren zuhalten zu können. Wieso, um alles in Zamonien, hielt man ihm gerade jetzt eine Strafpredigt?

"Ich habe dir doch gesagt, dass ich das alleine mache. Warum rennst du mir dann bitte schön hinterher? Kennst du denn nicht all die Legenden, die man sich erzählt? Keiner hat je die Lindwurmfeste eingenommen. Ganze Armeen sind gescheitert. Wieso also glaubst ausgerechnet du, dass du es schaffen könntest? Du bist verrückt, mein Lieber, soviel kann ich dir verraten."

Rumos Gehirn konnte nicht mehr und tat folglich das, was jedes überforderte Gehirn in dieser Situation machen würde: Es quittierte den Dienst.

Sein Kopf sank hinab und Blaubärs Gesicht verschwand.
 

Jemand legte ihm einen nassen Lappen auf die Stirn, eine an sich kleine Handlung, doch für Rumo hätte es in diesem Moment nicht Größeres geben können. Das Gefühl des kühlen Stoffs auf seinem schmerzenden Kopf war einfach unglaublich, war wie ein lebensspendendes Getränk nach Stunden des Durstes, war der rettende Sonnenstrahl nach langer Nacht, das Licht am Ende des Tunnels.

Er fühlte sich gut.

Im Vergleich zu vorher sogar geradezu fantastisch. Ihm war nicht mehr schlecht und auch die Kopfschmerzen waren erträglich geworden, das allein reichte schon, um in Rumo ein selten gekanntes Gefühl der Entspannung hervor zu rufen.

Er öffnete die Augen.

Blaubär stand über ihn gebeugt und tauchte ein weißes Stofftaschentuch mehrmals in eine Schale mit klarem Wasser, bevor er es auswrang und seine Weggefährten zu dem anderen Tuch auf die gehörnte Stirn legte. Sein Blick war besorgt, die Augen wanderten unruhig über Rumos Gesicht, als suchten sie nach Anzeichen für Schmerz oder sonstige Zustandsveränderungen. Als er sah, dass der Wolpertinger erwacht war, stellte er die Schale auf einen hölzernen Tisch neben dem Bett, auf dem dieser ausgesteckt lag.

"Beweg dich nicht", befahl er. "Du hast eine ziemliche Gehirnerschütterung. Und nachdem du bereits den gesamten Verhandlungssaal voll gekotzt hast, möchte ich dich doch bitten, dich hier etwas zusammen zu reißen. Das ist gesünder für uns alle, glaube mir." Er schüttelte sich kurz und verzog das Gesicht.

Rumo lächelte müde, verkrampfte sich allerdings sofort wieder, als ein mächtiger Schatten über sein Bett fiel.

Der Ursprung dieses Schattens war ein Lindwurm, einer von der riesigen Sorte, mit arrogantem Blick und missmutig nach unten gezogenen Mundwinkeln. Er sah ein wenig aus wie ein aufrecht gehendes Krokodil, nur wesentlich fetter und mit verkümmerten Flügeln auf dem Rücken, die wohl kaum zum fliegen geeignet waren. Als Bekleidung trug er ein lilafarbenes Gewand, dazu eine überdimensionale Halskrause und vor seinem Rechten Auge funkelte ein Monokel im Schein der im Raum verteilten Kerzen.

"Rumo", sagte Blaubär beinahe feierlich, "das ist Hildegunst von Mythenmetz, der berühmteste und erfolgreichste Schriftsteller Zamoniens."

Rumo war erleichtert, sehr erleichtert sogar. Und er freute sich, auch wenn er das aufgrund des Bewegungsverbotes kaum zum Ausdruck bringen konnte.

Dann begann Mythenmetz zu sprechen und Rumo erkannte den gleichen sonoren Bass, den er auch schon im Verhandlungssaal gehört hatte.

"Und das ist also einer der legendär dämlichen Wolpertinger?" Zu Blaubär gewandt: "Ist dieser hier zivilisiert oder wild? Ich kann da nie wirklich einen Unterschied erkennen… "

Auf einmal freute sich Rumo ganz und gar nicht mehr. Dieser Schrifsteller war ein affektierter Mistkerl!

"Äh… der ist zivilisiert…" erklärte Blaubär leicht verwirrt, doch Mythenmetz redete weiter, ohne ihm Beachtung zu schenken.

"Ich kann wirklich nicht verstehen, warum Nachtigaller dir ausgerechnet so jemanden als Leibwächter mitschickt… wobei, als stupider Schlägertyp eignet er sich sicher einwandfrei. Wie auch immer…" Er drehte sich um und griff nach einem Kerzenleuchter, der auf einem Regal an der Wand gestanden hatte. "Sieh zu, dass er sich ordentlich ausschläft. Morgen früh ziehen wir los, ich will keine Zeit verlieren."

Damit verschwand er.

"Sympathisch", brachte Rumo mühsam hervor und schloss die Augen wieder. Er fühlte sich zwar besser, war aber dennoch ziemlich müde.

Blaubär setzte sich dem Geräusch nach zu urteilen auf einen Stuhl, den er zuvor aus einer der Ecken des Zimmers gezogen hatte. "Mach dir nichts draus. Er kann uns wirklich helfen, der Professor hatte Recht."

"Wie?"

"Zunächst einmal solltest du wissen, dass ich ihm gesagt habe, dass ich die Formel für Nachtigaller suche und dieser mir dich als Leibwächter mitgeschickt hat, um mich zu bewachen. Er war zwar am Anfang ziemlich skeptisch, aber ich glaube, ich konnte ihn überzeugen."

Rumo nickte vorsichtig. "Okay."

"Und dann hat er mir von diesem Buch erzähl, das Gofid Letterkerl vor vier Jahren geschrieben haben soll. Darin geht es angeblich um einen alten Alchemisten und seinen Schüler namens Spiegel. Das ist zwar offiziell ein Märchen, aber Mythenmetz behauptet, es könnte doch etwas dran sein. Auf jeden fall soll dieser Spiegel das Geheimnis kennen. Und wenn wir ihn finden, können wir ihn danach fragen."

Wieder ein Nicken von Rumo. Das klang alles recht positiv, bis auf eine Ausnahme: "Wo müssen wir hin?", fragte er leise. "Und vor allem, wie weit ist es? Wie viel Zeit habe ich überhaupt verschlafen?"

Blaubär schwieg kurz. "Du warst nicht lange weg, beide Male nur eine Stunde oder zwei, das ist kein Problem."

Rumo erlaubte sich noch einmal den Luxus erleichtert zu sein.

"Und was unsere weitere Reise betrifft: Das Buch spielt in einer Stadt namens Seldwyla, aber so einen Ort gibt es in Zamonien nicht. Mythenmetz meinte daher, dass es sich eventuell um die Stadt Sledwaya handeln könnte, die an der südlichen Küste liegt. Drei bis vier Tagesmärsche von hier, wenn wir uns beeilen. Mythenmetz hat sich bereit erklärt uns zu begleiten, er erhofft sich irgendeine Sensationsstory oder so etwas, wenn er die Wahrheit hinter Letterkerls Buch erfährt..."

Er gähnte. "Also ich denke, es ist auf jeden Fall einen Versuch wert. Was haben wir schon zu verlieren? Mit weniger als nichts können wir nicht zurückkehren."

Das war richtig wie man es auch drehte und wendete. Dennoch gab es noch etwas, das Rumo auf dem Herzen lag.

"Werde ich überhaupt reisen können?" Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, so erschöpft war er inzwischen.

Blaubär lachte. "Du wirst dich morgen so fit fühlen wie schon lange nicht mehr. Was der Alte alles in deine Blutbahn gepumpt hat, war schon nicht mehr feierlich. Der hat eine ganze Apotheke hier in seinen Höhlen versteckt, das gebe ich dir schriftlich. Trotzdem solltest du dich heute Nacht gut ausruhen. Dein Schwer und deine Tasche stehen neben dem Bett, falls du sie suchst."

Rumo hörte, wie Holz über rohen Stein schabte, als der Buntbär sich erhob. Mühsam hob er eine Pfote und öffnete die Augen. Sein Weggefährte schickte sich so eben an, die kleine Kammer durch dieselbe Tür zu verlassen, durch die auch Mythenmetz verschwunden war.

"Warte", krächzte der Wolpertinger mit letzter Kraft. "Wohin gehst du?"

Blaubär lachte "Schlafen, was denkst du denn? Wieso? Ist noch etwas?"

Da war in der Tat noch etwas. "Nur kurz", flüsterte Rumo. "Sag mir kurz, was ist aus dem Feuer geworden? Was war da los?"

Wieder lachte Blaubär, dieses Mal lauter. "Was das war? Mythenmetz war das. Er hat in einem Wutanfall seine gesamte Bibliothek in Brand gesteckt. Gott sei dank konnten wir nachher zusammen einen Großteil der Bücher retten. Trotzem - da haben Millionen Pyras gebrannt, soviel ist sicher."

Darauf fiel Rumo beim besten willen keine Erwiderung ein. Was hätte man dazu auch schon sagen sollen?

Stattdessen fragte er: "Und wie bist du hier reingekommen? Die Wachen haben mir gesagt, sie hätten dich nicht gesehen?"

Aus dem Lächeln wurde ein verschlagenes Grinsen. "Rumo. Dies ist die Lindwurmfeste. Glaubst du ich bin so blöd und versuche hier einfach durch den Haupteingang zu spazieren? Da bevorzuge ich dann doch die etwas diskretere Variante, wenn du verstehst."

Rumo verstand nicht und er holte Luft, um nachzufragen, doch der Buntbär schnitt ihm das Wort ab.

"Und jetzt schlaf. Du hast Mythenmetz gehört, morgen in aller Frühe brechen wir auf."



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück