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Jack Weaver - Die Prähistorischen Sechs

von

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Alltag

Alltag
 

Drei Tage zuvor:
 

Jack fühlte wie warmes Blut aus seiner Nase floss. Der Schmerz in seinem Gesicht war wie eine spitze Nadel, die sich langsam in sein Gehirn bohrte. Das Blut rauschte durch seinen Körper und hinterließ ein schrilles Klingeln in seinen Ohren.

Doch er wich auch dem nächsten Schlag nicht aus. Sein Gegenüber rammte ihm die Faust mitten auf das rechte Auge und diesmal verlor er das Gleichgewicht. Mit einem dumpfen Prall landete er auf dem gepflasterten Boden auf dem verlassenen Hinterhof der Schule. Eine Sekunde später war die Luft von lautem Gelächter erfüllt. Neben Jack wimmerte eine ängstliche Person: Jonas.

„Jack, alles in Ordnung?“, fragte er heiser.

Ein Fuß trat Jack mit aller Wucht in den Magen.

„Steh auf, du Loser. Tust immer so cool und verlierst schon nach zwei Schlägen das Bewusstsein. Du bist echt sone Pussy.“, sagte sein Peiniger selbstsicher und seine zwei Gefährten lachten aus sicherer Entfernung wieder auf.

Jack beschloss dass es vermutlich besser wäre einfach still liegen zu bleiben. Er hatte schon genug eingesteckt. Sein Gesicht schmerzte als hätte es jemand mit einem Dampfhammer bearbeitet. Vielleicht war seine Nase gebrochen. Er spürte, dass immer noch warmes Blut heraus floss und sein ganzes Gesicht verklebte. Der Tritt in den Magen war auch nicht von schlechten Eltern gewesen.

Vielleicht zogen sie ja einfach davon, wenn sie merkten, dass er völlig fertig war.

Doch natürlich taten sie das nicht.

Der Anführer der Bande, sein Name war Arko, setzte seinen rechten Turnschuh auf Jacks Brust wie ein Jäger, der erfolgreich ein Beutetier erlegt hatte. Er grinste auf ihn herab, wobei ein Plastikdiamant aufblitzte, den er sich auf einen seiner Zähne hatte kleben lassen.

„Wie kann man nur so ein verdammter Loser sein?“, flüsterte Arko mehr zu sich selbst als zu jemand anderen.

„Na gut, wenn du nicht mehr kämpfen willst, dann muss jetzt eben doch dein kleiner Freund dran glauben.“

„Nein!“, schrie Jonas entsetzt.

Ein kleiner Wink mit dem Finger genügte, damit sich Arkos beiden Schläger in Bewegung setzten. Grinsend und spielerisch mit den Fingern knackend gingen sie auf Jonas zu. Jack sah aus dem Augenwinkel wie sein Kumpel vor Angst zitterte und leise wimmerte. Jonas würde sich nicht wehren und noch schlimmer hingerichtet werden wie er.

„Wartet.“, sagte Jack ruhig und regte sich nun wieder. Arko grinste und bedeutete seinen beiden Schlägern still zu stehen.

„Ja?“, sagte er dann vergnügt.

„Lasst ihn in Ruhe.“, antwortete Jack mit fester Stimme. Er machte Anstalten aufzustehen und Arko ließ ihn gewähren. Jack brauchte einen Moment länger um sich aufzurichten. Sein Gleichgewichtssinn spielte verrückt, doch letztendlich gelang es ihm.

Er tat so als hätte er keine Schwierigkeiten gerade zu stehen und steckte seine Hände lässig in die Hosentasche. Arkos Grinsen wurde immer breiter. Anscheinend ging ihm bei diesem Anblick das Herz auf.

„Seht euch das an, Jungs. Der große starke Jack Weaver opfert sich um seinem geliebten Schwuchtelfreund zur Hilfe zu eilen.“, feixte Arko und seine Spießgesellen brachen abermals in lautes Gelächter aus. Doch Arko verging schließlich das Lächeln.

„Nenn mir einen guten Grund warum wir diesen fetten Arsch nicht verprügeln sollten, Weaver.“, forderte er.

„Weil ihr mich wollt.“, antwortete Jack.

„Da hast du nicht ganz unrecht. Ehrlich gesagt macht es mir auch viel mehr Spaß dich zu verprügeln.“, gab Arko dann zu und kam wieder ein paar Schritte näher.

„Du gehst mir ganz gewaltig auf die Nüsse, Weaver. Tust immer so cool, spielst den großen Retter und lässt dich dann einfach verkloppen. Große Klappe, nichts dahinter.“

„Soweit ich mich erinnern kann habe ich nie behauptet gut kämpfen zu können.“, sagte Jack in einer Stimmlage, wie man sie normalerweise in einem Kaffeeplausch benutzte.

„Ich hätt mir denken können dass du nichts auf dem Kasten hast. Man verweichlicht wenn man aus so einer kaputten Familie kommt und nur ne halbtote Mama hat. Lebt sie überhaupt noch, deine Mami?“

Automatisch presste Jack seine Zähne aufeinander. Er spürte wie sich seine Muskeln spannten und seine Hände sich in den Hosentaschen zu Fäusten ballten. Arko hatte gerade ein empfindliches Thema angeschnitten.

Heißes Blut rauschte durch seinen Körper und versorgte ihn mit Adrenalin. Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er einfach zuschlagen sollte. Arko stand völlig schutzlos vor ihm. Seine Faust hätte ihn direkt treffen können.

Doch eine andere Stimme sagte ihm, dass er an seine Mutter denken sollte. Die Lehrer waren auf Arkos Seite. Wenn Jack sich prügelte würde das mit Sicherheit Konsequenzen haben. Und weiß Gott wie seine Mutter das aufnehmen würde.

Jack funkelte sein Gegenüber wütend an und bebte vor Wut am ganzen Körper. Arko schien das zu bemerken und freute sich darüber. Sein gemeines Grinsen kehrte wieder zurück.

„Und schon fällt seine coole Fassade.“, sagte er.

„Lass ihn gefälligst in Ruhe.“, wimmerte Jonas mit zittriger Stimme. Arko wandte sich ihm zu.

„Sieh an, die Made hat auch noch was zu sagen. Hast du Angst das wir deinen Freund umbringen und er dir keinen mehr blasen kann?“

Plötzlich drehte Arko sich um und packte Jack grob am Kiefer. Er drückte zu und zog den Kopf weiter an sein Gesicht heran. Jonas quiekte vor Aufregung. Jack schaute seinem Gegner trotz seiner Lage selbstsicher entgegen.

„Das tut ihr doch, ihr kleinen Schwuchteln.“, knurrte Arko wie ein aggressiver Köter. „Hängt andauernd zusammen rum. Der Fettsack folgt dir ja wie ein kleines Hündchen. Da läuft doch mit Sicherheit was zwischen euch beiden.“

Ein leichtes Lächeln erschien in Jacks Gesicht.

„Du musst es ja wissen, immerhin hängst du auch immer mit zwei Kerlen rum.“, sagte er.

Einen Fehler durfte man in einer solchen Situation nicht machen, wenn man weiterleben wollte. Wenn die Gegner in der Überzahl und äußerst kampfstark waren, sollte man sie lieber nicht unnötig provozieren.

Arko war nicht dumm und verstand die Andeutung sofort.

Er riss Jacks Schädel brutal zur Seite und schleuderte ihn ein weiteres Mal zu Boden. Ein kleiner Wink mit der Hand und seine Schläger waren heran und begannen in geübter Routine damit, ihre Füße in seinem Körper zu versenken. Nach einem halben Dutzend harter Tritte wurde Jack schwarz vor Augen.

„Das reicht.“, sagte Arko und die Pein hörte sofort auf. Jacks ganzer Körper schmerzte und am liebsten wäre er völlig in die süße Dunkelheit der Ohnmacht versunken. Doch gönnte sein Körper ihm das nicht.

Jonas Wimmer drang nur schwach an sein Ohr und auch Arkos Stimme hörte er nur gedämpft, als würde sie von weit weg kommen.

„Lasst uns gehen.“, sagte er zu seinen beiden Schlägern, „Der hat genug für heute. Wir haben die nächsten Tage noch genug Zeit die beiden endgültig fertig zu machen.“

Und damit gingen die drei Schläger einfach davon und eine Welle der Erleichterung durchflutete Jacks Körper.
 

Am liebsten wäre er nun einfach liegen geblieben und hätte eine Runde geschlafen. Doch natürlich war da noch Jonas, der sich endlich traute näher zu kommen.

„Jack?“, fragte er unsicher, „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Natürlich war nicht alles in Ordnung. Sein Magen und das Gesicht schmerzten und immer noch quoll Blut aus seiner Nase. Außerdem war er sich nicht sicher ob die Tritte nicht ernsthafte Schäden hinterlassen hatten. Jack wollte sich nicht bewegen, weil er Angst hatte das ihm dann irgendein Körperteil abfiel.

„Geht schon.“, log er und setzte sich langsam auf. Ob es nun daran lag dass Jack sich überhaupt noch bewegen konnte oder daran dass er die Lüge glaubte, Jonas sah sehr erleichtert aus.

Sein Freund half Jack auf die Beine zu kommen und reichte ihm dann ein Taschentuch, damit er das Nasenbluten endlich eindämmen konnte. Jack prüfte, ob er irgendwelche schwereren Blessuren davon getragen hatte, aber anscheinend waren keine Knochen gebrochen oder Schlimmeres. Doch am nächsten Tag würde er wohl als ein Blau-Flecken-Männchen aus seinem Bett aufstehen.

„Es tut mir so schrecklich Leid.“, sagte Jonas nun und klaubte ihre beiden Rucksäcke vom Boden auf. Jack wollte ihm seinen abnehmen, doch Jonas wollte ihn aus Dank für ihn tragen.
 

Die beiden Freunde verließen den Hinterhof der Schule schließlich, wie sie es jeden Tag taten. Nur dass Jack diesmal leicht humpelte und sich zusammenreißen musste nicht bei jedem Schritt einen kleinen Schmerzensschrei auszustoßen.

Die kleine Straße, durch die sie gingen, war so gut wie menschenleer. Die meisten Schüler verließen das Schulgebäude durch den Vorderausgang um dann zur Nahen Bus- oder U-Bahn Station zu gelangen.

Es war ein heißer Sommertag und die Sonne schickte ihre Strahlen unerbittlich auf Berlin herab. Die beiden Freunde wohnten nicht weit weg von der Schule in ein und demselben Plattenbau.

„Es tut mir so Leid, Jack.“, beteuerte Jonas nun zum vierten Mal in den letzten fünf Minuten.

„Macht dir keine Gedanken. Ich leb ja noch.“

Jonas nickte bekümmert. Er litt anscheinend sehr darunter, dass er nicht den Mut aufbringen konnte zu helfen.

Er war ein Außenseiter an ihrer Schule und häufig das Opfer von Mobbing und Schlägern. Den Mitschülern passte sein Aussehen nicht. Er war etwas übergewichtig, hatte ein rundes Gesicht, kleine, nässende Augen und viel zu große Ohren. Außerdem hatte er schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren eine hohe Stirn, weil ihm sein blondes Haar langsam ausfiel.

Hinzu kam sein zurückhaltender Charakter. Jonas war schüchtern und ruhig und von daher das perfekte Opfer für jeden Fiesling.

Jack wusste, dass sein Kumpel darunter litt. Jonas hatte kein hohes Selbstwertgefühl. Aber er war auch freundlich und hilfsbereit und wenn man ihn besser kannte, legte er seine Schüchternheit ab und war ein sehr lustiger Kerl.

Deshalb mochte Jack ihn. Und deshalb waren sie seit knapp neun Jahren seit der ersten Klasse die besten Freunde.

Jonas hatte es nicht verdient so geärgert zu werden. Das war der Grund warum Jack schon öfter in einer solchen Verfassung das Schulgelände verlassen hatte. Schon immer hatte er Jonas in solchen Situationen beschützen müssen.

Der Gang nach Hause verlief im stillen Schweigen. Jedes Mal nach einer solchen Auseinandersetzung schien Jonas keine Worte zu finden. Wie immer versuchte er ab und an ein Gespräch zu eröffnen, überlegte es sich vor lauter Scham im letzten Moment aber doch anders. Jack versicherte ihm dass alles in Ordnung sei und er kein schlechtes Gewissen zu haben bräuchte, doch Jonas nahm sich diese Dinge jedes Mal wieder zu Herzen.

Die beiden Freunde erreichten den Plattenbau und stiegen in den Aufzug. Jack drückte die Drei und die Tür schloss sich summend.

Mit einem Ruck setzte sich der alte Fahrstuhl in Bewegung und hielt einige Sekunden später mit einem weiteren Ruck in Stockwerk Drei an.

Die Tür glitt auf und Jonas trat auf den Flur, in dem drei Türen zu drei verschiedenen Wohnungen führten.

„Es tut mir Leid.“, sagte er noch einmal und reichte Jack seinen Rucksack.

„Hör auf dich zu entschuldigen.“, sagte er.

„Tut mir… In Ordnung. Kommst du nachher vielleicht kurz vorbei? Wir könnten eine DVD gucken.“

„Geht nicht. Mama geht es in den letzten Tagen nicht so gut.“

„Oh.“, sagte Jonas und Enttäuschung stand in sein rundes Gesicht geschrieben. Anscheinend war dieses Angebot als Wiedergutmachung gemeint und Jack hätte es gerne angenommen. Aber Tatsache war dass die Schmerzen nach dem Weg nach Hause nicht einfach verschwunden waren. Das es seiner Mutter in letzter Zeit schlecht ging war eine Notlüge gewesen, die Jonas sofort durchschaut hatte.

„Na gut.“, sagte Jonas mit einem schiefen Lächeln. „Dann bis morgen?“

„Ja, ich hol dich ab.“

„Gut. Bis morgen. Und… Danke noch mal.“

„Schon gut.“, sagte Jack und die Fahrstuhltür schloss sich wieder.

Jack fuhr weiter in den siebten Stock und humpelte dann zur Wohnungstür. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür so leise wie möglich. Wenn er Glück hatte war seine Großmutter nicht da und er konnte sich in das Badezimmer schleichen um sich sauber zu machen. Seine Mutter würde vor Sorge einen Schrecken bekommen, wenn sie ihn in diesem Zustand sah. Und Jack wollte ihre Gesundheit deswegen nicht riskieren.

Ihm gelang es tatsächlich leise in die Wohnung zu schlüpfen. Es war völlig still, also war seine Großmutter tatsächlich unterwegs.

Er schlich durch den engen Flur an der Zimmertür seiner Mutter vorbei, die einen Spalt weit offen stand. Er hörte wie sie gerade die Seite eines Buches umblätterte und leise hustete. Anscheinend hatte sie ihn nicht bemerkt.

Er ging in das Bad und schloss die Tür leise.

Dann entspannte er sich endlich und humpelte seufzend zum Waschbecken.

Er drehte den Wasserhahn auf und ließ warmes Wasser in das Becken fließen. Er füllte seine Handschalen und warf es sich ins Gesicht.

Die Wärme tat gut und Jack bildete sich ein, dass die Schmerzen sofort etwas gelindert wurden. Mit etwas Seife wusch er sich nun das Blut aus dem Gesicht und betrachtete sich dann im Spiegel.

Sein Spiegelbild starrte zurück.

Für einen 15-Jährigen hatte Jack ein eher ungewöhnliches Gesicht. In seinem jungen Alter hatte er schon sehr markante maskuline Züge, ein kräftiges Kinn und hohe Wangenknochen. In seinem Gesicht lagen dunkle Augen, eine wohl geformte Nase und schwungvolle Lippen. Er hatte kurze, dunkelbraune Haare und schmierte seinen Pony jeden Morgen mit Gel nach hinten, damit er nicht über seiner Stirn hing. An seinem Kinn zeichnete sich ein leichter Dreitagebart ab, der ihn von den meisten seiner Mitschüler, denen lediglich ein leichter Flaum wuchs, abgrenzte.

Zahlreiche Liebesbriefe von heimlichen Verehrerinnen, die Jack immer wieder in seinem Schulfach fand, bescheinigten ihm eine ungewollte Attraktivität. Doch im Moment würden die Mädchen eher angewidert weglaufen.

Sein rechtes Auge war schon jetzt mit einem großen, violetten Fleck gekennzeichnet und auch seine Nase nahm langsam eine ungewöhnliche Farbe an. Seine Unterlippe war eingerissen und sein dunkles Haar stand zu allen Seiten ab. Er seufzte.

Dann zog er sein blutverschmiertes Baumwollhemd aus und betrachtete seinen nackten Oberkörper. Auch hier zeichneten sich schon die Schäden des Kampfes ab. Zahlreiche Blutergüsse und blaue Flecken entstanden langsam an Unterleib und Seiten.

Jack zog schnell ein Hemd aus dem Wäscheeimer und warf es sich über. Wie immer knöpfte er nur die unteren Knöpfe zu und krempelte die langen Ärmel bis zum Ellenbogen hoch. Die blauen Flecken waren nicht mehr zu sehen.

„Jakob, bist du das?“, rief die dünne Stimme seiner Mutter plötzlich durch das Haus. Anscheinend hatte er zu viel Krach gemacht.

„Ja, Mama.“, rief er zurück und richtete sich noch schnell die Haare. Dann eilte er schnell in ihr Zimmer.

Seine Mutter lag wie so oft in ihrem kleinen Bett, das in der Ecke des Zimmers stand. Sie war eine kleine, dünne Frau mit einem freundlichen, durch die Krankheit hohlwangig gewordenen Gesicht. Als Jack herein trat begannen ihre Augen mit einem Schlag zu leuchten. Sie wischte sich eine Strähne ihres dünnen braungrauen Haares aus dem Gesicht und lächelte ihren Sohn an.

„Hallo Mama. Wie geht es dir?“, fragte Jack und erwiderte das Lächeln.

„Hallo mein Schatz.“ Ihr Sohn trat heran und schloss sie kurz in seine Arme.

„Mir geht es heute ganz gut. Ich habe gar nicht gehört wie du reingekommen bist.“, sagte sie dann.

„Ich bin extra leise gewesen. Ich dachte du schläfst.“, log er.

„Wie lieb von dir, aber ich war nur in ein Buch vertieft.“

Sie klopfte mit ihren dünnen Fingern auf den Einband eines großen Märchenbuches, das auf ihrem Schoß lag. Sie liebte Fantasiegeschichten. In ihrem ganzen Zimmer waren auf Tischen und Stühlen Unmengen an Büchern verteilt.

Sie hatte Jack einmal erzählt dass ihr diese fantastischen Geschichten Kraft geben würden. Er vermutete das die unmöglichen Dinge, die darin beschrieben waren, ihr in irgendeiner Art und Weise Hoffnung gaben. Oft behauptete sie dass nichts unmöglich wäre und dass jede Geschichte einen wahren Kern habe. Jack glaube nicht daran, doch das ließ er seine Mutter nicht wissen.

Lisa Weber war schon immer mit einem schwächlichen und anfälligen Körper bestraft gewesen. Vor einigen Jahren gab ihr Immunsystem dann gänzlich auf. Jack war zu diesem Zeitpunkt gerade mal sechs Jahre alt gewesen und solange bei seiner Großmutter untergekommen.

Für ein paar Monate war nicht sicher, ob seine Mutter weiterleben konnte. Doch dann erholte sie sich etwas.

Seitdem ging es ihr mal besser und mal schlechter. Jacks Großmutter war zu ihnen in die Wohnung gezogen um ihre Tochter betreuen zu können.

Lisa Weber strich mit einem verträumten Blick über den Einband und wandte sich dann wieder ihrem Sohn zu. Unwillkürlich zuckte sie zusammen.

„Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. Anscheinend war ihr jetzt das blaue Auge aufgefallen, das Jack ungeschickt vertuschen wollte.

„Nichts Schlimmes.“, sagte er sofort und hielt sich eine Hand vor das Auge, als würde der blaue Fleck dadurch einfach verschwinden.

„Jakob Weber, du sagst mir auf der Stelle, wie das passiert ist.“

Sie konnte durchaus streng sein und wirkte trotz ihres schwachen Körpers dabei sehr überzeugend. Ihre Augen funkelten vor lauter mütterlicher Fürsorge.

„Ich war ein bisschen tollpatschig, als ich heute mit meinen Kumpels Fußball gespielt habe. Ich wollte mir den Ball erkämpfen und Jonas hat mich dabei aus Versehen mit dem Ellenbogen im Gesicht erwischt.“, improvisierte Jack.

Die Wahrheit war dass Jack keine Kumpels außer Jonas hatte und heute auch kein Fußball gespielt hatte, aber das musste seine Mutter nicht wissen. Doch sie schien die Lüge zu durchschauen, wie es für gute Mütter üblich war.

„Jonas und Fußball? Was ist wirklich passiert, Jakob?“

„Mama, mach dir einfach keine Sorgen. Es ist wirklich alles in Ordnung.“

Sie schaute ihn noch eine Weile eindringlich an in der Hoffnung dass Jack doch noch erzählte, was wirklich passiert war. Doch schließlich gab sie auf und nickte ergeben.

Jack wusste dass ihr das nicht gefiel, aber sie würde nichts mehr aus ihm herausbekommen. Sie sollte sich nicht darüber aufregen, dass ihr Sohn regelmäßig beleidigt und verprügelt wurde. Er hatte Angst dass sie dadurch einen Rückfall erleiden könnte.

„Wenn was Schlimmes passiert, dann musst du mir das sagen.“, sagte sie traurig.

„Ich verspreche es, Mama.“

Und dann lächelte sie wieder, wie es nur sie konnte. Dann schlug sie plötzlich das Buch auf.

„Wie wäre es, wenn ich dir was vorlese? Wie in den alten Zeiten.“

„Ja, gerne.“

Und sie begann zu lesen. Jack interessierte die Geschichte nicht und konnte sich besseres vorstellen als einer Geschichte zu lauschen. Doch er genoss den Klang ihrer Stimme und dass er einfach bei ihr sein konnte.

Er legte sich zu ihr und lauschte.

Jack ahnte nicht, dass es für lange Zeit das letzte Mal war, das er seiner Mutter so nah sein würde.



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