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Kryptonit

Jeder Held hat eine Schwäche
von

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Tränen

Hallo ihr Lieben :)

Hier ist das nächste Kapitel. Ich widme es galant allen Fans von Benni. Das Lied zu dem Kapitel ist von Thriving Ivory - Angels on the Moon. Dabei gilt: der Text muss nicht wortwörtlich genommen werden, es geht mehr um die Atmosphäre des Liedes (falls ihr es euch anhören solltet).

Viel Spaß beim Lesen,

liebe Grüße,

Ur

______________________
 

»Vielleicht sollte ich aufgeben«, sagt Sina ein wenig kläglich und schiebt sich ein Stück dunkle Schokolade in den Mund. Ich beobachte sie dabei und lege den Kopf schief. Es scheint so, dass Fabians Ego tatsächlich ziemlich unter der Begegnung mit Chris gelitten hat.

»Aber du willst ihn doch«, gebe ich zurück. Ich bin eindeutig der falsche Ansprechpartner für so etwas. Es ist so, als wäre Sina meine große Schwester, aber sie hört sich mein Gejammer schließlich auch dauernd an, also sollte ich mich zusammenreißen und nicht vor Verlegenheit auf dem Teppich zerfließen, während sie mir von ihrer Frustration mit Fabian berichtet. Mit Chris wollte sie offenbar nicht drüber reden, damit er sich nicht schuldig fühlt. Und Larissa ist mit ihrem Mann im Urlaub.
 

»Ja, schon! Aber wie soll das denn in einer Beziehung laufen, wenn er bei jeder meiner Stimmungsschwankungen denkt, ich würde ihn verlassen wollen? Ich bin keine besonders umgängliche Person. Ich bin launisch und besserwisserisch und ich kann elendig arrogant sein. Ich kann tagelang schmollen wegen irgendwelchen Kleinigkeiten und ich reiße gern zweideutige Sprüche über Colin Firth…«

Sina nimmt noch ein Stück Schokolade und bietet mir auch eins an, aber ich lehne mit einem Kopfschütteln ab.

»Aber dann sag ihm das doch so. Wenn er mit deinen Macken nicht zurechtkommt, dann hat er dich sowieso nicht verdient«, erkläre ich ihr und das meine ich auch so. Mir ist schon klar, dass Sina – für mich zwar nicht, aber für Chris durchaus – ab und an anstrengend sein kann. Ich bin zwar nicht unbedingt ein Beziehungsexperte, aber der Sinn hinter so einer Sache ist schließlich nicht, alle seiner Fehler so gut wie möglich zu kaschieren, um jemand anderem zu gefallen.
 

Sina seufzt tonnenschwer und lässt ihren Kopf in mein Kissen fallen. Sie liegt auf meinem Bett und ich hocke auf Parkers Kuscheldecke. Der mittlerweile nicht mehr so kleine Hund hat es sich auf meinem Schoß gemütlich gemacht, als wäre er eigentlich eine Katze, und lässt sich von mir die Ohren kraulen. Chris ist mit Pepper zum Joggen unterwegs.

»Ja, du hast ja eigentlich recht«, murmelt sie ins Kissen und ich kann sie kaum verstehen. Schließlich hebt sie den Kopf wieder und genehmigt sich ein weiteres Stück Schokolade.

»Ich bin nur…«

Sie bricht ab und sieht mich nachdenklich an. Ich kann nicht anders als zu lächeln.

»Unsicher, weil du noch nie in so einer Situation gesteckt hast«, beende ich den Satz für sie und entlocke ihr ebenfalls ein winzig kleines Lächeln.

»Ja. Genau das.«

Ich mustere sie einen Moment lang und schmunzele dann.

»Ehrlich, du predigst Chris dauernd, er soll sich mit seinen Bindungsängsten nicht so anstellen und jetzt das«, meine ich. Sie blinzelt erstaunt, dann muss sie über sich selbst lachen, nimmt das letzte Stück Schokolade aus der Tafel und ich nehme das leere Einwickelpapier und werfe es in den Papierkorb unter meinem Schreibtisch.
 

»Jetzt hab ich fast ein schlechtes Gewissen«, gibt sie zu und setzt sich auf. Parker hebt den Kopf und sieht hechelnd zu ihr hinüber. Sina kommt zu mir auf den Boden, hockt sich vor mich hin und streichelt Parker kurz über den Rücken. Dann drückt sie mir einen Kuss auf die Wange.

»Danke fürs Zuhören«, sagt sie.
 

»Du bist doch auch immer für mich da«, erinnere ich sie. Sina grinst breit.
 

»Ich bin aber auch die große Schwester.«
 

Ich schnaube amüsiert und sehe zu, wie sie sich erhebt und kurz streckt.

»Wenn Chris vom Joggen wiederkommt, werde ich ihn ausgiebig drücken und ihm noch mal sagen, wie entzückend er war, als er versucht hat, möglichst harmlos vor Fabian zu wirken«, nimmt sie sich vor. Ich nicke zustimmend und hebe Parker von meinem Schoß herunter, um ebenfalls aufzustehen.

»Ich wünsch dir jedenfalls viel Glück bei deiner Beziehungskiste.«

Parker sieht ein wenig geknickt aus, weil er nicht mehr auf meinem Schoß liegen kann, doch als Sina meine Zimmertür öffnet, wuselt er in den Flur hinaus, vermutlich, um etwas zu trinken und den halben Küchenboden mit Wasser vollzuschlabbern.
 

»Danke… Hast du für den Ferienbeginn eigentlich irgendwas Besonderes vor?«, erkundigt sie sich im Türrahmen stehend und ich schüttele den Kopf.

»Nee. Lilli fährt mit ihrer Familie eine Woche an die Ostsee. Ich werd die Freude haben für die Arbeiten nach den Ferien zu lernen und vielleicht zwischendurch ein bisschen zu zeichnen«, erwidere ich und bei den Gedanken an meine Politikunterlagen verschlechtert sich meine Laune unweigerlich ein wenig.

»Dann viel Erfolg. Wir können gemeinsam schlecht gelaunt durch die Wohnung schleichen. Ich werd zusehen, dass ich endlich die Abschlussarbeit fertig kriege«, meint Sina und dann huscht sie hinaus in den Flur und ich höre ihre Zimmertür gehen.
 

Zwei Stunden später habe ich mit meiner Mutter telefoniert, Chris und Pepper begrüßt, nachdem sie vom Joggen wieder da waren, und die Wohnung gesaugt. Chris kommt nach dem Duschen diesmal komplett angezogen aus dem Bad, so als würde er befürchten, dass Fabian noch mal aus heiterem Himmel bei uns auftaucht und er wieder beinahe nackt vor ihm steht. Während ich mir einen Tee in der Küche koche, kommt Chris rein und fragt, ob Sina irgendwas wegen Fabian erwähnt hat.

»Ähm…«, beginne ich und das scheint Chris schon Antwort genug zu sein. Ich fahre mir durch die Haare und sehe ihn möglichst aufmunternd an.

»Die beiden werden sich schon zusammen raufen«, sage ich zuversichtlich. Chris gibt ein undefinierbares Geräusch von sich.
 

Ich hänge einen Teebeutel in meine Tasse, als mein Handy piept. Ohne meinen Blick von Chris zu nehmen, der eindeutig etwas geknickt aussieht – als wäre es tatsächlich seine Schuld, dass Fabian solche Komplexe hat – fische ich mein Handy aus der Hosentasche. Wahrscheinlich hat Lilli mir geschrieben, dass ihre Schwestern sie wahnsinnig machen und sie wieder nach Hause kommen will… Aber nein. Die SMS ist von Jana.

Ich runzele verwundert die Stirn, dann erinnere ich mich daran, dass ich ihr angeboten habe, meine X-Men Comics auszuleihen.

»Wenn du das sagst«, erwidert Chris, aber er klingt nicht wirklich überzeugt.
 

»Benni liegt im Marienstift. Kannst du kommen? Grüße, Jana.«
 

Ich starre die SMS an und bevor mein Gehirn aufholen kann, hat mein Herz schon gestoppt. Einige Sekunden lang starre ich auf mein Display, dann hebe ich den Kopf und sehe Chris an, der augenblicklich alarmiert wirkt.

»Was ist los?«, will er wissen. Ich räuspere mich.

»Kannst du mich… ins Marienstift fahren?«, frage ich. Chris steht sofort auf.

»Wer liegt drin?«, fragt er und ist schon im nächsten Augenblick im Flur, um in seine Schuhe zu schlüpfen. Ich ringe einen Moment mit mir.

»Fährst du mich auch hin, wenn ich dir sage, dass es Benni ist?«, erkundige ich mich vorsichtig. Chris hält kurz in seiner Bewegung inne, dann zieht er sich seine Jacke an.

»Sicher«, ist sein einziger Kommentar dazu und eine Welle aus Dankbarkeit und offensichtlich unermüdlicher Verliebtheit schwappt über mich hinweg.
 

Mein Magen fühlt sich trotzdem an wie ein Stein, als ich hastig meine Schuhe und meine Jacke anziehe, mir meinen Schal um den Hals wickele und Jana eilig eine Antwort schreibe.

»Bin gleich da.«

Chris nimmt sich keine Zeit, um Sina Bescheid zu sagen, dass wir wegfahren. Er schnappt sich seinen Schlüssel, hält die Tür für mich auf und meine Gedanken überschlagen sich bei dem Gedanken daran, wieso Benni im Krankenhaus liegt. So stellt man sich den Ferienanfang eindeutig nicht vor.
 

Wir schweigen die ganze Fahrt hindurch und ich spiele nervös mit meinem Handy, das in meinem Schoß liegt. Ab und an wirft Chris mir einen Blick von der Seite zu, aber ich hab aus irgendeinem Grund nicht den Mut, ihn anzuschauen. Ein leises, schlechtes Gewissen nagt an mir, weil ich genau weiß, wie Chris immer auf alle Sachen reagiert, die mit Benni zu tun haben. Und ich war sauer auf ihn deswegen. Aber jetzt hat er nicht einmal mit der Wimper gezuckt und fährt mich ins Krankenhaus.

»Soll ich warten? Oder willst du mich anrufen, wenn ich dich abholen soll?«, erkundigt sich Chris bei mir, als wir vor dem riesigen Backsteinbau halten.

»Du musst nicht… ich kann später auch mit dem Bus zurück kommen«, sage ich ein wenig kläglich. Chris seufzt und verdreht die Augen.
 

»Ruf an«, sagt er und seine Stimme klingt sehr eindringlich.

»Ok«, gebe ich kleinlaut zurück, dann atme ich einmal tief durch und umarme ihn.

»Danke fürs Fahren«, nuschele ich und versuche Chris‘ Geruch nicht allzu tief einzuatmen, damit ich nicht wie auf Drogen zu Benni ins Zimmer stolpere. Chris stutzt einen Moment, dann habe ich zwei ziemlich starke Arme um mich gelegt, die mich ebenfalls drücken.

»Wann immer du willst«, kommt die leise Antwort. Oh Gott. Ich will nicht loslassen, aber ich muss da rein und wissen, was eigentlich los ist. Also löse ich mich mit hochrotem Kopf von Chris, räuspere mich und hebe kurz die Hand zum Abschied, ehe ich in Richtung Eingang haste.
 

Ich muss niemanden fragen, wo Bennis Zimmer liegt, weil Jana bereits unten im Eingangsbereich auf mich wartet. Sie hockt wie ein Häufchen Elend auf einem der ungemütlich aussehenden Plastikstühle und starrt ihre Knie an.

»Da bin ich«, sage ich, als ich direkt vor ihr stehe, und sie zuckt ein wenig zusammen, dann steht sie eilig auf und sieht mich aus ihren blau-grünen Augen, die in diesem Moment aussehen, als wären sie bis obenhin gefüllt mit Leid, an.

»Zweiter Stock«, murmelt sie nur und wir machen uns auf den Weg zum Treppenhaus, steigen die Steinstufen hinauf und dann schlägt mir der unangenehme Geruch von Krankheit und Desinfektionsmittel entgegen, der einen in jedem Krankenhaus begrüßt. Ich verziehe kaum merklich das Gesicht, als ich Jana durch den langen, weißgestrichenen Gang folge. Unsere Schuhe machen auf dem mintgrünen Linoleumboden beinahe keine Geräusche.
 

»Was ist passiert?«, wage ich schließlich zu fragen und ich erwarte Antworten, die sich um Massenschlägereien und Messerstiche drehen. Jana wirft mir einen gequälten Blick zu.

»Kann ich dir nicht sagen«, gibt sie mit zittriger Stimme zurück, »das muss Benni machen…«

Ich seufze abgrundtief, nicke aber. Er wird es mir kaum sagen. Schon auf dem Dach hat er gesagt, dass er keine Hilfe will und nicht darüber reden möchte. Das wird sich kaum geändert haben. Wahrscheinlich will er mich nicht mal sehen.
 

Vor Zimmer Nummer 2015 bleiben wir stehen. Zwei Krankenschwestern wuseln an uns vorbei.

»…können Herrn Wehrmann bald ein Stammzimmer einrichten…«, höre ich eine der beiden sagen und mein Magen krampft sich unangenehm zusammen. Jana starrt auf den Boden, dann holt sie tief Luft.

»Ich hab ihm nicht gesagt, dass ich dir geschrieben habe«, gesteht sie nervös. »Aber… vor mir versucht er immer noch… naja. Der starke, große Bruder zu sein. Vielleicht… vielleicht könntest du einfach ein bisschen bei ihm bleiben?«

Ich betrachte das Mädchen neben mir, das für ihre jungen Jahre viel zu alt aussieht. Alt und müde und erschöpft. Janas Schultern sind so schmal, aber ich sehe beinahe ein tonnenschweres Gewicht auf ihnen lasten, so weit hängen sie herunter.
 

»Ich werd’s mal versuchen«, sage ich leise, atme einmal tief durch und hebe die Hand, um anzuklopfen. Es kommt keine Antwort, also sehe ich Jana unsicher an. Sie greift sofort nach der Türklinke und lässt mich ins Zimmer.

Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Benni sieht fürchterlich aus. Sein linkes Auge ist dermaßen geschwollen, dass er es kaum öffnen kann. Die Augenbraue darüber ist aufgeplatzt und offenbar bereits genäht und mit einer Kompresse beklebt worden. Über die rechte Hälfte seines Unterkiefers zieht sich eine zornrote Schürfwunde, die Unterlippe ist angeschwollen und aufgerissen. Seine rechte Hand ist bandagiert. Und das ist nur das, was ich sehen kann. Ich möchte eigentlich gar nicht wirklich wissen, wie es unter der Decke aussieht.
 

Jana geht mit mir zusammen hinüber zum Bett und deutet auf den Stuhl. Benni hat mich nur kurz angesehen, dann sind seine Augen sofort an die Decke gehuscht. Es könnte nicht deutlicher sein, dass es ihm unangenehm ist, dass ich hier bin. Der Himmel draußen ist schwer und grau, ich fröstele, obwohl ich noch meine dicke Jacke trage und es hier drin eindeutig nicht kalt ist. Langsam setze ich mich auf den Stuhl neben seinem Bett und mein Blick wandert über das zerschundene Gesicht meines ehemaligen Peinigers. Jana sieht mich kurz an, dann streicht sie Benni ganz behutsam über die Finger, die aus dem Verband schauen. Benni schließt die Augen und ich sehe, wie er schluckt.
 

Jana steht einen Moment ganz still da, dann holt sie tief Luft, bückt sich ein Stück und greift mit zitternden Fingern nach meiner Hand. Es scheint sie eine Menge Überwindung zu kosten mich anzufassen und sie presst ihre Lippen aufeinander, ehe sie schließlich ganz vorsichtig meine Hand auf die bandagierten Finger von Benni legt.

»Ich geh einen Kakao trinken«, murmelt sie, lässt meine Hand los und verschwindet dann aus dem Zimmer. Mein Herz überschlägt sich in meiner Brust und ich höre überdeutlich, wie sich die Tür schließt. Ich starre auf Bennis Gesicht und die geschlossenen Augen.

»Wieso bist du hier?«, fragt er schließlich nach einer Ewigkeit des Schweigens. Ich räuspere mich und versuche, meine Stimme wiederzufinden. Sie scheint irgendwo unter all meinen Sorgen und meinem hämmernden Herzen begraben worden zu sein.
 

»Weil du hier bist«, erwidere ich heiser. Seine Augen öffnen sich – oder besser, sein rechtes Auge – und er schaut mich unergründlich an. Hin und wieder ist es immer noch ungewohnt, diese braunen Iriden nicht voller Abscheu zu sehen. Jetzt schmelzen sie sich ihren Weg in mein Innerstes und ich schwanke zwischen dem unbändigen Wunsch Benni zu umarmen und dem Bedürfnis, meine Hand von seiner zu nehmen, weil ich das Gefühl habe, dass plötzlich alles zu viel ist. Ich will ihm helfen, aber ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht mal, was eigentlich das Problem ist, alles, was ich tun kann, ist hier zu sitzen und vollkommen nutzlos seine Hand zu halten. Die Geste scheint schrecklich bedeutungslos zu sein, aber ich lasse meine Finger dort liegen und fühle überdeutlich den Kontrast von warmer Haut und rauem Verbandszeug unter meiner Handinnenfläche.
 

Benni rutscht in seinem Bett ein Stück zur Seite und verzieht schmerzvoll das Gesicht. Zuerst denke ich, dass er von meiner Hand wegkommen will, aber dann begreife ich, dass er Platz auf dem Bett macht. Für mich. Ich zögere und meine Rippen brechen beinahe unter dem Druck meines Herzschlags, aber schließlich stehe ich auf und setze mich vorsichtig auf den Bettrand, wobei ich versuche, nicht aus Versehen gegen irgendetwas zu stoßen, was verletzt sein könnte.

Jetzt bin ich noch näher an Benni dran und kann aus nächster Nähe seine Verletzungen sehen. Unbewusst strecke ich die Hand aus und berühre ganz behutsam seine Haare, seine Schläfe und die Wange. Er zuckt nicht zurück und starrt mich nur von unten herauf an. Und dann, ganz plötzlich, hebt er seinen linken Arm und legt ihn sich über die Augen. Wie schon bei sich zu Hause, als er lachen musste. Aber diesmal ist es nicht, weil er lachen muss.
 

Mir bleibt der Atem weg, als ich die Tränen sehe, die unter seinem Arm hervor kriechen, über seine Wangen laufen und dann seinen Hals hinunter schleichen. Sie versickern im Kissen und ich habe das Gefühl, dass das Krankenzimmer aus den Angeln kippt. Er weint. Benni weint. Vor mir. Ich weiß nicht, wohin mit mir, und meine eigenen Augenwinkel fangen aus unerfindlichen Gründen an zu brennen. Nicht auch anfangen, das hilft überhaupt niemandem. Dir geht es hier nicht schlecht, rede ich mir ein und wische unbeholfen ein paar der Tränen weg.

»Ich kann nicht mehr«, kommt es heiser und so leise zwischen Bennis Lippen hervor, dass ich mich eine Sekunde lang frage, ob ich mich verhört hab.
 

»Erzähl’s mir«, sage ich leise und fast ein bisschen flehend. Wie soll ich helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist? Unsicher schiebe ich mir die Schuhe von den Füßen und ziehe meine Jacke aus, dann lege ich mich aufs Bett neben Benni und als hätte er nur darauf gewartet, dreht er sich mit einem angestrengten Ächzen auf die Seite. Sein Arm verschwindet von seinen Augen und im nächsten Moment hat er sein Gesicht an meiner Halsbeuge vergraben. Ich lege einen Arm so vorsichtig um ihn, als wäre er aus Glas. Irgendwie ist er das in diesem Moment auch. Meine Lippen berühren seine Schläfe und ich spüre, wie er in meiner Umarmung zittert, so als würde er sich mit aller Macht davon abhalten, nicht lautstark loszuheulen.
 

Und dann höre ich eine Geschichte, die klingt wie aus einem Film. Ein schrecklicher Film ohne glückliches Ende. Eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kinder liebt, aber von ihrem Mann verprügelt wird. Von einer Frau, die es irgendwann nicht mehr aushält, die nichts hat und niemanden allein versorgen kann und ihre Kinder zurücklässt, in der Hoffnung, dass es ohne sie weniger Gewalt im Haushalt gibt. In der Geschichte geht der Mann auf seine Tochter los, aus Frust, weil sie genauso aussieht wie ihre Mutter, weil die Mutter nicht mehr da ist, aus Gründen, die keiner versteht. Aber er legt niemals Hand an seine Tochter, weil da immer der große Bruder ist, der kassiert, der alles einsteckt für seine kleine Schwester, der ihn absichtlich provoziert und seine Schwester ins Zimmer schickt, damit sie sich einschließen und er sich verprügeln lassen kann. Es ist eine Geschichte von einem Jungen, der seine kleine Schwester so sehr liebt, dass er es nicht ertragen kann, dass irgendwer ihr wehtut.
 

Eine Geschichte über Wut und Hilflosigkeit, über Hoffnungen auf ein anderes Leben, wenn die Schule vorbei ist, über den Zorn darüber, dass ein Schuljahr mehr auf dem Rücken des Bruders lastet, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Die Geschichte erzählt von Müdigkeit und Erschöpfung, von dem jahrelangen Warten darauf, dass die Mutter zurückkommt, um sie zu holen. Aber niemand kommt. Niemand ist da. Und wenn keine Schule ist, dann schert sich der Vater nicht darum, ob er seinem Sohn auch ins Gesicht schlägt. In der Schulzeit schlägt er nur dahin, wo es keiner sehen kann, aber in den Ferien muss er sich kein bisschen zurückhalten. In der Geschichte gibt es kein Lächeln und keinen Helden, der dem Bruder die Hand reicht und ihn beschützt. Es gibt nur Schweigen und Angst davor, dass man sie auseinander reißt, wenn sie es irgendjemandem sagen. Dem Jugendamt. Oder der Polizei. Der Bruder steckt ein, aber teilt niemals aus, weil er Angst hat, dass ihm keiner glaubt und er vielleicht in den Knast muss und dann wäre seine kleine Schwester ganz allein mit ihrem Vater und das kann er nicht zulassen. Also schweigt und kassiert und leidet und lebt er für seine kleine Schwester.
 

Am Ende bin ich doch am Weinen und als die Tür aufgeht und eine Krankenschwester hereinkommt, wirft sie nur einen Blick auf mich und Benni im Bett, wirft mir ein trauriges Lächeln zu und geht leise wieder hinaus. Es ist offensichtlich, dass das Personal hier Benni schon kennt. Vielleicht haben sie ihn darauf angesprochen und ihm Hilfe angeboten, aber er hat abgelehnt und alles geleugnet, weil er Angst davor hatte, dass man ihn und Jana trennt.

Meine Gedanken fühlen sich ganz taub an. Wie kann ich Benni helfen, wenn er es niemandem sagen will. Oder kann.

»Ich hab dich behandelt, wie er mich«, kommt es gekrächzt von Benni. Ich erinnere mich an die Nacht auf der Jahrgangsfeier, als Benni mich fragte, ob mir meine Mutter jemals gesagt hätte, dass ich so bin wie das, was sie am meisten hasst. In meinem Kopf taucht eine Szene auf, in der Benni Jana von mir erzählt. Davon, dass er mich jeden Tag fertig macht. Jana sieht ihn an und in meinem Kopf sind ihre blau-grünen Augen ungläubig auf ihren Bruder gerichtet, als sie ihm sagt, dass er mit diesem Verhalten nicht besser ist als sein Vater.
 

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich dir verzeihe«, murmele ich leise und versuche mit meiner freien Hand, die nicht auf Bennis Rücken liegt, meine Tränen wegzuwischen.

»Aber wie?«, will er wissen und jetzt zieht er seinen Kopf zurück und sieht mich aus seinen geröteten Augen an. Immer noch glitzern Tränen in Bennis Augenwinkeln. Ich schlucke.

»Stell dir ein Raubtier in einem Käfig vor, das immerzu ausgepeitscht und furchtbar schlecht behandelt wird. Und dann kommt jemand an seinen Käfig, der ihm nichts tun will, er will ihm vielleicht irgendwas zu essen geben. Oder seinen Kopf streicheln und ihm sagen, dass alles gut wird. Aber das Raubtier kann überhaupt nicht unterscheiden, wer gut ist und wer böse und es schnappt nach der Hand, weil es denkt, dass die Hand ihm wehtun will. Du hast es selber gesagt… ich bin dir zu doll unter die Haut gegangen und du hattest… Angst. Mich rein zu lassen und verletzt zu werden. Es war schrecklich, aber ich hab’s dir verziehen. Ehrlich.«
 

Wir sehen uns eine ganze Weile lang an, dann zieht Benni seine Hand zu seinem Gesicht und wischt sich so gut es geht die Tränenspuren von den Wangen und die verbliebenen Tropfen aus den Augenwinkeln.

»Lass mich… lass mich irgendwie… für dich da sein«, sage ich verlegen und hoffnungsvoll und auf Bennis Gesicht breitet sich ein dunkler Rotschimmer aus.

»Bist du doch schon. Ob ich dich lasse oder nicht«, brummt er und ich muss trotz allem lächeln.

»Noch sieben Monate bis zum Abi«, sagt er. Ich sehe ihn an.

»Schaffst du noch sieben Monate?«, frage ich, weil mir klar ist, dass auch ich nicht die Polizei rufen oder das Jugendamt informieren darf. Benni schafft ein schiefes Lächeln und ich erinnere mich an vorhin, als er sagte ›Ich kann nicht mehr‹.
 

»Ich muss.«
 

Mein Hals ist zugeschnürt.

»Wie machst du das bloß«, flüstere ich.

»Du hast es auch gemacht. Und ob ich noch kann oder nicht… das ist egal. Ich muss auf Jana aufpassen«, erklärt er und seine Stimme steckt so voller Liebe, dass sie beinahe nicht wie Bennis Stimme klingt. Ich will ihm sagen, dass alles gut wird, wie der Mensch, der seine Hand in den Raubtierkäfig steckt. Aber ich kann so was nicht versprechen, also sage ich nichts.

»Ich bin da. Wenn du was brauchst, oder irgendwo hin willst.«

Bennis Augen mustern mein Gesicht eingehend. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Du bist der erste und einzige Freund, den ich habe. Schon komisch«, murmelt er. Ich muss schon wieder lächeln.

»Mit Freunden ist alles schon sehr viel leichter. Glaub mir, das ging mir auch so«, entgegne ich. Benni nickt leicht und dann dreht er sich vorsichtig wieder auf den Rücken und ich klettere aus dem Bett und ziehe meine Schuhe wieder an.
 

»Kommst du wieder?«, fragt er ohne mich anzugucken. Ich lege lächelnd den Kopf schief.
 

»Klar. Wenn du willst.«
 

»Sonst hätte ich nicht gefragt.«
 

»Dann bis morgen«, sage ich, greife nach meiner Jacke und ziehe sie wieder an, ehe ich zur Tür gehe und sie öffne. Draußen steht Jana und sieht mich traurig an. Aber sie lächelt.

»Danke«, flüstert sie und huscht dann an mir vorbei ins Zimmer. Ich schließe die Tür hinter mir, krame mein Handy hervor und gehe langsam dem Ausgang entgegen, wobei ich Chris eine kurze SMS schreibe, damit er mich abholen kann. Mein Kopf ist voll mit deprimierenden Gedanken und mein Pullover ist nass von Bennis Tränen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (31)
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Von:  Kaoru
2011-10-09T12:58:42+00:00 09.10.2011 14:58
Das ist traurig… dass ein Vater seinen eigenen Sohn verprügelt, aus Frust darüber, dass seine Frau abgehauen ist, weil sie sich von ihm nicht mehr schlagen lassen wollte. Dass eine Mutter ihre beiden Kinder der Gewalt ihres Mannes aussetzt. SIE kann nicht mehr, das ist verständlich, aber ihre Kinder können nichts dafür, dass sie sich den Mann ausgesucht hat, um sie in die Welt zu setzen. Das ist egoistisch und ungerecht.
Und Benni ist ein Idiot, wenn er denkt, dass er das ertragen sollte. Bald machen sie Abi, er ist also volljährig und kann anfangen, auf eigenen Beinen zu stehen. Selbst wenn Jana und er nicht mehr unter einem Dach leben würden, sollte er sich an die Polizei wenden. Immerhin begeht ihr Vater eine Straftat, die nicht ungesühnt bleiben sollte. Für Jana könnte er trotzdem weiterhin da sein.

Und Fabian ist ein Trottel, wenn er sich von einem homosexuellen, besten Kumpel ins Bockshorn jagen lässt. Andererseits glaube ich nicht, dass sich Sina das gefallen lässt. So leicht kommt er ihr bestimmt nicht davon^^

Bis zum nächsten~
Von:  Yeliz
2011-09-25T18:50:28+00:00 25.09.2011 20:50
Hey

und du hast es geschafft mir Trän'chen in diese Augen zu zaubern.

Erstmal Danke'schön für diese Kapitel, es hat mich echt bewegt und ich bin wieder mal begeistert wie du es geschrieben hast, weil es die Zeilen mich einfach eingesaugt haben. Ich war einfach extrem vertieft.
Diese ganzen Scenen konnte ich mir so gut vorstellen und mich so gut in die einzelnen Figuren hineinversetzen.

Ein riesen Lob von mir!
Das Lied hat wirklich zur Stimmung gepasst und ich habe es die ganze Zeit während des Lesens angehört.

Die beiden neuen Charaktere..... die ich Dussel erst jetzt endeckt habe, finde ich toll beschrieben und ich freu mich auf Gabriel und mehr Fabian + Sina !!
Bye, xoxo.
Von:  truly22
2011-08-09T09:05:28+00:00 09.08.2011 11:05
Endlich ist es raus, was Benni zuhause ertragen muss. Ganz unvermutet ist es nicht, aber dennoch schockierend. Kann man so etwas noch länger ertragen? Noch dazu, wenn es anscheinend jedes Mal brutaler wird, dass man schon als Stammgast im Krankenhaus begrüßt wird.

Ich bin wirklich hin und hergerissen von meinen Wünschen, Anjo mit Chris oder mit Benni zusammen zu sehen. Aber ich vermute mal, dass Chris neuer Schüler, Gabriel, da auch noch eine Rolle spielen wird.
Von:  Honigklecks
2011-08-08T12:25:59+00:00 08.08.2011 14:25
Hallo liebe Ur,
was für ein bewegendes Kapitel. Es ist dir super gelungen, zu verstehen, warum Benni so gehandelt hat. Einen besseren Freund wie Anjo wird Benni nicht finden und ich fand es schön zu sehen, wie die zwei miteinander umgehen. Bennis Schicksal ist furchtbar und ich kann nur hoffen, dass er durchhält, sich Hilfe holt und dann mit Jana endlich ein friedvolles Leben beginnen kann.
Die kleinen Chrismomente waren wieder Zucker. ;)

Liebe Grüße
Honigklecks
Von: abgemeldet
2011-08-07T20:26:05+00:00 07.08.2011 22:26
das ist das wundervollste und gleichzeitig schreckliste Kapitel, das du in dieser ff geschrieben hast. allerdings glaube ich auch, das ich das falsche lied ausgesucht hab (new age von Marlon Roudette). ich bin nur am heulen, mir ist das herz stehen geblieben, weil ich dachte, dass beni versucht hat sich umzubringen.

...aber wer ist colin firth? XD

liebe von mir
Von:  Deedochan
2011-08-05T14:26:22+00:00 05.08.2011 16:26
och =( trauriges Kapitel... aber du als Autorin kannst uns schon versprechen, dass alles wieder gut wird oder? :D

bussale
Deedo
Von:  Usagi_Jigokumimi
2011-08-04T21:19:13+00:00 04.08.2011 23:19
ich hab tatsächlich fast geweint!!!!

benni oder chris ich weiß es nicht mehr! >___<
Lg, Usagi91

Von: abgemeldet
2011-08-04T15:49:08+00:00 04.08.2011 17:49
zunächst einmal, sorry dass es für das vorherige kapitel keinen kommentar gab, aber ich sitze zurzeit in den bergen im "urlaub" fest und - nun ja, was soll ich sagen- das internet macht sich hier oben ziemlich rar :D

nun zu dir^^
du glaubst gar nicht, wie viel ich dir nur all zu gerne schreiben würde, wie toll ich deinen schreibstil finde, deine characktere, die entwicklung, naja du weist ja, die ganze palette eben...

aber leider glaube ich, dass ich mich dann zum gefühlten hundertsten mal wiederholen würde. genau aus diesem grund beschränke ich mir auf nur einen einzigen satz und hoffe er vermittelt meine momentane gefühlslage:

Ich empfinde zur zeit unglaublich viel liebe für dich und deine geschichten und würde dich gerne mal als dankeschön knuddeln <3

in der hoffnung auf ein schnell erscheinendes neues kapitel,
sweety :)
Von:  Inu_Julia
2011-08-03T22:39:39+00:00 04.08.2011 00:39
Wieso tust du das nur! XD Jetzt steckt so viel Liebe zu Benni in mir >__< Okay die war schon die meiste Zeit da, aber nach diesem Kapitel noch mehr :( Benni ist einfach nur ein Schatz und Jana absolut klasse. Ich finde du fängst diese Beziehung und die Situation der beiden sehr gut ein. In so einer Situation wird man schneller erwachsen, als man will :) Außerdem fand ich es gut, wie du Bennis Geschichte erzählt hast, das hatte irgendwie mehr Stil als ein normaler Dialog, daduch wurde auch nicht sie anfängliche Stimmung zerbrochen. Als Bennis losgweint hat ist mir ganz kurz schlecht vor Schreck geworden muss ich sagen :(
Aber dann waren da noch diese zwei Süßen Momente mit Chris die mich wieder zum schwärmen bringen <3 <3 Gott.Ich.Liebe.Ihn. XD Anders kann man es nicht sagen :DDD Und ich will Gaaaanaz viel Liebe zwischen Anjo und ihm :DDD Aber ich will auch Liebe und Zuneigung für Benni, der das wirklich mehr als alles andere verdient hat :(
Ich hoffe, dass dieser dubiose neue Charakter ein wenig Licht ins Dunkle bringt ;D Ich fange auch gar nicht erst an mir auszumalen, was das für einer ist und so, weil ich mich einfach nur auf das nächste Kapitel freue haha :D
Von: abgemeldet
2011-08-03T19:17:26+00:00 03.08.2011 21:17
Hallo...wie immer xD

ein sehr tolles Kapitel, auch wenn ich den Anfang diesmal nicht so toll fand. Es kam mir ein bisschen vor als wenn du nicht so recht weiss wie du zu der Sache mit Bennu kommen sollst, aber als es dann so weit war ...wooooooooow *-* dann hast du dich richtig ins Zeug gelegt xD
Ganz besonders hat mir gefallen das du Bennis Geschihte nicht in der Ich-Form und auch nicht als Dialog geschrieben hast, sondern als kleine interne Geschichte (...."eine Geschichte ohne Happy end....."usw). Das fand ich super schön (auch wenns echt traurig wahr) zu lesen und es hat das ganze Kapitel nochmal viel spannender gemacht.

Ich möchte so gerne mal ein Kapitel aus Bennis Sicht lesen, nur um zu wissen wie er zu Anjo steht und wie so seine GEfühlswelt aussieht.
Weil so böse und gemein wie er tut ist er ja eig gar nicht.^^"

Ach ja ...die Umarmung im Auto von Chris und Anjo war so süss, Chriss soll endlich die Hosen in die Hand nehmen und Anjo sagen was er fühlt, beziehungsunfähig oder nicht....;P
Und ich fand schön was Anjo gedacht hat bevor die zwei losgefahren sind, das er immer noch total verliebt ist in Chris...das gibt mir ja imme rnoch die Hoffnung das die zwei doch zusammen kommen und ende gut alles gut xD

So das wars erstmal..ich hoffe im nächsten Kapitel taucht endlich der neue Schüler von Chris auf....da bin ich ja mal gespannt xD
also bis zum nächten Kommi und wieder viel Spass beim schreiben ^^/)))) schüüüssss


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