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Zwischenwelten

-Sidestory IV-
von

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Begegnung

Der Durst war unerträglich. Die Schmerzen konnte er ertragen, die kannte er und hatte sie sich bis zu einem gewissen Grad selbst zuzuschreiben. Er hätte nicht mitgehen dürfen. Gefallener Adel der er war, war es absehbar gewesen, was sie mit ihm tun würden. Und trotzdem war er ihnen gefolgt – in ihre hochherrschaftliche Villa. Soweit er es beurteilen konnte, hatten sie sich recht lange mit ihm beschäftigt, was darauf hindeutete, dass sie zumindest vorübergehend Gefallen an ihm gefunden hatten. Er würde nicht weinen. Er hatte es gewusst und es war eingetreten. Es machte wenig Sinn zu weinen. Der Schmerz würde vergehen und seine Unschuld brachte es ihm ja doch nicht zurück. Vielleicht würde er weinen, wenn er wieder zu Hause war. Wieder in seinem eigenen Bett lag, die Decke um seinen Körper geschlungen, als wolle er sich wie eine Schmetterlingsraupe verpuppen. Die Spuren der Vergewaltigung würden rasch von seinem Körper verschwinden, wenngleich die Erinnerung wohl bleiben würde. Dagegen konnte er nichts tun und vielleicht war es auch besser so. Man lernte aus Fehlern – auch er. Doch die Wunden, die sie ihm zugefügt hatten, hatten ihn viel Blut gekostet und nun schrien seine ausgedörrte Kehle und sein verletzter Leib nach Ersatz. Ruhig betrachtete er die Fesseln, mit denen sie ihn am Bett fixiert hatten. In ein paar Stunden würden sie von selbst verschwinden, doch er hatte nicht das Gefühl so lange warten können. Sie waren magischer Natur und das machte es unmöglich sie zu öffnen oder zu zerstören, bevor die Zeit gekommen war. Einzig ihr Erschaffer vermochte dieses Kunststück zu vollbringen und er würde es ganz sicher nicht tun. Sie hatten ihn schon vor einer ganzen Weile alleingelassen. Wie lange konnte er nicht sagen, er war wohl eine Zeit lang bewusstlos gewesen. Vermutlich tranken sie weiter, feierten ihre Eroberungen oder bestiegen den nächsten Gefallenen. Wieder musterte er die Fesseln. Er würde ihnen nicht entkommen, es sei denn... Er spielte mit dem Gedanken sich die Hände abzubeißen. Er konnte es, seine Kraft war vollkommen ausreichend, und er würde wohl nicht daran sterben. Andererseits war er durch den Blutverlust bereits geschwächt und seine Armstümpfe würden die Jagd nicht unbedingt erleichtern. Von dem immensen Blutverlust ganz zu schweigen. Es beruhigte ihn nicht, dass er so nüchtern darüber nachdenken konnte. Er wusste zu gut, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war – bevor die Gier nach Blut ihn in wahnsinnige Raserei stürzen würde. Ihm war, als klopfte der Irrsinn bereits an seine Tür: Hallo? Jemand zu Hause? Der Durst war grässlich. Lähmend, fesselnd, beinahe körperlich schmerzhaft. Er würde dieses Stadium noch erreichen, daran hatte er keinen Zweifel. Bereits jetzt fiel ihm das Atmen schwer, stach die Luft wie Nadeln in seinen Lungen. Wenn er zu schlucken versuchte, durchfuhr ein brennender Schmerz seine Kehle. Er brauchte Blut. Mehr als alles andere. Und schnell, bevor er die Kontrolle über sich verlor. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Langsam, bedächtig und ein junger Mann betrat der Raum. Es war keiner der Männer, die ihn zuvor heimgesucht hatten. Der Mann, der gerade das Zimmer betrat, war der Sohn des Hausherren – Nicolas. Sein Name hatte ihm schon viel Hohn und Spott eingebracht. Die meisten Vampire hatten kraftvolle, melodische Namen – Alessandro, Luciano, Eleonora. Nicolas war im Vergleich dazu absolut nichtssagend. Außerdem scherzten sie gerne über die namentliche Verwandtschaft zu Nikolaus. Deshalb sagten sie, mit heuchlerisch neidischem Unterton, er habe es leicht bei der Jagd. Vor ihm würde ja niemand weglaufen, wo er den Menschen doch so schöne Geschenke brächte. Meist sagte er nichts dazu, doch manchmal lachte er mit ihnen und meinte nur: Ich wünschte es wäre so. Tatsächlich verbrachte der junge Mann die meiste Zeit seines Daseins damit, die Schäden, die seine älteren Brüder und sein Vater anrichteten, wieder gut zu machen. Über seine Methoden war wenig bekannt, doch er galt als ruhiger und ausgeglichener Charakter.

Der Andere betrachtete ihn ohne Scheu. Auf seinem Gesicht zeigte sich nicht die kleinste Regung. Als ob er eine Situation wie diese schon hunderte Male erlebt hätte. Wortlos trat er zu ihm und nahm dann auf der Bettkante platz. Erstaunlich sanft strich er ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachtete für einen Moment die gleißenden Fesseln. Der Jüngere wollte etwas sagen, obwohl er nicht wusste, welche Worte er an den Anderen hätte richten sollen. Doch kaum dass ihm der Gedanke kam und bevor er die Chance gehabt hätte den Mund zu öffnen, legte ihm Nicolas einen Finger auf die Lippen. „Nicht sprechen“, sagte er mit sanfter, leiser Stimme. „Das macht es schlimmer.“

Eine Weile sahen sie einander stumm in die Augen, dann begann der Ältere ihn anzukleiden. Ein dunkelblaues, mit silbernen Reißverschlüssen verziertes Oberteil, das den Einsatz seiner gefesselten Arme nicht notwendig machte. Er schämte sich nicht vor ihm. Nicht einmal, als der Andere die Decke fortzog, die seinen Unterleib zumindest ein wenig verdeckt hatte. Und auch dann nicht, als er, in vorsichtigen, streichenden Bewegungen, die Spuren seines Vaters und seiner Brüder fortwischte. Natürlich wollte er nicht dass er es tat. Aber welchen Sinn hätte es gehabt sich dagegen zu sträuben? Es hätte die Demütigung nur noch schlimmer gemacht. Er hatte seinen Stolz, aber dies war nicht der geeignete Moment ihn unter Beweis zu stellen. Und der Andere war überaus fürsorglich. „Selim Medeira.“

Er hatte den Älteren die ganze Zeit über beobachtet, doch jetzt waren seine Augen geschlossen. Er hatte sie schließen müssen, denn je länger er den Anderen ansah, desto mehr schienen dessen Adern durch die weiße Haut hindurchzuschimmern. Und so konzentrierte er sich auf seinen Atem, der ruhig, beherrscht und gleichmäßig war. Doch als er seinen Namen hörte, öffnete er die Augen wieder – und erstarrte. Der Andere hatte sich über ihn gebeugt, seine Kehle nur eine Hand breit von seinem Gesicht entfernt. Wie ein reißender Strom schien das Blut durch seinen Körper zu schnellen. Blut, das der Jüngere um jeden Preis wollte – und brauchte. „Trink“, sagte der junge Adlige und es klang wie ein Segensspruch in seinen Ohren. Und weder seine Kraft noch Beherrschung waren groß genug um ihm stand zu halten. Er durfte es nicht tun. Ganz gleich was der Andere sagte. Mit der Zunge fuhr er die Linie der Hauptschlagader nach, dann vergrub er seine Zähne im Hals des Älteren. Er hatte geglaubt, er würde es gierig und auf brutale Weise tun. Doch er war dabei so sanft, wie es Wesen ihrer Art nur sein konnten. Er trank in großen Zügen und voller Genuss. Er spürte die Hände des Anderen auf seinem Körper, an seiner Brust, an seinem Arm. Nicht abwehrend, sich stützend. Er wehrte ihn nicht ab, er sträubte sich nicht gegen ihn. Stattdessen kam er noch näher, neigte sich zu ihm herab, sodass er den Kopf wieder auflegen konnte. Sofort entspannte er sich, trank ruhiger, langsamer. Und Nicolas Vittorio wartete geduldig, bis er sich satt getrunken hatte. Als der Jüngere spürte, dass der Andere sich von ihm lösen wollte, fuhr er ihm noch einmal sanft mit der Zunge über die Wunde. Der junge Vittorio richtete sich auf und legte mit einem Ausdruck milden Erstaunens seine Hand auf die vollkommen unversehrte Haut. Selim sah ihn an, erwiderte ohne Mühe seinen Blick. Es war nicht seine tatsächliche Augenfarbe, dessen war er sich sicher, und doch faszinierte ihn das helle Grau der Iris, das sie wie flüssiges Silber erscheinen ließ. Der goldene Glanz seiner Augen war echt. Er verbarg sie nicht. Es war keine Farbe, die eine tiefere Bedeutung besaß, aber vielleicht das einzig wirklich Ungewöhnliche an ihm. Sie wurde nur sehr selten an die Nachkommen vererbt. Ein anderer Grund, weshalb dieser Mann seinen Namen kennen sollte, fiel ihm nicht ein. Er konnte nicht sagen wie lange sie einander auf diese Weise ansahen. Als wollten sie einander allein durch die Magie ihrer Seelenspiegel erkennen, durchschauen.

„Was tust du da?“

Er hatte sie nicht bemerkt. Weder ihre Schritte auf dem Korridor, noch das leise Geräusch der sich öffnenden Tür. „Juliana.“

Selim hatte sie bereits erkannt, bevor ihr Mann ruhig und ohne erkennbares Gefühl ihren Namen aussprach. Juliana war, wenn man es so ausdrücken wollte, ein blutjunges Mädchen, jedoch mit dem für Vampire so typischen Stolz und Eigensinn. Und sie war seit etwa zwei Jahren mit Nicolas Vittorio verheiratet. Ihr langes, dunkelbraunes Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern bis hinab zur Taille. Ihre dunklen Augen waren auf ihren Mann gerichtet, während er ihr sein Hiersein erklärte. Es klang glaubwürdig, doch die junge Frau zeigte keinerlei Regung. Es war vollkommen unmöglich zu sagen was sie dachte. Selim ahnte es und wenn er Recht behielt, dann würde dies Folgen für ihn und wohl auch für Vittorio haben. Folgen, wie sie sie bisher nur aus ihren schlimmsten Albträumen kannten. Als sie den Jüngeren wieder ansah, war ihr Blick voller Hass und Verachtung. „Geh weg davon“, sagte sie und ließ keinen Zweifel daran was beziehungsweise WEN sie meinte. Unter ihren glühenden Blicken stand Vittorio auf, ging hinüber zu den verhangenen Fenstern und zog dann, in einer einzigen Bewegung, die Vorhänge zurück. Tageslicht durchflutete den Raum und die tödlichen Strahlen der Sonne breiteten sich auf dem teuren Parkettboden aus. Etwa anderthalb Meter trennten sie noch von der Schlafstätte. Entsetzt starrte Selim auf den gleißenden Lichterteppich, dann in das Gesicht Vittorios. Dieser senkte den Blick und ging zu seiner Gattin hinüber. Als er am Bett vorbeischritt hielt er noch einmal einen Moment inne und sah ihn an. Aus den Augen des jungen Medeira sprach panisches Entsetzen – sein Körper jedoch war wie erstarrt. „Verzeih mir“, sagte der Ältere, dann ging er weiter. Vorbei an seiner Frau, hinaus aus jenem Zimmer, das Selims Grab werden sollte. Noch etwa eine halbe Minute ruhte der kalte Blick Julianas auf ihm, dann schloss sich langsam die Tür und die junge Frau verschwand aus seinem Sichtfeld. Eine Viertelstunde später hatten die Strahlen der Sonne das Bett erreicht. Die gellenden Schreie des jungen Medeira waren bis in die weit entfernte Empfangshalle des Hauses zu hören.



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