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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Des Königs langer Arm

Eine große Zahl schmaler, schwerer Samtteppiche verdeckten einen Großteil der dunkelgrauen Steinwände. In royalem Rot boten sie eine Zierde der sonst so tristen Gänge, die sich nur gelegentlich auflockerten, sei es durch eine Büste, ein Portrait seiner göttlichen Majestät oder eine Wache in schwerer Plattenpanzerrüstung. Seine Schritte wurden völlig vom weich gepolsterten Untergrund geschluckt.

Wie ein Schatten schob sich die kränkliche Gestalt den Gang herab. Seine leichte Gangart wirkte hinkend, sein Buckel befremdlich und viele wichen spätestens dann in Ekel und Abscheu zurück, wenn sie seine totenbleiche Haut sahen, die eingefallenen Wangen, die ausgemergelten Hände, die rot geäderten Augen. Celsor war alles andere als ein schöner Anblick, nein. Vermutlich hätte sein schwacher, zerschundener Körper keine Stunde in der royalen Folterkammer überlebt, nicht einmal wenige Minuten. Doch Mitleid hatte mit ihm niemand. Dafür war er zu hässlich.

Typisch Menschen.

Aber es kam ihm zu Gute. So wurde niemand misstrauisch. Seit Jahren schon beriet er seine Majestät, er hatte viele Launen erlebt, viele Pläne begleitet und viele Komplotte geschmiedet. Er war als Einziger vor den Launen seiner Majestät sicher – halbwegs sicher. Dieses Mal bestand keine Gefahr. Es gab keine schlechte Kunde zu verbreiten, ganz im Gegenteil. Mit dem hochwertigen, ledernen Schuh aus einer der teuersten Schustereien La Coeurs trat die kränkliche Gestalt gegen das Tor der Thronhalle. Die Wachen im Inneren reagierten, wie es ihnen aufgetragen wurde: Sie zogen die schweren Eisenringe und öffneten für Celsor.

Der Gottkönig Lumiéls saß auf seinem Thron, wirkte gelangweilt, wirkte unterfordert, wirkte, als könne er genau das gebrauchen, was Celsor zu bringen im Begriff war. Geradezu unterwürfig näherte sich die erbärmliche Gestalt dem Thron und wagte, wofür andere schon hingerichtet worden waren: Er stieg ohne Aufforderung seiner Majestät die flachen, breiten Stufen bis zum Thron herauf, um sich dort an die Seite des Selbigen zu stellen. „Majestät, es ist geschafft. Alle Vorbereitungen in Nothrend sind getroffen. Doch ohne unsere Hilfe wird er nicht überleben.“ krächzte die dünne Stimme. Ein jeder, der sie bisher vernommen hatte, war sich kurze Zeit darauf mit den Händen über die Arme gefahren, um wenigstens irgendetwas gegen die Gänsehaut zu unternehmen. Seine Majestät dagegen zeigte keine solche Reaktion. Er zog lediglich die Mundwinkel zu einem zufriedenen Lächeln empor.

„Dann wünschen wir, dass ihr beginnt. Und so sich sein Überleben nicht sicher sagen lässt, wünschen wir, dass ihr dem entsprechend nachhelft. Fehler sind für uns nicht akzeptabel!“ befahl der selbsternannte Gott des kleinen Inselreiches. In nicht weniger unterwürfiger Haltung stimmte Celsor zufrieden zu, ehe er sich wieder die Stufen herab zu quälen schien und seinen Weg über den roten Samtteppich nach draußen suchte. Er hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Zweifellos war seine Majestät nun erfreut und würde die nächsten paar Tage nur bei grobem Unfug jemanden hinrichten lassen.

Das wiederum interessierte Celsor nicht im Geringsten. Selbst hätte er die Stadt abbrennen lassen – sie waren alle entbehrlich. Einer dagegen war das im Moment nicht.

Celsors Schritte trugen ihn einige Gänge und Korridore weiter. Das Schloss glich einem Labyrinth. Jede Wache musste die Winkel auswendig kennen. Sollten je Rebellen oder Aufständische einfallen und es bis ins Innere schaffen, mussten sie von den Irrgärten so lange wie möglich von seiner Majestät fern gehalten werden. Und die Wache und Garde bekam dadurch die Gelegenheit, zurück zu schlagen, mehrere Blockaden aufzubauen und sie in die Zange zu nehmen. La Coeur war praktisch bereits eine Festung und der Thronsaal für alle Feinde des Königs unerreichbar.

In einem bestimmten Gang verharrte Celsor schließlich, wartend, ungeduldig. Sein Schuh hob sich, klopfte tonlos auf den Teppich nieder, wiederholte die Prozedur. Kerzen am Gangende begannen zu flackern, verloschen glimmend und zischend, bis auch die nächsten Lichter ausfielen. Eine Dunkelheit zog den Korridor herauf und verharrte exakt eine Lichtquelle von Celsor entfernt.

„Trödel nicht herum, wir haben für solche Spielereien keine Zeit!“ maulte der zuvor noch so kränklich wirkende Berater des Puppenkönigs. Seine Haltung hob sich, der Buckel verschwand und seine Stimme gewann merklich an Kraft. Aus der finsteren Wand trat eine Gestalt heraus, totenblass, ausgemerkelte Wangen, rot geäderte Augen und skelettgleiche Hände. Eine schwarze Kutte verdeckte die restliche Gestalt, die Kapuze war tief genug herabgezogen, damit selbst Kopf und Gesicht völlig verhüllt waren.

„Wie ihr befehlt, Meister.“ tönte die geisterhafte Stimme loyal. Celsor dagegen schien mit einer ungeduldigen Geste solche Formalitäten weg zu wischen. Es eilte und scheinbar war alle Welt um ihn herum zu unfähig, um das zu begreifen. Woher auch hätten sie es wissen sollen. Am Ende wäre es sein Kopf, der rollen könnte.

„Du wirst aufbrechen, nach Nothrend. Finde Alric Graufaust. Du wirst ihn am Leben halten, um jeden Preis, und ihn bei seinem Vorhaben unterstützen.“

Offenkundig war der Diener gewillt, noch etwas dazu zu sagen, doch geradezu ungeduldig scheuchte Celsor ihn davon. Wie von magischer Hand erzwungen, flammten die verloschenen Kerzen neu auf, die Dunkelheit zerstreute sich völlig... und zurück blieb in jenem Korridor nur Celsor, dessen kränklich wirkende Gestalt zufrieden in Richtung der weniger verwaisten Teile des Schlosses humpelte.
 

„Und ich sage dir, so einen Unfug habe ich nicht gehört, seit sie die verdammten Spitzohren aus Ammarath vertrieben haben!“ grollte Garwinn ungläubig. Doch weder Ragnar noch Snorri ließen sich davon beeindrucken, rissen weiter ihre Scherze und machten sich über das Unwissen des Schmiedes lustig. Unter anderen Umständen hätte das zu ernsten Streitereien, möglicherweise sogar potenziell tödlichen Kämpfen geführt, doch inzwischen reisten sie zu lange miteinander herum, um sich nicht in gewisser Weise in Freundschaft verbunden zu sein.

„Wir müssten bald da sein.“ warf Thorin schließlich sichtlich schmunzelnd in das Gespräch ein. Er war mit Garwinn längst nicht so vertraut wie die zwei Zwerge, konnte jedoch nicht abstreiten, dass ihr kleiner Scherz durchaus seinen Unterhaltungseffekt hatte.

„Ich kauf' dir mal 'n Stück Rinde, dann kannst du's ausprobieren!“ tönte Ragnar, um kurz darauf in schallendes Gelächter auszubrechen. Ein kräftiger Seitenhieb von Garwinn brachte ihn zumindest vorläufig wieder zum verstillen und keiner in der vierköpfigen Runde musste etwas sagen, damit klar wurde, dass sie zumindest vorläufig genug auf seine Kosten gelacht hatten. Gut gut, dafür bekäme er sicherlich in einer der Tavernen von Nothrend eine Runde ausgegeben, also ein kleines Fässchen.

Tatsächlich hatte sich Thorin nicht geirrt. Ganz im Gegensatz zu den Zwergen, die an der Oberfläche recht verloren auf Karten starrten und sie nicht zu lesen wussten, hatte er weder seinen Orientierungssinn, noch seine Fähigkeiten eingebüßt. Sie marschierten den letzten Hügel herauf auf dem kleinen Kies- und Schotterweg, der als Handelsstraße genutzt wurde, und dann kam Nothrend in Sichtweite. Natürlich nicht die Stadt selbst – nur ihre gewaltigen Bollwerke.

Viele Städte der Zwerge waren anders angelegt. Man hielt die Eingänge möglichst klein, um sie leichter verteidigen zu können und errichtete außerhalb kaum Mauern oder Türme. Varakas war dafür geradezu beispielhaft: Nur ein Erdhügel in der Landschaft, in dem ein großes, schweres Tor eingelassen war. Nothrend spottete dieser Bauweise. Es lag wie viele zwergische Siedlungen Lumiéls an der Steilküste des Hauptatolls und schmiegte sich an den nach Norden aufsteigenden Gebirgszug. Schwere Mauerwerke und Türme feinster, zwergischer Bauweise schirmten hier das große Tor ab und selbst, wenn ein Feind es unter zweifellos massiven Verlusten hätte passieren können, säße er direkt in der nächsten Falle. Jenseits des Tores führte eine Reihe von gleichartigen, aber schmalen Gängen in die Tiefe herab. Schweres Kriegsgerät hinab zu transportieren wäre nur in Einzelteilen möglich gewesen. Verließ man aber die Treppen, stand man auf einem halbrunden Platz, kaum groß genug für dreihundert Mann, von dem aus sich eine breite Brücke massiven Granits spannte. Drei Ochsenkarren hätten darauf parallel fahren können, doch vor dem Absturz hätte sie nur eine kleine Mauer geschützt, gerade hoch genug, um einem Zwerg Sicherheit und Halt zu bieten. Menschen würden ihrerseits nur zu leicht darüber stürzen und in der Tiefe verschwinden können. Unlängst war Nothrend so alt, dass niemand mehr wusste, was dort unten eigentlich war. Stein, Wasser, das spielte bei solchen Höhen für den Fallenden auch keine Rolle mehr.

Erst wenn man diese Brücke passiert hätte, stand man vor dem tatsächlichen, eigentlichen Stadttor Nothrends. Zwei schwere Ballisten auf steinernen Sockeln schirmten das Tor zu beiden Seiten und waren nicht nur fähig, den halbrunden Platz auf der anderen Brückenseite ins Feuer zu nehmen, sondern auch die gesamte Brücke mit ihrer Ladung zu tränken – und gemäß der Rezepte, die die Zwerge von Goblins gekauft hatten, waren das leicht zerbrechliche, tönerne Gefäße, die beim Aufschlag ein Gemisch mit der Luft in Berührung brachten. Das Gemisch der linken Balliste setzte ein ätzendes Gas frei, das nach wenigen Minuten sogar begann, schwere Rüstungen anzunagen. Das rechte Geschütz dagegen feuerte eine Ladung, deren Chemikalie mit Luft in Kontakt geriet und eine heiße Stichflamme zutage förderte.

Beide Abwehrstellungen könnten heranströmende Feinde vom Zeitpunkt, da sie die Treppen verließen, bis zu ihrer Ankunft am eigentlichen Stadttor in einem Nebel aus Feuer und Säure untergehen lassen. Allein die Kombination der Ballisten machte deutlich, dass die Schöpfer dieser schweren Verteidigungsstellungen einstmals nicht vor Menschen und Elben Angst hatten, sondern eher vor einer Gewalt, die sich eben nur durch diese zwei Elemente bezwingen ließ: Trolle.

Hatte man dagegen einmal Nothrends eigentliches Stadttor durchschritten, stand man praktisch schon auf dem ersten Marktplatz, von dem sich in dichtem Gewimmel unzählige Gänge in mehrere Richtungen und Ebenen der Stadt abzweigten.

Thorin kannte die Stadt, in der der Eisenhandclan beheimatet war. Auch die Donnerbärte hatten ihr ihren Sitz, wie er durch Ragnar erfahren hatte. Zwei der größten Clans in der Stadt und über alledem thronte der zwergische König in seiner altehrwürdigen Halle aus Stein. Es war keinem Fremden, ob Elb, ob Mensch, jemals gestattet worden, diese Halle zu betreten. Selbst Zwerge konnten hingerichtet werden, sollten sie leichtfertig einen Fuß hinein setzen. Dem König brachte man tiefsten Respekt entgegen – selbst, wenn man mit einer Führungsweise nicht einverstanden war. Zwergische Politik war ohnehin ein überraschend kompliziertes Konstrukt, das Thorin selbst in all seinen Jahren nie ganz durchschaut hatte.

„Bier, Met, Schnaps, Wein, Rum, Sprit,...“ begann Snorri geradezu begeistert aufzuzählen, während er in Gedanken die großen Lager zwergischer Tavernen durch ging. All die Köstlichkeiten, die sie so lange hatten entbehren müssen. Menschengebräu war einfach nicht wert, 'Bier' genannt zu werden. Auch Thorin wusste das. „Du schuldest mir noch 'n Fass!“ brummte der alte Waffenbruder seinem langen Freund zu, der daraufhin auflachte.

„Ich hoffte, du hättest es vergessen. Nein nein, natürlich bekommst du dein Fass.“ erwiderte Thorin. Trinkschulden waren Ehrenschulden – man wiegelte daraufhin nicht ab oder 'vergaß' sie. Das hätte einen Zwerg zutiefst beleidigt. Snorri hätte es verstehen können, doch Ragnar kannte den Langen noch nicht gut genug und sah entsprechend einen Moment überrascht, ja fast schon verärgert drein. Bisher hatte dieses lange Elend schließlich alle Zwergenbräuche zu respektieren gewusst – anders wäre er nicht zu der Einladung gekommen, ihnen hierher zu folgen.

Schon als sie an die großen Mauer- und Turmwerke heran traten, die an der Oberfläche lagen, blockierte eine kleine Schar schwer gepanzerter Zwerge ihren weiteren Weg. „Ist das normal?“ erkundigte sich Thorin überrascht. Die Wachen an der Außenfassade der Stadt wurden sonst nur so stark gehalten, wenn Krieg aufzog. Er fühlte sich in seiner Sorge bestätigt, als Snorri zu ihm aufsah, offenkundig selbst unsicher, und schließlich mit einem Kopfschütteln verneinte.

„Es tut gut, euch wieder zu sehen, Snorri Eisenhand!“ grüßte der Wachhauptmann den kleinen Tross, „Freut mich, dass ihr ihn finden konntet, Meisterschmied Garwinn. Und du? Hast deine Rüstung immer noch nicht bekommen, wie, Ragnar? Söhne Nothrends sind in diesen dunklen Zeiten immer gern gesehen! Aber den Langen da, lasst draußen!“ forderte der Wachmann und sah Thorin grimmig an, die Hand bereits an der Axt ruhend.

„Er ist ein Freund Nothrends und aller Zwerge.“ beschwor Snorri den Hauptmann. Der blickte seinen Volksmann offenkundig überrascht an, ehe er Thorin erneut abschätzig musterte. Es war ihm offenkundig alles andere als Recht, einen Menschen in die Stadt zu lassen – ein verwirrender Umstand. Früher einmal hatte Nothrend neben Varakas zu einer der größeren zwergischen Siedlungen gehört, die stets gern und rege mit dem restlichen Reich Handel trieben. Was hatte sich also verändert?

„Hmpf, meinetwegen. Aber haltet ihn an der Leine. Es ist dieser Tage nicht klug für einen Langen, den Fuß in die Stadt zu setzen. Passt auf ihn auf, sonst könnten wir ihm vielleicht nicht erlauben, ihn auch wieder hinaus zu tun.“ grollte der Wachhauptmann mürrisch und spuckte als Zeichen seiner Verachtung auf den Boden aus. Thorin spürte bereits, wie der Zorn in ihm aufzuwallen begann. Er war nicht gewillt, sich eine solche Behandlung gefallen zu lassen, nur weil ein Wachmann einen schlechten Tag hatte. Diesmal war es Ragnar, der rettend eingriff.

„Was für Neuigkeiten gibt es denn?“ verlangte der zukünftige Than seines Clanes zu wissen. Offenkundig hatte er damit einen Nerv getroffen, denn der Hauptmann verzog geradezu bitter das Gesicht, als hätte ihm jemand einen üblen Leberhaken verpasst. Er warf erneut einen geringschätzigen Blick zu Thorin auf, ehe er mit den Schultern zuckte und sich gegen den Stein der hoch aufragenden Mauer lehnte.

„'Seine Majestät' kommt. Die Langen schicken eine Armee, um Nothrend einzunehmen. Pah! Als wenn da eine Armee reichen würde! Vor einigen Tagen war ein Bote hier und forderte, unser König möge seine Krone nieder legen. Er sollte sich und sein Volk als Teil des Königreiches Lumiél anerkennen und damit unter die Staats- und Gerichtsbarkeit des Gottkönigs fallen. So... oder... irgendwie sowas hat er gesagt. Ich war betrunken. Jedenfalls drohte er mit Soldaten. In sieben Tagen sollen sie hier sein. Ich sage euch, sie werden ihre Knochen vom Boden aufsammeln! Zerschellen werden sie an unseren Schilden und Äxten! Verdammte Bastarde. Was glauben die eigentlich, wer sie sind? Außerdem wird der Graufaustclan unruhig. Der alte Balwig ist zu dement geworden, seine Zeit läuft ab. Alric kann es offenbar kaum erwarten. Seit Wochen drängt er auf Veränderungen und krächzt in der Ratshalle lauter herum als die anderen Politiker. Dabei gehört er nicht einmal zu ihnen. Aber jeden Morgen kommt er dorthin und plärrt wie ein wimmerndes Baby seine Befürchtungen herum. Wir haben schon überlegt, ob wir ihn nicht mal 'in Gewahrsam' nehmen sollten. Einfach nur lästig, diese Tage.“ maulte der Hauptmann überraschend gesprächig. Diesmal jedoch, trotz der offensichtlichen Provokationen, fiel es Thorin deutlich leichter, sich zurück zu halten. Nicht zuletzt, da es einen gut verständlichen Grund gab, warum der Wachmann solchen Unmut mit sich herum trug.

Seine Majestät streckte also die Klauen nach Nothrend aus. Nun, früher oder später hatte das passieren müssen. Hier saß der König der Zwerge – würde er fallen, würden möglicherweise sehr bald auch die anderen Zwergensiedlungen fallen. Ohne einen König war die Herrschaftsfrage wichtiger als die Verteidigung, eine Schwäche, die Thorin immer schon in ihrem Aufbau gesehen hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Kindskopf darauf kam oder jemand mit mehr Verstand ihm diesen Hinweis gab.

Doch wie, das verstand der Axtträger einfach nicht, wollte dieses Puppengesicht Nothrend einnehmen? Selbst seinem göttlichen Kinderverstand musste klar sein, dass man noch so viele Soldaten gegen die Mauern werfen konnte, sie würden als Matschflecken am Gestein enden. Nothrend war keine einfache Festung, es war eine regelrechte Bastion – und das schon an der Oberfläche.

Die drei Zwerge dagegen schienen sich ganz andere Fragen zu stellen. Ob die Stadt fallen konnte, stand nicht zur Debatte und keinen interessierten dabei Phillipes Gedankengänge oder Pläne. Sie waren wahre Söhne des Steinvolkes und ihr Bestreben galt nur einer Richtung:

„Wie können wir helfen?“ formulierte es Snorri schließlich entschlossener Stimmführung aus. Das schien, gemessen daran, wie sich die Barthaare um den Mund herum verzogen, dem Wachmann zumindest einen kleinen Funken Trost und etwas Freude zu bescheren.

„So gehört sich das für Söhne des Steins!“ tönte der Hauptmann, „Wir haben einen Plan. Wir werden das große Tor offen lassen und alle Wachen vom äußeren Wall abziehen. Wir bauen die Barrikaden auf den Brücken auf. Spitze Holzpfähle nach vorne ragend, damit sie ins Verderben rennen, wenn sie vor dem Ballistenbeschuss fliehen. Sie können nicht die Treppen hoch – da drängen dann sicher die Nächsten runter, die noch nicht begriffen haben, was sie erwartet. Wer es bis zur Brücke schafft, kommt zu den Barrikaden. Jede zieht sich bis auf dreiviertel der Brückenbreite und ist wie es sich für zwergische Handarbeit gehört, grundsolide. Die Barrikaden werden immer auf wechselnden Seiten angebracht. Wenn sie die Brücke überqueren wollen, werden sie sich wie eine verdammte Schlange durchwinden müssen. Auf der ganzen Strecke haben wir sie im Feuer und falls es tatsächlich irgendwer lebend bis zum Tor schafft, werden die Verteidiger sie erwarten. Wir lassen das Stadttor offen stehen, dann können wir unsere Truppen bis auf den gesamten Marktplatz sammeln. Jeder Sohn Nothrends wird zur Axt greifen und diesen Hunden zeigen, dass man einen Zwerg nicht herausfordert!“

Es war nicht schwer zu hören, wie rasch der Wachhauptmann sich in Rage redete. Sein Hass gegen die Menschen musste älter sein als diese Situation und hatte vielleicht sogar nachvollziehbare Wurzeln, doch offenkundig galt sein Zorn der Frechheit Phillipes, die Zwerge aufzufordern, sie mögen ihre Eigenständigkeit aufgeben und zu ebenso braven Bürgern werden, wie die Elben es mehrheitlich getan hatten.

Thorin dagegen dachte wesentlich kühler und pragmatischer. Der Plan war leichtsinnig. Bereits an den äußeren Bollwerken konnten sie mühelos standhalten, außer seine Majestät ließ schweres Belagerungsgerät auffahren. Dann hätte er die Armee jedoch bereits vor dem Boten entsenden müssen, denn kein Heerzug mit schwerem Gerät kam in sieben Tagen von La Coeur nach Nothrend. Andererseits – wäre das denn so verwunderlich? Er sammelte seine Truppen, sandte sie auf den Weg und noch während das Heer bereits marschierte, schickte er einen Boten vorneweg, um ihnen eine letzte Chance zu geben, von der er sowieso nicht erwartete, dass man sie akzeptieren würde. Nein – das klang tatsächlich nach einem guten Plan. Vielleicht sogar etwas zu gut, um aus Phillipes krankem Geist entsprungen zu sein.

Jemand half ihm also.

Oder die Armee war ohne schweres Gerät unterwegs. Dann war der Weg zwar zu meistern, der Angriff aber von vorn herein lächerlich. Vielleicht war es ein guter Plan, die äußeren Befestigungen zu verlassen und sie an der Brücke abzupassen. Dennoch hielt Thorin es für sehr gefährlich, das Stadttor offen stehen zu lassen. Sicherlich: Auf den Marktplatz passten dreimal so viele zwergische Krieger wie sie zwischen den Ballisten vor dem Tor Platz hätten, doch war eine solche Masse an Verteidigern notwendig? Das Stadttor war die letzte Linie, sollten die Brücke und die Ballisten fallen und da man kein schweres Gerät dort hinunter transportieren konnte, wären die Angreifer gezwungen, vor dem Tor auszuharren und auf eine gute Idee zu warten. So jedoch stand ihnen Tür und Tor offen.

Doch er war ohnehin nicht in der Position, irgendwelche Anmerkungen zu machen. Die Zwerge würden sich selbst verteidigen und gerade in dieser Situation auf den Rat eines Langen spucken. „Wie kann ich helfen?“ erkundigte sich der Kahlköpfige daher schlicht. Das schien sogar den Hauptmann zu überraschen, der verwirrt nachfragte, ob es sein Ernst sei, dabei helfen zu wollen, seinesgleichen in die Knie zu zwingen. Er war sogar noch erstaunter, als Snorri ihm davon zu erzählen begann, dass es innerhalb der Menschen von Lumiél einige politische Gegenströmungen zu seiner Majestät gab und eben nicht jeder Mensch bedingungslos auf des Königs Seite stand.

„Ja dann hoffen wir mal, dass sie ihre faulen Ärsche hoch kriegen und diesen Bastard vom Thron schubsen! Ha!“ merkte der Hauptmann daraufhin breit grinsend an und erklärte sich mit Thorins Angebot einverstanden.

Während Snorri und Thorin sofort dazu übergingen, bei den Vorbereitungen zu helfen, zogen sich Ragnar und Garwinn einen Moment zurück. Der Lange und sein Waffenbruder halfen, die schweren Palisaden aufzubauen. Es waren offenbar ganze Baumstämme, die man einfach zurecht gehackt und vorne angespitzt hatte. Mit Mörtel, schweren Keilsteinen und allerhand Muskelkraft schichtete man das Gemisch zu einem für menschliche Verhältnisse ungefähr bauchhohen Wall auf. Dabei erwies es sich für die Zwerge als echter Gewinn, Thorin auf ihrer Seite zu haben – an ihm konnten sie 'messen', ob eine Palisade bereits groß genug war, oder ob noch mehr Pfähle und Steine aufgeschichtet werden mussten.

Garwinn dagegen wusste, dass er kein Krieger war. Er kannte seinen Platz und genau deswegen traf er sich mit Ragnar kurze Zeit später auf dem Marktplatz hinter dem großen Stadttor.

„Ich habe mit einem Vetter gesprochen. Er stellt mir seine Schmiede für diese Tage zur Verfügung. Pünktlich zum Schlachtbeginn kannst du eine neue Rüstung haben – und eine neue Waffe.“ offenbarte der Schmied seinem Landsmann, „Die Frage ist nun, was du haben willst. Ich kann dir in drei Tagen ein gutes Stück Arbeit für einhundert Gulden geben. Gut – so wie es jeder Schmied könnte. Gibst du mir zweitausend Gulden, schmiede ich dir eine Rüstung, die eines Thans würdig ist und gibst du mir fünftausend, schmiede ich dir etwas, das einem verdammten König gebühren würde!“

Garwinn machte keinen Hehl daraus, dass seine Preise horrent waren. Die reinste Halsabschneiderei. Er war der beste Schmied ganz Nothrends, möglicherweise sogar der beste Schmied im ganzen Zwergenreich Lumiéls. Er hatte den Schneid, die Fähigkeit und den Geschäftssinn, um solche Preise ohne Bedenken zu verlangen. Ragnar dagegen schluckte schwer. „Gib zu, dass das die Rache für die Witze ist, die wir über dich gerissen haben!“ brummte der Krieger verdrossen. Nur ein kurzes Zucken der Mundwinkel und Garwinn hatte sich verraten. Fünftausend Gulden war... happig. Gerade, da Ragnar eigentlich ein Waffenbruder war, ein Landsmann, ein Freund. Er hätte ihm dieses Stück, dessen Entwürfe bereits in seinem Kopf herum schwirrten, auch schon für dreitausend geben können.

Schließlich zog der Zwerg einen schweren Beutel hervor. Garwinn nahm ihn entgegen und spähte hinein – Ragnars alte Rüstungsteile. Es war Tradition, dass man sie ein letztes Mal aufarbeitete, damit sie als Andenken in die Galerie der Ahnen des eigenen Clans gestellt werden konnten. „Das mache ich dir kostenlos.“ setzte der Schmied nach, um Ragnar zumindest diese geschätzten zehn Gulden zu ersparen. Dann nickte der Krieger, wenn auch schweren Herzens. Er versicherte Garwinn, dass ein paar Boten ihm seine Bezahlung bringen würden. Fünftausend Gulden neigten dazu, ein recht stattliches Eigengewicht zu entwickeln und dem Meisterschmied war schon jetzt klar, dass er das unmöglich auf seinen Reisen mitnehmen könnte.

Andererseits war das so ein Thema für sich.

Sie alle waren aus anderen Gründen hierher zurückgekehrt. Thorin wollte Nothrend wiedersehen, Snorri hatte letztlich doch eine Art von Heimweh entwickelt, Ragnar wollte die beste Schmiede für seine neue Rüstung und Garwinn hatte einfach nur den Auftrag seines Clans ausgeführt und seinen Vetter Snorri heim gebracht.

Doch anders als Thorin, Ragnar und Snorri, gedachte Garwinn hier zu bleiben. Sie würden wieder los ziehen, den König ärgern und mit ihm Katz - und Maus spielen. Er aber war kein Krieger. Wie jeder gute Zwerg konnte er sich verteidigen, aber er war Schmied. Sein Platz war hinter der Esse, am Amboss, mit kräftigem Hammerschwung auf das Metall. Er hatte es ihnen noch nicht gesagt, doch dieser unliebsame Punkt würde kommen. Vorläufig jedoch schieden sich die zwei Landsmänner an dieser Stelle. Ragnar zog davon in die tieferen Ebenen westwärts, um seinem Clan die Order zu erteilen. Fünftausend Gulden war zwar längst nicht das gesamte Clanvermögen, aber es würde die Donnerbärte doch empfindlich treffen. Garwinn dagegen gedachte sich von diesem Erlös eine neue, eigene Schmiede bauen zu lassen. Er hatte viel gesehen, viel erlebt und dieser Ausflug an die Oberfläche hatte ihn in nicht unerheblichem Maße inspiriert. Er hatte Menschen und Elben kämpfen sehen, hatte erlebt, wie sie sich schützten und verteidigten, hatte ihre Befestigungsanlagen studieren können. Ihm waren dabei viele neue Ideen gekommen, wie er seinem Volk weiterhelfen konnte – sogar bis in die Offensive, sollte das je nötig sein.

Der Schmied zog sich gen Osten zur Esse seines Vetters zurück und begann fast sofort das nötige Material zu bestellen und den Ofen anzuwerfen. Er hatte ein klares Bild vor Augen, wie Ragnar später aussehen würde – in seiner Rüstung. „Grutzl!“ rief Garwinn ungeduldig. Ein kleiner Goblin kam flink und unterwürfigen Blickes herbei geeilt. Wahrlich kein schöner Anblick. Zerfressene kleine Fledermausohren, schleimgrüne Haut und einige aufgekratzte Stellen, die verdächtig angenagt aussahen. Grutzl hatte sich für Garwinn als nützlicher Assistent erwiesen, trotz der Abartigkeit seines Aussehens. Er hatte ihn damals aus seinen Diensten entlassen müssen, als er des Auftrages seines Clans wegen die Schmiede schloss. Der Goblin war sichtlich erfreut gewesen, als sein alter Meister ihn gesucht hatte.

„Bring mir zwei Fass. Schnaps und Met. Ich werde viel zu tun haben!“ orderte der Meisterschmied und warf einen ersten, zufriedenen Blick in die aufziehende Glut der Esse, während er das vertraute Gewicht des alten Eisenhand-Schmiedehammers in seiner rauen Pranke wog. Endlich daheim!
 

Die Tage vergingen unter Tage immer schon anders als an der Oberfläche. Gearbeitet wurde, wenn man wach war, getrunken wurde, wenn man schläfig war, sei es, um zu erwachen oder gänzlich einzuschlafen. Aus der Eisenhandschmiede drang immer wieder, tagein, tagaus, das schwere Hämmern von Metall auf Metall. Manches Mal schwoll es an, wenn eine kleine, unscheinbare Kreatur auf einen kaum hörbaren Ruf hin durch den Türspalt hinein huschte. Gelegentlich hörte man das Wasser zischen, welches das Metall zu kühlen versuchte. Doch eines änderte sich nicht: Aus der Eisenschmiedesse quoll beständig dichter, dicker Rauch in den Himmel der Menschen auf.

Thorin, Ragnar und Snorri dagegen hatten mit dem Aufbau der Palisaden gut zu tun. Die Brücke maß zweihundert Meter und alle paar Meter sollte ein weiteres Bollwerk aufgeschichtet werden. Noch dazu mussten die flachen Geländer hier und da begradigt und ausgebessert werden. Ja, die Arbeiten glichen an manchen Tagen fast schon einer Art von Hausputz, in der alte Pläne, die man vergessen hatte, neu zutage gefördert und schließlich doch noch abgearbeitet wurden. Sie erwachten, nahmen ein deftiges Mahl ein und gingen an die Arbeit. Kamen sie von der Brücke zurück, tranken sie einen guten Humpen und gingen wieder zu Bett. Es waren Tage, mit denen Thorin gut zurecht kam. Er hatte klare Anweisungen, einfache, aber fordernde Aufgaben und ein Dach über dem Kopf. Wahrlich, in den letzten Jahren hatte es genug Zeiten gegeben, in denen es ihm schlechter ergangen war.

Tatsächlich waren die Zwerge so erstaunt über seinen Arbeitseifer, dass man ihm sogar ein Entgelt für seine Dienste anbot, doch Thorin schlug es aus. Nicht etwa, weil seine Reisekasse ein paar Münzen mehr nicht verkraftet hätte. Er hoffte auf mehr als nur Bezahlung. Wenn er den Zwergen beim Widerstand gegen die königlichen Truppen half, so wagte er zu vermuten, könnten sie ihm deutlich wohlgesonnener sein, wenn es eines Tages darum ginge, zurück zu schlagen, nach La Coeur zu marschieren und die verdammte Bastion mit Mann und Maus im Zwillingsstrom zu versenken!

Ein kühner Plan, selbst für den kahlköpfigen Krieger. Vielleicht war das der Grund, weshalb er Snorri nicht darin einweihte. Oder es lag einfach an der täglichen Erschöpfung.

„Ich sage dir, die Zwerge werden das nicht einfach aussitzen können! Das haben die Elben schon versucht.“ brachte Thorin ächzend hervor, während er mit Ragnars Hilfe einen weiteren Baumpfahl in Position brachte. Sie mussten ihn lange genug halten, damit der Baumeister ausreichend Stein und Mörtel darunter bringen konnte, damit das schwere Gewicht in Position bliebe, statt die bereits aufgeschichtete Mauer einzureißen.

„Die Spitzohren?! Du vergleichst uns mit denen?“ keifte Ragnar von der Anstrengung schnaufend. Beiden lief der Schweiß, doch zumindest waren dies Arbeiten, mit denen sie sich auskannten. Sie hatten in den letzten Tagen verspürt, wie die Stimmung sich immer mehr abkühlte. Doch das war keineswegs etwas Positives. Zwergische Politik war laut und 'temperamentvoll'. Die sich ausbreitende Stille war kein Omen sanfter Veränderungen. Etwas lag in der Luft und dieser Alric Graufaust schien damit zu tun zu haben. Ratsmitglieder wurden schweigsamer, andere verschwanden sogar gänzlich. Wenn es diesem Emporkömmling gelänge, den Rat unter seine Kontrolle zu bringen, und das obendrein als Nichtratsmitglied, dann hätte er eine enorme Macht auf seiner Seite. Der König und der Rat waren die zwei gesetzgebenden, urteilenden und damit letztlich das Schicksal des Zwergenvolkes bestimmenden Organe ihrer Gesellschaft. Gewiss – ein Wort des Königs konnte einen einstimmigen Beschluss der Ratskammer zunichte machen, dennoch war diese Einflussnahme bedenklich.

Snorri und Ragnar hatten es Thorin erklärt, bis auch dieser es verstanden hatte. Zwerge waren langlebig. Viele überdauerten anderthalb Jahrtausende, ehe sie am Alter starben. Alric aber war ungeduldig wie ein Mensch, er drängte, schob und zerrte, er war zu ungestüm. Eine typische Erscheinung bei Zwergen, gerade wenn sie noch nicht einmal ihre zweihundert Jahre vollendet hatten. Doch während die meisten jungen Zwerge von ihrem Clan gezähmt und belehrt wurden, war der Clanführer der Graufäuste dafür bereits zu alt. Er war dement geworden, wusste nicht mehr, mit wem er gerade sprach – unabhängig davon, ob man seinen Sohn, einen Fremden oder seinen König vor ihn gestellt hätte. Er vegetierte vor sich hin, natürlich in allen Ehren und von seiner Familie gepflegt, doch das Ende war absehbar.

Es gab niemanden, der Alric als seinen direkten Nachfolger hätte ausbremsen können. Er wäre damit ein Ärgernis, ein Chaot, sicherlich. Doch diese Einflussnahme ließ auf tiefergreifende Probleme schließen. Entweder bekam er Hilfe, von irgendwem, oder aber, der Rat war tatsächlich gewillt, eine Entscheidung über das Knie zu brechen. Etwas, das der zwergischen Mentalität einfach völlig widersprach. Vielleicht fühlte sich das Volk des Steines inzwischen von seiner Majestät genug bedrängt, um endlich handeln zu wollen?

Genau ließ sich das nicht sagen. Bisher hatten Alrics Aktionen kein klar erkennbares Ziel vermuten lassen. Zudem hatte man ihm nichts nachweisen können. Keine Erpressung, keine Entführung, kein Mord. Es war nicht klar, wie oder wohin die Ratsmitglieder verschwunden waren oder wie er andere Stimmen im Rat zum verstummen brachte. Doch als es begonnen hatte, waren sich alle einig: Dieser Taugenichts hatte nicht zu sagen. Und jetzt? Jetzt schwieg die eine Hälfte freiwillig und die andere aus der Befürchtung, ebenfalls bald irgendwie zu 'verschwinden'. Man hatte Angst vor ihm bekommen. Kein Zwerg würde je eingestehen, Angst zu haben. Sie würden es totargumentieren oder zornige Flüche brüllen. Aber für Thorin war die Lage klar – seit Alric zu agieren begonnen hatte, war es gefährlich geworden, ein Ratsmitglied zu sein.

Nur der König schien nun noch als Bollwerk zwischen Alric und der Macht zu stehen. Diese Situation war mehr als heikel, doch keiner traute dem jungen Emporkömmling zu, dass er jeglichen Respekt verlieren würde, nicht nur vor den Traditionen der Zwerge, ihrer Lebensweise und Philosophie, sondern zudem auch noch vor dem König selbst.

Dieser war mit seinen eintausendzweihundert Jahren gewiss alt – aber als Veteran unzähliger Schlachten und Kriege war er vorausschauend, weise und noch immer im Vollbesitz seines messerscharfen Verstandes. Er war ein Ideal für jeden Sohn des Steins.

Thorin schwieg sich aus. Er wollte Ragnar ungern an den Kopf werfen, was er wusste. Die Elben, obgleich verweichlichte, weinerliche Chorknaben, waren nicht unfähig. Sie waren magisch begabt, allesamt, und exzellente Bogenschützen. Dennoch hatten sie sich gegen seine Majestät nicht durchzusetzen gewusst, schlimmer noch, wenn an den Gerüchten über Ammarath auch nur das kleinste Detail wahr war, dann hatte seine Majestät sie mit aller Härte und Gnadenlosigkeit auf ihren Platz verwiesen – und der war grundsätzlich für alle immer zu Füßen seines Thrones. Stattdessen warteten sie auf das Signal des Baumeisters, setzten dann vorsichtig den Stamm ab und ließen ihn dort ruhen. Während sie sich zu Snorri begaben und dem Krieger halfen, einige schwere Steine zur aktuellen Palisade zu schleppen, fing ihr Blick einen Zwerg ein, der es offenkundig recht eilig hatte. Er kam die Treppen herab, rannte über den halbrunden Platz durch die Palisaden hindurch, immer im Zick-Zack, bis er bei den auf der Brücke arbeitenden Zwergen angelangte. Sofort und in Ahnung von Neuigkeiten und Nachrichten, scharten sich die Arbeiter ebenso um den Boten wie die Wachen des großen Tores.

„Sie kommen. Keinen halben Tagesmarsch von hier!“ warnte der Wachmann sie vor, „Hauptmann Morgrimm hat alle abgezogen, sie sollten bald hier sein.“

Das waren keine Nachrichten, die einer Katastrophe gleich kamen, aber doch zumindest ärgerlich. Die Zwerge hatten erst zwei Drittel der Brücke sichern können und offenkundig hatten sich des Königs Männer ein wenig beeilt. Vielleicht ahnten sie, was sie erwarten würde, oder schlimmer noch – sie wussten es aus einer zuverlässigen Quelle innerhalb der Stadt.

Erneut keimten Bedenken in Thorin auf, das Tor offen stehen zu lassen. Was, wenn Alric Graufaust mit seiner Majestät Phillipe dem Dritten kooperierte? Wenn es ein geheimes Bündnis gab, irgendeine Form von Absprache? Schon als er am dritten Tag diese Theorie geäußert hatte, erntete er boshafte, strafende Blicke – sogar seitens Snorri. Kein Zwerg, so hieß es, würde jemals sein eigenes Volk verraten, schon gar nicht an einen Menschen. Niemand, selbst ein stürmischer, ungezogener Alric Graufaust nicht, war dazu dumm genug.

Thorin hatte gelernt, seine Bedenken für sich zu behalten. Er wollte den Zwergen vertrauen, er wollte auf ihre Stärke und Beharrlichkeit vertrauen. Viele Jahrhunderte hatten sie Lumiél bevölkert, bereichert, hatten immer Stand gehalten, selbst wenn sie Schlachten verloren waren ihre Städte davon unangetastet geblieben. Wenn es dem König gelang, auch nur einen Fuß in Nothrend zu setzen, wäre das ein neuer Wendepunkt in der Geschichte – einer, den man keineswegs mit Freude erwähnen könnte.

„Los los los, ihr faulen Bastarde eines Ziegenbocks! Wir haben keine Zeit mehr!“ brüllte der Baumeister über die Traube seiner Arbeiter hinweg. Zumindest sie begonnene Palisade noch zu vollenden – das war das neue Ziel. Umso weiter konnten die zwergischen Verteidiger auf die Brücke vorrücken und dort bereits das formen, was jedem Angreifer, der sich das Volk des Steins zum Feind gemacht hatte, zum verzweifeln brachte:

Ein zwergisches Bollwerk.

Ihre Schilde waren hoch und breit, ihre Äxte trugen oftmals zwei Klingen mit einem Dorn an der Spitze, ihre Hämmer waren von Runen unterstützt. Reihe um Reihe schoben sie sich vor, von ihren Schilden zur Gänze vor Pfeilen und Bolzen geschützt, ein schepperndes, klapperndes Gestell, jeder Zwerg trug mehr Metall als er selbst wog und ihre kraftvollen Arme machten es zur Gewissheit, das ihre Hiebe irgendetwas zerschmettern würden. An einer kleinen, zwergischen Stellung kam man nur schwer vorbei, man musste sie mit hohen Verlusten zermürben und aufreiben. Das Einzige, was ein solches Bollwerk aus Rüstungen, Schilden, Hämmern und nicht zuletzt ihren Trägern rasch zerschlagen konnte, waren Magier.

Doch die Zirkel würden einen Teufel tun, ihre Neutralität aufzugeben und sich ausgerechnet einem Kind anzuschließen. Zumindest für diesen Umstand war Thorin mehr als dankbar. Denn Nothrend war groß – jeder Zwerg, der einem glücklichen feindlichen Hieb zum Opfer fallen würde, wurde schlichtweg ersetzt, indem die Reihe hinter ihm einen Schritt vor tat. Die Frontlinie würde sich nie verschieben, egal wie hoch der Berg der Leichen sich auftürmte.

Zwergische Kriegskunst. Man musste sie einfach für solche Beharrlichkeit bewundern.

Tatsächlich kamen wenig später die ersten Soldaten, die draußen an den Befestigungen Wache gehalten hatten. Sie verstärkten in völliger Selbstverständlichkeit ihre Kameraden am großen Tor und auch auf dem Marktplatz begannen sich bereits die ersten Söhne Nothrends zu versammeln, mit Äxten, Hämmern und sogar ein paar wenigen Lanzen unterschiedlichster Machart. Jeder Brustpanzer trug ein Clanwappen, jeder Helm war individuell verziert worden, das Kronjuwel einer guten Rüstung.

Tatsächlich schob sich aus all diesem Gedränge just in dem Moment, als Thorin, Snorri und Ragnar ihre Arbeit beendeten und ihre Waffen holen wollten, Garwinn hervor. Der Meisterschmied ließ seinen getreuen Goblin einen Helm tragen, während zwei andere Zwerge die restlichen Teile schleppten.

„Ragnar!“ rief der Meisterschmied und ließ die dreiköpfige Gruppe innehalten, „Da bist du ja. Dich zu finden ist schwerer, als bei Menschen gutes Bier aufzuspüren!“ maulte der Schmied, ehe seine Miene – zumindest nach zwergischen Verhältnissen – deutlich aufhellte, „Du wirst nicht glauben, was mir gelungen ist! Grutzl hat sich als nützlicher erwiesen, als ich es dachte. Er hat Verwandte in Poropay, musst du wissen.“ Es war für alle Anwesenden mehr als befremdlich, zu sehen, wie der Meisterschmied diesem kleinen, hässlichen Geschöpf den Kopf tätschelte, wie es sonst nur Menschen bei Hunden taten. Tatsächlich schien der Goblin damit aber über alle Maßen stolz und erfreut und reichte, auf einen dezenten Schubs seines Herrn hin, Ragnar den Helm.

Ein mehr als prunkvolles Stück, das einem zukünftigen Than zur Ehre gereichte.

„Dank einer Rezeptur dieser kleinen Grünlinge ist es mir gelungen, eine Legierung aus Adamantium und Gromril zu schmieden! Gestärkt von der Essenz einer Drachenschuppe und geformt von diesem Arm!“ protzte der Schmied voller Stolz und spannte die kräftigen Muskeln seiner Rechten an. Tatsächlich erweckte seine Erklärung das Interesse einiger umstehender Krieger und Arbeiter – denn bisher hatte es immer nur die Wahl gegeben: Adamantium oder Gromril. Das erste Material war flexibel und gegenüber Pfeilen und Bolzen schier undurchdringlich, weil es federte und niemals brach. Gromril dagegen war ein sehr harter, unnachgiebiger Stoff, er ließ sich von Bolzen und Lanzen durchschlagen, bot aber dank seiner massiven Stärke besten Schutz gegen Hiebe von Äxten, Hämmern und Schwertern auf. Bisher hatte es unter Zwergen im Allgemeinen und den Schmieden im Speziellen als völlig unmöglich gegolten, beide Materialien zu vereinen. Und nun kam Garwinn daher und behauptete, ihm sei es doch gelungen.

Tatsächlich, nun, da die Zwerge den Helm näher betrachteten, schien er eine Spur heller zu schimmern, als es für eine reine Gromrilfertigung üblich war. „Und weil ich mir bei fünftausend Gulden fast wie ein Gauner vorkam, gibt es das hier.“ setzte Garwinn offenkundig bester Laune nach. Seine neue Rezeptur würde ihn zum reichsten Zwerg in ganz Lumiél machen, bei den Ahnen, er würde sich ein paar Städte kaufen können! Was waren da schon fünftausend Gulden?

Nach und nach zog der Schmied aus den schweren Jutesäcken seiner zwei Gehilfen die Teile hervor. Armschienen, Beinschienen, schwere Panzerstiefel und Panzerhandschuhe und zuletzt schließlich den Brustharnisch mit dem Wappen der Donnerbärte. „Die Runen auf den Handschuhen verdoppeln die Kraft jedes Faustschlages, die Runen auf den Stiefeln werden nie zulassen, dass dich ein Gegner umwirft!“ erklärte Garwinn fast schon 'nebenbei'. Eher schien es, als würde er etwas suchen – und dann fand er eben dies. Aus dem zweiten Sack zog er einen Hammer hervor, der seinesgleichen suchte. Ein sanft geschwungener Dorn wuchs an einer Seite aus dem wuchtigen Metallblock, der am Kopf dieser vernichtenden Waffe prangerte. Kleine Runen waren auch hier auf das Metall geschmiedet worden, offenkundig von einem Meister, der die Runen bestens kannte.

„Schwinge den Dorn niemals leichtfertig auf den Boden, hörst du?“ warnte Garwinn eindringlich, „Die Runen werden dann die Erde beben lassen – das ist weder ein Scherz noch eine Übertreibung. Dank deiner Stiefel wird es dich nicht treffen, aber du kannst davon ausgehen, dass deine Feinde zu kämpfen haben werden, um das Gleichgewicht zu wahren!“

Selbst Thorin stieß einen leisen Pfiff der Anerkennung aus, als er dieses Monstrum von einem Kriegshammer sah. Zudem machte die Rüstung, frisch geschmiedet und poliert, nicht minder einiges her. Ragnar war dagegen der Einzige, der völlig schwieg, während um ihn herum geraunt, gepfiffen und gestaunt wurde. Sogar manches Tuscheln erklang. Schließlich nahm der künftige Than der Donnerbärte den Hammer entgegen und wog das Schwergewicht in seinen Händen hin und her. Als er aufsah, den Schmied betrachtete, der ihm eine unikate Rüstung im Wert eines halben Königreiches übergeben hatte, da glaubte Thorin fast, Ragnar würde nun ernstlich Tränen vergießen. Doch der Krieger beherrschte sich, schwieg – obwohl sein Bart verräterisch zitterte.

„Bei den Ahnen, Männer, tragt diesen stinkenden Bock in einen Zuber, staucht ihn durch und dann... dann steckt ihn da rein!“ befahl Garwinn und stützte sichtlich mit sich zufrieden die Fäuste in die Hüfte. Snorri lachte auf, als die Gehilfen des Schmiedes den noch immer sprachlosen Zwerg samt seiner neuen Rüstung davon führten. Den Hammer jedoch, den gab er nicht mehr aus der Hand.

Wenige Stunden später hatten sich alle versammelt.

Dicht gedrängt stand Zwerg an Zwerg, eine lange Zunge schimmernder Rüstungen und Schilde, von der Brücke durch den Torbogen bis auf den Markt hinein. Thorin stach aus der Menge sichtlich heraus, wie er dort im Zentrum der Meute stand. „Es wird mir eine Ehre sein, mit euch zu kämpfen.“ ließ er seine zwergischen Mitstreiter wissen. Snorri dagegen boxte ihn nur lächelnd in die Flanke. „Wie damals, huh?“ hakte er nach und grinste weiter vor sich hin, während er den Blick wieder gen Brücke straffte. Der Einzige, der in der angespannten Stille des Wartens einfach den Mund nicht halten konnte... war Ragnar.

Der baldige Than zupfte an sich herum, drehte und wendete sich, begutachtete die Runen, die Schienen, die Lederriemen daran, einfach alles war die Arbeit eines Meisters. Kein Metallspan stand über, keine Lasche war schief eingebunden, nichts. Einfach makellos. Das ständige Klappern und Scheppern aus seiner Reihe entlockte Snorri und Thorin ein breites Grinsen. „He da vorn, halt die Füße still, sonst stellen wir dich hinten an und du darfst zusehen!“ blaffte Snorri amüsiert vor. Ragnars Antwort erfolgte sofort – die Herausforderung zum Kampf, es sofort auszutragen, jawohl! Ein Lachen ging durch die Reihen, doch obgleich von Erheiterung zeugend, spürte man auch die Anspannung darin.

Wie das Warten auf den Sturm...
 

Mit Wucht wurden die schweren Torflügel der Halle aufgestoßen. Ein einzelner Zwerg trat ein, ohne Rüstung, nur mit einer einfachen, kleinen Axt bewaffnet. Seine jungen Gesichtszüge verzogen sich, als er grimmigen Blickes die Thronhalle absuchte. Nur der steinerne Sitz und der alte Zausel darauf. Ausgezeichnet.

Der König jedoch schärfte seine alt gewordenen Augen und erkannte den ungestümen Emporkömmling. „Alric Graufaust? Was habt ihr hier zu suchen?! Ich habe nicht nach euch schicken lassen!“ fuhr der König ihn barsch an und erhob sich von seinem Thron.

„Das Volk des Steins wird sterben, weil ein alter Narr nicht fähig ist, die Zeichen der Veränderung zu deuten! Unsere Lebensweise muss sich wandeln, sonst werden wir in den Fluten der Zeit ersaufen und keiner wird sich erinnern, dass es uns einst gab.“ erklärte Alric, während er eisernen Schrittes, die Axt fest umschlossen, auf seinen König zuhielt. Wo die Wachen waren, die einstmals diesen Saal beschützt hatten, fragte der König nicht. Nach Alrics Worten war das Ausmaß seines Verrates bereits offensichtlich geworden. Voller Zorn packte der Veteran den schweren Streithammer, der neben seinem Thron lagerte und hielt ebenso auf den Jüngling zu.

„Ich werde eure eure Taten bereuen lassen, wenn die Ahnen euch aus ihren Hallen verstoßen!“ stieß der König in kalter Wut einen der schlimmsten zwergischen Flüche aus. Nichts traf einen Sohn des Steins härter als die Angst, von den Ahnen verstoßen und als unwürdig befunden zu werden. Gerade jedoch, als Axt und Hammer einander hätten treffen sollen, riss plötzlich eine fremde Macht den König zurück. Vor Überraschung verlor er den Hammer aus seinen Händen, landete aufkeuchend auf dem Boden und schien unfähig, sich aufzubauen.

Als der König den Kopf hob, schritt neben Alric jemand einher.

„Du Narr! Was sucht dieser Mensch hier? Bist du völlig von Sinnen, Junge?“ Doch alle Versuche des Königs, dem Ungeduldigen in sein verkommenes Gewissen zu reden, scheiterten. Auf ein kaum wahrnehmbares Nicken des Fremden hin holte Alric mit der Axt weit aus. Unsichtbare Hände drückten den König nieder, klammerten sich an seine Kleider, hielten ihn am Boden gefangen – selbst dann noch war eher sich zu bewegen unfähig, als seine Glieder zu zucken versuchten in Ermangelung des Kopfes auf seinen Schultern.

Nur die zierlich wirkende Krone, befleckt vom Blut, rollte über den nackten Stein zwischen den langen Festtafeln entlang, deren Stühle leer waren und doch Zeugen zu sein schienen. „Vielleicht solltet ihr die neue Order eurem Volk erklären,... König Alric Graufaust von Nothrend.“ erklang die dünne, kränklich wirkende Stimme des Fremden. Wie eine unheilvolle Melodie schwang sie im Raum auf und ab. Einzig Alric begann zu lächeln. Es war geschafft! Sein Plan hatte funktioniert! In völliger Ruhe und Geduld nahm er die Krone vom Boden, setzte sie auf den eigenen Haarschopf. Sie passte, sie passte ihm sogar so gut, dass der Schluss nicht fern lag, dass sie schon immer auf dieses Haupt gehört hatte. Rechtmäßig.
 

„Haltet ein, Söhne Nothrends!“ tönte ein lauter Ruf. Die zwergische Front klapperte und schepperte, man wandte sich um, versuchte zuzuhören, „Haltet ein, Verteidiger des Steinvolkes! Unser König Alric Graufaust befiehlt, keinem Manne seiner göttlichen Majestät Phillipe dem Dritten ein Leid zuzufügen!“ verkündete der Bote.

Die Reaktion der meisten Krieger war völlig identisch mit der Ragnars, Snorris und Thorins: Unverständnis, Verwirrung, aufklappende Kiefer und neben allerlei dunklen Vorahnungen – Sprachlosigkeit. König Alric? Seit wann das denn?

Tatsächlich pakte der erstbeste Krieger, dem der Bote zu nahe kam, ihn beim Kragen und zerrte ihn mit zorniger Miene und drohendem Knurren von den Füßen. „Was faselst du da? Alric ist nicht unser König!“ blaffte der Krieger. Der Bote aber schlug dem Soldaten ohne Scheu ins Gesicht und spuckte gar auf ihn nieder.

„Verräter wie du werden es bald schwer haben! Alric hat seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron eingenommen. Der alte Narr ist tot und der Rat hat seine Krönung bestätigt!“ rief der Bote über das versammelte Heer hinweg. Raunen und Rufe, wütendes Geschrei, alles erschall durcheinander. Was war nun zu tun? Was sollten sie machen? Nur der König hatte die Macht, einen Befehl zu erteilen. Der Rat hatte Alric bestätigt, aber dieser war nur durch List und Mord dazu geworden, doch...

Schiere Verwirrung brach über die Zwerge herein.

Just in diesen Momenten schritten schwere Panzerstiefel die Stufen herab. Wie Ameisen strömten des Königs Soldaten die Treppengänge Nothrends herab. Sie sammelten sich nicht einmal – einer feinen, metallisch glänzenden Spur gleich zogen sie sich durch die Barrikaden. „Macht Platz für die Männer seiner Majestät, macht Platz für die Verbündeten eures Königs!“ forderte der Bote barsch. Es war ein Leichtes, zu erkennen, dass die Mehrheit der Zwerge ihn hätte aufknüpfen wollen. Es war ein Leichtes, den Hass in so vielen Augen zu lesen, das Verlangen, diesem Feind ohne Gnade das Leben zu nehmen.

Und obwohl Thorin so viel Zorn, so viel Kampfeslust und Blutdurst sah... wich das zwergische Bollwerk. Die Soldaten des Königs traten an die erste Verteidigungslinie, ohne unter Beschuss geraten zu sein, und wenn auch maulend und murrend, so wichen die Zwerge auseinander und schufen einen Korridor, durch den die Soldaten seiner Majestät direkt nach Nothrend hinein spazieren konnten.

Was in Arimaspers Namen ging hier vor sich?

Thorin wusste nicht einmal zu sagen, ob er sich tatsächlich überrascht zeigen sollte von dem Anblick, der sich ihm bot. Keiner der Soldaten hatte sein Schwert gezogen, keiner von ihnen kam in schwerer Rüstung. Nein – was er hier sah, das waren keine Männer, die man in einen Feldzug gegen eine zwergische Siedlung führte. Was er hier sah, das waren Wachen. Das war eine Besatzungsmacht. Tatsächlich kamen die Soldaten auch nicht in der Anzahl einer ganzen Armee. Sie hatten ein einziges Regiment entsendet. Zugstärke. Genau eine Wachgarnison konnte man damit füllen – ausgelegt auf die Größe einer Stadt wie Nothrend.

Dieser Krieg war vorbei, ohne dass es einen einzigen Verteidiger gegeben hätte, der fiel. Ohne, dass ein einziger Aggressor zu Schaden kam. Wie betäubt standen die meisten Zwerge da, starrten ungläubig zu Boden und versuchten die verächtlichen, belächelnden Blicke der Soldaten zu ignorieren, die an ihnen vorbei zogen. Wie war das möglich gewesen?

Selbst Thorin wurde mit der Situation nicht fertig. Um Blut zu vergießen und ihre Heimat zu verteidigen, dafür waren alle her gekommen. Und jetzt sahen sie zu, wie man ihnen diese Heimat nahm. Völlig legitim.

„Unser König befiehlt ebenso, dass das Heer sich wieder zerstreue und ein jeder seinen Pflichten nachgehe!“ verlangte der Bote weiterhin, als er bei Snorri und Thorin angelangte. Da tat sich der Waffenbruder Thorins hervor und packte den Boten beim Hals. „Ich werde meine Brüder rufen und diesem 'König' zeigen, wie leicht ein Umsturz sich wiederholen lässt!“ brüllte er ihm aufgebracht entgegen, der Bote aber, obgleich in unglücklich scheinender Lage, lachte laut auf.

„Snorri Eisenhand, richtig? Was wagt ihr es, Hand an eures Königs Boten zu legen? Die Eisenhände waren einer der ersten Clans, die im Rat der Krönung zustimmten!“ offenbarte der Bote. Wie eine Faust ins Gesicht, so saßen diese Worte. Thorin sah seinen alten Freund zurücktaumeln, sah seine Kräfte verschwinden, versiegen. Der Bote setzte seinen Weg völlig unbekümmert fort, doch für Snorri war soeben die ganze Welt zusammen gebrochen. Sein Clan? Wieso sollte er das tun?

„Ragnar!“ rief Thorin dem Krieger nach, der gerade finsterster Miene an ihnen vorbei stampfte, „Snorri, komm schon, wir müssen mit ihm!“ forderte Thorin seinen Waffenbruder auf, doch Snorri war nicht einmal ansprechbar. Obwohl ihn dabei ein schlechtes Gewissen packte, ließ er seinen Freund einen Moment allein und er jagte Ragnar allein nach.

„Ich werde ihn töten.“ grollte der Krieger ohne auch nur zu dem Langen aufzublicken, „Und dann töte ich jeden Menschen in Nothrend.“ setzte er nach einer kleinen Pause nach, binnen derer er eisernen Schrittes auf die Thronhalle zusteuerte.

„Ich helfe.“ erklärte Thorin nicht minder grimmig.

Sie wollten gerade den Korridor zur Thronhalle einschlagen, als ihnen ein Wachmann entgegen kam. Nur mit Mühe gelang es ihm, Ragnar zu bremsen. Er schob regelrecht gegen ihn an, damit sie stehen blieben und einen Moment zuhören würden. „Ragnar, verschwende dein Leben nicht! Ein Magier der Menschen beschützt Alric, ich habe sie zehn Krieger töten sehen – selbst du hast keine Chance!“ warnte der Soldat ihn schwermütigen Tones. Er blickte zurück in die blutgetränkte Thronhalle, in der Alric selbstzufrieden auf dem steinernen Sockel saß. Ein Bild, das Thorin in dieser Weise nur geringfügig anders aus La Coeur kannte...

„Diese Schlacht kann nicht gewonnen werden. Nicht hier, nicht jetzt. Lass uns Zeit, hilf uns, wir... finden eine Lösung.“ schlug der Soldat stattdessen verschwörerischen Tones vor. Thorin jedoch hatte genug gesehen und gehört. Hier gab es nichts mehr zu retten.

Nothrend, und damit auf lange Sicht die Zwerge, waren gefallen.



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