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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Königin Saeryleth

„Runter!“ keifte Thorin gerade noch rechtzeitig, warf sich zur Seite und stieß Snorri mit der Schulter aus seiner Bahn. Der Zwerg purzelte einen halben Meter weit. Das Scheppern seiner Rüstung hallte lautstark in den Gängen und verlassenen Räumen wieder. Murrend und unheilige Flüche ausstoßend, dass ein gestandener Seemann rot geworden wäre, rappelte sich der Krieger wieder auf und versuchte schnellstmöglich seine verlorene Geschwindigkeit wieder herein zu holen. Thorin hatte rechtzeitig die Kurve bekommen, sich trotz seines Manövers fangen können und rannte nun schon ein paar Meter vor ihm daher. Den Speer ignorierend, der lautstark dorthin gescheppert war, wo Snorri gestanden hätte, setzte sich der Kämpfer wieder in Bewegung.

„Ninafer, schneller!“ trieb Thorin den nächsten Streiter ihrer Gruppe an. Es war die reinste Hetzjagd. Ninquîel und Raven musste der Anführer des Tross wenigstens nicht antreiben, und gegen Drakimh hegte er im Moment genug Groll, dass es ihm fast gleich war, ob er nun zurück blieb und einer marodierenden Horde Untoter in die Hände fiel. Doch ausgerechnet der Magier, das Schlusslicht der Flüchtlinge, vermochte sich bislang stets eine Armlänge vor der Woge ihnen nacheilender Leichen zu halten.

Thorin eilte um eine Ecke, wich geschickt unter einem Schwertstreich hindurch und schlug mit der Kraft eines schweren rechten Hakens zu. Das halb verrottete Skelett brach auseinander, Knochen, Rüstungsteile und Schild stürzten scheppernd ineinander zusammen. „Los, los, los, hier lang!“ peitschte der Axtträger seine Meute auf und wies ihnen die Richtung. Hatte der Weg zum vermeindlichen Ziel sie nur wenige Minuten gekostet, so schienen die Gänge sich jetzt endlos zu ziehen. Ja als würden sie geradewegs vermeiden wollen, ihre Beute wieder ziehen zu lassen.

Er wartete. Snorri und Raven passierten, Ninquîel und Ninafer waren die Nächsten. Erst als Drakimh um die Ecke gehechtet kam, setzte sich auch Thorin wieder in Bewegung. „Wenn ich das nächste Mal sage, du sollst das verdammte Buch liegen lassen, dann lass es liegen!!“ keifte der Krieger den Magier an. Drakimh aber zog die Arme fester um den unmessbar wertvollen Schatz vor seiner Brust, klammerte sich trotzigen Blickes an das alte, verstaubte Werk, als wäre es seine Rettung. „Das ist den Aufwand wert!“ erwiderte er in dem Versuch, seine Torheit zu rechtfertigen, „Außerdem hat DAS ja keiner kommen sehen können!“ wollte er weiterhin einwenden und vollführte im rennen eine halbe Geste, um hinter sich zu deuten. Einen Augenblick überkam Thorin das tiefe Verlangen, Drakimh an der Schulter zu packen und gegen die Wand zu werfen. Die Untoten würden ihn einholen und sonstwas mit ihm anstellen. Im besten Fall – für Drakimh – ihn einfach töten und das Buch nehmen. Oder sie machten ihn zu einem der Ihren, oder sie zerfetzten ihn regelrecht, doch der Krieger war es leid, die mangelnde Erfahrung dieses ach so großen Magiers und deren Konsequenzen zu tragen.

„Nicht absehbar? NICHT ABSEHBAR? Das ist kein Stapel verwitterter Pergamente, die irgendwo in den ganzen Bibliotheken verrotteten, das ist ein Buch! Bei Mermerus, denkst du auch nach? Es lag in einem runden, zeremoniell wirkenden Raum auf einem einzelnen Sockel im Zentrum, die ganze Anlage gruppiert sich um diesen Raum und du... du nimmst es einfach...!“

Thorin war nicht fähig, nicht einmal mit seiner Stimmgewalt, die Fassungslosigkeit auszudrücken, die ihn befallen hatte. Schon als Drakimh mit einem bedrohlichen Leuchten in den Augen auf den Podest zugetreten war, hatte der Krieger Schlimmes geahnt, aber es war zu spät gewesen. Er hätte den Magier nicht mehr rechtzeitig erreichen, von dieser Torheit abhalten können. Einmal das Buch angehoben, wurde scheinbar ein Mechanismus in Gang gesetzt, eine uralte Falle. Zweifellos hatte sie mit Magie zutun – was sonst konnte diese halb vermoderten Leichen so agil herum rennen lassen. Sie waren aus unzähligen Zimmern und Grabkammern gebrochen, wie eine Flut hatten sie sich hinter ihnen geschlossen. Bisher hatten sie wenigstens das Glück genießen können, dass ihnen von vorne keine zweite Menge entgegen kam, um ihnen den Weg abzuschneiden, aber all das hätte vermieden werden können, wenn der Magier nur wenigstens dieses eine Mal eine allzu offensichtliche Falle erkannt hätte.

Aber nein, wozu auch, wäre ja langweilig!

Der Axtträger sah schließlich davon ab, den Magier zu opfern, blickte ihn lediglich ein letztes Mal zornig an, ehe er ein Stück aufholte und sich wieder zur Führungsposition der Gruppe begab.

„Ich sag dir, wir müssen links!“ knurrte Snorri felsenfest überzeugt in seinem Disput mit Raven. Das Ende des Ganges war absehbar: Eine T-Kreuzung und auch Thorin wusste beim besten Willen nicht mehr, welchen Pfad sie einschlagen mussten. Raven hingegen bestand auf dem rechten Weg.

„Wir gehen links...“ entschied der Krieger kurzentschlossen. Der Grund war gleichermaßen simpel wie irreführend: Auf der linken Seite hingen die gleichen Wandhalterungen mit den scheinbar seit Ewigkeiten ununterbrochen brennenden Pechfackeln, zweifellos die gleiche Art von Magie, die den ganzen Ort umgab, doch während die rechten Fackeln einfach nur brannten, hatten die zur linken Seite geflackert – vielleicht ein Luftzug, ein Windhauch, ein Zeichen des dichten, fast undurchdringlichen Dschungels, der den Tempel umgab.

Wie hatten sie nur auf die Idee kommen können, dass es ein guter Auftrag wäre? Natürlich hatte alles simpel begonnen. Die größten Miseren, das wusste Thorin inzwischen, begannen immer ganz simpel. Ein Gasthaus, ein enttäuschter Kapitän, mit dem sie eine Runde tranken und sich von ihm sein Leid klagen ließen. Seit sie die Kreuzwegfeste übernommen und damit eine passable Zuflucht für die ihnen folgenden Widerstandkämpfer gefunden hatten, war das vordringlichste Problem Geld geworden. Eine Armee wollte ernährt werden und nur wenige Händler wagten unter dem Ladentisch genug Waren zu verschieben, um hunderte Mäuler zu stopfen. Medea tat ihr Möglichstes, doch Tiere mussten sich vermehren, aufwachsen, Nachkommen zeugen. Das dauerte Jahre und die Bestände ihres Waldes gaben längst nicht genug her. Auch der geringfügige Ackerbau, Elbenmagie hin oder her, reichte nicht aus. Neben der Ernährung war dann noch das Problem, alle Rebellen mit Waffen und Rüstungen eindecken zu müssen – nach Möglichkeit zudem keine drittklassige Ware, die beim ersten Gefecht auseinander fallen würde. Von den zahlreichen nötigen Bauarbeiten, um die verwitterte Feste wieder in Stand zu setzen, ganz abgesehen. Sie brauchten allerhand Ziegel, Backsteine, Metalle, Granit, ein eigener Steinbruch wäre praktisch gewesen!

Seit sie sich dem Untergrund angeschlossen hatten, gab es zwar erstmals Hoffnung, wirklich etwas bewegen zu können, aber mit dieser Entscheidung war auch alles viel komplizierter geworden – und die ruhigen Nächte sorglosen Schlafes damit deutlich rarer. Der Kapitän hatte ihnen von einer Expedition seines Bruders erzählt. Gewaltige Goldreserven im Dienste des Königs von A nach B bringen. Natürlich war das Schiff bei den Stürmen rund um Lumiéls Küste, die in letzter Zeit bemerkenswert an Häufigkeit zugenommen hatten, irgendwo gekentert. Ein paar Magier hatten für einen Gutteil eines Geldes einen Zauber gesprochen und so immerhin herausgefunden, dass das Schiff auf dieser Insel gelandet war. Allerdings hätte Thorin sich vielleicht damals schon denken sollen, dass es nicht so leicht werden würde, wie es klang. ‚Mal eben hinsegeln, Fracht abholen, zurück segeln und ein Viertel des Goldes als Bezahlung behalten‘ klang zwar schön... war aber offensichtlich nicht ganz richtig.

Sie hatten nicht mit Überlebenden gerechnet. Vermutlich waren Liam und die anderen längst damit fertig, den Inhalt des Wracks an der Küste umzuladen auf ihr eigenes Schiff – eine weitere Investition, die noch nicht ganz bezahlt war. Überlebenden nachjagen. Das stand nicht im Vertrag, war kein Teil ihres Abkommens, ihres Auftrages. Raven hatte von Anfang an davor gewarnt, diesem Irren nachzujagen, aber nein, er wollte ja unbedingt helfen.

Natürlich ihr zuliebe. Sie hatte sich Sorgen gemacht, was ihm im Dschungel alles passieren könnte. Man sollte ihn doch lieber einfangen und zurück bringen. Prima. Bis zu diesem vermaledeiten Tempel waren sie ihm gefolgt, nur um hier die Spur zu verlieren. Ninquîels elbische Augen waren gut – aber trotz ihrer visionären Gabe und den Vorzügen ihres Volkes, allmächtig war sie eben auch nicht.

„Sackgasse!“ rief Raven von vorne missmutig und riss Thorin damit aus seinen Gedanken. Er stürmte im Sprint ein gutes Stück vorwärts. Sie waren tatsächlich in die Falle gelaufen, hätten den rechten Weg einschlagen sollen, was Raven auch prompt anmerkte. „Jaja, ist ja gut, darüber können wir uns später streiten!“ fluchte Thorin und warf einen Blick zurück. Die Gruppe sammelte sich in der kleinen Bibliothek, noch war von den Untoten nichts zu sehen, doch es war nur eine Frage der Zeit und ihr Vorsprung schmolz beständig. Zudem wussten sie nicht, ob der Feind ihnen in die grüne Hölle dort draußen folgen würde – und wie gut und schnell sie da voran kämen. Sie hatten für ein paar Meter vom Strand hierher Stunden gebraucht und der Rückweg würde vermutlich nur minimal besser voran kommen.

„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg...“ murrte Thorin verbissenen Gesichtsausdruckes und blickte zu Snorri herab, „Erinnerst du dich noch an Katar?“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Willst du warten, bis man dir an der Hüfte rumkaut?“

Der Zwerg murrte unzufrieden, schien aber einverstanden. Sie zählten gemeinsam herab. Drei... zwei... eins. Mit einem raschen Sprint stürmten sie auf die marode aussehende Wand zu. Drakimh wollte eben ansetzen, sie darüber zu belehren, wie maßlos dumm das war – verkniff sich solche Worte zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber lieber. Die Struktur des Tempels war alt, so furchtbar alt, dass ihnen gut und gerne alles über dem Kopf zusammenbrechen könnte, wenn sie hier einfach eine Wand einreißen würden. Doch davon ließen sich die Beiden nicht stören. Sie donnerten mit voller Wucht gegen die schweren Steine, die allzu porös geworden hinweg brachen. In einer Wolke aus Steinsplittern, dem Staub der Zeit und zerbröckeltem Mörtel brachen Snorri und Thorin in einen neuen Raum hinein. Offenbar eine gewaltige Halle mit mehreren Zugängen. Als die Staubwolke sich legte und der Tempel noch nicht so klang, als würde er einbrechen, folgten ihnen die anderen nach. Thorins Kopf war nun von einer kleinen Platzwunde verziert, seine Rüstung wies ein paar unschöne Schrammen auf und von der übel schmerzenden Rippe fing er lieber nicht an – aber sie hatten einen Weg, waren der Sackgasse entkommen.

„Los, da lang!“ wies Thorin den Tross an und deutete die längliche Halle hinab. Raven und Ninquîel eilten voraus, Drakimh folgte dichtauf. Der Zwerg und sein alter Waffenfreund entschieden, diesmal selbst das Rücklicht zu bilden. Obgleich sie beide Ninafer zur Eile antrieben, schien es fast, als wolle die junge Adelsdame stehen bleiben und sich an der oppulenten Größe und verwitterten Glorie dieser Halle weiden. Alte, zerschlissene Teppiche an den Wänden zeugten von einem triumphalen Zeitalter, in dem dieser Tempel das Zentrum von... irgendwas war. Kleine Gravuren auf dem Boden schienen ihre Aufmerksamkeit ebenso zu fesseln wie die hohen Kreuzbogengewölbe der Decke. Sie blieben erst stehen, als sie fast vier Fünftel der Halle durchquert hatten. Hinter ihnen strömten tatsächlich bereits die Untoten durch das frisch entstandene Loch und sammelten sich zu einer neuen Meute zusammen, rostige Speere, schartige Schwerter und Schilde, die mehr Löcher als Metall hatten. Dennoch waren sie in ihrer Masse gefährlich und selbst das stumpfste Schwert konnte töten.

Trotz der nahenden Bedrohung hielten sie einen Augenblick inne. Ein fast schon magischer Moment.

Sie blickten empor zu zwei Statuen, die an jeder Seite der Halle sich erhaben in die Höhe reckten. Abbildungen einer Frau in Robe, die in einer ehrwürdigen Geste die Hand hob, als wollte sie ihnen bedeuten, stehen zu bleiben. „Wer... ist das?“ kam es atemlos, aber dennoch sichtlich beeindruckt von der Halbelbe. Niemand sagte etwas, obwohl die Antwort durchaus bekannt war. Ninafer setzte sich schließlich als Erste wieder in Bewegung. Langsam, gemächlich, trat sie über eine Linie am Boden hinweg. Die Hände vor der Brust gefaltet, schritt sie auf eine verwitterte, halb weggebrochene Struktur am Ende der Halle zu.

„Ninafer!“ rief Thorin aus, kaum dass er ihren Kurs bemerkte. Das fehlte ihnen jetzt noch – eine weitere Falle! Er eilte ihr nach und kaum, dass er den ersten Schritt tat, schienen auch die anderen aus ihrer Starre der Faszination zu erwachen. Ninafer sagte nichts, reagierte nicht – ganz so, als wäre sie in Trance, in einem tiefen Traum gefangen. Sie schritt auf das Konstrukt zu und erst, als Thorin es näher zu betrachten wagte, fiel seine Sorge langsam von ihm ab. „Das kann nicht dein Ernst sein?!“ fuhr er die Giftkundige an, doch sie strafte ihn mit Ignoranz. Vor dem, was einstmals ein Altar war, kniete die frühere Jüngerin Ereshkigals nieder. Sie zog aus einer zerborstenen Schale etwas hervor, ließ es von Drakimh auf ihre Bitte hin mit einer kleinen Flamme entzünden und steckte das rasch abbrennende Etwas in eine Schale, die in einer zeremoniellen Anordnung unterhalb des Altars stand. Ein schwerer Geruch ätherischer Öle breitete sich aus, während Ninafer leise Gebete sprach, die Thorin nicht kannte, nie vernommen hatte und in der Aufregung der gegenwärtigen Situation auch weiterhin nur als nutzloses Gemurmel wahrnahm.

Sie wussten es nicht. Keiner von ihnen wusste es, nur die führere Jüngerin hatte erkannt, dass sie in einem sehr sehr alten Kloster ihrer Göttin standen. Während sie die Hallen durchschritten hatten, in allen Gängen nach dem vermissten Überlebenden suchten, hatte Ninafer es immer wieder geahnt. All die Zimmer, die so aussahen, als wären sie für das Behandeln von Verwundeten eingerichtet worden, die Räume mit Töpfen voller Salben und Balsam, die unzähligen Grabhügel, die Bibliotheken und Gärten – alles war größer, älter, anders, und doch waren die Parallelen zu ihrem einstigen Kloster unabstreitbar.

„Was geht hier vor sich?“ verlangte Raven harsch zu wissen und hielt den Blick auf die Meute der Untoten gerichtet. Thorin folgte ihrem Blick und erstarrte in Staunen. Eben jene feine Linie, gezogen zwischen den aufragenden Statuen, die Ereshkigal selbst darstellten, schien den Untoten ein Hindernis. Sie standen dort, dicht beieinander, schienen die Grenze nicht überschreiten zu wagen, harrten aus. Die gesamte Masse füllte fast die Halle und es wurden noch immer mehr und mehr – doch sie kamen nicht näher.

Als sie ihre Gebete beendet hatte, erhob sich Ninafer.

„Dieser Ort hat viel Schreckliches erlebt, die Gefallenen leiden noch immer die Qualen der Vergangenheit, sind wütend und rastlos.“ merkte sie mit einem allzu traurigen Blick an. Sie sah hinüber zu der Horde verwitterter Kadaver. Die Magie hielt den Zahn der Zeit von ihnen fern, zumindest eine Weile, aber gewiss nicht für ewig. In hundert Jahren, vielleicht erst in tausend, würde jede Leiche und jeder Tote in dieser Abtei restlos zu Staub zerfallen sein. Doch das würde keineswegs die Erlösung dieses Ortes von einem alten Fluch bedeuten, im Gegenteil – die Geister wären dann körperlos, würden Unglückselige als Erscheinungen ängstigen oder, schlimmer noch, in sie fahren, sie zu Besessenen machen, die durch ihren Wahnsinn starben.

Dieser Ort hatte alle Güte verloren, die ihm einst anhaftete. „Wir sollten gehen.“ flüsterte die frühere Jüngerin schweren Gemütes. Kaum jemand achtete darauf, doch Thorin bemerkte das leichte Zittern in ihrer Stimme. Sie hatte keine Angst mehr – sie trauerte. Als er sich abwandte, um der Gruppe einen neuen Weg zu zeigen, eine neue Richtung einzuschlagen, bemerkte er den gläsernen Glanz in ihren Augen. Sie bedauerte, diesem verfluchten Ort und seinen Gefangenen nicht helfen zu können.

„Dort rüber, los.“ wies Thorin den Tross an. Langsam setzten sich alle wieder in Bewegung, verschwanden durch einen Seitengang. Er jedoch blieb, wartete, bis er einen kurzen Moment mit Ninafer allein war. Langsam trat er an sie heran, hob die Hand an ihre Wange, strich darüber. Mit dem Daumen fing er die erste Träne ab, wischte sie hinfort. „Alles in Ordnung?“ erkundigte er sich leise. Ninafer schüttelte den Kopf, trat näher, vergrub das Gesicht an seiner Brust. Thorin legte die Arme um sie, nahm sich einen Moment die Zeit, wartete. Er wusste nicht, dass sich für Ninafer in diesen Momenten vieles offenbarte. Das Leid Zahlloser. Die Dinge, die diesem Ort widerfahren waren. Ob die Geister es ihr flüsterten oder ihre Göttin sie damit quälte, hätte die Giftmischerin selbst nicht zu beantworten gewusst. Thorin erahnte ihr Leid lediglich. „Na komm, wir verschwinden von hier.“

Langsam schob er sie von sich, strich ihr neuerlich über die Wange. Wie sie zu ihm aufsah, die feinen Züge ihres Gesichts, so rein und unschuldig wirkend. Thorin geriet in Versuchung, sie zu küssen, wider der Situation und aller Umstände. „Kommt schon, dafür habt ihr später noch Zeit!“ plärrte in diesem Moment Snorris Stimme durch die Halle. Mit einem ertappten Lächeln ließ Thorin den Kopf hängen, nickte Ninafer schließlich zu und folgte dem Zwerg. Sie hatten diesmal den richtigen Weg gefunden – er führte nach draußen, zurück in das undurchdringliche Dickicht.

„Ich schwöre, wenn wir das nächste Mal irgendwo sind, lasse ich dich an den Mast binden, damit du keinen Unfug anstellen kannst!“ rügte Thorin Drakimh abschließend. Sie traten gerade die Stufen der alten Anlage herab, schienen nun den Ärger überstanden zu haben. Ein paar Stunden noch, dann wären sie wieder auf dem Schiff und in Sicherheit, würden der Küste des Hauptatolls entgegen segeln, den Fund abliefern, die Beute einstreichen und damit... irgendwas anstellen – sie hatten ja schließlich genug Löcher, die es zu stopfen galt.

Gerade schien es, als würde der Tag eine gute Wendung nehmen, da erstarrte die gesamte Gruppe. Speere kamen zum Vorschein, jede Menge sogar, dazu einige Bögen und all diese Waffen, die ihnen entgegen gestreckt waren, schlichen langsam samt ihrer Träger aus dem dichten Buschwerk der grünen Hölle auf sie zu. Vom ersten Augenblick an war klar, dass ein Kampf keinen Sieg bringen würde – es waren einfach zu viele Gegner. Thorin musterte die Fremden. Sie trugen kaum mehr als Lendenschurz, die Schilde schienen aus Rinden, Bast und Hölzern zu bestehen, selbst die Speer – und Pfeilspitzen waren aus Stein geschlagen. Offenkundig handelte es sich bei den Fremden um eines der mysteriösen Völker, die angeblich auf den Inseln lebten. Nun, zumindest wäre mit dieser unerfreulichen Begegnung geklärt, dass sie eben kein Mythos waren...

Ob sie wohl eine vernünftige, zivilisierte Sprache beherrschten?

„Leute, wir haben gerade erst eine Horde ziemlich übel gelaunter Leichen hinter uns, wir wollen wirklich keinen Ärger, wir versuchen einfach nur, zu unserem Schiff zurück zu kommen, okay?“

Die steinernen Mienen waren für Thorin in gewissem Maße enttäuschend – man verstand offensichtlich kein einziges Wort. Raven wollte nach ihren Schwertern greifen, die Kampflust stand ihr in den Zügen geschrieben, doch prompt waren fünf Speerträger bei ihr und hielten ihr die Klingen gegen Brust und Kehle, dass sie langsam wieder die Hände dorthin hob, wo sie jeder gut sehen konnte. „Okay, die verstehen kein Wort... ich bin für Vorschläge offen...“ nuschelte Thorin leise und zwängte sich ein scheinheiliges Lächeln auf die Lippen, um die Eingeborenen in Sicherheit zu wiegen.

„Ich bin jedenfalls nicht einer Horde Leichen entkommen, um jetzt von so ein paar Halbnackten gebraten zu werden!“ knurrte Snorri grimmig und gab sich auch keinerlei Mühe, seinen Unwillen gegenüber dem Naturvolk irgendwie zu verbergen.

„Wir könnten rennen... also... in den Wald... äh... Dschungel. Ich hätte da einen exzellenten Zauber, den ich damals von-“

„Gekauft!“ fiel Thorin Drakimh ins Wort, ehe dieser beginnen konnte, die gesamte Herkunftsgeschichte seiner kleinen Sprüche aufzuzählen, „Bist also doch für was zu gebrauchen. Sag Bescheid, wann es losgehen kann.“

Der Magier konzentrierte sich, schloss die Augen und begann sich den nötigen Spruch ins Gedächtnis zu bringen. Für die Anderen hieß das, unruhig ausharren und warten, hoffen, dass sie nicht in der Zwischenzeit angegriffen wurden. Ohnehin war es merkwürdig – man hatte sie eingekreist, umstellt, aber nun schien völliger Stillstand zu herrschen. Man verstand sie nicht, man brachte sie nicht weg, griff sie nicht an. Als würden die Eingeborenen auf etwas warten. Und tatsächlich trag wenige Augenblicke später ein weiterer Fremder aus dem Dickicht hervor, doch er unterschied sich erheblich von seinen Kameraden. Eine schwere Maske aus schwarzen Federn war über seinen Kopf gestülpt und verdeckte die halbe Brust, aus geschnitztem Holz und mit Kohle bemalt, hatten sie einen Schnabel geformt – der scheinbare Anführer dieser Gruppe trat als Krähe oder Rabe verkleidet vor sie. Er hielt einen schweren Stab in der Hand, den er als Gehstütze gebrauchte, obgleich ersichtlich war, dass dieses Ding auch gut und gerne als Waffe dienlich sein könnte. Sein Körper war mit verschiedenen Farben, Mustern und Symbolen bemalt. Die Arme, Brust und Bauch, Beine, kein Fleck seines Leibes schien ohne diese merkwürdigen Zeichnungen auszukommen.

Thorin reimte sich nach einem alten Schema alles zusammen, was er wissen musste. Wenn man einer Gruppe Feinde begegnete, war der, der unikat aussah, eine besondere Waffe, Rüstung, Kopfschmuck oder Kriegsbemalung trug, der Anführer, der Schamane, der Kommandeur – was auch immer. Der, den man töten musste, um die ganze Befehlskette einstürzen zu lassen.

Leider heilt sich diese Möchtegernkrähe im Hintergrund, betrachtete neugierig die Gruppe. Er schritt hinter der Linie seiner Krieger entlang, nahm sich für jeden der Eindringlinge Zeit, ihn einzeln zu mustern. Bevor er fertig war und danach irgendetwas befehlen konnte – mochte Arimasper wissen, was der mit ihnen vor haben könnte! – gab Drakimh das Signal zur Flucht. Ein greller Lichtblitz, der die Sonne für einen Sekundenbruchteil konkurrenzunfähig erscheinen ließ, leuchtete auf und ließ die Eingeborenen zurückschrecken. Die Speere hoben sich, die Bögen senkten sich – und Thorins gesamte Gruppe stob auseinander. Sie verschwanden im Dickicht, hasteten rasch davon, zumindest so schnell wie ihre Kondition und das Unterholz es eben zuließen.

Erst nach einer guten halben Stunde hielten sie auf einer kleinen Lichtung inne. „Alle da?“ keuchte Thorin, leicht gebeugt die Hände auf die Oberschenkel gestützt und hob den Blick, um sich selbst zu überzeugen. Blutrünstige Kämpferin? Vorhanden. Mürrischer Zwerg? Vorhanden. Vorlaute Halbelbe? Vorhanden. Naiver Magier? Vorhanden. Attraktive Giftmischerin? Vorha- wo bei Ceteus war Ninafer?

„Was zum... wo ist Ninafer? Habt ihr sie gesehen? Wann habt ihr sie verloren?“ erkundigte sich Thorin hektisch, doch niemand wusste auf seine Fragen zu antworten. Alles war so schnell vonstatten gegangen, der Blitz, die Flucht, viel Grün und keine Zeit, mal eben nachzuzählen, ob noch alle da sind.

Dabei war Ninafer gar nicht geflohen. Die hatte das ‚Startsignal‘ irgendwie... verpasst. War stehen geblieben und hatte sich sogar redlich gewundert, warum denn plötzlich alle weg waren.

„Verdammt!“ presste Thorin hervor, „Also... gut... wir... wir brauchen einen Plan, wir müssen zurück.“

Ein Seufzen ging durch die Runde. „Vielleicht sollten wir sie an den Mast binden und nicht den Magier... jedes Mal lässt die sich verschleppen...“ murrte Snorri, dem das ständige Hin – und Hergerenne sichtlich die ohnehin fragilen Nerven angriff. Thorin wagte keine Widerworte, doch an der Notwendigkeit einer Rettung bestand kein Zweifel. Wer wusste schon, was diese Eingeborenen mit ihr vor hatten? Vielleicht würden sie sie rituell opfern oder lebendig begraben oder in einen Kochtopf werfen, sie hatten in den letzten Jahren zu viele Merkwürdigkeiten erlebt, um an der reinen Möglichkeit solcher Dinge nicht mehr zu zweifeln.

„Nin‘, ich brauche deine Augen!“ begann Thorin an die Halbelbe gerichtet. Schon mehr als einmal hatte sich das Mischblut als eine passable Fährtenleserin erwiesen. Nicht nur ihre Visionen trugen dazu bei, sondern gerade in einer solchen Umgebung auch ihr elbisches Blut, das sie auf jeden geknickten Grashalm und jede zertretene Blume hinwies. Allerdings, wie Thorin nach einigen Stunden feststellen durfte, hatten sie die einheimische Bevölkerung sichtlich unterschätzt – die waren nämlich keineswegs dumm und lebten schon seit unzähligen Generationen in diesem Dickicht. Sie hatten falsche Fährten gelegt und die Truppe damit mehrfach im Kreis geführt, wobei es vor lauter Grün und Bäumen schwer war, zu erkennen, wann sie eine Stelle zum zweiten, dritten oder vierten Mal passierten.

Doch gegen frühen Abend gelang es ihnen schließlich, das Lager der Einheimischen zu finden. Eine einfache Ansammlung von Hütten auf einer Fläche, die offenbar vom letzten Waldbrand gerodet worden war. Vielleicht zogen sie beständig umher, vielleicht war dies nur eine Art ‚Zwischenlager‘ und sie lebten in irgendwelchen Höhlen, das gesamte Drumherum war Thorin völlig egal. Man spürte ihm die Ungeduld an, seine Nerven waren gespannt und seine Erwartungen führten zu einer gewissen Gereiztheit. Er wollte Ninafer zurück, und das nicht erst in Stunden, sondern am besten VOR Stunden.

Aus dem Dickicht heraus spähten sie auf den Platz hinaus. Zahllose der Eingeborenen hatten sich dort versammelt, warum auch immer. Doch vermutlich war es der Großteil der Bevölkerung – und damit vermutlich auch alle, die fähig waren, Waffen zu führen. Sie zogen sich ein kleines Stück in den Dschungel zurück, um nicht überraschend entdeckt zu werden, während sie ihren Plan schmiedeten.

„Also Folgendes: Sie rechnen offenbar nicht mit uns, das wird unsere Hauptwaffe. Wir fallen ihnen mit viel Geschrei brachial in den Rücken, töten so viele, wie wir können und mit etwas Glück jagen wir dem Rest mit dem Gehabe genug Angst ein, damit sie fliehen. Wir packen Ninafer und sehen zu, dass wir schnellstmöglich zum Schiff kommen. Alle alles verstanden?“

Thorin wartete, bis er von jedem ein Nicken geerntet hatte. Leise schlichen sie zurück zur Lagergrenze, machten sich bereit und schlichen dann so vorsichtig und lautlos wie möglich an die ersten Hütten heran. Sie gingen an ihren Wänden in Deckung, bereiteten sich auf den Sturm vor, holten Luft, versuchten, ihre Nerven zu beruhigen.

„Los!“ rief Thorin als Startschuss. Mit geradezu archaischem Gebrüll stürmte die Meute auf den Platz – und erstarrte.

Ihr Plan war ohnehin von Anfang an zum scheitern verdammt gewesen, wie sie später erfuhren. Man hatte ihre Gegenwart in der Nähe des Lagers bemerkt, da hatten sie noch eine ganze Stunde gebraucht, es zu finden. Von den Wachposten und Spähern jedoch hatten weder Ninquîel noch Raven etwas mitbekommen. Der nächste Punkt war der, dass sich niemand an ihrem Hereinplatzen zu stören schien, Gebrüll und Überraschung hin oder her. Stattdessen kniete die gesamte, versammelte Meute auf dem Platz, hob und senkte die Oberkörper in einer Art von Anbetung, die dem Zentrum des Dorfes galt. Ein steinerner Sockel, verziert mit Tierschädeln, die Treppen überzogen mit Fellen, führte zu einem prunkvollen Stück, das in seiner Form doch stark an einen Thron erinnerte.

Und auf dem saß niemand Geringeres als Ninafer.

Die Adlige trug eine goldene Krone, besetzt mit zahllosen Edelsteinen – zweifellos ein Fundstück aus der Fracht des gestrandeten Schiffes, ebenso wie das Geschmeide um Hals und Handgelenke. Ihre Robe hingegen hatte sie einbüßen müssen, trug stattdessen einen weitläufigen Talar in feinsten Stoffen, pupur und gold.

„Das... ist... unerwartet.“ merkte Ninquîel schmunzelnd an.

„Wow.“ war hingegen Drakimhs einzige Bemerkung, dessen Blick sichtlich an Ninafer klebte. Thorin hätte es ihm übel nehmen wollen, doch er hatte dafür gar keine Zeit – ihm erging es nämlich keinen Deut besser.

„War ja klar. Wir hetzen uns ab und sie lässt sich in aller Ruhe anbeten.“ nuschelte Snorri mürrisch, zog sein kleines Notfallfässchen hervor und nahm einen kräftigen Hieb, um den Frust herunter zu spülen. Es war Ninafer, die ihnen schließlich zugestand, an den Feierlichkeiten teilhaben zu dürfen. Man hielt die Eindringlinge von ihr fern, anfangs, bis sie dem Schamanen des Stammes erklärt hatte, dass es sich dabei um ihre Freunde handelte. Am Ende saßen sie um eine der Feuerstellen herum, noch immer ruhten ungläubige Blicke auf Ninafer, die sich des ganzen Rummels wegen tatsächlich ein wenig genierte.

„Wieso hast du uns nicht gesagt, dass du deren Sprache sprichst?“ kam es zunächst von Ninquîel, die – anders als der Rest der Gruppe – herzlich auflachte, als Ninafer mit einem freudigen Lächeln und einem Schulterzucken antwortete, dass sie ja niemand danach gefragt hätte. „Und woher kannst du die Sprache?“ wollte Thorin daraufhin wissen, der langsam aus seiner Starre zu erwachen schien.

„Also vor ein paar Jahren, da waren diese Räuber, und die-“

„Okay, reicht, den Rest kann ich mir denken...“ wimmelte Thorin ungläubig den Kopf schüttelnd ab. Wie schaffte diese Frau es eigentlich ständig, in die diffusesten und unglaubwürdigsten Geschichten verwickelt zu werden? Wenn sie wieder daheim in der Feste wären und erzählen würden, dass Ninafer zur Göttin eines Stammes von Ereshkigal anbetenden Urwaldbewohnern aufgestiegen war, würden die Anderen doch lachen und sich über den köstlichen Witz amüsieren! Sowas glaubt einem doch keiner!

Snorri hingegen schien sich allmählich mit den Tortouren des Tages abzufinden. Die Einheimischen brauten aus irgendeiner Frucht ein Gesöff, das ihn laut eigenen Worten stark an den Schnaps Nothrends erinnerte, weshalb er auch binnen kürzester Zeit bester Laune war und sein kleines, angeschlagenes Notfallfässchen wieder auffüllte.

„Wieso haben die dich zu... ihrer Königin gemacht? Ich kann das nicht mal aussprechen, ohne das es lächerlich klingt...“ erkundigte sich Thorin und versuchte noch immer mit der neuen Lage fertig zu werden. Irgendwie wollte er das alles einfach nicht glauben. Es war ja nun längst nicht das erste Mal, dass Ninafer verschleppt wurde, entführt, verloren ging, sich verlief oder dergleichen. Begonnen hatte es mit Phillipes Kerker, Dann war sie Brautgeschenk eines Zentrauren gewesen, von Harpyien gefangen worden, hatte sich an Bord eines Sklavenhändlerschiffes locken lassen, war der Stadtwache in die Hände gelaufen und ständig hatte Thorin sie irgendwie wieder befreien müssen. Das hatte sich zu einer schlechten Angewohnheit entwickelt, wie ihm schien, aber das hier... war was anderes. Deutlich anders.

„Ich habe in der alten Abtei ein Gebet für die rastlosen Verdammten gesprochen und ihnen damit Einhalt geboten, das hat sie... beeindruckt. Als ich ihnen dann erzählte, woher ich die Gebete kenne... ich glaube, sie sind schon vor langer Zeit auf den alten Tempel gestoßen, er muss sogar schon vor ihrem Volk hier gewesen sein. Sie haben die Ruine entdeckt und erkundet, die Wandmalereien, die Texte. Ich weiß nicht, wie viel davon sie verstanden haben, aber irgendwann begannen sie, Ereshkigal zu verehren. Ihr Schamane verfügt sogar tatsächlich über ihre Gunst, das ist ganz erstaunlich!“

Thorin lachte herzlich. Erstaunlich, ja, das traf den Punkt ganz gut. Zu Ehren der neuen Königin wurde ein Fest abgehalten, neben oppulentem Mahl, an dem sich Raven und Snorri gütlich taten, wurde das Gebräu ausgeschenkt. Eine Reihe von Trommeln und anderen, merkwürdig fremdartig aussehenden Instrumenten hielt her, um dem Tanz und Gesang einen stetigen Rhythmus zu geben und nach und nach vermochte auch Thorin die Reste der Anspannung fallen zu lassen. Ninafer war offensichtlich nicht mehr in Gefahr, was gleichermaßen für sie selbst galt. Nach der ganzen Aufregung dieses Tages hatte er es sich vielleicht auch verdient, mal an einer Feier teil zu haben, ausgelassen zu sein, ohne sich Sorgen um die Probleme des nächsten Tages machen zu müssen.

Er ließ sich im Verlaufe des Abends ein paar Worte der fremden Sprache beibringen, trank mit Snorri ‚auf die gute alte Zeit‘ und sah seinem alten Waffenbruder zu, wie er mit Raven versuchte, den Einheimischen Sinn und Regeln eines Wettessens beizubringen. Ninquîel hingegen unterhielt sich mit Drakimh, offenbar über das Buch, das er ergattert hatte. Allein wenn er den alten Einband sah, kroch etwas unterschwellige Wut empor – weshalb Thorin die Gesellschaft des Magiers vorläufig mied. Mit fortschreitender Stunde wurde der Dschungel dunkler, aber keineswegs leiser. Die Geräusche der Vögel und vorsichtiger Jäger änderten sich, weil nun andere Arten auf die Hatz gingen, doch der Dschungel schlief nie. Auf dem Festplatz indes wurde es leerer. Immer mehr der Feiernden zogen sich zurück. Selbst Ninquîel, Drakimh und Raven hatten bereits ihre Lager aufgesucht. Snorri trank gerade den zehnten Eingeborenen unter den Tisch und Thorin beließ es dabei, am Feuer zu sitzen und Ninafer zuzusehen. Sie ließ sich ein paar Schritte und Tänze von den anderen Frauen des Stammes beibringen, zog sie konzentriert nach und lachte herzlich auf, wann immer ihr ein Missgeschick widerfuhr. Dennoch zeigte sie ein überragendes Talent dafür, sich derlei anzueignen. Bald schon tanzte sie mit ein paar der Frauen gemeinsam, ein exotisch anmutender Ausdruckstanz, passend zu der fremdartigen Kultur und Lebensweise dieses Volkes. Thorin war gefesselt von diesem Anblick, vom Rhythmus, den Bewegungen, von Ninafers Anblick.

Er hatte sich um sie bemüht. Oft genug und anfangs auch blamabel genug. Es hatte eine kleine Ewigkeit gedauert, ehe beide einander eingestanden, dass ihre Herzen einander näher waren, als es zunächst den Anschein hatte. Dennoch waren sie bislang nicht zusammen gekommen – ein Umstand, der Thorin in fast regelmäßigen Abständen grämte. Er hatte keine Zeit für Sehnsucht, für Liebe und Leidenschaft, es gab ein Land zu retten, eine Revolution aufzubauen... aber das änderte nichts an der Kälte einsamer Nächte und eben jenen schmachtenden Blicken, wie er sie auch jetzt wieder der Frau zukommen ließ, die sich dort so grazil und wendig bewegte.

Die Nacht brach herein, Ninafer beendete erschöpft ihre Tanzrunde und entließ auch die Letzten in Richtung ihrer Schlaflager. Thorin erhob sich, spähte umher und bemerkte, dass sogar Snorri verschwunden war. Im Schein des Feuers trat er ihr gegenüber. „Das war beeindruckend.“ lobte er, was er die ganze Zeit verfolgt hatte und trieb Ninafer damit sichtlich die Schamesröte ins Gesicht. Sie bedankte sich kleinlaut, nästelte nervös mit den Fingern am Stoff des Talars herum.

„Es ist spät... wir sollten schlafen gehen. Ich... bring dich hin.“ wagte Thorin schließlich den Vorstoß und versuchte sich an dem Balanceakt, das freundliche Lächeln nicht allzu frivol abgleiten zu lassen. Er trat ihr näher, nahe genug, um zu beobachten, wie die zarte Röte in ihren Wangen trotz der Dunkelheit, nur vom flackernden Schein des Feuers durchbrochen, noch an Intensität gewann. „I-Ich bin jetzt eine Königin...!“ wandte sie leise ein, als würde ihm das etwas bedeuten müssen, ihn von irgendetwas abhalten. Thorin aber strich mit dem Handrücken über ihre Wange. „Ich weiß.“

Seine Worte, sein Tonfall, erstmals seit ansehnlich langer Zeit schaffte er es tatsächlich, Ninafer genug zu entwaffnen, damit sie sprachlos wurde. Sie blickte zu Boden, wich ihm aus, bis er ihr Kinn empor drückte.

Ihre Lippen waren weich. Der erste Eindruck, den er bekam und den er am längsten behalten würde. Warm, weich, sie schmeckten süß von dem Gebräu, das sie getrunken hatte. Ninafer wich nicht aus, scheute nicht zurück. Er spürte eine gewisse Euphorie aufsteigen, spürte sein Herz rascher schlagen, als er den Arm um sie legte, den zierlichen Leib der einstigen Adligen an sich zog. Zeit wurde zu einem zähflüssigen Konzept, bedeutungslos. Als sie sich voneinander lösten, lächelte Thorin auf eine Weise, wie man es nur allzu selten an ihm sah. Er war... froh. Glücklich. Erfüllt.

Einen Moment genoss er ihre Nähe, genoss es, in ihren Augen zu versinken, ehe er sich in die Hocke begab, ihre Frage danach, was er vor habe, strikt ignorierte und sie sich über die Schulter legte. Als er sich aufrichtete, war ein überrascht-erschrockenes „Huch!“ Ninafers erste Reaktion, ehe sie halbherzig auf seinen Rücken einschlug und ihm ‚befahl‘, sie wieder herab zu lassen. Das sei einer Königin nämlich gar nicht würdig, wie ein Sack Mehl herumgetragen zu werden und überhaupt gehöre sich das nicht!

„Jajaja...“ wimmelte Thorin lediglich breit grinsend ab und schleppte sie in eine der Hütten. Ganz die neue Königin, hatte man ihr ein eigenes Reich zugestanden, mit für die einfachen Verhältnisse des Stammes recht viel Spielraum. Thorin ließ sie wieder auf ihre Füße und wartete ab. „Na los, raus...!“ wies Ninafer ihn an. Er zuckte mit den Schultern, grinste wissend und kehrte sich ab. Kaum einen Schritt weit kam er, da fragte sie ihn, ob er tatsächlich einfach so gehen würde. „Du hast mich doch weggeschickt, oder nicht?“

„Machst du denn alles, was ich sage?“

„Probier es doch aus?“

Einen Moment kehrte eine fast schon peinlich berührte Stille in die kleine Hütte ein. Sie wagte nicht, traute sich nicht – so fürchtete Thorin. Er wollte das kleine Katz- und Mausspiel gerade beenden, als sie doch noch die Stimme erhob.

„Dann komm wieder her.“

Wie angewiesen, wandte er sich um, trat wieder auf sie zu und verharrte wartend. Er wollte sie ein wenig necken, sehen, wie weit sie bereit war, ihre Wünsche in Worte zu kleiden. Sie sah zu ihm auf, offensichtlich auf eine Hilfe hoffend, die nicht kam, zierte sich, es auszusprechen. Wie verwunderlich das doch war, nach allem, was er über sie gehört und erfahren hatte. Ninafer, die eine Bande Möchtegernräuber damit verschreckte, indem sie in ihr Lager trat und alle Hüllen fallen ließ.

Wie lange sie schweigend einander gegenüber standen, wusste Thorin nicht zu sagen. Eine gefühlte Ewigkeit. „Nun küss mich doch endlich...“ murmelte die frisch ernannte Königin kleinlaut und spähte erneut mit geröteten Wangen zu Boden. „Ich dachte schon, du sagst es nie...“ erwiderte Thorin lächelnd.

Er genoss den Kuss, verlor sich darin. Der zierliche Leib Ninafers drängte sich gegen den Seinen, wurde von seinen Armen umfangen, gehalten. Seine Finger fuhren über ihren Nacken, ihre Schultern, schoben den Stoff langsam herab. Sie zögerte und er hielt inne, wartete ab, bis sie selbst sich aus dem Talar zu schälen begann. Sich der eigenen Rüstung zu entledigen, war längst nicht so schwierig und zeitzehrend, wie es das war, versuchte man sie überhaupt erst anzulegen. Riemen, Gurte, Schnallen – einfach lösen, fallen lassen, fertig. Während Ninafer sich unter Thorins durchaus von Zeit zu Zeit amüsiertem Blick daran zu schaffen machte, genoss er den sich bietenden Anblick. Sie hatte viel durchlitten, ihr ganzes Leben lang, vom Zeitpunkt des Zwischenfalls im Kloster über Phillipes krankes Spielzimmer bis hin in die jüngste Zeit. Die Geschichte hatte ihre Spuren auf Ninafers Haut hinterlassen, doch kein Makel vermochte zu verbergen, was für eine ansehnliche Frau sie war.

Langsam drängte er sie zurück, löschte das letzte Feuer im Zimmer. Dunkelheit brach ein, Augenblicke, in denen seine anderen Sinne ihm alles Nötige vermittelten. Er ruhte an ihrer Seite, spürte ihre Haut unter seinen Fingerspitzen, fuhr ihren Hals herab, Schlüsselbein, Brust, Bauch. Sie zog die Luft hörbar ein, als er über ihre Hüfte strich, die Außenseite ihrer Schenkel herab – und nach einer Wende an der Innenseite herauf. Ein leises Seufzen füllte den Raum. Er zog sie auf die Seite, dass sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber lagen, streichelte über ihre Flanke.

Schließlich zog er ihr oberes Bein über die Seinen, winkelte es an, erstickte ihr Aufstöhnen mit einem Kuss, als er sich ihrer bemächtigte.

Das sanfte Wiegen einer lange vergessenen Melodie hing ihm in den Ohren. Ihr Stöhnen und Keuchen hatte sich nahtlos in diesen Rhythmus eingefügt, ihn ergänzt, als hätte es sich allzeit so gehört. Das Lied verfolgte ihn. Er erinnerte sich nach all den Jahrhunderten nicht mehr, woher er es kannte. Ninafer war Musik, wunderschön, einmalig, rührend, sie konnte ihn mit einer Glückseligkeit erfüllen, die er viel zu lange Zeit für unmöglich, für unwiederbringlich gehalten hatte. Er liebte sie und dieses Wissen, diese Erkenntnis, die sich so klar durchsetzte, schmerzte, ängstigte ihn. Er hatte in seinem Leben bisher alles verloren, das er je zu lieben gewagt hatte. Er wollte sie nicht verlieren, um keinen Preis der Welt – und doch ließ er sich nun auf sie ein. War es töricht, zu hoffen, dass es dieses eine Mal anders laufen würde?

Thorin strich über ihre Schläfe. Ein dünner, noch warmer Schweißfilm stand ihr auf der Haut. Ihr betörender Duft hing ihm in der Nase, während er kleine Küsse auf ihrer Schulter und ihrem Hals verteilte. „Versprich mir etwas... ja?“ bat er sich leise aus.

„Was?“ flüsterte sie zurück.

„Lass mich nicht allein.“

Thorin hasste Momente wie diese. Er hasste sie, weil er sie fürchtete. In einer Welt wie dieser, das hatte er bitter lernen müssen, bedeutete jeder Moment, in dem man Schwäche eingestand, dass irgendjemand es bemerkte und einen fertig zu machen versuchte. Entweder aus eigenem Interesse oder... einfach nur so. Einzugestehen, dass er all die Jahrzehnte allein war, selbst in feuchtfröhlicher Gesellschaft stets einsam, war eine Schwäche. Er war unsicher, wenn es zu solchen Augenblicken kam. Schwäche einzugestehen war nicht sein Metier, über Gefühle zu reden erst Recht nicht. Wenn er wütend war, schlug er zu oder schrie jemanden an. Wenn er Angst hatte, ignorierte er es so gut es eben ging. Aber er redete nicht darüber.

Ninafer schien sein Unbehagen zu spüren. Sie ruhte halb auf ihm, drückte sich nunmehr vom Grund ab, spähte ihm wider der Dunkelheit in die Augen. „Du weißt, dass ich das nicht versprechen kann...“

Ihr Flüstern trug die Wahrheit in sich. Natürlich konnte sie nichts versprechen. Es wäre dumm und naiv, das zu glauben, darauf zu hoffen. Dennoch hätte es ihm vielleicht etwas Frieden geschenkt, sich in diesen trügerischen Glauben zu hüllen, dass alles gut werden würde, einfach gut werden musste, weil sie es ihm zugesichert hatte. Es waren schwere Zeiten und ihnen stand das Schlimmste noch bevor – Thorin belog sich darüber nicht.

Aber er würde alles überleben, alles durchstehen, wenn sie nur bliebe.

Als sein Unbehagen ihm zu groß, zu unerträglich wurde, tat Thorin, was er in melancholischen oder emotionalen Momenten immer zu tun geneigt war – mit einer Prise Humor ablenken. „Dann versprich mir wenigstens, dass du dich in Zukunft nicht mehr ständig verschleppen lässt...“ stichelte er, rang sich ein freches Grinsen ab und hauchte ihr erneut einen Kuss auf, als sie Widerworte einlegen wollte.

Die Nacht zog dahin. Thorin hielt Ninafer bei sich, wärmte sie, genoss es, mit der Hand über ihren Leib zu streichen, das Gefühl ihrer Haut auskosten zu können. Sie schlief, tief, fest, selig. Doch er selbst fand keine Ruhe. Das Geschehen der vergangenen Stunden hielt ihn ebenso wach wie die Fragen, die seinen Verstand traktierten. Wie sehr hatte er diesen Moment herbeigesehnt, all die Wochen und Monate über. Und jetzt? Jetzt fürchtete er, das zerbrechliche Gut, das er erlangt hatte, zu verlieren. Sollte er zulassen, dass diese Furcht sein Denken und Handeln bestimmte?

Er beobachtete sie beim Schlafen, versuchte sich von ihrem regelmäßigen Atem einlullen zu lassen, selbst Ruhe zu finden. Doch diese Nacht war ihm kein Schlaf vergönnt.

Am nächsten Morgen erwachte sie in seinen Armen, räkelte sich, lächelte verträumt, nur um sich erneut für ein paar Augenblicke an ihn zu schmiegen. Sie sammelten ihre Habe zusammen, kleideten sich an – natürlich nicht, ohne dass Thorin Ninafer mit ein paar Kommentaren neckte, woraufhin sie ihm Teile seiner Rüstung entgegen warf, denen er nur mühsam ausweichen konnte. Angesichts der Hilfe durch den Stamm war der Rückweg zur Küste und zu ihrem Schiff erstaunlich leicht. Liam und die Anderen erwarteten sie bereits und machten große Augen, als Ninafer in ihrem Talar mit einem ansehnlichen Gefolge dunkelhäutiger Anhänger aus dem Dschungel trat. Die Fracht war längst verladen, die Segel wurden gesetzt. In ein oder zwei Tagen wären sie zurück in Lumiél, dem zivilisierten Teil des Inselreiches.

Thorin warf einen Blick auf die Seekarte, auf der Liam ihren Kurs vermerkt hatte, doch seine Gedanken schweiften beständig ab.

Er schob es auf das ungewohnte, regelmäßige Schaukeln des Schiffes, dass er auch diese Nacht kaum richtigen Schlaf fand. Schließlich trieb ihn seine Rastlosigkeit nach einem Tag der Arbeit an Deck in Ninafers Kabine. „Ich wollte... was machst du da?“ setzte er an und stockte, als er sie vor ihrem Spiegeltisch vorfand, wie sie mit Stößel und Mörser ein paar nussähnlich scheinende Früchte zerkleinerte. Ohne sich an seiner Gegenwart zu stören, setzte sie die Arbeit vor, lächelte ihm freudig entgegen und gab das Zerriebene in ein Glas. Selbiges ergreifend, erhob sie sich von ihrem Platz und kam auf ihn zu.

„Ich wollte auch schon vorbei schauen, dieser Schamane war sehr freundlich, er gab mir verschiedene Nüsse mit. Vielleicht könnten wir die auf den Feldern... anbauen? Ein paar davon wirken auf Blutungen stillend, wenn man sie als Muß auflegt, ein paar wirken stark betäubend.“

Nach der Erklärung hielt sie ihm lächelnd das Glas entgegen. Thorin nahm es an, roch daran und blickte skeptisch über den Rand zu ihr. Er erinnerte sich noch zu gut, dass sie mehrfach versucht hatte, ihn zu vergiften, nur um zu beweisen, dass sie mit ihrer Vermutung, er könne nicht sterben, richtig lag. Die Krämpfe danach waren elend gewesen und hatten ihn tagelang geschwächt!

„Und das hier ist... was?“

„Trink!“ forderte sei ihn neugierig auf. Davon ausgehend, dass kein erneuter Giftanschlag auf ihn warten würde, kam Thorin schließlich der Aufforderung nach. Tatsächlich schmeckte es einfach nur nach Traubensaft – von den vermeindlichen Nüssen fehlte jede Spur. „Und was war das nun?“ wollte er noch immer wissen, da begann Ninafer bereits breit zu grinsen.

„Nun ja, er sagte, ein paar der Früchte wirken aphrodisierend...“ merkte sie mit leichter Röte an. Thorin hingegen traute seinen Ohren nicht, wollte gerade Protest einlegen, dass sie ihn das einfach so trinken ließ, konnte sie doch unmöglich ausreichend über Dosierung und Zubereitung in der kurzen Zeit erfahren haben – also musste es mal wieder einer ihrer ‚Feldtests‘ sein. Doch kaum dass er den Mund zum reden öffnete, verspürte er nur noch eine sich rasend ausbreitende Kälte und Taubheit. Schon im nächsten Moment kippte Thorin im Türrahmen um. Ninafer hingegen warf einen sichtlich überraschten Blick auf das nunmehr zerbrochene Glas.

„Hm... die falsche Sorte?“ rätselte sie kleinlaut...



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