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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Für Honigbrot!

Gemächliche Schritte führten ihn durch die Hallen und Gänge. Das alte Mauerwerk arbeitete schon seit Jahrzehnten, Jahrhunderten an seinem Verfall, doch nun war wieder Leben eingekehrt in den Ort, der einstmals von Bauer und Zentaure, von Harpyie und Elb gleichermaßen gemieden worden ward. Bis vor kurzem noch hatte man sich von dieser Festung allerhand Schauergeschichten erzählen können – und das ganz zu Recht. Üble Geister gingen um, ein namenloses Grauen. Doch inzwischen waren bereits mehrere Mondzyklen vergangen, seit Thorin und seine Schar eben dieser Geißel die Grenzen aufgewiesen hatten.

Trotz der schweren Stiefel, der Lederpanzerung und der massiven Axt auf seinem Rücken wirkten seine Schritte fast beschwingt. Den Hauch eines leichten Lächelns trug er auf den Lippen, seine Augen schweiften immer wieder über den Korridor und seine Wände. Geschäftig strömten ihm hier und da Männer und Weiber allen Alters und aller Rassen entgegen. Die Festung wurde wieder aufgebaut, nach und nach. Man füllte die Keller mit Vorräten, nachdem die Zwerge sie endlich hatten trocken legen können, die Elben mühten sich um eine gute Tarnung, indem sie den Wald um den Steinhaufen herum etwas dichter sprießen und gedeihen ließen – natürlich auch dank Medea. Doch Elben, Zwerge, tropfende Wandrisse und halb eingestürzte Türme waren seinen Gedanken völlig fern. Thorin hätte besorgter sein müssen, als er es war. Morgen würde wieder ein Trupp ausziehen und eine ungemein wichtige Mission durchführen. Er hätte sich sorgen müssen, weil Ninafer Teil dieses Trupps war. Inzwischen war es längst kein Geheimnis mehr, welcherlei Interesse beide aneinander hegten, im Gegenteil, es schien fast, als würde die Tatsache, dass selbst unter so wideren Umständen Liebe gedeihen konnte, den Rebellen jeden Tag aufs Neue ein klein wenig Kraft geben.

Seine Sorge fehlte einzig aus dem Grund, dass er selbst würde aktiv werden können. Er vermochte in eigener Arbeit etwas zu tun, um seine Befürchtungen zu reduzieren und war gerade auf dem Weg zum Ort eben jenes Geschehens. Durch eine große, schartige Eichentür, deren zwei gewaltige Flügel er mühsam aufstieß, gelangte der Axtträger auf einen kleinen Innenhof der Burgruine. Strohpuppen standen herum, manche von Naru im Spaß mit ein paar Graßbüscheln oder Moosmatten bedeckt, um Haare oder Gesichter nachzuahmen. Viele von ihnen waren schon reichlich ramponiert – sie dienten immerhin als Übungsmöglichkeiten. Jeder Bürger Lumiéls, der gegen den König war, wurde als Rebell abgestempelt und gehängt. Damit blieb den Meisten nicht mehr viel Wahl und die Feste bot einen guten, sicheren Halt, um darin das eigene Leben zu retten und effektiv etwas zum Wandel des kleinen Inselreiches beizutragen. Viele Bauerssöhne hatten hier unter fachkundiger Hand gelernt, was es bedeutete, eine Klinge zu führen oder eine Pike zu stoßen, einen Bogen zu spannen oder einen Schild zur Waffe zu machen. Snorri, Raven, Garien und unzählige Andere waren tagtäglich damit beschäftigt, die neuen Rekruten bestmöglich auszubilden. Wer bereits gut kämpfen konnte, wurde zum Aufbau der alten Mauern eingesetzt und selbst jetzt noch musste Thorin grinsen, als er endlich ins Freie trat, ihm der warme Südwind um die Nase strich und sein Blick wider des grellen Tageslichtes auf die gewaltigen, aufklaffenden Löcher in der einstigen Befestigung fiel. Er ignorierte einen Moment die Kampfgeräusche, wie Metall auf Holz und Stein traf, lauschte den Vogelgesängen, die irgendwo vom Wald her zu ihm drangen und öffnete erst einen Augenblick später wieder die Lider. Tatsächlich waren kaum mehr als vier Rekruten an den Aufstellungen des kleinen Parkours zugange. Vier Rekruten – und Ninafer, ganz wie er es befohlen hatte.

Er war fast ein wenig erstaunt, sie tatsächlich hier vorzufinden. Ein Teil seiner Selbst hatte damit gerechnet, sie in der gesamten Burg suchen zu müssen, nur um sie Frechheiten mit Naru ausheckend in irgendeiner Besenkammer zu finden, flüsternd, kichernd und die Kekse der seltenen Lieferungen naschend. Doch dort stand sie, die einstige Adelsdame, den Bogen in der Hand und mit dem Pfeil auf der Sehne. Allerdings sah das schon von weitem so gefährlich aus, als würde sie das Stück Holz gleich bis zum Federkiel in der Tür versenken – zu der sie mit dem Rücken stand. Thorin schmunzelte, schüttelte den Kopf und trat näher an sie heran. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren oder sich an den Blicken der Rekruten zu stören, positionierte er sich hinter Ninafer, legte die Hände auf ihre Hüfte und rückte sie ein kleines Stück zurecht. Mit dem Fuß umfing er ihr rechtes Bein, zog es bis zu einer stabilen Grundposition zurück und legte nunmehr seine Arme über die Ihren. Ganz unwillkürlich kam er ihr bedeutend näher, zog einen Moment durchaus den Augenblick genießend ihren betörenden Duft ein, ehe er ihr half, eine weniger bequeme, dafür jedoch deutlich erfolgversprechendere Position für den Pfeilschuss zu finden.

„Gerade halten, mit der Linken fest packen, als würdest du das Holz erwürgen wollen...“ flüsterte er ihr leise zu, strich mit der Rechten ihren Unterarm herauf und lächelte über das fast schon mädchenhafte Kichern und den Umstand, dass sich die feinen Härchen auf ihrem Arm aufstellten. Er umschloss ihre Hand, führte den Pfeil auf die Sehne und spannte das Geschoss. „Gut zielen. Lass dir Zeit, das hier ist kein Wettrennen. Im Kampf kannst du es dir nicht leisten, zehn Pfeile daneben zu setzen, wenn ein einziger Treffer reichen würde. Bleibe ruhig, ziele genau und-“

Zack, da war der Pfeil auch schon davon geschnellt. Zugegeben – sie hatte immerhin die Zielscheibe aus Stroh getroffen, wenn auch nur irgendwo am Rand. Ein Feind von der Größe eines Trolles würde sich jetzt vermutlich über einen Holzsplitter in seiner Schulter ärgern. Aber immerhin – ein Treffer war besser als völlig daneben und dass es bisher so abgelaufen war, bewies die kleine Schar an Federkielen, die weiter hinten im Rundgang herum lagen und nur vage zu erspähen waren. „Du hast zu früh los gelassen.“ meinte er in bester Absicht, doch Ninafer ließ lediglich den Bogen sinken und begann in einer regelrechten Tirade darüber zu nörgeln, wie ungerecht es sei, sie mit Bogen, Schwert und Lanze trainieren zu lassen, wenn sie gar nicht die Notwendigkeit dazu hatte. „Siehst du, genau deshalb lasse ich dich das alles trainieren. Wir befinden uns im Krieg... irgendwann kann es passieren, dass du dich verteidigen musst und ich will... dass du überlebst, dass du dich zu wehren fähig bist, ganz gleich, was für eine Waffe dir auch immer durch Zufall in die Hände fallen mag!“ versuchte er ihr zu erklären, doch natürlich war sie nicht unbedingt zugänglich für derlei Argumentation – schon gar nicht, wenn direkt auf seiner Schulter und von ihm völlig unbemerkt ein Schmetterling saß, der fast schon aufgeregt mit den schillernden, kunterbunten Flügeln schlug. Sie fasste danach, verfehlte ihn und stolperte prompt einen Schritt vor, dass sie in seinen Armen landete. Ein wenig verschmitzt grinste sie zu ihm auf, als er ihr wieder auf die Beine half und zweifelnd den Kopf schüttelte.

„Dass ich aus dir niemals eine Kriegerin werde machen können, das war mir ja schon klar, aber dass es so übel ist...“ sinnierte Thorin einen Moment bitter ernst wirkend, ehe Ninafers Schmollmund ihn dazu bewog, doch ein Lächeln zu zeigen. Er nahm der Giftkundigen den Bogen ab, stellte ihn zurück in ein hölzernes Regal voller Übungsgeräte und zog stattdessen zwei Schwerter hervor. Eines warf er ihr zu und rügte sich insgeheim schon in dem Augenblick dafür, als er Ninafer zur Seite springen sah und die Klinge klirrend auf das Pflaster aufschlagen hörte. „War keine Absicht...!“ versuchte er noch seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und trotzdem sah sie ihn auf eine Weise an, als würde er sich die nächsten Tage wieder einmal mit Übelkeit herumquälen dürfen...

Stattdessen jedoch hob sie das Schwert auf. Keine Edelarbeit, die Klinge hatte niemals einen Zwergenhammer auch nur zu Gesicht bekommen, doch für den Anfang reichte es und als Trainingswaffe ohnehin! Sie begannen ein paar Grundschläge und Paraden durch zu exerzieren, wie er sie ihr schon seit einigen Tagen zu lehren versuchte. Tatsächlich hatte es auch den Anschein, als hätte sie von allen Lektionen des Waffenkampfes die Schwerttechnik noch am besten mitgenommen. Thorin wagte sogar, es auf einen Probekampf ankommen zu lassen.

„Ich werde nicht zurückschlagen, kein Konter. Und jetzt, greife mich an.“ verlangte er ihr ab und tatsächlich wagte die Adlige ihm inzwischen die Stirn zu bieten. Eigentlich hatte Thorin lediglich austesten wollen, wie es sich mit ihrer Technikkenntnis tatsächlich verhielt, ob sich vielleicht gar erste Ansätze eines eigenen Stils würden erkennen lassen – dann hätte er bei den Zwergen ein Breitschwert für sie in Auftrag gegeben –, doch rasch musste der Axtkrieger einsehen, dass seine Herzdame mit jeder Attacke, die er blockte, ohne ihr den Erfolg eines Treffers zu gönnen, ungestümer wurde. Wohin das zwangsläufig führen würde, zeigte sich schon wenig später. Zwischen überaus flinken und geradezu wagemutigen Angriffen umrundete sie ihn wie eine Raubkatze, über die Ungerechtigkeit schimpfend, dass er ihr auch gar keinen Spaß gönnen würde. „Es geht hier nicht um dein Vergnügen, es geht um deine Verteidigung!“ meinte er daraufhin hoffend, dass sie Einsehen haben und sich ernsthafter auf den Kampf konzentrieren würde. Ninafer jedoch erwidere lediglich, dass man doch sicherlich beides kombinieren könne – und spätestens an der Stelle ließ Thorin tatsächlich einen Augenblick perplex das Schwert sinken.

Wem machte der Kampf schon Spaß? Ja gut – Raven, Snorri, gelegentlich auch ihm selbst, aber... wer von denen hatte auch Spaß daran, wenn es nur, einzig und ausschließlich um die Verteidigung ging, das ständige Blocken und Kontern, ein fortwährendes Zurückweichen vor Attacken des Feindes? Das konnte sie unmöglich ernst meinen!

Doch kaum ein wenig in jener Überlegung versackt, nutzte die einstige Adelsdame ihre Chance und reckte mutig die Klinge.

„Für Honigbrot!“ warf sie ihm halb schreiend, halb lachend als persönlichen Schlachtruf zu und stürmte auf Thorin ein. Die Klinge voran, so stellte der Krieger innerhalb von Sekundenbruchteilen fest – eine schlechte Taktik. Er parierte den Angriff mühelos und unterschätzte Ninafer maßlos, wie sich kaum eine Sekunde später zeigte. Statt nun von seiner Klinge abgelenkt zur Seite gelenkt zu werden, das Metall in den Boden zu rammen und von ihm mit der flachen Scheidenseite einen Klaps auf ihr Gesäß zu bekommen, drehte sie sich geschickt unter seiner Blockade hinfort – und schlug ihrerseits ihm mit der flachen Schwertseite auf die Flanke. Natürlich verlor sie trotz ihrer überaus famosen Wende das Gleichgewicht, packte Thorin noch Halt suchend am Kragen und riss ihn beinahe mit zu Boden, hätte er nicht die Waffe fallen lassen und stattdessen rasch die Arme um sie geschlungen. „Mylady Saeryleth, ihr vermögt doch immer und immer wieder zu überraschen...!“ gestand ihr Thorin lobend zu, erinnerte sich dann jedoch ihres Schlachtrufes und musste allzu heiter lachen, „Aber falls wir jemals in den Kampf ziehen, dann lass mich die Rede halten. Ich bin sicher, ‚Für die Freiheit!‘ spornt die Männer besser an als ‚Für Honigbrot‘!“ gab er zu bedenken und schüttelte auf ihre völlig unschuldige Frage, was er gegen ihren Ruf einzuwenden hatte, grinsend den Kopf. Stattdessen neigte er sich noch ein Stück tiefer, wollte soeben ihre Lippen berühren, als mit Schwung die Tore zum Innenhof aufgestoßen wurden.

„Da, ein Verräter, ein Rebell, packt ihn!!!“ schrie jemand aus vollster Kehle und abrupt versteifte sich Thorins gesamter Körper, er riss den Kopf empor, seine Muskeln spannten sich, alles in ihm stellte sich auf Kampf ein. Natürlich war es damals Kopf und Kragen aller Beteiligten wert gewesen, die königlichen Kerker zu stürmen und Ninafer zu befreien. Sie hatte für die Rebellenbewegung viel getan, die Härte des Adels erweicht und stets, wann immer es finster für sie aussah, einen Funken Hoffnung und ein dezentes Lächeln in die Runde zu tragen gewusst. Doch das Kopfgeld, dieses verdammte Kopfgeld. Viel zu lange waren sie herum gezogen, stets auf der Hut und doch hier und da erkannt. Man glaubte nicht, dass sich etwas ändern konnte. Nicht durch einen Haufen Taugenichtse und Vagabunden. Die Bauern hatten sie gleichermaßen verraten wie die Handwerker und Niederadel. Oh wie er solche Rufe mit den Wochen und Monaten fürchten und hassen gelernt hatte...!

Doch inzwischen hatte er einen Namen, seine Mitstreiter waren kleine Legenden geworden und niemand wagte mehr, sie auf offener Straße anzusprechen – oder gar Wachen zu melden. Denn obgleich das Kopfgeld mit jeder Aktion, jeder Mission und jedem Erstarken der Rebellenbewegung gewachsen war, so hofften inzwischen vom Bauer bis zum Adelsmann alle, die unter Phillipes Fuchtel litten, dass sich durch Thorin und seine Streiter etwas würde bewegen lassen. Dass sich etwas zum Guten ändern könnte. Diese Hoffnung allein, vielleicht auch die Chance, diesen Wandel noch zu erleben, war mit keinem Gold des Inselreiches aufzuwiegen.

„War nur ein Spaß, lasst euch nicht stören.“ setzte Alandor schmunzelnd nach, verschränkte die Arme vor der Brust und verharrte an Ort und Stelle, scheinbar durchaus gewillt, sich das Treiben beider anzusehen. Im Verlauf der Stunden, in denen Thorin mit Ninafer geübt hatte, waren die Rekruten gekommen und gegangen, doch letztlich blieben sie auf dem Hof zu zweit zurück. Nun war eben jene Beschaulichkeit gestört, weil dieser verflixte Magier ein Talent dafür haben musste, immer dann aufzutauchen, wenn er es besser sein lassen sollte...

Thorin zog die Giftmischerin wieder auf die Füße zurück, setzte eine unschuldig lächelnde Miene auf und erkundigte sich rein der Dreistigkeit dessen halber, wovon der Bannwirker überhaupt sprechen würde. Derweil jedoch fuhren seine Finger Ninafers Rückrat herauf, die prompt an seinem Ärmel zupfte und zu allem Verdruss leise flüsterte, ob der Magier nicht eben das anzudeuten beabsichtigte, was er gerade tat – dabei unterschätzte sie jedoch zu allem Übel die Akustik eines Innenhofes mit überdachtem Rundgang, denn dank der wundervollen und ästhetisch wertvollen Bauweise wurde nahezu jedes Wort an Alandors Ohren getragen, der nur breit schmunzelte, abwinkte und sich zum gehen umkehrte.

„Das hast du ja prima gemacht, jetzt hast du ihn vergrault!“ warf der Krieger seiner Gesellschafterin zu, die ihrerseits prompt erklärte, dass das an sich gar nicht nennenswert tragisch sei...

Der Abend zog dahin, wenngleich auch nicht ganz so wie von Thorin erhofft. Ninafer schien zu späterer Stunde deutlich mehr Gefallen daran zu finden, mit Naru herum zu streifen und Wege zu suchen, wie sie Snorri kleine Streiche würden spielen können, also saß der Krieger letztlich zwar in guter Gesellschaft, dennoch aber nicht der Erwünschten vor dem Kamin in der großen Halle. Bei gutem Bier und Braten – fast als wäre ein kleiner Feiertag – genossen sie Possen und Geschichten, lauschten oder unterhielten sich über allerlei. Irgendwann fand ein jeder in dem alten Gemäuer zu seinem Schlaf und der Morgen brachte noch vor der sommerlichen Dämmerung für Ninafer das unschöne Erwachen, geweckt und für die Mission eingewiesen zu werden. Sie kleidete sich an, packte das Nötige beisammen und entschwand aus ihrem Zimmer, ohne sich verabschiedet zu haben, es zu können oder zu wollen. Im Moment bezog sich ihr Denken ohnehin eher auf das Vermissen der Bettwärme und den Neid darauf, dass Thorin noch selig ruhen durfte.

Es galt eine diplomatische Eskorte zu leiten. Sie würden, mit Ninafer als Zentrum dieser Aufgabe, nach Rhovanion reisen und versuchen, die Zentraurenclans für ihre Sache gewinnen zu können. Durch die eine oder andere Gefälligkeit hatten sie schon ein paar Sippschaften auf ihre Seite ziehen können, doch nun gab es ein großes Treffen der Khans. Jeder Stamm und jede Familie würde vertreten sein und eine solche Gelegenheit durfte einfach nicht ungenutzt verstreichen. Ninafer wurde entsendet, da sich über die Monate, da der Widerstand langsam erstarkte, viel zu oft gezeigt hatte, dass sie das deutlich eloquentere und ansehnlichere Bild des Rebellendaseins abgeben konnte. Würden Thorin oder Raven vor einen Bauer treten und ihm erklären wollen, was es mit alledem auf sich hatte, würde er wohl einzig aus Furcht nicken. Doch Ninafer verstand Diplomatie auf einer Ebene, weit abseits von Angst und Einschüchterung.

Während der Trupp auszog, lag noch immer die Stille des noch nicht ganz angebrochenen Morgens über der Feste und dem Wald. Ein Dutzend guter Männer eskortierten Ninafer für die Dauer der Zweitagesreise. La Coeur und die Hochburgen der königlichen Loyalisten waren fern – doch man konnte nie wissen, wie weit die gierigen Klauen des kleinen Wichtes sich zu strecken wagten. Thorin jedenfalls war kein Risiko einzugehen bereit und hätte Ninafer am liebsten eine kleine Kompanie mitgegeben, doch dafür wiederum konnten sie einfach nicht genug Männer entbehren. Die Festung musste aufgebaut werden und es gab noch so viel mehr Aufträge als nur diesen Einen.

Die nächsten Tage verliefen erschreckend eintönig. Thorin erwachte, vermisste, wusch sich, aß und ging dem täglichen Treiben nach. Es hatte ihn jener Zeit selbst überrascht, dass die größten Probleme, die der Widerstand in Lumiél hatte, rein logistischer Natur waren. Sie hatten Waffen, aber keine Möglichkeit, ihre Männer damit unbemerkt üben und trainieren zu lassen. Sie hatten andernorts Männer, aber keine Mienen und Schmieden, um ihnen Waffen zu geben. Sie hatten perfekte Pläne für eine uneinnehmbare Festung, konnten aber keinen einzigen Steinbruch samt seiner Gräber für sich gewinnen. Viele Vorhaben der Widerstandskämpfer scheiterten einfach daran, dass es an nahezu allem mangelte – und an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Dinge fehlten, oftmals aber einfach keine Idee aufkam, wie man ungebrauchte Waren von A nach B schmuggeln konnte, ohne dabei entdeckt zu werden. Viele Male hatte man derlei probiert und immer wieder waren die Ladungen aufgebracht worden. Im Grunde stärkte man damit nur noch die Stadtwachen der einzelnen Siedlungen und damit letztlich den König – etwas, das nun wirklich keiner wollte.

Vermutlich hätten aus genau diesem Grund die Rebellen noch ewig und drei Tage planen und ihre Blitzattacken durchführen können, ohne etwas zu verändern. Auch dieser Wandel stellte sich erst ein, als jene, die ein Kopfgeld trugen, sich nach und nach dem Widerstand anschlossen. Ihre Taten mehrten sich ebenso, wie ihr Ruf und hier Finanzen und einmal alles in den Dienst der einen Sache gestellt, einmal die Bereitschaft erklärt, alles für dieses Ziel zu opfern, erwies es sich plötzlich als deutlich einfacher, jemanden davon zu überzeugen, einfach über die Ladung eines Karren hinweg zu sehen, die Erträge einer Miene nicht zu prüfen oder über den Kampflärm aus einem Tavernenkeller hinweg zu hören.

Nachdem der Widerstand jedoch immer erfolgreicher geworden war, hatte sich gezeigt, dass das Zellensystem nicht mehr optimal funktionierte – die Untergrundbewegung war einfach zu rasant und zu stark gewachsen. Eine Zentralisierung musste her. Der Wahl des Standortes fiel eher zufällig aus, als die Lagerfeuergeschichte eines einfachen Wanderhändlers sie auf die alte Feste aufmerksam machte. In der Tat hatte sich nach ihrer Bereinigung bewiesen, dass das Mauerwerk eine nahezu uneinnehmbare Position inne hielt. Zudem war es von der Küste aus gut für Schiffe zu erreichen, an Land würde die Bastion mühelos den Zugang nach Südlumiél schirmen können und wenn die Mauern und Türme erst einmal wieder errichtet waren, würde die Burg gewiss auch für das Auge manches her machen.

Doch so weit waren sie eben längst noch nicht. Es gab seit dem Umzug der Rebellen hierher immer wieder Engpässe in der Nahrungsversorgung, die Steinbrüche konnten längst nicht so rasch abbauen und hierher transportieren, wie Medea und die Zwerge die Materialien verbauten und auch, wenn die Elben dem Wald halfen, so gut sie es nur konnten, gab der Viehbestand nicht genug her. Dazu kamen immer mal wieder kleinere Streitigkeiten unter Elben und Zwergen, sogar ein paar Goblins keiften hier und da herum und weil er sich nun einmal selbst das Kreuz der Verantwortung aufgebürdet hatte, durfte Thorin tagtäglich diesen Tiraden über die Unfähigkeit anderer und Dreistigkeit derer und überhaupt all den anderen Unsinn anhören, beschwichtigen, beruhigen und sich danach um wie wirklich wichtigen, aber leider eben auch weitaus kniffligeren Fragen kümmern.

Er vermisste fast schon ein wenig die Zeiten, als er einfach nur mit der Axt in der Hand dem Feind entgegen trat. Natürlich tat er das auch heute noch oft genug. Wann immer die Pläne auch gut von anderer Hand geführt werden konnten, begleitete er seine Freunde und Mitstreiter und doch schien es, als würde die Arbeit an und in der Feste ihn langsam aber sicher auf einen Stuhl ketten wollen.

Fast drei Tage waren vergangen. Thorin saß an jenem Abend auf den breiten, flachen Stufen der Treppe, die vom Rundgang des Innenhofes auf das Pflaster des Selbigen führte und sah der Sonne im Westen beim Sinken zu. Inzwischen hatte sich der Himmel leicht eingefärbt und warf erste Rotschattierungen an die Wolken, da bemerkte der Krieger einen Vogel, der ungestüm und raschen Schlages auf ihn zu hielt. Noch im Flug und gut zwei Meter über dem Boden begann die einstige Krähe sich zu strecken und zu recken, zu kreischen und zu wachsen. Als die Kreatur auf den Boden setzte, erhob sich ein schwarzhaariger Bursche von gewiss kaum mehr als zwanzig Sommern vor Thorin. Der Krieger war längst aufgesprungen, kannte jenen Wandler nur zu gut. Malin war ein Adept aus dem Turm des Morgens gewesen. Nachdem der Turm zu Bruch gegangen, sein Meister erschlagen und das Rätsel des Verließes gelüftet worden war, hatte man Malin als einzigen Überlebenden des Meisters angeboten, das Land zu verlassen. Doch der Bursche schien von einer verqueren Logik beseelt und hielt es für seine Pflicht, seine Rettung als Schuld durch seinen Dienst wieder abzutragen. Er war als Adept kein voll ausgebildeter Magier, doch gerade seine Vorliebe für Wandlungsmagie war stets aufs Neue über alle Maßen praktisch und hilfreich gewesen. Er vermochte sich exzellent als Späher auszugeben – und nun kehrte er als eben solcher zurück.

Er hatte auf Thorins Befehl hin Ninafer und ihre Eskorte verfolgt, doch die blutigen Wunden an Hals und Arm, der zerrissene Stoff seiner Kleider verrieten bereits, dass etwas nicht zum Guten stand. Der Krieger packte den Adept bei den Schultern und verlangte zu wissen, was geschehen sei. Einen Moment noch gab sich Malin, um zu Atem zu kommen, ehe er aufblickte, noch immer von Schwindel und Atemlosigkeit durch die Dauer des Zaubers betroffen. „Ninafer... ein Angriff... keine zwei Stunden von hier...“ brachte er mühsam hervor. Schon zu Beginn der Gefechte hatte Malin zu entkommen versucht und obgleich es ihm geglückt war, segelten ihm erschreckend viele über die Maßen zielgenaue Bolzen nach – deren Spuren man noch jetzt an seinem Leib klaffen sah. Thorin jedoch ließ den Bengel stehen und hastete zum Tor, riss das Holz auf und stürmte durch die Korridore. Ein kurzes „Mitkommen!“ rief er noch ungeachtet seiner Laufrichtung zu, als er an seinem zwergischen Kumpanen vorbei hastete. Der zögerte nicht lange, hechtete seinem langen Freund nach und wusste sofort Bescheid, als Thorin die Axt auf das Bett warf und in aller Eile die Rüstungsteile anzulegen begann.

Bereits kurz darauf befand sich der Krieger am Tor der Feste, da holte ihn Snorri wieder ein. Der Zwerg stand in seinem Kettenpanzer, lächelte grimmig und schien bereits zu ahnen, dass es nur wenige Dinge gab, die Thorin derart rasch und überstürzt würden handeln lassen. Etwas musste geschehen sein und der Nervosität nach, die den Axtträger zu plagen schien, ging es wohl um die Adlige. Dass der übereilte Aufbruch beider nicht unbemerkt blieb, scherte Thorin eigentlich nicht – das änderte sich jedoch in dem Moment, als plötzlich Alandor, Naru und Medea hinzu traten. „Ihr bleibt hier und bewacht die Festung!“ befahl der Krieger eisern, doch die kleine Elbe verschränkte lediglich die Arme vor der Brust.

„Hier sind über hundert Mann, die sie bewachen. Die rennt schon keiner um!“ erwiderte sie frech, erholt von Medea ein zustimmendes Nicken, die prompt hinter das Mädchen trat, ihr die Hände auf die Schultern legte und erklärte, dass sie auf sie aufpassen würde. Der Bannwirker hingegen gesellte sich Anschluss suchend mit einem zufriedenen Grinsen dazu und meinte seinerseits, dass er wiederum auf die Dryade Acht geben würde. „Ich werde nicht mit euch diskutieren!“ blaffte Thorin – doch sehr zu seinem Verdruss war das den Dreien ohnehin nur Recht.

Der fünfköpfige Trupp zog aus, unwissend, dass Ninafer sich bis zuletzt wehrte, alles aufbot, was man ihr gelehrt hatte und ganz der verquere Wirrkopf sogar noch manchen Trick aus dem nicht vorhandenen Hut zauberte, der einen Zuschauer in Erstaunen versetzt hätte und ihre Feinde immerhin das Fürchten lehrte. Und dennoch war sie im Prinzip chancenlos. Dieser Überfall war wohl organisiert worden, man kannte die Route, kannte die Pläne und wusste nur zu gut, dass man mit Ninafer Thorin an einer verwundbaren Stelle traf.

In der Deckung der Nacht erreichte der Tross einen schmalen Grat, der sich zwischen zwei Anhöhen durch die Landschaft zog. Eine Schar des königlichen Heeres hielt eisern die Formation und blockierte beide Zugänge. Hinter den Reihen der Soldaten, das ahnte Thorin, war Ninafer. Er ahnte irgendwie, ja spürte regelrecht, dass sie noch lebte. Oder vielleicht war es auch nur die verzweifelte Hoffnung eines verliebten Narren.

„Alandor, du halbierst unser Gewicht, Snorri, ich trage dich. Medea, du musst euch drei schützen, verstanden?“ wies er rasch und möglichst leise flüsternd an. Alle nickten. Im Feld war Thorin der Kommandant und wer dann nicht zu spuren wagte, gefährdete das Leben aller.

„Für Honigbrot!“ setzte Thorin mit einem bitteren und doch hoffnungsvollen Lächeln nach und ignorierte die verwirrten Blicke Alandors und Medeas völlig.

Wie angewiesen, wob der Magier seinen ersten Zauber und wenige Augenblicke später fühlte Thorin sich so federleicht, wie es sonst nur Elben vorbehalten war. Er nahm den Zwerg huckepack, der Effekt weitete sich auf ihn aus und beide begannen einen Kurzstreckensprint direkt auf die Menge der Feinde zu. Als die Gegner die heran walzende Gefahr endlich gegen die düsteren Schemen der Nacht und sich im Wind wiegender Bäume erkannten, war es im Grunde schon zu spät. Thorin preschte mit Schwung voran, zielte seitlich an den Soldaten hinfort und nutzte den Zaubereffekt aus, um mit der Trägheit seines Körpers ein Stück der Hangwand seitlich empor zu laufen. Snorri sprang regelrecht von Thorins Rücken ab, warf sich mit Gebrüll in die Menge. Kaum den Kontakt zu seinem Kampfbruder verloren, wirkte der Zauber nicht mehr auf ihn und der Zwerg riss mit vollem Gewicht seiner Statur und des schweren Panzers eine Gruppe Soldaten zu Boden, ehe er mit der Axt behänd aufsprang und wild um sich hackte. Thorin hingegen führte seinen fast horizontalen Lauf mit Schwung fort, ehe er sich von der Wand abstieß und im Zentrum des Geschehens landete, hinter den Linien der Soldaten.

Die Pferde samt ihrer Reiter lagen am Grund der Mulde verstreut. Zweifellos wurde ihnen von den Rändern der Vorsprünge aufgelauert, in diesem Engpass hatten sie sie fertig gemacht. Pfeile und Bolzen ragten hervor, üble Wunden klafften an Fleisch, dem tote, starre Augen angehörten, teilweise aber nicht einmal mehr zwei Arme und Beine. Es war ein Gemetzel, ein Blutbad und Thorin bezweifelte ganz zu Recht, dass all die Verletzungen und Greuel den Männern der Eskorte angetan worden waren, als es noch um Kampf, Leben und Verteidigung ging. Viele Wunden sahen eher aus, als hätte man die Leichen nachträglich entstellen wollen. Erst als er seinen Blick hob, bemerkte er die Skurrilität der Anordnung. Es war längst kein zufälliges Muster, in dem die Kadaver lagen. Mann und Tier und Teile von beidem waren in einem Kreis angeordnet, in dessen Mitte Ninafer ruhte. Eine Gestalt kniete am Boden neben ihr, die schwarze, schwere Kutte verhing die gesamte Figur und doch wusste Thorin, um was für eine Abscheulichkeit es sich dabei handelte. Er sah, wie der Fremde Ninafer etwas zuflüsterte, zweifellos weitere verderbte Magien wob, um der Frau mehr anzutun, als ein einfacher Tod hätte bewirken können.

„Arimasper, gib mir Kraft!“ betete Thorin einen Moment, ehe er die Axt von seinem Rücken zog und mit voller Wucht von sich schleuderte. Als hätte der Kriegsgott persönlich dem Feind auf die Schulter getippt, hob der Priester den Kopf und bekam vom Klingenblatt der Waffe den Schädel gespalten. Er sank zu Boden, schwarzes Blut ergoss sich auf den Boden, während leere, verdrehte Augen zu Nebel und Nichts zerflossen. Thorin hechtete zu seiner Axt, packte sie und noch während er sie aus dem Boden zog, nahm das Grauen wieder Körper und Gestalt an.

„Dumm bist du, dich des Nachts hierher zu wagen!“ zischelte eine Stimme, die von überall auf ihn einzudringen schien, „Um deine Liebste ist es längst zu spät!“

Einen Moment wagte Thorin auf Ninafer herab zu blicken, doch da – sie regte sich noch! Nichts war zu spät! Die Soldaten verkehrten sich, stürmten auf sie zu, prügelten auf Schilde ein, die Alandor errichtet hatte. Ein kleines Schwadron stürmte davon, um die abseits stehende Dreiergruppe zu attackieren, doch Medea und die Mächte Phylias wussten sich solcher Narren zu entledigen. Sogar Naru wusste einen der Aggressoren mit ihrem Stab ohnmächtig zu schlagen. Als jedoch der Schatten selbst körperlos und wütend fauchend auf sie zu stürmte, ließ Alandor die Schilde fallen, die Snorri und Thorin bislang geschützt hatten und begann den Kampf gegen das vermeindlich Unverwundbare aufzunehmen. Ein Gefecht zwischen Magiekundigen mochte man sich in der Regel als spektakulär vorstellen. Flammen und Funken und allerlei Blitze. Zweifellos hätte Ninafer es so erwartet und enttäuscht geschmollt, hätte sie gesehen, wie trivial der Kampf zwischen Priester und Magier anmutete. Es war Naru, die den Schatten schließlich zwar nicht bezwang, wohl aber vertreiben konnte. Sie beschwor einen der einfachsten Zauber, über den jedoch niemand ihrer Mitstreiter sonst gebot: Licht. Eine gleißend helle Kugel, wenngleich auch klein, so sandte sie doch durchdringend ihre Strahlen in alle Richtungen und machte es dem Übel schwer, sich selbst beisammen zu halten – ganz zu schweigen von der nötigen Konzentration für weitere Zauber, um dem Bannwirker und seinen zwei Begleiterinnen das Leben zu rauben.

Während der Schatten sich zurück zog, kämpften Thorin und Snorri noch immer verbissen mit den verbliebenen Soldaten. Wie Berserker hatten sie sich um die Adlige geschart, die noch immer scheintot am Boden lag, nur gelegentlich ganz leicht den Kopf von einer Seite auf die Andere neigte. Sie schlachteten, wo sie konnten, stießen mit ihren Äxten vor und nieder, zur Seite und zurück, hielten die Soldaten fern, bis sich auch ihre drei Mitstreiter doch noch in den Kampf einmischten. Naru und Medea gelang es, den Kreis der Feinde zu durchbrechen, Alandor warf ein paar geschickte Barrieren zwischen die Krieger und am Ende gelang es ihnen, die verbliebenen Soldaten in die Flucht zu schlagen.

Doch jeder Sieg hatte seinen Preis. Medea war erschöpft, Alandor erbrach Galle, wischte sich mit zitternden Händen den kalten Schweiß von der Stirn und Snorri ließ sich ohne großes Murren von Naru bei Seite ziehen und die Hand von einer übel blutenden Wunde nehmen. Thorin hingegen war um schwere Wunden herum gekommen, sah sonst jedoch aus wie ein gerupftes Huhn. An seinem Panzer gab es einige neue Scharten und Risse, an seiner Kleidung darunter hatte mancher sterbende oder attackierende Soldat herum gezogen in dem Versuch, ihn in die Klinge zu ziehen und allerlei kleinere Schnittwunden zierten seine Arme. Doch all das war nicht von Bedeutung. Der Krieger stieß die Axt in den weichen Grund und wandte sich fast augenblicklich zu Ninafer um. Das Blut des Kampfes hatte sie benetzt.

Forsch tastete er ihren Puls ab, flehte zu Telete und Damastes, sie mögen nicht wagen, ihm das anzutun. Ein Stein der Erleichterung entfuhr ihm, als er sie atmen hörte, ihr Herz langsam und ruhig in ihrer Brust schlagen spürte. Naru, einen Moment ob der Erschöpfung durch ihre Heilzauber wankend, trat zu Thorin heran und besah sich forschend die Adlige. Ebenso wie der Krieger wusste die Halbelbe, dass der Priester wohl kaum Limericks rezitiert hatte, um Ninafer zu erfreuen, doch sie wusste nichts zu nennen, vermochte weder Fluch noch Krankheit festzustellen und keine Wunde zu erkennen.

Thorin packte die Axt wieder auf seinen Rücken, schob die Arme unter Ninafers grazilen Leib und hob sie empor. Einen Moment blickte er in ihr Gesicht. Sie wirkte ruhig, friedlich... schlafend. Den gesamten Rückweg über ließ ihm der Anblick keine Ruhe mehr, als er in die Mitte der Abschirmung gebrochen war. Der Anblick des Schatten, der ihr etwas ins Ohr flüsterte. Was mochte es wohl gewesen sein?

Mit der Rückkehr zur Burg zerstreute sich die Gruppe. Alandor und Medea mussten sich erholen, Snorri verlangte es nach einem Bad, um sich vom Blut der Feinde rein zu waschen, hatte dieserlei es doch nicht verdient, sich auf seiner Klinge, Rüstung und Haut wieder zu finden. Einzig Naru blieb bei Thorin und Ninafer, folgte ihm bis in das Zimmer der Giftkundigen und prüfte abermals, nunmehr unter besseren Sichtbedingungen und in weniger gefährlicher Umgebung, ob mir ihr alles in Ordnung wäre. Doch letztlich vermochte die Halbelbe erneut nichts zu finden, das auf irgendeine Magie hindeutete.

Thorin aber wurde den Verdacht nicht los.

Stunde um Stunde ruhte er an ihrem Bett, schlief zum Morgengrauen kurz ein und erwachte nur wenige Stunden später, sich selbst für diese wenigen Stunden Vorwürfe machend. Vier lange Tage schlief Ninafer und allmählich begann eben dies den Eindruck der Zauberei zu erwecken. Sie schien nicht aufwachen zu wollen. Sie trank, so man es ihr einflößte, doch aus Furcht, sie zu ersticken, wagte man ihr keine Speisen zu geben, die über Suppen hinaus gingen. Thorin jedoch saß an ihrem Bett, zu jeder Stunde, Tag um Tag.

Als sie endlich erwachte, nahm er ihre Hand. Draußen war es finster geworden und nur zwei einzelne Kerzenhalter neben der großen Zimmertür spendeten flackernd einen Hauch Licht.

„Du kannst mir doch nicht ständig solch einen Schrecken einjagen!“ warf er ihr leise vor. Er wagte die Stimme nicht lauter zu heben aus der Befürchtung, man könne die Sorge oder dar das leichte Zittern darin hören. Ninafer jedoch blickte sich um, streckte sich und gähnte. „Ich glaube, ich hätte jetzt gerne ein Glas Mi-“ setzte sie an, doch da griff Thorin bereits zum Nachtschrank und hob ein kleines, durchsichtiges Gefäß vor ihre Nase.

„Milch mit Honig.“ vollendete er ihren Satz und rang sich ein Lächeln ab. Einen Moment gar verlegen scheinend, setzte sich Ninafer auf und trank. „Wir haben uns Sorgen gemacht. Du hast vier Tage lang geschlafen...!“ begann er ihr zu erklären und schmunzelte, als sie daraufhin misstrauisch die Milch besah und, obgleich das Glas unlängst halb leer war, erneut daran roch. Als er ihr darüber hinaus ausführte, dass er natürlich jeden Tag ein neues Glas bereitet hätte und auch sonst nicht von ihrer Seite gewichen sei, glaubte er fast einen leichten Rotschimmer im dumpfen Zwielicht auf ihren Wangen zu erspähen.

Sie lächelte regelrecht glücklich, als das Milchglas leer war und sie mit dem Finger ein paar Honigreste vom Grund des Gefäßes puhlen konnte. Mit dem Finger zwischen den Lippen und beständig die klebrige Süße davon saugend, spähte sie zu ihm auf und erkundigte sich – ohne den Finger aus dem Mund zu nehmen – erneut, ob es tatsächlich vier Tage gewesen seien. Thorin bestätigte ihr dies einmal mehr und verlangte nun zu wissen, ob etwas nicht stimme. Immerhin wirkte sie ein wenig verwirrt ob jener Tatsache.

„Nein nein, schon gut, das erklärt nur, warum ich jetzt... gehen muss.“ antwortete ihm Ninafer regelrecht vergnügt, erhob sich flink vom Bett und verschwand im Badezimmer. Verdutzt sah Thorin ihr nach und erkannte erst im Nachhinein, dass sie zweifellos besten Grund dazu hatte. Vier lange Tage, in denen man versucht hatte, sie mit Milch und Suppen bei Laune und Kräften zu halten, vier lange Tage, in denen sie sich nicht hatte erleichtern können. Als sie aus dem Nebenraum zurückkehrte, lächelte sie so selig wie an dem Tag des Straßenfestes von Samara, als er ihr den halben Stand mit Süßwaren und Honiggebäck aus aller Welt gekauft hatte. „Das war toll!“ konstatierte sie und brachte Thorin damit zu einem schallenden Lachen, das sich noch steigerte, als sie gähnte und auf seine Frage, ob sie denn ernstlich müde sei erwiderte, dass so viel Schlaf reichlich erschöpfend wäre.

Er ließ sie allein, wenngleich auch eher widerwillig, begab sich in sein eigenes Quartier, nur um dort festzustellen, dass er binnen weniger Sekunden, praktisch kaum, dass er lag, selbst eingeschlafen war, um endlich die zahlreichen Stunden nachzuholen, die ihn in den Tagen zuvor vor Kummer und Sorge entgangen waren. Dabei hätte es fast den Eindruck erwecken können, der Zauber des Priesters sei nahtlos gewandert – Thorin schlief fast einen ganzen Tag lang durch, ungeachtet der Tatsache, dass Naru, Snorri und Ninafer im Verlaufe jener zahlreichen Stunden den Kopf in sein Zimmer steckten und teilweise sogar über sein Verhalten schimpften, sich tagelang des eigenen Schlafes beraubt zu haben. Als er schließlich wieder erwachte, verwirrte ihn entsprechend die Dunkelheit vor dem Fenster sehr. Er schlich angekleidet durch die Gänge der Burg, fand den großen Saal mit seinem Kamin voll besetzt und begriff damit, dass er einen ganzen Tag verschlafen hatte.

Plötzlich tippte ihm jemand in die Seite und Thorin fuhr zusammen. Um ein Haar hätte er rein aus Reflex heraus zugelangt, stattdessen warf er Naru flüsternd vor, dass sie sich nicht so anschleichen solle. „Wo ist Ninafer?“ verlangte er zu wissen und wurde von dem Halbblut mit einem neckischen Schmunzeln an den See verwiesen. Während die Heilerin die Treppe herab trat und sich wieder der geselligen Runde anschloss, verließ Thorin die Festung, um Ninafer aufzusuchen. Natürlich wusste er, warum Naru so vor sich hin gegrinst hatte. Wann immer er der Adelsdame begegnet war und obendrein Wasser in irgendeiner Form ins Spiel kam, hatte sich das zumeist auf eine Art entwickelt, dass die Situation für irgend jemanden peinlich wurde – oder zumindest nicht mehr ganz angemessen schien. Oder sich mit einem Schlag intimer anfühlte, als ihnen zustand. Oder...

Er fand sie tatsächlich an jenem kleinen Weiher, der von zahlreichen gewaltigen Bäumen gut umschlossen und von Gebüsch sogar fast verdeckt war. Sofern man nicht von seiner Existenz wusste, verirrte man sich nur selten hierher. Schon während Thorin Ninafer im Wasser sah, wie sie sich das doch überraschend warme Nass mit vollen Händen schöpfend ins Gesicht warf, schlich sich auch auf seine Züge die Kontur eines Grinsens. Er war nicht nur einmal unabsichtlich in das Badezimmer geplatzt, während sie im Zuber saß – oder ihm entstieg – oder in ihn zu steigen versuchte. Er war auch nicht nur einmal ausgerechnet in dem Moment an ein Ufer gestolpert, als sie sich gerade wieder anzukleiden versuchte. Zumeist hatte sich das tatsächlich ohne irgendeinen Willen ergeben, aber es war nun auch wirklich nicht so, als hätte er behaupten können, dass ihm die Geschehnisse unangenehm waren. Seine Schamgrenze hatte im Verlaufe der zahllosen Jahrzehnte wohl manchen herben Schlag hinnehmen müssen, sofern sie überhaupt noch existent war und Ninafer, was musste man ihr einfach zugestehen, war ein Blickfang.

Er umrundete den See teilweise, entledigte sich seiner Kleider und verschwand sehr zum eigenen Vergnügen völlig ungesehen und unbemerkt im Wasser. Mit kräftigen, raschen Schwimmzügen verkürzte er tauchend die Distanz zwischen ihnen, schlich sich von hinten an Ninafer heran und lugte nur selten kurz über Wasser, holte Luft und besah sich, ob sie sich fort bewegt hatte – immerhin sah man bei Nacht unter Wasser noch schlechter als ohnehin bereits in der Dunkelheit möglich. Tatsächlich glaubte er sie beim nächsten Tauchgang erreichen zu müssen, verschwand wieder unter der Wasseroberfläche und... verschätzte sich offenbar. Er tauchte auf, einen Moment regelrecht verwirrt, als ihn bei dem Versuch, zu atmen, noch bevor er seine Augen von Wasser befreit und geöffnet hätte, plötzlich eine reichliche Ladung des Elementes traf. Ninafer stand freudig kichernd abseits und spritzte ihn voll, dass er nach Luft japsend zunächst das Weite suchte, ehe er sich auf den Rücken beförderte und mit den Beinen das Wasser so unruhig aufschlug, dass weder er sie sehen konnte, noch sie ihn. Allerdings sollte sich das einmal mehr als Nachteil erweisen – für ihn. Denn plötzlich hatte sie ihn schlichtweg umrundet, stand neben ihn im Wasser, piekte ihn in die Seite, dass er vom Lachen geschüttelt die Körperspannung verlor – und unterging. Sie zog ihn in ihrer Gnade sogar wieder herauf und gängelte den Krieger damit, gegen sie verloren zu haben.

„Das wollen wir doch erst einmal sehen!“ heischte er sie an, forderte eine Revanche und schlug ihr mit der Handkante eine Menge Wasser entgegen. Ninafer lachte auf, rannte, so gut das unter den Umständen eben möglich war, ein paar Schritte zur Seite und versuchte die Attacken zu erwidern. Ein Hin und Her ergab sich, sie tollten miteinander herum, den Anderen stets in die Defensive drängen wollend, nur um am Ende ihres Spieles außer Puste und mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützend am Ufer zu stehen. Sie rangen beide nach Atem, spähten angriffslustig zum anderen auf und schienen nur den Moment abzuwarten, da sie von Neuem aufeinander ein stürmten.

Kaum ein paar Augenblicke vergingen, da wagte Thorin unter einer kleinen Spritzattacke einen neuen Vorstoß, rannte auf sie zu und umfing Ninafer. Er packte sie, hob sie hoch und ignorierte die zappelnde und gleichermaßen kreischende wie lachende Frau bis zu dem Moment, da er bis zur Hüfte im Wasser stand und sie schlichtweg hinein warf. Er selbst lachte heiter auf, als er die Frau verschwinden sah und ausgerechnet ihre Füße als Einziges über der Oberfläche blieben und weiter zappelten. Ninafer richtete sich wieder auf, lugte einzig mit Augen und Nase über den Spiegel des Weihers, ehe sie die Hand langsam vorstreckte.

„Wie... frech!“ kommentierte Thorin schelmisch grinsend, als ihre Finger seine Lenden unter der unruhigen Seefläche ertasteten und ihn an seiner Männlichkeit kurzerhand näher zu ihr und damit tiefer ins Wasser zogen. Er folgte ohne Widerstand, bis er mit ihr auf einer Ebene war und grinste. Während er noch immer stehen konnte, musste die Heilerin bereits mit den Armen rudern.

„Gibst du auf?“ wollte er wissen.

„Du hast verloren, ich nicht, nein nein...!“

„Ich habe gewonnen!“

„Hast du gar nicht!... Wenn du mir nicht glaubst, kann ich’s dir ja beweisen!“ drohte sie ihm ernst an. Thorin jedoch lächelte, hob die Hand aus dem Wasser und führte sie an ihre Wange. Mit dem Daumen strich er die Kontur ihres Wangenknochens nach, zog sie langsam zu sich heran und umfing ihre Taille mit dem Arm.

„Und warum willst du mich nicht einfach gewinnen lassen? Wofür das Ganze, hm?“ verlangte der Anführer mit einem theatralisch überspitzten, überkritischen Blick zu wissen und brachte sein Herzblatt damit immerhin zum schmunzeln. Einen Moment schien sie sich ihre Worte zu überlegen, tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Lippe und spähte scheinbar gedankenversunken zum Himmel auf, ehe ein freudig strahlender Glanz in ihre Augen trat.

„Oh ich weiß es! Für Honigbrot!... und Freiheit... natürlich.“



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