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Creep

I don't belong here
von

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So fucking special

Ich blickte aus dem Fenster. Es war ein trister, grauer Tag. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete. Ich hörte die Regentropfen an die Scheibe klopfen. „Na super“, dachte ich mir nur und verdrehte genervt die Augen. Das Wetter verdarb mir jetzt schon die Laune und ich war ohnehin nie besonders gut drauf. Schlechtes Wetter machte mich nur noch melancholischer, Sonnenschein hingegen hellte meine Stimmung nicht auf. Am liebsten hätte ich mich einfach umgedreht und weitergeschlafen. Doch ich wusste, wenn ich jetzt nicht aufstehen würde, würde meine Mutter früher oder später in mein Zimmer gestürmt kommen, um mich zu wecken und ich hatte wirklich keine Lust, mir schon in der Frühe einen ihrer erzieherischen Vorträge anhören zu müssen. Widerwillig quälte ich mich aus meinem warmen Bett und schlurfte ins Bad. Eine kalte Dusche sollte mich jetzt munter machen. Obwohl munter es nicht so ganz traf, eher einfach nur wacher.
 

Die Dusche verfehlte ihren Zweck nicht, aber die Lust auf Schule brachte sie mir nicht. Schnell trocknete ich mich ab und rubbelte mir mit dem Handtuch durch die Haare. Danach standen sie wild ist alle Richtungen ab. Notdürftig strich ich sie mit der flachen Hand glatt. Auf Gel verzichtete ich genauso wie auf After Shave oder Parfüm. Dies überließ ich den anderen Typen aus meiner Stufe. Ich wollte nicht so gestriegelt aussehen wie diese 0815-Kerle an der Schule. Daher hatte ich mir die Haare auch schwarz gefärbt und trug sie etwas länger. Aber so was wie eine Frisur war nicht erkennbar. Auch mein Kleidungsstil war alles andere als stylisch. Ausgebeulte Jeans, ausgeblichenes, schwarzes Langarmshirt und alte, ausgelatschte Sneakers. Hauptsache bequem war mein Gedanke dahinter. Auf Marken legte ich keinen Wert. Lieber konzentrierte ich mich auf die Schule. Beides Gründe, weswegen man mich in der Schule eher mied. Dies war mir aber ganz recht; mir wurde schon früh klar, dass ich eher ein Einzelgänger war. Ich brauchte kein dutzend Leute um mich herum. Im Gegenteil, ich hasste große Menschenmassen, so wie man sie etwa in Diskotheken antraf. Dort trieben sich eh nur Personen rum, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Personen mit miesem Charakter, die nur auf Party machen und sich sinnlos besaufen aus waren. Einzige Ausnahme waren Konzerte und Festivals. Musik war ein wichtiger Teil in meinem Leben. Oder sogar vielmehr noch: Musik war mein Leben. Ich spielte Gitarre seit meinem 8. Lebensjahr und mit 13 kam auch noch das Schlagzeug dazu. Zurzeit versuchte ich auch noch mir selbst das Keyboard spielen beizubringen.
 

Deswegen durfte auch mein MP3-Player nicht fehlen, als ich mich auf den Weg zur Schule machte. 30 Minuten Fahrt ohne Musik waren für mich die Hölle. Ich sprach aus Erfahrung, da mir schon öfters der Akku mitten auf dem Schulweg schlapp gemacht hatte. Außerdem entging ich so der Gefahr im Bus unfreiwilliger Zeuge zu werden, wenn mal wieder jemand am Handy nicht nur seinem Gegenüber, sondern auch den gesamten Fahrgästen seine aktuellen Sorgen lautstark mitteilen musste. Was interessierte mich, wer mit wem, weswegen Schluss gemacht hatte oder wer das ganze Wochenende kotzend über der Kloschüssel verbracht hatte, weil er oder sie am Abend zuvor zu viel getrunken hatte?
 

Ich war spät dran, als ich das Haus verließ. Aber scheinbar war ich da nicht der Einzige, denn im Bus war es rappelvoll und man stand dicht beieinander gedrängt. Ich spürte, wie die Wärme in mir aufstieg und ich begann mich unwohl zu fühlen. Wie gesagt, ich hasste Menschenmassen.
 

Ich war froh, als ich endlich aussteigen konnte. Endlich frische Luft. Ich fühlte mich wieder freier. Der Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich bereits zehn Minuten zu spät war. Also beschleunigte ich meine Schritte und machte mich so schnell wie möglich auf den Weg in Richtung Schulgebäude, wo jetzt der Englischunterricht stattfinden sollte. Als ich dort ankam, war ich ein wenig verwirrt, denn die Tür zum Klassenzimmer stand offen, aber es klangen keine Stimmen heraus. Als ich den Raum betrat, war außer mir nur noch eine weitere Person im Raum. Schnell senkte ich den Blick und ging zu meinem Platz in der ersten Reihe.
 

„Guten Morgen“, begrüßte mich eine sanfte Stimme aus der hinteren Ecke des Zimmers. Ich wandte mich ein wenig in ihre Richtung, sah sie aber nicht an, als ich ein „Morgen“ zurückmurmelte. Welch Ironie, dass ausgerechnet jetzt, in diesem Moment mein MP3-Player „Creep“ von Radiohead spielte. „When you were here before, couldn't look you in the eye, you're just like an angel, your skin makes me cry…”
 

Ich war allein im Klassenzimmer mit dem beliebtesten Mädchen aus unserer Stufe. Und außerordentlich hübsch war sie zudem auch noch. Sie hatte lange, blonde Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern fielen. Ihre Teint war makellos – brachte mich allerdings nicht zum Weinen - und ihre Augen waren strahlend blau. Zudem schien sie mit der perfekten Figur gesegnet worden zu sein. Sie war weder dicklich, noch knochig. Und nein, ich hatte ihr bisher noch nie auf die Brüste oder den Hintern gestarrt. So wie es diese oberflächlichen Machos, die über sie sprachen, als wäre sie nur ein billiges Sexobjekt, es taten. Ich dagegen betrachtete sie ganz nüchtern. Das änderte allerdings nichts daran, dass ich sie - um es mit den Worten der anderen Kerle auszudrücken – „heiß“ fand. Ja, ich hatte mich schon ein wenig in sie verguckt. Okay, ein wenig war vielleicht untertrieben. Verguckt? Sagen so etwas nicht normalerweise nur Frauen? Egal, diese Tatsache machte es natürlich nicht für mich leichter, ihr beim Reden in die Augen zu sehen.
 

Doch jetzt sah ich vom Boden auf und sie an. Sie kam geradewegs auf mich zu. “You float like a feather, in a beautiful world…“ Engelsgleich schien sie auf mich zu zuschweben. Mit der Hand strich sie über das Holz der Tische, bevor sie sich auf einem direkt neben mir niederließ. „Englisch fällt aus… am Wochenende haben wir einen neuen Telefonanschluss bekommen, deswegen konnte mich niemand erreichen und ich doofe Nuss hab vergessen meine Mailbox abzuhören“, fing sie das Gespräch an. „Aha“, mehr war ich nicht im Stande rauszubringen. Ja, wenn es um Mädchen ging, war ich tatsächlich schüchtern. „Hat dich denn keiner angerufen?“, fragte sie mich. „Natürlich nicht. Lass den Freak ruhig zur ersten Stunde hinfahren“, hätte ich ihr am liebsten geantwortet, aber ich behielt meine Gedanken lieber für mich. Ich musste ihre Aufmerksamkeit schließlich nicht durch Mitleid erhaschen. „Hab das Telefon wohl nicht gehört“, log ich und zog mir dabei die Kopfhörer ab. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Ich hätte das Gespräch gerne fortgeführt, wusste nur partout nicht, worüber ich mit ihr hätte sprechen sollen. Weil mir nichts Besseres einfiel, kramte ich schon einmal meine Mathesachen für die nächste Stunde, die glücklicherweise im selben Raum stattfinden sollte, aus meinem Rucksack. „Hast du die Hausaufgaben gemacht?“, wollte sie von mir wissen. „Klar“, murmelte ich. „Wie immer, ich Streber“, fügte ich noch in Gedanken dahinter. „Kannst du mir die vielleicht erklären? Ich hab den Kram schon letzte Stunde nicht verstanden…“, sagte sie beschämt. „Klar“, erwiderte ich erneut, sah sie verwirrt an und blätterte dann mein Matheheft auf. Sie setzte sich währenddessen auf den Stuhl neben mir, warf ihr Haar zurück und blickte mir neugierig über die Schulter. Ihre Nähe machte mich nervös.
 

“And I wish I was special, you're so fucking special. But I'm a creep, I'm a weirdo. What the hell am I doing here? I don't belong here…” Ja, genau. „Was mache ich hier eigentlich?“, fragte ich mich selbst. Wir waren so eine Art „Schöne und das Biest“. Sie war so besonders und so ganz anders als ich: beliebt und begehrt. Und ich? Ich war nur ein Freak und Streber. Ich gehörte nicht an ihre Seite. Allerdings sollte ich ihr ja auch nur Mathe erklären. “I don’t care if it hurts…“ Klar, wusste ich, dass sie mich im Grunde doch nur ausnutzte. Sie würde nie freiwillig ein Wort mit mir wechseln, wenn dabei nicht auch für sie was bei rausspringen würde. Aber das war mir egal. Ich war einfach nur froh, dass wir uns unterhalten konnten, selbst wenn es nur über Mathematik war. Zum Glück war sie nur blond und nicht auch noch blöd, so verstand sie meistens beim ersten Mal, was ich ihr erklärte. Vielleicht war ich aber auch einfach nur gut im Erklären. Ich merkte gar nicht, wie die Zeit verflog, so wohl fühlte ich mich auf einmal in ihrer Nähe. Die Nervosität war mittlerweile verflogen. Erst als die ersten anderen Schüler eintrafen, schaute ich auf die Uhr und bemerkte, dass wir eine knappe halbe Stunde rumgekriegt hatten. Und ich bemerkte die abfälligen und belustigten Blicke meiner Klassenkameraden. Kameraden setzte ich dabei in Anführungsstriche. Auch sie schienen zu denken, was ich dachte. Dass ich Trottel einfach nur ausgenutzt wurde. Wieso sonst auch sollte sich jemand wie sie mit mir abgeben?
 

„Hey Jules, wieso gehst du nicht ans Telefon?“, fragte plötzlich eine Stimme neben mir. „Mann, weil wir unseren Anbieter gewechselt haben“, antwortete sie dem durchtrainierten Typen, der jetzt vor meinem Tisch stand, und erhob sich. „Danke für deine Hilfe“, sagte sie noch zu mir und legte mir dabei die Hand auf die Schulter, bevor sie mit dem Muskelprotz nach hinten auf ihren Platz verschwand.“I want to have control. I want a perfect body. I want a perfect soul. I want you to notice when I'm not around…” Ich beobachtete die beiden eine Weile. Er Kapitän der Fußballmannschaft unserer Oberstufe und sie, die Schönheit. Ja, die zwei passten wirklich hervorragend zueinander. Soweit ich es aber mitkam, waren sie kein Paar. Verwunderlich. Unbewusst verglich ich mich mit ihm. Auf einmal wünschte ich mir auch Kapitän einer Schulsportmannschaft zu sein. Ausgestattet mit einem muskulösem Körper und mit einen genialeren Verstand als ich ihn zurzeit hatte. Ich wollte, dass sie mich bemerkte, auch wenn sie nichts von mir brauchte. Ich wollte, dass sie bemerkte, wenn ich nicht da war. Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. „Gott wie albern, jetzt wünsch ich mir schon, wie diese stumpfen Idioten zu sein…“ Dabei konnte ich doch froh sein, dass sie mich jetzt überhaupt mal beachtet hatte. Aber sie war es wert, sie war so besonders. “You're so fucking special. But I'm a creep, I'm a weirdo. What the hell am I doing here? I don't belong here…” Eigentlich war sie wie die Mädchen, die ich als „Tussen“ bezeichnete. Sie trug Make-up, kleidete sich aufreizend und ging gern aus. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie innen drin ganz anders war als sie sich nach außen hin gab.
 

Zu Beginn der Stunde fiel es mir schwer, mich auf den Matheunterricht zu konzentrieren, aber dann fand ich wieder zu mir selbst und schwelgte nicht mehr in irgendwelchen albernen Tagträumen. Ich hatte sie eigentlich schon wieder aus meinen Gedanken verdrängt, umso verwirrter war ich, als sie nach der Stunde wieder an meinem Tisch auftauchte. Ich war gerade dabei, mir meine Kopfhörer aufzusetzen. „Was machst du heute Nachmittag?“, fragte sie mich beschwingt. „Öhm… nichts besonderes“, antwortete ich ihr. „Wo bleibst du denn Jules?“, rief der Muskelprotz von der Tür aus. „Moment noch“, rief sie zurück. „Hättest du nicht vielleicht Zeit und Lust mir den Stoff von heute und der letzten Woche genauer zu erklären? Wir könnten zu mir gehen…“, sagte sie an mich gewandt. „Öhm… öhm… ja, klar“, stammelte ich. „Wir treffen und dann nachher am Schultor“, und mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen und ich ließ die Musik meines MP3-Players laufen. “She's running out the door. She's running out. She's run, run, run, running out…” Der Text war ja mal wieder passend zur aktuellen Situation. Doch ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen. “Was wolltest du denn von diesem Spinner?” Er sagte es natürlich so laut, dass ich es auch ja mitbekam. „Du kannst manchmal ein richtiges Arschloch sein, weißt du das?“, hörte ich nur noch ihre Stimme, als die beiden im Flur verschwanden. Ich musste grinsen.
 

Am Nachmittag wartete sie wie versprochen am Schultor auf mich. Sie empfing mich mit einem Lächeln. Es war umwerfend. „Komm, wenn wir uns beeilen, erwischen wir noch den Bus um fünf nach“, rief sie und zog mich am Arm mit sich. Wir erreichten den Bus tatsächlich noch rechtzeitig. Doch dieses Mal musste ich nur zehn Minuten fahren, dann sagte sie mir, dass wir aussteigen müssten. Sie wohnte in einem der reichsten Viertel der Stadt. Dies hatte ich mir aber schon gedacht, denn sie trug ständig neue Markenklamotten. Aus irgendeinem Grund lief mir plötzlich ein Schauer über den Rücken. Ich fühlte mich nicht wohl in dieser Umgebung. Aber so würde es wohl jedem gehen, der aus dem Mittelstand kam und sich auf einmal in der gehobenen Gesellschaft wieder fand und dies nur als Gast. „Hier ist es“, machte sie mich drauf aufmerksam, als wir das Haus ihrer Eltern erreichten. Ich pfiff bewundernd. „Ach, so toll ist es doch gar nicht…“, erwiderte sie auf meine Reaktion und war dabei sichtlich beschämt. Als wir das Haus betraten, durchfuhr mich erneut ein Gänsehautschauer. Alles sah so edel und teuer aus, aber dennoch wirkte die Atmosphäre kühl und steril. „Mein Zimmer ist oben“, sagte sie schüchtern und führte mich die Treppe hinauf. Ihr Zimmer war groß und hell. Hier herrschte eine viel wärmere Atmosphäre als im Rest des Hauses. Sogar einen eigenen Balkon, von dem aus man in den weiten Garten blicken konnte, hatte sie. Die Tür ihres riesigen Kleiderschranks stand offen. Als sie meinen Blick bemerkte, schloss sie dir Schranktür hastig. Doch meine Augen wanderten weiter im Raum umher. Sie verweilten einen Augenblick auf dem offenen Schmuckkästchen auf ihrem Frisiertisch und der großen chinesischen Vase, die auf einem kleinen Tisch am Fenster stand und in der sich ein dutzend weiße Lilien befanden. „Die hat mir mein Vater von einer Geschäftsreise mitgebracht“, erzählte sie mir. „Sie ist sehr schön.“ Was Besseres fiel mir dazu nicht ein. „Das finde ich auch.“ Als ich so die ganzen teuren Dinge in ihrem Zimmer sah, fragte ich mich, ob sie sie auch glücklich machten. Sie bekam sicher alles von ihrem Vater, das sie sich wünschte. Oder gehörten ihre Eltern zu der Sorte, die dachte, dass materielle Dinge allein glücklich machen würden? Und mir fiel unwillkürlich schon wieder eine Songzeile aus „Creep“ ein. “Whatever makes you happy. Whatever you want…” Nein, um ihren Reichtum beneidete ich sie definitiv nicht.
 

Schlussendlich begannen wir mit dem Lernen. Ich brachte ihr noch einmal die Grundlagen der Integralrechnung bei, bevor wir ins Detail gingen. Sie begriff schneller als ich gedacht hätte und schneller als erwartet, waren wir auch fertig mit dem Aufholen des Stoffes der letzten Wochen. Es stellte sich heraus, dass sie einfach nur nicht mit der Fachsprache des Lehrers zu Recht kam. Wenn ich es ihr aber mit eigenen Worten erklärte, verstand sie es weitestgehend ohne Probleme. So blieb noch Zeit für ein bisschen Small Talk.
 

„Was willst du eigentlich nach dem Abi machen?“, wollte sie von mir wissen. „Ich würd’ gern Musik machen…“ „Ich hab dich im Sommer auf dem Schulkonzert gesehen, du bist wirklich gut“, lobte sie mich. „Danke. Das Problem ist nur, dass man als Musiker nicht viel Geld verdient, wenn einen nicht gerade das große Los trifft, einen Plattenvertrag an Land zieht und sich einen Namen macht. Da muss man sehen, wie man sich über Wasser hält…“ „Das Problem kenne ich“, seufzte sie. Fragend sah ich sie an. Verträumt schaute sie aus dem Fenster. „Ich möchte nach der Schule Modedesignerin werden, doch da sieht’s mit den Jobchancen wohl ähnlich aus, wie in der Musikbranche… meinem Vater gefällt der Gedanke absolut nicht. Er will lieber, dass ich Medizin studiere und Ärztin werde, genauso wie er. Allerdings glaube ich, dass mein Notenschnitt dafür bei weitem nicht reicht. Dir dagegen stehen sicherlich alle Türen offen, wenn es mit deiner Musikerkarriere nicht klappen sollte…“ „Ich hab tatsächlich schon darüber nachgedacht, dann Musik und noch irgendein Fach auf Lehramt zu studieren“, gab ich zu. „Dabei hab ich eigentlich gar keine Lust, Lehrer zu werden und so einen ungehobelten Haufen, wie wir es sind, zu unterrichten“, fügte ich noch lachend hinzu. „Dabei bist du doch so gut im Erklären“, warf sie ein. Auf einmal fiel es mir so viel leichter mit ihr zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, dass wir auf einer Wellenlänge schwammen. Also hatte ich mich doch nicht in ihr getäuscht und sie schien wirklich nicht so dumm und oberflächlich zu sein wie die anderen gleichaltrigen Mädchen, die ich kannte. Und die Geschichte mit ihrem Vater zeigte mir, dass sie im Grunde in einem goldenen Käfig gefangen war. Sie schien auch ohne die ganzen teuren Sachen, die ihre Eltern ihr kauften, leben zu können. Ansonsten würde sie sich dafür sicherlich nicht schämen. Einzige Ausnahme waren wohl die Klamotten, aber selbst dafür hatte sie jetzt meiner Meinung nach einen guten Grund. Wer Modedesign studieren wollte, müsste sich ja immerhin auch mit Mode auskennen.
 

Da hörten wir von unten die Türklingel. „Oh, das wird mein Freund sein“, sagte sie und sprang auf. Ich sah sie verwirrt an. „Bin gleich wieder da“, und mit diesen Worten huschte sie aus dem Zimmer heraus und die Treppe hinunter. Kurz darauf kam sie Hand in Hand mit einem mir unbekannten jungen Mann wieder hoch. Sie hatte also doch einen Freund. Ich merkte, wie mir innerlich kalt wurde. Meine Eingeweide verkrampften sich. Wie konnte ich nur so doof gewesen sein und glauben, dass sie nicht vergeben war? Dass die Nachhilfe, die ich ihr gab, mich auch ihr ein Stückchen näher bringen könnte? „Das ist Chris, ein Klassenkamerad von mir. Er hat mir ein wenig Mathe beigebracht“, stellt sie mich ihrem Freund vor. Dieser gab mir die Hand und stellte sich selbst ebenfalls vor. Ich versuchte ihn unauffällig zu mustern. Er hatte etwas von einem Bonzen, dies verriet sein Kleidungsstil: Polohemd mit über die Schulter geworfenen Pullover, der die Ärmel vor der Brust verknotet hatte. Doch statt der Hose mit Bügelfalte, die man jetzt dazu erwarten würde, trug er irgendeine Designerjeans. Aber auch er wirkte nicht wie ein typischer Schnösel. „Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen“, sagte ich und packte meine Schulsachen zusammen. Ich wollte nur noch weg von hier. „Ihr habt ja bestimmt noch was vor…“ Sie beide begleiteten mich noch nach unten zur Haustür. „Wir sehen uns morgen in der Schule“, sagte sie und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. „Und danke vielmals, dass du ihr Mathe beibringst, ich selbst bin ne totale Niete darin.“ Zum Abschied gab ihr Freund mir auch noch mal die Hand. „Bis morgen dann“, verabschiedete ich mich und ging davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.
 

Als ich das Grundstück verließ, sah ich ihren Vater in seinem edlen Mercedes, wie er diesen die Auffahrt hochsteuerte. Ich sah auch seinen arroganten Blick, mit dem er mich abfällig musterte. Doch ich würdigte ihn keines weiteren Blickes mehr. Ignoranz war die beste Antwort auf Arroganz. Auf dem Weg zur Bushaltestelle kramte ich meinen MP3-Player und die Kopfhörer wieder aus meinem Rucksack. Es lief immer noch „Creep“ von Radiohead. Irgendwie schien sich der Song gerade zum Soundtrack meines Lebens zu entwickeln. “You're so fucking special. I wish I was special. But I'm a creep. I'm a weirdo. What the hell am I doing here? I don't belong here, I don't belong here…” Als ich das Ende der Straße erreicht hatte sah ich mich noch einmal um. Sah die glänzenden Oberklassewagen - Mercedes, BMW, Porsche - die in jeder Einfahrt parkten. Sah die großen Häuser und Villen, die ein Vermögen gekostet haben mussten, genauso wie deren Innenausstattung. Ein Windstoß kam auf und das rot und gelb gefärbte Herbstlaub der Bäume rieselte sanft zu Boden. Die Sonne warf goldene Strahlen durchs Geäst. Dieses Bild wirkte auf mich so irreal. Wie eine anderen Welt. Dies war nicht meine Welt. Sie würde es auch nie sein. Denn ich war nichts Besonderes. Ich war ein Freak. Ich gehörte hier nicht hin, nein, hier gehörte ich wirklich nicht hin…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  -Yui_Hirasawa-
2010-01-31T10:33:01+00:00 31.01.2010 11:33
Ich find die Geschichte wirklich sehr gut und bewegend.
Zwischenzeitlich hat ich echt das Gefühl es läuft auf ein Happy End heraus und das hät mich etwas traurig gemacht weils dann das Lied nicht so richtig rübergebracht hätte, aber du hast es genau richtig gemacht.
Plötzlich tauchte ihr Freund auf und es war alles klar.
That's life. Realistic.
Das Leben ist kein Ponyhof und manchmal hat man einfach das Gefühl es gibt keinen Platz für einen... vor allem nicht an der Seite desjeniger oder derjenigen die man liebt. Dank dir für die Geschichte.:)


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