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Adolescence

RinxLen
von

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4

Len sah völlig überrascht aus. Sie…Rin…liebte ihn? Hatte er richtig gehört? Fest schaute sie ihm in die Augen. Wahrscheinlich schon, denn nach einem Scherz sah das nicht aus. Die Bilder, ihr Verhalten waren Beweis genug. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Ist das…wahr?“, auch wenn es keinen anderen Schluss zuließ, dass sie die Wahrheit sprach, er konnte seinen Ohren nicht trauen. Doch Rin schaute ihn nur mit noch größeren Augen an.

„Doch…ich liebe dich! So sehr, gegen alle Regeln! So sehr, dass es weh tut“, schrie ich schon fast. „Glaubst du etwa, es fällt mir leicht, dir das zu gestehen? Es mir einzugestehen? Was denkst du, werden unsere Eltern sagen? Was Neru? Was alle anderen? Ich habe Angst davor. Ich brauche keine Antwort von dir. Denn am meisten fürchte ich, dass…dass…dass du mich nicht mehr…“, ich konnte nicht mehr sagen. Mir schnürte es die Brust zusammen, ein Kloß steckte mir im Hals, der mich zu ersticken drohte, weil er meine Kehle wie ein Messer durchbohrte. Len machte noch einen Schritt auf mich zu. Dann strich er mir mit einer Hand durchs Haar und sah mich mit so einem unbestimmten Blick an. Mit diesem Ausdruck, den er beim Telefonat mit Kaito letztens hatte. Als er über seine ‚Verlobte‘ redete. Eigentlich genau derselbe Ausdruck, nur lag nicht dieser Widerwillen darin. Zärtlichkeit. Als wolle er sagen… “Du Idiot“, meinte er leicht wehmütig. Noch einen halben Schritt. Mit der anderen Hand hob er sanft mein Kinn an. Die Tränen rannen mir weiter über die Wangen. Wann ist er so groß geworden? Wann hatte ich mich verliebt? Sein Kopf neigte sich leicht. Immer näher. Ich schaute ihm in seine blauen Augen. So tief wie der Ozean schien es mir. Sie waren wie meine und doch besonders, weil es die seinen waren, in die sie blickte.

Zärtlich und weich trafen sich unsere Lippen. Ich schloss meine Augen und streckte mich ihm entgegen.

Seine Hände glitten meinen Rücken hinab, zogen mich näher zu ihm, während er mich festhielt.

Verlangen stieg in ihm auf, seine Lippen wurden fordernder. In seinen Armen - unter diesem leidenschaftlichen Kuss - schmolz ich dahin. Wie Karamell.
 

Gerade putzte ich mir verschlafen die Zähne, als unsere Türklingel läutete. Wer konnte das so früh sein?

Noch im Top, aber sonst fertig angezogen, schaute ich die Treppe hinunter in den Flur. Len kam mir, ebenfalls nur mit T-Shirt und Uniformhose bekleidet, entgegen. Eine unbekannte Frauenstimme war zu hören. Dann unsere Mutter, wie sie nach uns rief. Schnell brachte ich die Zahnbürste ins Bad und eilte mit Len nach unten. Am Esstisch saß eine hübsche, vielleicht Anfang 20 Jahre, junge Frau mit langen offenen Haaren. Sie wirkte sehr nett, aber auch gebildet. Uns wurde sie als Megurine Luka vorgestellt. Die große Schwester des Mädchens, das Lens Verlobte werden sollte. Meine Augen wurden groß. Sollte jetzt etwa sie den Platz ihrer Schwester einnehmen? „Guten Morgen. Verzeiht mir, dass ich Sie so früh störe, es wird auch nicht lange dauern“, ihr Lächeln war nett, aber doch geschäftsmäßig. „Nun, ich bin hier, um den Platz meiner Schwester einzunehmen. Ich habe von dem gestrigem Tag erfahren und da Miku nun abreisen musste…sicher wissen Sie worauf ich hinaus möchte.“ Also tatsächlich! Jetzt, da es mit ihrer Schwester…Miku hieß sie? nicht geklappt hatte, wollten sie einfach die Nächste unter die Haube bekommen! Unerhört! Verstohlen linste ich zu Len, der leicht missmutig gestimmt zu einer Antwort ansetzte, doch unser Vater antwortete noch vor ihm, „Danke, Ihr Angebot ehrt uns sehr, auch, dass Sie uns persönlich Ihre Aufwartung machen. Aber dem Anschein nach, ist mein Sohn noch nicht für eine Vermählung oder gar Verlobung bereit.“ Sowohl ich als auch Len stutzten und schauten unseren Vater erstaunt an. Er konnte doch gar nichts bemerkt haben? Als Luka sich verabschiedete, drängte uns Mutter, wir sollen uns schnell anziehen und in die Schule gehen. Vater meinte, dass wir wirklich noch Kinder seien. Len solle sich nach einer Braut umschauen. Wenn er bis zu seinem 18. Geburtstag keine hätte, würde er sicherstellen, dass er eine bekäme.
 

In der Schule verhielten wir uns wie immer. Keiner von uns traute sich, zu zeigen, dass wir nun mehr oder weniger ein Paar sind. Kein Händchenhalten, kein plötzlicher Sicherheitsabstand und auch in der Gegenwart von Neru machten wir keine Anspielungen.

Die Überraschung erwartete uns daheim. Beim Abendessen verkündeten unsere Eltern nämlich, wieder auf Geschäftsreise gehen zu müssen. Es gäbe gewisse Komplikationen, die bereinigt werden müssten. Morgen früh ging ihr Flugzeug. Wie lange sie weg sein würden, war noch ungewiss, daher konnte es sich nur um Wochen und Monate handeln. Das hieß nun sowohl für Rin, als auch für Len, dass die Situation erst mal entschärft war.
 

Während wir uns in der Schule normal, wie immer verhielten, was bedeutete, dass sich das Zuspätkommen und Nachsitzen wieder einbürgerte, verbrachten wir unsere Nachmittage die ganze Woche über gemeinsam. Den einen Tag waren wir beim Karaoke, den anderen im Kino. An einem sogar auf dem monatlichen Markt. Da gab es alles, nützliches, wie unnützes. Ob Kerzen, Papier, Musikinstrumente oder sogar Haustiere. Ein Stand vertrieb Plüschtiere, Anhänger und alle Arten von Accessoires, die in Mädchenaugen eindeutig in die Kategorie „Süß“ gehörten. Dort sah ich einen Anhänger in der Form eines Violinenschlüssels und vielen kleinen Noten an Schnüren. Passend dazu gab es dasselbe Model in Form eines Bassschlüssels. Wir kauften dem jeweils anderen einen Anhänger. Den Bassschlüssel bekam Len.
 

Obwohl wir mehr als pünktlich waren, gab es in unserer Klasse einen Tumult. Und nachdem wir ins Klassenzimmer getreten waren, wurden wir gleich von der Nachricht erschlagen. Alle starrten uns nur heimlich an, als würden sie es nicht wagen, etwas zu sagen. Als würden sie versuchen etwas zu entdecken, darauf warten, dass es jemand aussprach. Doch es tat keiner. Trotzdem wussten Len und ich, was sie beschäftigte. Ob wir tatsächlich zusammen waren. Wir, die Zwillinge.

Es musste uns jemand letztens gesehen haben. Beim Karaoke vielleicht oder auf dem Markt. Vielleicht auch wann anders, alles war möglich. Und wenn jemand auch nur ein „Ich liebe dich“ aufgeschnappt hatte. Nun ging das Gerücht um. Unaufhaltsam verbreitete es sich wie ein Lauffeuer.

Weiterhin verhielten wir uns wie immer, als wüssten wir nicht, was man hinter unseren Rücken über uns sprach. Allerdings schien die Lehrerschaft noch nichts davon zu wissen. Ebenso wenig wie der Direktor oder Neru. Auch wenn ich mir bei ihr nicht ganz sicher war.
 

Hartnäckig hielt sich das Gerücht. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer und schlimmer. Mittlerweile wurden wir auch schon ganz unverschämt angesprochen, ob wir die Inzest-Zwillinge seien. Auch auf der Straße. Ein jedes Mal machte Neru entweder einen Aufstand oder aber wir machten eine sarkastische, herablassende Bemerkung, die dem Gegenüber erst mal die Sprache verschlug. Auf den Mund gefallen waren wir ja noch nie. Neru hatte bisher noch nicht einmal nachgefragt, doch ich merkte, wie es ihr langsam aufs Gemüt schlug. So sehr ich es wollte, ich konnte nicht. Wie sollte ich ihr gestehen können, den zu lieben, der wie mein anderes Ich war? Dass ich den liebte, den sie begehrte?

Und dass er nun mehr, als alles andere, mir gehörte.

Nach außen hin, in der Schule oder auf der Straße, ließen wir uns nichts anmerken, aber daheim litt die Stimmung dafür stark. Wir hatten uns Gumi anvertraut, schließlich war sie uns immer wie eine große Schwester oder Mutter. Gütig, wissend, wohlwollend. Sie nahm uns in den Arm und meinte, wenn es so sei, dann wäre es auch richtig so. Man hatte uns nie trennen können, da überraschte sie das nicht. Tatsächlich schien sie sogar richtig glücklich darüber. Aber all das nahm uns nicht die Last von den Schultern. Wie man uns ächtete, hinter unserem Rücken tuschelte, die Blicke. Ich hielt dem ganzen weniger stand als Len. In die Schule wollte ich schon gar nicht mehr, es war kaum auszuhalten! Am liebsten wäre ich Anfang des Tages in die nächstbeste Toilette gerannt und hätte mich bis zum Schulende verkrochen. Aber ich hatte Len an meiner Seite. Er unterstützte und verteidigte mich. Wenn ich dann unter diesem Druck zusammenbrach, wenn wir wieder daheim waren, dann nahm er mich in den Arm. Er drückte mich fest an sich und auch wenn ich wusste, dass er genauso litt, konnte ich ihm vielleicht nur dadurch Trost spenden.
 

Schließlich kam es, wie es kommen musste.

In der Pause sprach uns Frau Sakine an. Nach der Schule sollten wir ins Direktorat. Also war es nun tatsächlich zur Schulleitung durchgesickert. Wenn wir Glück hatten, hatten sie unsere Eltern noch nicht informiert oder aber eher gefragt, ob etwas an diesem Gerücht dran war.

So saßen wir pünktlich nach der Schule auf dem Flur vor dem Direktorat. Frau Sakine hatte uns herbegleitet. Noch ehe sie ging, wünschte sie uns viel Glück. Wusste sie etwa auch davon? Len saß ganz steif da, als wäre das nun unser Todesurteil. Wahrscheinlich würden sie versuchen uns zu trennen, aber wenn wir das überstehen würden, wär alles gut. Nur noch ein Jahr auf dieser Schule, dann stand uns die Welt offen. Ich sah, dass er Angst hatte. Ein wenig…ich griff nach seiner Hand, starrte aber noch immer auf die Wand gegenüber. Er drückte meine Hand. Fest.

Dann kam die Stellvertretende Schulleiterin Frau Yowane. Sie bat uns herein, der Schulleiter würde gleich kommen. Wie immer sah sie sehr unglücklich aus. Aber vielleicht machte auch sie sich ihre Gedanken.

Wir hatten Angst vor dem, was kommen würde. Von nun an sollte es anders werden. Dies war nicht irgendeine Schule, sondern eine Privatschule. Für Leute mit etwas mehr Geld oder Firmen und Stand. Ein Skandal wäre Rufmord und das würde man nicht zulassen.

Hinter uns öffnete sich die Tür. Ein Mann kam herein. Keiner von uns drehte sich um. Wozu auch?

Er ging einmal um uns herum, dann nahm er hinter dem Pult vor uns Platz. Verärgert. Sehr verärgert sah er aus. Ich hatte Angst. Len auch. Unsere Hände ineinander wurden fest wie eine Verankerung.

Zu zweit würden wir das schon durchstehen.
 

Ungefähr eineinhalb Wochen waren wir jetzt ein Paar. Eine Woche davon war es noch unser eigenes, persönliches Glück. Nun sollten wir getrennt werden. Ins Ausland. Der Atlantik sollte uns trennen, denn er sollte nach England, ich nach Amerika. Sobald wir dieses Jahr abgeschlossen haben. Davor sollte er zu unserer Oma ziehen, die am anderen Ende des Landes wohnte. Denn noch am selben Tag, wie wir ins Direktorat gerufen wurden, waren sie informiert und am nächsten Morgen wieder da. Unser Vater machte einen Aufstand. Kinderei nannte er unsere Gefühle füreinander. Nichts als Kinderei, Einbildung. Unsere Mutter hingegen sagte nichts dazu, sie weinte aber heimlich.

Bereits in wenigen Tagen würden wir uns trennen müssen. Erst mal für immer. So lange, wie unsere Eltern noch Macht über uns hatten. Verzweifelt suchte ich um Rat. In all meinen Büchern die ich gelesen hatte. Neru konnte ich einfach nicht fragen. Weder weil ich es übers Herz brächte, noch, weil sowohl Len als auch ich Hausarrest hatten. Kein Handy und kein Telefon mehr. Nicht einmal Briefe durften wir schreiben. Bis auf die Mahlzeiten uns nicht sehen oder sprechen. Die reinste Qual. Die Minuten vergingen wie Stunden und die Stunden wie Wochen. Dann saß ich nur noch auf meinem Bett, das Kissen im Arm, die Beine angezogen und weinte, bis ich nicht mehr weinen konnte. Bis alle Tränen versiegt waren. Stumm litt ich vor mich hin. Und wenn ich wieder so verzweifelt war, dass ich schreien könnte, brach mir die Stimme. Stumme Schreie der Verzweiflung. Weder Essen noch Schlafen konnte ich. Um mich herum spürte ich, wie mein Körper zerfiel, das Gefängnis meiner selbst. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihn endlich wieder zu berühren, zu sehen, ohne dass ein Auge darauf geworfen wird. Seine Stimme zu hören, sein Lächeln. Keiner von uns war seither wieder glücklich. Wortwörtlich war uns das Lachen vergangen. Manchmal schaute ich auch nur aus dem Fenster in das Abendrot des Himmels. Des unendlich weiten Himmels und beneidete die Vögel, die so frei und unbändig waren. Versuchte die winzigen Sterne am Firmament auszumachen, suchte nach einer Sternschnuppe, die meinen Wunsch würde wahrmachen. Wartete auf das Morgengrauen, wie die Stadt erwachte. Die geschäftigen Leute mit ihren kleinen Problemen. Ich erinnerte mich zurück an die Zeit, zu der wir noch nicht getrennt waren. Wo auch wir diese unbedeutenden, den Alltag bestimmenden Probleme hatten. Wo wir Teil dieser Gesellschaft waren. Nicht besonders, nicht anders, aber wie alle anderen. Nicht getrennt.
 

Konnte man dem nicht ein Ende bereiten? Irgendwie?

Aber sowas lernte man nicht in der Schule. Nichts, das einem in Notsituationen hilft. Da kam mir ein Gedanke. Unsinnig. Aber vielleicht gab es tatsächlich einen Ausweg. Wieder suchte ich meine Bücher ab. Aber ich fand und fand es einfach nicht. Also fragte ich beim Abendessen nach.

„Len, hast du zufällig meine Lektüre mitgenommen? ‚Die Leiden des jungen W.‘?“

Nun lag die ganze Aufmerksamkeit auf mir. Alle waren verdutzt, hatten aufgehört zu essen Skeptisch beäugte mich mein Vater. „Was willst du damit?“, fragte er. „Lesen. Was macht man sonst mit einem Buch? Meine habe ich schon alle durch. Die letzten Tage habe ich überlegt und gedacht, wenn ich nun schon daheim bin, kann ich es nochmal lesen, wo ich doch so schlecht im Test war.“

Das schien die richtige Antwort zu sein, denn wenig später übergab mir meine Mutter die Lektüre von Len. Kein Auge tat ich zu, denn ich las die ganze Nacht. Ähnlich wie bei uns war es auch da! W. liebte ein Mädchen, doch sie war schon glücklich verlobt. Obwohl er sich schwor, sich nicht zu verlieben, konnte er nichts dagegen machen und suchte ihre Nähe. Trotz, dass es in der Gesellschaft verpönt war, gab er nicht auf und glaubte letztendlich sogar, dass sie ihn ebenso liebte. Entgegen aller Vernunft. Aber ein Ereignis, führte dazu, dass er einen Ausweg suchte. Er konnte sie nicht haben. Selbst wenn ihm ihr Herz gehörte, so würde sie nie die seine sein. Um sich von dieser Qual, den Zwängen zu befreien, seine Denkweise zu zeigen, die so anders als die der anderen war, wollte er sich befreien. Mut beweisen, sich selbst ‚verwirklichen‘. Freiheit. Er nahm eine Pistole und drückte ab.
 

Seine Denkweise war mir so vertraut wie die Situation. Konnte das wirklich der Ausweg sein? Er hatte sie geliebt, seit er sie kannte und würde sie auch in den Tod noch lieben. Es hatte auch was von Romeo und Julia. Gab es viele dieser Tragödien? Auch unsere Liebe nenne ich eine Tragödie. Aussichtslos.

Ich stand auf und schaute in den Spiegel. Auf das Abbild des Mädchens. Das Abbild, das ihrem Liebsten so sehr glich. Wie ein anderes Ich. Bildete ich mir das nur ein? Oder war das im Spiegel er? „Len?“, entfuhr es mir. Hatte er zeitgleich meinen Namen gesagt? Ich streckte die Hand aus, genau wie er. Wie konnte das sein…? In mir keimte schon die Hoffnung auf, seine Wärme zu spüren, sein Lächeln zu sehen.

Dass er mir einen Ausweg von hier zeigte. Doch das einzige, was ich spürte, war das kalte Glas des Spiegels.
 

Wir durften wieder wie gewöhnlich zur Schule, doch das hieß nicht, dass es nun besser war. Im Gegenteil.

Neru mied mich. Sie war enttäuscht. Mit Sicherheit. Dass ich es ihr nicht erklärt habe, sie nicht angerufen habe. Schließlich wusste sie nicht, dass ich es nicht konnte. Auch wenn ich nun mein Handy wieder hatte.

In etwa zwei Tagen würde Sommeranfang sein. Für viele die schönste und glücklichste Zeit. Aber für mich die schrecklichste. In etwa zwei Tagen würde Len wegziehen. Wieder sah ich den Vögeln nach, wie sie am Nachmittagshimmel flogen. Da fasste ich meinen Entschluss. Ohne Reue.
 

So kam es, dass ich nun hier stehe.

Hinter den Gittern auf dem Schuldach. Vor etwa einem Monat begann die Tragödie meines Lebens. Wie eine Geschichte – meine Geschichte. Doch das ist das Leben. Die Schullektüre hat mir bewusst gemacht, dass es keine Schwäche ist, Schwächen zu haben. Zu zeigen. Solange man dazu steht. Alleine ist es nicht auszuhalten, aber mit jemandem an deiner Seite, der dir teurer ist als alles andere auf der Welt, ist alles möglich. Denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen – niemals. Egal, wie sehr man weint, fleht, bittet, schreit oder innerlich zerbricht und der Körper um einen herum stirbt. Sie hält nicht. Dreht sich nicht zurück. Wenn ich bleibe, muss er weg. Wenn ich sein Treffen mit der Verlobten – Miku – nicht verhindert hätte, wäre er vielleicht glücklich. Ohne mich. Aber glücklich. Wenn ich ihm meine Liebe nicht gestanden hätte. Ein kleiner Fehler. Der Fehler ihn zu lieben. Seine Perspektiven zu blockieren. Mit mir würde er kein Glück finden, das weiß ich. Aber solange es mich gibt, wird er auch nicht erneut jemanden finden. Ich weiß, dafür ist er zu treu, zu gut. Darum wollte ich ihn keiner anderen überlassen. Aber das war viel zu selbstsüchtig. Ja, auch wenn ich es bereuen sollte, kann ich es doch nicht. Auch wenn es nur eine Woche war. So war es eine Woche voll Glück mit ihm. Keiner wird mir je diese Erinnerung nehmen können. Das Gefühl. Die Liebe, die er mir schenkte. Das Vertrauen. Niemand wird unser Band zerreißen.

Selbst, wenn ich nicht mehr bin.

Ein letztes Mal schaue ich das Foto in meiner Kette an. Den Fotosticker, den wir gemacht hatten. Als noch alles gut war. Ich fühle, dass es so kommen musste. Es ist richtig. Unten stehen die Schüler, die Lehrer. Der Direktor. Alle sind aufgebracht. Wahrscheinlich rufen sie mal wieder meine Eltern an. Aber die packen gerade die Kisten mit Len. Er wird nicht kommen. Ich werde ihn kein letztes Mal sehen. Unten sehe ich auch Neru stehen. Entsetzt. Sie schreit laut ein ‚ Rin! Bitte nicht!‘. Jedenfalls glaube ich das. Ihr Gesichtsausdruck, den ich meine zu sehen, ihre Gesten, dass sie weint, schmerz ein wenig. Aber so muss es sein. Ich bin froh, zu wissen, dass sie mich doch vermissen wird. Auch wenn ich weiß, sie wird niemals heraufkommen. Sie kann es nicht. Genauso wenig, wie ich ihr das mit Len sagen konnte. Wir beide wissen das. Da hole ich mein Handy heraus und schreibe ihr eine SMS. Ein Lebewohl. Eine Entschuldigung. Ein Viel Glück. Wie viel ich an ihr habe. Auch jetzt in diesem Moment.
 

Dann zögere ich. Soll ich es wagen? Ihn anzurufen? Ein letztes Mal seine Stimme hören? Werde ich dann noch springen können? Aber ein letztes Mal…

Nein. Besser nicht. Sonst springe ich tatsächlich nicht mehr. Unten sehe ich jemanden in das Gebäude rennen. Vielleicht haben sie einen Psychologen oder so geholt um mich davon abzubringen. Denn das wird ein großer Skandal, wenn es öffentlich wird. Unwillkürlich muss ich lächeln, doch gleichzeitig rinnt mir auch eine Träne übers Gesicht. Nun ist es also tatsächlich vorbei. Der letzte Frühlingstag. Eine angenehme, warme Brise. Es kommt leichter Wind auf. Von hinten, als wolle er mich zum Springen verführen. Sanft und wohlwollend. Ich schließe die Augen und spüre die Freiheit. Rieche die Blumen, die frische Luft, das nahe Ende.
 


 

Plötzlich klingelte mein Handy. Ich nahm an, ohne darauf zu achten, wer mich anrief und erstarrte zugleich mit der Nennung meines Namens. Len! Das musste wohl eine Fügung des Schicksals sein, sofern man an sowas glaubte. Irgendwie war ich sogar erleichtert. „Hi Len“, sagte ich, fröhlich, „schön, dass du anrufst, ich habe gerade an dich gedacht.“ Ein Lächeln lag mir auf den Lippen. „Rin! Was machst du?!“, schrie er verzweifelt. Das Lächeln verging und mir war, als würde ich seelenlos, eiskalt werden. Resistent. Ich durfte mich nicht abbringen lassen. So schwer es mir auch fiel. „Was meinst du?“ „Rin! Bitte! Neru hat mich angerufen! Ich habe mich schon gewundert, dass du in der Schule geblieben bist, aber…bitte, tu es nicht!“, er klang verzweifelt, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen, als wäre dieser Gedanke, dass ich sterben würde, unerträglich. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Auch mir riss es ein Stück aus dem Herz. Wie gern würde ich ihm versichern, dass ich es nicht täte! Aber das konnte ich nicht. Niemals. „Len…“ „Rin! Bitte!“, hörte ich aus dem Telefon und hinter mir. Die Tür wurde aufgerissen und er trat hinaus ins Licht des Sonnenuntergangs. Ich drehte mich zu ihm um. Das Gitter trennte uns beide, als er näher herantrat. Seine Finger verkeilten sich in den Eisendrähten. Er drückte so fest, dass ich schon Angst hatte, er würde sich gleich die Haut aufreißen. Ich ergriff seine Hände. „Len…es ist gut so. Ich bin glücklich und dankbar für das, was du mir gabst. Dass ich dich lieben darf. Für noch mehr. Dass auch du mich liebst. Dass ich dich noch ein letztes Mal sehen durfte. Len…danke“, ich lächelte. Tatsächlich brachte es mich nicht ab zu springen. Aber es festigte meinen Entschluss.

Wenn ich springe, werde ich nur noch ihn vor Augen haben.
 

Ich ließ seine Hände los, wandte mich wieder um. Entfernt hörte ich Len schreien, wie er an der Tür des Gitters rüttelte. Wie sie aufging. Aber es war zu spät. Die Augen geschlossen, machte ich den nötigen Schritt. Es war vorbei. Seine Hände, die er nach mir ausstreckte, konnten mich nicht mehr erreichen.

Kopfüber fiel ich nach unten, wie seine Tränen. Wie sein Rufen. Mit seiner Stimme im Kopf, seiner Wärme in Gedanken, seinem süßesten Lächeln vor Augen, war ich so glücklich wie an jenem Nachmittag.

Ich bereute nichts.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Seremia
2010-07-04T19:40:27+00:00 04.07.2010 21:40
Scheiße, ich bin den Tränen nahe.
Die Geschichte tut so weh zu lesen! So ein schlimmes Schicksal...
Liebe als Verbot und der Tod als Überschreitung der weltlichen Grenzen, die die Gesellschaft aufbringt. Ist es so? So wenig Akzeptanz für eine solche Liebe? Ich muss nun daran denken, dass solche Fälle so selten wirklich passieren, aber immer mit Verachtung betrachtet werden. Das tut echt weh es zu lesen, besonders weil du es geschrieben hast, als ob es dir wirklich widerfahren ist. Mit so viel Gefühl...
Ich bin hin und weg von dieser Geschichte.
Ein fettes Lob!
Liege Grüße
Seremia


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