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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Das letzte Teil im Puzzle

Noch nie zuvor erschien mir der Weg zu Francesco so unglaublich lang. Ich ging nur Schritt für Schritt, lauschte dem Widerhall an den Wänden und kämpfte damit, nicht zu zittern oder gar umzufallen. Domenicos Worte wiederholten sich in meinen Gedanken immer und immer wieder, es schien kein Ende zu nehmen. Wie sehr verfluchte ich diesen Mann, wie sehr verfluchte ich meine gesamte Situation!

Da der Diener der Deo Volente weder in der Bibliothek war, noch auf einem der Gänge, lief ich ein wenig ziellos umher, bis ich ihn dann endlich fand. Er war in jenem Zimmer, in dem ich einst so lange Zeit gelegen hatte und kaum erkannte Francesco mich, zierte ein Lächeln sein Gesicht. Es war sanft und gutmütig und das auf eine Art und Weise, die nur er an sich hatte. Ohne ein Wort verbeugte ich mich leicht zur Begrüßung, trat ein und schloss die Tür hinter mir, dann blieb ich stehen und lehnte mich gegen das Holz. Mir war kalt. Tief in meinem Innern, aber auch außen durch den Schweiß, der mich auskühlte.

Er fragte: „Kommt Ihr wegen dem Schreiben, dass ich Euch von Domenico geben soll?“, doch es folgte keine Antwort. Ich musste blass gewesen sein, denn der Diener wirkte mit einem Mal, als wäre irgendetwas mit mir ganz und gar nicht in Ordnung. Wahrscheinlich lag es an seinem Verbot, dass er mir keine Fragen stellte, doch seine Augen waren voller Sorge. Sie fragten wahrscheinlich mehr, als seine Zunge es die letzten zehn Jahre getan hatte.

Ehe ich etwas sagte, ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen und eine Art Unbehagen kam in mir hoch. Es war schrecklich gewesen, so lange hier leben zu müssen und ich wollte mir nicht ausmalen, wie ich die nächsten Tage unter Domenicos Bewachung leben würde. Wo ich leben würde.

Als ich dann etwas herausbrachte, kamen mir meine Worte fremd vor, als würden sie nicht zu mir gehören:

„Francesco? Ich muss mit Euch reden. Es geht um Ne-... Bruder Raphael.“ Meine Stimme war krächzend und heiser, trotzdem versuchte ich, deutlich zu sprechen.

In aller Ruhe drehte Francesco ab, zog einen der Stühle zu sich und ließ sich sinken, dann deutete er mir, es ihm auf dem Bett gleichzutun. Der Aufforderung folgend setzte ich mich auf die zusammengefalteten, staubigen Decken. Es war ein seltsames Gefühl und erinnerte mich an alte Zeiten. Wir hatten oft Gespräche geführt, bei denen ich auf dem Bett saß und er auf dem Stuhl. Gespräche über Gott und die Welt, über die Deo Volente und auch über Nevar. War es überhaupt nötig, anzukündigen, worum es ging? Sicherlich konnte der Mann es sich denken. Wäre die Tür abgeschlossen, hätte sich wohl nichts verändert. „Ich möchte ehrlich zu Euch sein.“

„Ihr wisst, dass ich zu vielen Dingen weder denken, noch handeln darf?“, erkundigte mein Gegenüber sich vorsichtig. Francesco ahnte Böses. Ich kannte ihn gut genug, um das zu sehen. Als Antwort bekam er nur ein liebloses Nicken. In Wahrheit interessierte es mich gerade nicht sonderlich, ob er denken durfte oder nicht. Menschen taten es, auch ohne Erlaubnis. Und was das Reden anging, dazu konnte man sie notfalls zwingen.

Meine Nervosität verwandelte sich allmählich wieder in Betäubung und ich wurde unglaublich müde, zugleich aber aufmerksam und berechnend. Wie damals in der Kajüte des Kapitäns, schoss es mir durch den Kopf. „Ich frage nicht Euch als Diener, sondern als Freund, Francesco. Ich muss mit Euch reden, dringend.“

Sein Lächeln verschwand etwas und Francesco lehnte sich zurück. Ich konnte ihm ansehen, dass er nicht sicher war, ob er sich freuen sollte oder nicht. Jedoch war ich zu ernst, als dass er mir das Gespräch verwehren würde. Stattdessen versuchte er es mit Vernunft, etwas, was bei mir so gut wie nie etwas gebracht hatte, zumindest nicht, wenn ich so war.

„Falcon, Ihr wisst, wie die Sache hier aufgebaut ist. Quält mich nicht mit Wissen zu Dingen, in die ich nicht eingreifen kann. Es gibt nichts Schlimmeres, als etwas zu erfahren und spüren zu müssen, dass man nur zusehen kann und hoffen.“

„Dann hört auf damit.“, ungewollt klang ich abfällig.

„Das geht nicht.“

„Es muss gehen!“, nun klang es aggressiv. Ich beugte mich etwas vor, näher an ihn heran und sagte leise, eindringlich, nur für ihn hörbar: „Ich habe Bruder Raph-… Meister Nevar verraten, ohne es zu wollen. Domenico verlangt, dass ich Nevar ausspioniere. Er will, dass ich ihm helfe, die Samariter zu töten. Er denkt-…“, doch weiter kam ich nicht.

Der Gottesdiener sprang auf, gab ein verzweifeltes „Genug!“, von sich und rang hilflos die blassen, schlanken Hände. „Falcon, das geht zu weit, ich bitte Euch: Haltet mich daraus!“

Aber ich hörte nicht. Auch ich erhob mich, trat an ihn heran und umfasste Francescos Arm. Ich spürte diesmal nicht, wie rau die Kutte war, die er trug und registrierte auch nicht, dass wir aufhörten zu flüstern. Eindringlich sprach ich weiter auf ihn ein:

„Nein! Francesco, ich brauche Eure Hilfe. Ihr müsst Nevar warnen. Ich schaffe das nicht allein, ich weiß nicht einmal wo er ist!“, mit jedem Wort wurde mein Griff ein wenig fester und widerspenstig löste Francesco sich.

„Ich werde mich nicht in solch gottlose Dinge einmischen, es tut mir leid!“, als könnte er mir so ausweichen, ging er leicht um den alten Tisch in der Raummitte herum und legte seine Finger auf das dunkle Holz. „Ihr kennt die Regeln. Ich habe sie Euch so oft erklärt, bitte ignoriert sie nicht. Ihr wisst, wie ich leben muss!“

Wütend platzte es auf mir heraus: „Aber Ihr habt Nevar bereits so oft geholfen!“

Doch der Gottesdiener schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe Bruder Raphael geholfen, Falcon! Und zwar viel zu oft!“, Francesco stieß die Luft aus, um ruhig zu bleiben, ging an mir vorbei und beugte sich über das Bett. Etwas unbeholfen schloss er das Fenster zur Straße. Ein bisschen spät, wie ich im Hinterkopf anmerkte und wofür ich mich selbst verfluchte. Anschließend drehte er sich zurück zu mir. Mein Gegenüber war völlig überfordert, mit der gesamten Situation, aber vor allem mit mir und meinem Verhalten. Es fiel mir schwer einzuschätzen, ob es aus Angst war, Unsicherheit oder gar Loyalität zur Deo Volente. Ich hoffte nicht Letzteres, von ganzem Herzen.

„Falcon.“, mit Nachdruck bittend griff der Diener meine Hand und drückte sie. Wieder ein Versuch, Vernunft zu entfachen, aber diesmal war ich derjenige, der sich löste. Das Bild erinnerte fast an ein zerstrittenes Ehepaar und hilflos fuhr Francesco sich durch das kurze Haar. „Hört mir zu, und hört mir gut zu. Es stimmt, ich habe Meister Nevar oft beigestanden und ihn in vielen Dingen unterstützt, aber nur, weil ich nicht wusste, was ich tat. Ich habe nur geholfen, weil er mich im Dunkeln ließ und ich habe nicht vor, das zu ändern. Wenn herauskommt, was ich tue, ist das mein Tod, ist Euch das klar?“

Für mich klang es eher nach einer billigen Ausrede, als nach einer wirklichen Tatsache. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nevar den Mann stets im Ungewissen ließ. Früher, ja. da dachte ich, er täte es, aus Sicherheit für Francesco, aber mittlerweile glaubte ich, nein, war ich sogar fest davon überzeugt, dass Francesco mehr Ahnung hatte, als wir alle glaubten.

Missbilligend zischte ich: „Ihr verratet Euren besten Freund?“

„Falcon.“, sein Blick wurde fast flehend. Wieder wollte er meine Hand greifen, wieder zog ich sie zurück und nahm auch gleich einen Schritt Abstand. Da er nicht wusste, wohin mit seinen Händen, fing er nun an, an seinen Fingern herumzufummeln. Nervös, flüsterte es in meinem Kopf. Er ist nervös.

„Ich bin nicht wie Ihr: Stände ich vor den Kreuzern, sie könnten mich binnen weniger Sekunden brechen. Wäre ich eingeweiht, wäre ich eine Gefahr. Ich bitte Euch, Falcon, bitte! Weiht mich nicht ein und bittet mich nicht, mich einzumischen!“

Die Luft leicht ausstoßend wandte ich mich ab und schüttelte den Kopf. „Aber das tue ich.“, sinnlos und aufgebracht tat ich zwei Schritte in den Raum hinein, dann drehte ich mich zurück und versuchte leiser zu sprechen: „Versteht Ihr nicht? Ich soll Nevar verraten! Ich habe keine Wahl, er muss es erfahren! Er muss gewarnt werden. Ich bin nicht sicher, ob er damit gerechnet hat und falls nein, muss es ihm jemand sagen. Nur Ihr kommt dafür in Frage, Francesco!“, wir starrten uns an und eine unheimliche, bedrückende Stille machte sich breit. Ich wollte weiter reden, konnte die Wörter förmlich schon hören, aber die Stimmung war fast schon lähmend. Ich wusste nicht, ob ich ihm Vorwürfe machen durfte und noch weniger, ob es vielleicht ein Fehler war, überhaupt mit ihm zu reden. Was, wenn er uns verriet? Was, wenn Francesco es mit der Angst zu tun bekam und Domenico gar darauf ansprach? Ich war unsicher, ob ich es ihm zutrauen sollte, ein Verräter zu sein und selbstverständlich fühlte ich mich sehr schlecht dabei. Aber vielleicht gab es ja mehr als nur seine Sicherheit als Grund, dass Nevar den Mann – angeblich - nie eingeweiht hatte?

Als Francesco den Blick endlich löste und zu Boden sah, verstand ich, dass ich gewinnen konnte. Verloren waren wir so oder so, wenn er nicht mitspielte. Was machte es dann, wenn er uns verriet? Es war vielmehr eine Art Gefühl, als Erkenntnis. Ich durfte nur nicht nachgeben. Mich erschrak der Gedanke, aber: Francesco war manipulierbar.

Ruhig redete ich weiter auf ihn ein, währenddessen zurück auf das Bett sinkend. Es knarrte ächzend und leise unter meinem Gewicht, was die Stille um uns nur noch betonte.

„Domenico hat sich in den Kopf gesetzt, die Samariter zu finden. Er ist besessen davon, ein Buch zu vernichten, das man der Bibliothek geklaut hat und nun will er Nevar reinlegen, damit dieser ihn zum Autor führt. Es ist absurd, er ist völlig verrückt, wahnsinnig.“

Bitter und sehr leise flüsterte Francesco: „Das war er schon immer.“, regte sich jedoch nicht, sondern starrte nur zu Boden.

„Aber jetzt ist es an der Zeit, etwas dagegen zu tun.“, fuhr ich fort, noch intensiver und in seine Augen starrend. Es war, als hätte seine Bestätigung mich nur noch umso mehr beflügelt. „Francesco. Ihr sagtet mir einst, dass Nevar wie ein Meister für Euch ist. Ihr verehrt ihn. Ist es nicht so? Wollt Ihr diesen Mann nun einfach so in den Tod schicken? Ich soll ihn verraten. Versteht Ihr, was das bedeutet? Das wäre sein Tod!“

Der Braunhaarige vor mir gab keine Antwort. Stattdessen sank er langsam zurück auf den Stuhl, ließ den Kopf hängen und schloss die Augen. Ich begann mich schlecht zu fühlen, wie ein Erpresser, aber diese Gefühle schob ich beiseite. Wenn ich auf Francesco Rücksicht nahm, würde ich nicht weiterkommen. „Er kämpft für uns, für eine Welt ohne Unterdrückung, für die Aufklärung. Ich bin mir sicher, dass Domenico viel früher aufgefallen wäre, dass das Buch fehlt. Zumindest, wenn ihr es nicht verhindert hättet. Auch glaube ich, dass es sicherlich viel, viel mehr Dinge gibt, die Ihr bereits für Nevar getan habt, für mich. Ihr habt es zugelassen, dass Nevar zu Marias Obhut konnte und Ihr habt ihn auch in anderen Fällen sicherlich dutzende Male unterstützt. Ich verlange nicht viel von euch. Ich möchte nur, dass Ihr ihn warnt.“, ruhig griff ich etwas nach vorne und legte meine Hand auf die des Braunhaarigen, sie war eiskalt. Eine innere Stimme sagte mir, dass die Methode, die Francesco sonst bei mir anwandte, andersrum sicherlich auch funktionierte. Er war genauso nervös wie ich, nur hatte er mehr, viel mehr zu verlieren. ‚Berührung erzeugt das Gefühl einer Verbindung und eine Verbindung erzeugt das Gefühl von Vertrauen.’ Diesen Satz hatte ich in einem der Werke von Falcon Ryan Colm gelesen, nun verstand ich ihn. „Francesco, bitte. Bruder.“

Die Augen des Gottesdieners wanderten auf unsere Hände und kurz zuckte sein Zeigefinger vor Angespanntheit. Es schien, als hätte seine Hand erst registrieren müssen, dass meine auf ihr lag. Langsam und müde erhob er den Kopf und sah mir entgegen, ängstlich, aber ruhig. Ich erkannte, dass ich Recht hatte: Francesco hatte schon viel für uns geopfert, allerdings mehr für Nevar, als für mich. Der Diener der Deo Volente verehrte diesen Mann, aber er hatte nicht die Kraft, weiterhin so viel für ihn zu geben.

Er flüsterte „Das ist unser Tod.“ und seltsamerweise nickte ich nur. Früher hatte mir das Wort ‚Tod’ Unbehagen bereitet, heute war es mein Begleiter geworden. „Wenn Domenico erfährt, dass auch Ihr der Sündenträger seid, nicht nur Nevar, dann trifft es Euch genauso wie ihn. Und wenn ich Euch folge, dann trifft es auch mich. Es gleicht Blasphemie, Falcon.“

„Es gleicht Blasphemie, dass er gottesfürchtige Menschen foltert.“, nachdem ich ihn los gelassen hatte, seufzte ich schwer und lehnte mich an die Wand. Wie oft hatten wir so gesessen? Fünfzig Mal? Ich vermisste den lockeren Umgang aus alten Zeiten. „Ich verlange nicht viel.“, erklärte ich dann erneut. „Übergebt ihm ein Schreiben von mir, ein paar Zeilen, nur wenige Worte. Warnt ihn für mich. Nur ab und zu ein paar Briefe, mehr nicht.“

Die Reaktion, die er mir auf meine Bitte gab, verwunderte mich. Statt zu nicken oder zu verneinen, legte Francesco seine Hände in den Schoß und starrte vor sich. Ein vertrautes Bild. Eine Pose, die er einnahm, wenn er zu Erklärungen ausholte. Fast sofort wurde ich still, erwartungsvoll wie ein Kind bei einem Geschichtenerzähler. Ich wartete, aber nach einer Minute fragte ich mit Nachdruck: „Was wollt Ihr mir sagen?“, mehr nicht. Ich wollte nicht, dass er nur Zeit schindete, um meine Bitten ignorieren zu können, aber trotzdem wollte ich hören, was er zu sagen hatte.

Tief einatmend suchte Francesco einen Punkt im Raum, welchen anzustarren ihn wohl weiterbrachte. „Das Buch, ‚Gottes Blut’. Es stimmt:

Ich habe dafür gesorgt, dass Domenico nichts davon erfährt.“, beichtete er dann nach langem Überlegen. „Lange Zeit lag es in seinem Zimmer, bis ich es in die Bibliothek bringen konnte. Er hat es immer und immer wieder studiert. Es gibt nur wenige Werke, für die er so viel Hass empfindet.“, da seine Stimme immer leiser wurde, löste ich mich wieder von der Wand und beugte mich etwas vor, um ihn besser zu verstehen. „Ich weiß nicht, warum Nevar mich darum gebeten hat, es in die Bibliothek zu holen. Ich habe zugestimmt, ohne Fragen zu stellen. Ich konnte nur Vermutungen anstellen.

Aber nachdem er es in den Händen hielt, war ich mir sehr sicher: Dieses Buch hat mit seiner Vergangenheit zu tun. Nicht nur vom Inhalt her, sondern auch, was die Herkunft betrifft. Ich vermute sogar, dass es familiäre Hintergründe hat.“

„Warum erzählt ihr mir das?“, wollte ich wissen.

„Weil es wichtig ist.“, er sah auf und fixierte mich mit seinen Augen. Noch nie zuvor hatte ich Francesco so ernst erlebt. Zwar sah ich noch immer Angst, aber da war noch etwas, das ich nicht deuten konnte. Eine Art Zeichen, die ich nicht verstand. Auch der Gottesdiener beugte sich vor und seine Stimme wurde zu einem verheißungsvollen Wispern: „Ihr kennt mich, ich mische mich nicht ein. Wenn Gott will, dass ich handle, zeigt er es mir. Aber ich weiß dennoch sehr viel, zu viel. Viel zu viel.“

Da er eine Pause machte, wollte ich wissen, was er meinte, aber statt eine Antwort zu geben stand er auf, ging zur Tür und fingerte an seiner Kutte herum. Nach einigen Augenblicken zog er den mir so bekannten Schlüssel hervor, dem ich so lange meine Gefangenschaft zu verdanken hatte und schloss ab. Mir wurde bewusst, wie ernst das Wissen war, das er nun mit mir teilen wollte. Ich sah zu, wie er sich setzte und lauschte aufmerksam, da er noch auf dem Weg zu mir mit Erklärungen begann: „Vor einem halben Jahr kam ein Mann hier her, als Gefangener. Er wurde bereits nach drei Tagen verbrannt, durch die heiligen Flammen. Er wirkte verrückt auf mich und schrie, fast die ganze Zeit, bis sie ihn knebelten. Er verdammte Domenico dafür, dass er das Wissen töten will und als ich Nevar mit dem Buch in der Hand sah, verstand ich.

Die Samariter... Die Aufklärung... Die heilige Schrift, die vielen Bücher die Nevar entwendet hat...“ Abwartend sah er mich an und erhoffte sich wohl eine Reaktion, aber ich wusste nicht ganz, welche.

Leise gab ich zu: „Ich kann Euch nicht folgen.“

Francesco nickte nur, fast entschuldigend. „Meister Nevar hat vor langer Zeit bereits andere Bücher gestohlen, sie jedoch zurückgebracht. Aus diesem Grund habe ich nichts gesagt und Domenico gesagt, es läge an der Unordnung. Solange sie wieder auftauchen, ist es, denke ich, in Ordnung gewesen. Domenico muss davon nichts wissen. Ich dachte anfangs, er würde sie privat lesen wollen um sich zu bilden und da, finde ich, spricht ja nichts dagegen. Nun gut, es sind Ketzerswerke, aber jedem seins, richtig?

Aber diese Annahme war falsch.

Es gab ein besonders altes Buch, wunderschön. Darin befand sich ein farbiger Holzschnitt, der die heilige Jungfrau zeigte, mit vielen Engeln, Blumen und Ranken. Ich habe ihn mir gern immer mal wieder angesehen, das Bild war ein wahres Kunstwerk, mit Blattgold und viel Liebe zum Detail.

Irgendwann aber war dieses Bild...anders.“, der Mann zögerte und ich zog die Stirn kraus, was Francesco wohl verunsicherte. Sich im Raum umsehend suchte er nach den passenden Worten. „Ich konnte es mir nicht erklären, mir war, als sähe es verändert aus. Eben…anders. Nicht auffällig. Aber wenn man es gut kennt und selbst versucht hat, abzuzeichnen, so wie ich, dann merkt man es. Ich dachte anfangs, ich wäre verrückt. Bis mir auffiel, dass es in einem der Bücher war, die Nevar ausgeliehen hatte. Da habe ich es verstanden: Die Samariter, sie kopieren Bücher. Nevar hat die ganzen Jahre über immer wieder Werke an sich genommen, sie kopieren lassen und sie anschließend zurückgebracht. Domenico denkt, es gäbe einen Autor, irgendwo, der sie weiter veröffentlichen lässt. Wenn er denkt, er hätte ihn, lässt er ihn hinrichten – aber die Ausgaben nehmen dennoch kein Ende.“

„Ihr meint...“, in meinem Kopf drehte sich alles und ich zog die Stirn noch mehr in Falten. „Ihr meint, die Samariter sind nichts weiter, als ein Haufen Kopisten? Deswegen will Domenico sie töten?“, das ergab für mich keinen Sinn. Natürlich war es gefährlich, wenn Ketzerswerke nicht aufhörten, sich zu verbreiten, aber im Grunde war das kein neuartiges Problem. Ich fühlte mich, als würde Francesco sich über mich lustig machen und ich wollte ihn schon anfahren, aber er schüttelte ernst den Kopf.

„Das ist längst nicht alles.

Vor kurzem wurde in Reiden, einer Stadt etwas weiter, ein Mann festgenommen, der ketzerische Auszüge der heiligen Schrift bei sich getragen haben soll. Sie waren nicht in Latein geschrieben, Falcon, sondern auch für das einfache Volk verständlich“, Francesco starrte mich an, als wäre das die Lösung all meiner Probleme. „Versteht Ihr jetzt, wieso Domenico die Samariter jagt?“

Und wahrscheinlich war es sie auch. Bis ich antworten konnte, musste ich erst einige Sekunden nachdenken und das Gesagte überschlagen. Für das einfache Volk verständlich?

Sie kopierten Bücher, Ketzerswerke und sie brachten sie unter das Volk. Also...

„Das heißt, sie übersetzen die Bücher auch?“, sprach ich meinen Gedanken laut aus.

„Nicht nur irgendwelche Bücher: Die Heilige Schrift selbst.“

Leise hauchte ich: „La Sacra Bibbia.“ und sah weg. Dass Francesco mich nicht verstanden hatte und nachhakte, was ich gesagt habe, ging an mir vorbei. Vor meinen Augen sah ich wieder das kleine Buch von Nevars Bett, kurz nach unserem Kennenlernen. Ich konnte wieder die goldene Schrift unter meinen Fingerspitzen spüren und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Aber natürlich! Sie übersetzten die heiligen Zeilen, was sonst? Woher sonst sollte so ein Buch stammen? Ich hatte gedacht, nur der Titel wäre anders verfasst, aber allmählich begann alles für mich einen Sinn zu ergeben. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch das Innere übersetzt und deutlich. Die Frage war nur, was sprach gegen eine solche Übersetzung?

Da ich auf Francesco Frage nicht einging, beantwortete er meine Gedankengänge von selbst, indem er ruhig erklärte: „Viele Geistliche stimmen den Gedankengängen der Samariter zu. Sie möchten, dass auch das gemeine Volk in der Lage ist, den Worten Folge zu leisten und sie obendrein zu verstehen. Selbstverständlich ist Domenico dagegen, so wie der Großteil der heiligen Mutter Kirche.“

„Aber wieso?“, wollte ich irritiert wissen. „Ist es nicht von Vorteil, wenn jeder verstehen kann, was der Herr uns vorschreibt?“, die Frage war eher an mich selbst gerichtet, trotzdem hörte ich Francesco antworten:

„Das ist einfach: Umso mehr verstehen, was eigentlich verlangt wird, desto weniger sind bereit, mehr zu geben, als nötig. Seht doch Euch an, Ihr seid das beste Beispiel. Wenn man die Furcht vor dem Herrn verliert, dann gehorcht man weniger.“

Mein Blick wechselte zurück zu ihm und nun verstand auch ich. Mit großer Wahrscheinlichkeit gab es nirgendwo in der heiligen Schrift einen Text, der beschrieb, dass man Ablassbriefe kaufen sollte, wenn man in den Himmel wollte.

Das war wahrscheinlich auch das Problem: Kaum einer verstand sie wirklich. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viel die Kirche selbst erfunden hatte oder so interpretierte, wie es ihr passte. Ich wusste, dass bei Messen der Priester etwas vorlas und dann übersetzte, für die Menge und für die Zuhörer. Wer dachte schon darüber nach ‚Steht das da auch wirklich?’ Wer würde einem Priester misstrauen? Vor allem, vielleicht wusste der Priester es selbst ja auch nicht besser! Viele würden sich vom Glauben abwenden, die Gottesfurcht verlieren und auch den Respekt vor der heiligen Kirche. Man würde sehen, dass man auch leben konnte, ohne an Gott zu glauben, und es würde früher oder später keine Scheiterhaufen mehr geben. Ketzer hätten Anrecht auf ein christliches Leben, Läuterungen wären nichts anderes mehr, als öffentliche Hinrichtungen. All das, was Nevar vorhergesagt hatte, würde eintreffen. Die Samariter standen dafür, dass man frei denken konnte, beten wann man wollte und glauben, wenn man es möchte. Die Inquisition zwang einen dazu, mit Gewalt wenn nötig. Aber waren die Samariter dann nicht die Guten?

Mir fiel auf, dass ich vieles aus der Bibel zwar gelernt hatte, aber eigentlich kannte ich nur die wichtigsten Dinge. Geschichten, die man während der Lehrstunden interpretierte, Zitate, die einem der Abt immer wieder sagte oder Stellen, die der Priester bei Messen vorlas. Aber die gesamte, komplette heilige Schrift kannte ich nicht. Ich wusste, was sie uns lehrte und ich wusste auch, was in ihr stand – das hatte man mir schließlich beigebracht.

Aber hatte ich es jemals überprüft? Nein.

Ich konnte es gar nicht. Ich konnte die Sprache nicht ausreichend, also wie auch? Wenn ich ehrlich war, hatte ich nur dann gelesen, wenn es mir aufgetragen worden war und wenn es hieß, darüber nachzudenken, dann hatte ich mich hingesetzt und abgelenkt, aus Angst, der Herr würde meine Gedanken bestrafen. War das richtig so?

Ich hatte nie ernsthaft über das nachgedacht, was man mir bei den Messen erklärt hatte, da ich fürchtete, es könnte mein Seelenheil kosten. Aber wieso auch? Es war schließlich immer alles logisch gewesen und selbstverständlich. Die Seele kommt in den Himmel – wir müssen nur brav sein und Buße tun, so stand es geschrieben.

Durch das Verständnis, das mich nun endlich erfüllte, konnte ich nicht mehr ruhig sitzen. Ich musste aufstehen, begann hin und her zu laufen und wild zu gestikulieren, fast schon euphorisch. Endlich ergab so vieles für mich einen Sinn. Erst wollte der Gottesdiener mich festhalten, es gelang ihm aber nicht und so ließ er mich freudig sagen: „Das ist es! Deswegen hasst Domenico die Kopisten so! Deswegen stehen bei Nevar so viele Bücher! Jetzt verstehe ich auch, wieso er dieses Buch wollte und auch, wieso er mir so viele gezeigt hat!“, Francesco verfolgte mich mit dem Kopf, rührte sich aber nicht. Ich beachtete weder seinen besorgten Blick, noch die Tatsache, dass man mich vielleicht hören konnte. „Und deswegen war Domenico mir gegenüber so misstrauisch! Ich bin Kopist!“, fast schon strahlend sah ich Francesco an. Meine Betäubung war vergessen, meine Angst ebenso. Er hatte mir die Frage beantwortet, die mich monatelang gequält hatte. „Er hat geglaubt, ich wäre ein Samariter!“, sprudelte es nur so aus mir heraus. „Er dachte, ich würde für sie arbeiten!“

„Falcon, nicht so laut...!“, Die Ermahnung ging einfach an mir vorbei.

„Die Kreuzer haben mich befragt, weil sie wussten, dass ich Kopist war. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte die Unterlagen gefälscht, jetzt weiß ich auch wieso, ich bin mir ganz sicher!“

Nun stand auch Francesco auf, schob den Stuhl beiseite und trat auf mich zu. Es wirkte auf mich, als wolle er ein Kind beschwichtigen und zur Ruhe zwingen. Sanft legte er seine Hände auf meine Schultern und sprach auf mich ein, ganz leise, noch während ich mitten am Reden war. Er versuchte mir zu erklären, dass ich leise sein musste und nichts überstürzen durfte, es durfte mir nicht zu Kopf steigen, doch ich hörte nicht ansatzweise zu. Die Erkenntnis, das Wissen, es durchströmte mich wie ein Fluss, ich konnte nicht mehr aufhören zu reden. Ich sprach von dem Buch, das ich gestohlen hatte. Davon, dass Nevar viele Bücher besaß, die ich während meiner ersten gemeinsamen Zeit mit ihm gelesen hatte. Die Arbeit im Skriptorium, die mich ermunterte weiter zu kopieren und die Tatsache, dass Nevar mich stets beflügelte, weiter dort zu arbeiten. Vielleicht wollte er sogar, dass ich für die Samariter arbeitete, irgendwann? Der Gedanke freute mich, denn er zeigte mir, dass er mir wirklich etwas zutraute. Nach einigen Minuten in denen ich über die Bücher sprach und Falcon Ryan Colm seufzte Francesco und fuhr sich durch die Haare. Wahrscheinlich bereute er es, dass er gesprochen hatte, aber ich nicht im Geringsten. Ich packte ihn an den Schultern, grinste und sagte: „Ihr glaubt nicht, wie viel Ihr mir geholfen habt!“

„Ich fürchte, doch. Aber ich weiß nicht, ob es das Richtige war.“, gab Francesco zu bedenken.

Er war wirklich verunsichert. Immer wieder fuhr er sich durch die Haare, nervös und verwirrt, fast, als könnte er spüren, dass etwas Schreckliches passierte.

Ich lachte nur und schüttelte den Kopf. „Das war es ganz sicher nicht. Umso mehr man weiß, desto mehr gerät man in Schwierigkeiten. Das ist das Einzige, was ich wirklich begriffen habe. Aber seid unbesorgt, Francesco...

...ich weiß jetzt genug, um zu wissen, was ich zu tun habe!“



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