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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Nevar antwortet

Ich schwieg geduldig, in der Hoffnung, Nevar würde von sich aus sprechen, aber natürlich geschah dies nicht. Er sagte kein Wort, bis wir die Deo Volente schon fast verlassen hatten. Dann, als wir das riesige Tor ansteuerten, hielt ich ihn am Arm

Etwas sarkastisch und bitter fragte ich ihn: „Bruder Nevar?“, er verharrte fast sofort. Erst nach einigen Sekunden drehte er sich langsam herum, etwas seufzend, als hätte er darauf bereits die ganze Zeit über gewartet. Bemüht ruhig zu bleiben ließ ich ihn los, allerdings hielt ich finster seinem Blick stand. „Was wird hier gespielt? Bruder?“, das letzte Wort betonte ich fast schon zynisch.

„Falcon, Ihr missversteht etwas.“

„Nein, ich denke nicht. Bruder Nevar? Bruder? Ihr seid ein Mann Gottes, ein Mann der Inquisition, aber spieltet mir die letzten Monate das Leben eines Ketzers vor. Eure Worte, Eure angeblichen Sichtweisen, die Werke in eurem Haus-... Nein. Es war sicher nicht einmal Euer Haus!“, es gelang mir nicht ganz, meine Wut zu unterdrücken und das erste Mal seit über einem Monat geschah es, dass ich ihm meine Gefühle zeigte. Ich wollte damit aufhören, ich wollte ihm meine Schwächen nicht mehr präsentieren und die Tatsache, dass es mir nicht gelang, überwältigte mich nur umso mehr. Die Wut stieg stärker an und ich ging wortlos an ihm vorbei hinaus.

Nevar folgte mir ruhig und wir setzten unseren Weg fort, quer über den Platz, vorbei an der Statue des alten Henrys. Sie stand unverändert da und mittlerweile konnte man Teile des Sockelfußes sehen, auf dem sein Pferd stand. Nach dem letzten Schneesturm hatte es immer mehr Sonne gegeben und die Schneemassen begannen sich wie von Geisterhand aufzulösen. Nicht mehr lange und man konnte die grauen und verzierten Pflastersteine der Stadt erkennen.

Irgendwann dann gingen wir nebeneinander die alten, verwinkelten Gassen entlang. Ich fragte mich im Hinterkopf, ob ich ihn auf etwas zu essen oder zu trinken einladen sollte. So könnte er mir Frage und Antwort stehen, ohne einfach zu gehen. Aber es schien mir unangemessen, unpassend. Nevar würde dennoch schweigen, wie er es auch bei privaten Gesprächen in seinem Haus getan hatte. Er würde ausweichen und Fragen, die er nicht hören wollte, gekonnt umgehen und vielleicht würde ich es nicht einmal merken. Wenn ich eines gelernt hatte, dann das:

Wenn man fragt, erhält man keine Antwort.

Irgendwann wandte er das erste Wort an mich, leise und bewusst, das hörte man an seiner Stimme. „Falcon, wir missverstehen uns stark oder eher: Ihr missversteht mich. In den Augen Domenicos bin ich ein Bruder, das ist gut möglich und auch in Augen vieler anderer, aber in Wahrheit bin ich nichts, als ein Mensch, wie Ihr einer seid.“

„Ich verstehe nicht, mal wieder.“, meine Antwort klang patziger, als ich es vorgehabt hatte. Gereizt musterte ich die Wolken am Himmel. Sie hingen schwer und dunkel, als wären sie mit grauem Regenwasser gefüllt. Trübsinnig und dunkel, wie meine Laune.

„Ich will es Euch erklären.“, Nevar ging einige Schritte schneller und leitete mich in eine der Nebengassen, dann hielt er und sah mir ernst entgegen. Er schlug die Kapuze hoch, um sein Gesicht zu verdecken und unbewusst tat ich es ihm gleich. „Domenico ist ein Mann der Inquisition, das ist richtig, aber ich bin es nicht. Nicht im ersten Moment zumindest. Ich für meinen Teil gehöre der Deo Volente an und somit zu ihm. Dass er mich Bruder nannte, liegt nicht daran, dass ich ein Geistlicher bin oder gar aus dem Kloster komme. Es liegt daran, dass ich der heiligen Bruderschaft angehöre.“, er schwieg einige Sekunden, aber diesmal wies ich ihn nicht darauf hin, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Düster stellte ich in Gedanken fest, dass ich diesen Satz mittlerweile wohl einfach zu sehr hasste. Scheinbar sah Nevar mir diese Gedanken an, denn er fuhr ruhig fort: „Die Deo Volente ist eine Gilde, die man auch die heilige Bruderschaft nennt. Es gibt viele Bruderschaften auf dem großen Kontinent und alle sind Gilden, die durch die Inquisition unterstützt werden und andersherum.“

„Fahrt fort.“, forderte ich kühl und verschränkte die Arme.

Nevar nickte. „Nun, die Bruderschaft steht im Dienste der Inquisition. Sie ist eine Gilde, wie die Handelsgilde auch, der man regelmäßig Beträge zahlen muss und für welche eine Mitgliedschaft nötig ist. In dieser Gilde sind beispielsweise Priester, Gottesdiener, Lehrer. Wichtige Persönlichkeiten, die ein hohes und meist katholisches Ansehen genießen. Aber auch Wirte aus katholischen Gasthäusern oder beispielsweise die sogenannten Kreuzer.“, ich wurde hellhörig und erinnerte mich an das, was die zwei Wachmänner zu mir sagten. Sie hatten mir erklärt, dass, ‚seit die Kreuzer für Ordnung sorgten’, sie kaum noch Arbeit hatten. Nevar sah mich ernst an. „Die Kreuzer sind Soldaten der Inquisition. Anders als Mönche oder Priester verfügen sie über das Waffenrecht und sorgen für Ordnung in der Stadt. Ihr kennt dies nicht, in Annonce wird alles durch die Krone oder Stellvertreter der Inquisition wie O'Hagan geregelt. Aber hier in Brehms agiert die Inquisition persönlich in Form ihrer eigenen Garde.“

Ich wog nachdenklich den Kopf. „Und Ihr seid ein Mitglied der Deo Volente, aber kein Teil der Inquisition?“

„Richtig.“

„Und warum?“, ich sah ihn misstrauisch an. „Wieso habt ihr einen Posten bei der Bruderschaft?“

„Weil ich eine Art Attentäter der Inquisition bin.“, schweigend sah Nevar mir entgegen und wartete auf eine Reaktion, aber ich rührte mich nicht. Es hätte mich schockieren müssen, aber seltsamerweise war ich nicht einmal erstaunt. Nach einigen Sekunden erklärte er: „Ich nehme Aufträge der Inquisition an und erhalte dafür Geld, so wie das Recht auf ein eigenes Leben. Wie Ihr wisst, stamme ich nicht von diesem Kontinent. Es hat seine Gründe, dass ich dennoch hier bin und ist nicht weiter von Belang. Genauer gesagt: Mein Leben und meine Vergangenheit geht niemanden etwas an, Euch am wenigsten. Was ich sagen will, ist:

Menschen wie Ihr und ich, Verbrecher, die niemals Verbrecher sein wollten, Gesuchte, Abtrünnige. Auch sie gehören der Deo Volente an, denn sie erhalten die Chance auf ein neues Leben. Und glaubt mir, es ist nicht nur ein böses Spiel von Domenico. Wenn er Euch in einem Jahr die Freiheit versprochen hat, hält er sich daran. Ich habe vor Euch bereits viele gesehen, die ein neues Leben beginnen konnten, also setzt diese Gelegenheit nicht für eine Dummheit aufs Spiel, Falcon!“, seine Stimme wurde zu einem Zischen und seine Augen wechselten von meinem rechten zum linken und wieder zurück. „Domenico ist ein Fanatiker, Ihr seht es selbst, aber er ist kein Lügner, also verdammt noch mal, reißt Euch zusammen und tut, was man von euch will. Ich kenne Euch gut genug, ihr denkt zu viel nach, das hat schon viel in Eurem Leben ruiniert. Macht diesen Fehler nicht erneut.“, und mit diesen Worten ließ Nevar mich einfach stehen. Ich starrte ihn verständnislos an, dann ging ich ihm nach.

„Also sind in der Deo Volente sämtliche Katholiken, die über Geld verfügen?“, wollte ich wissen.

„Richtig.“

„Und wieso ich?“, erneut packte ich seinen Arm. Nevar drehte sich sofort herum und löste sich. Ich zuckte zurück, daran denkend, wie er mir bei einer unserer ersten Begegnungen das Messer entgegen gehalten hatte, kaum hatte ich ihn berührt, aber diesmal geschah dies nicht. Ruhig wollte ich wissen: „Wieso ich, Nevar? Bitte klärt mich auf.“

Mein Gegenüber schwieg einige Zeit und sah mich geduldig an. Es dauerte, bis er antwortete und für einen Augenblick war es dunkel in Brehms, denn eine düstere Wolke verdeckte die Sonne. Als die Wände wieder etwas heller wurden, fragte er leise und ruhig: „Was wisst Ihr bisher?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ich bin ein Gesuchter, da ich nach Verlassen des Klosters mit O'Hagan aneinander geraten bin. Warum genau, weiß ich noch immer nicht. Ich denke, es hat mit einem Mann zu tun, den ich auf See kennen gelernt habe: Black.“

„Das ist gut möglich.“, Nevar zog seine Kapuze etwas tiefer ins Gesicht, als ein alter Mann mit Stock uns passierte. Als dieser vorbei war, fuhr er fort: „Nun, gewiss ist die Deo Volente nicht dadurch auf Euch aufmerksam geworden. Ich traf durch Zufall auf Euch, damals, im schwarzen Kater. Da Ihr geblieben seid, fragte ich mich natürlich, warum. Ihr hättet ein Spion sein können oder anderes. Wie Ihr wisst, wurde ich verfolgt. Ich hatte derzeit in Annonce einen Auftrag, der gut zwei Jahre lang gedauert hat und ich musste Acht geben, auf den letzten Metern nicht alles zu vermasseln.“

„Was für einen Auftrag?“, hakte ich nach. Nevar ignorierte mich.

„Also forschte ich nach, wer Ihr seid. Da Ihr Jack kanntet, ging ich davon aus, dass Ihr etwas mit dem Gefängnis zu tun hattet. Ich fand heraus, dass Ihr entlassen worden wart und erinnerte mich an die Feuerprobe und Euer Gesicht. Da wurde mir klar, wer Ihr seid. Wie Ihr wisst, bin ich nicht gläubig. Ich bin mir im Klaren darüber, dass es keinen Gott gibt, der über Euch gerichtet hat – was immer Euer Verbrechen war, ihr seid ungestraft davon gekommen. Ich wollte Euch benutzen, erpressen, irgendwie Profit daraus schlagen. Kurze Zeit später ließ O'Hagan Euch suchen.

Ich verhalf Euch zur Flucht und versteckte Euch, da ich der Meinung war, Ihr könntet wichtig für mich werden. Zu dieser Zeit wart Ihr bewusstlos. O'Hagan ließ ausrufen, dass Ihr ein mehrfacher Mörder seid. Nun und dann nahmen die Dinge ihren Lauf.“, Nevar sah an mir vorbei. Einige Kinder spielten etwas weiter mit einem kleinen Stofftier. Nachdem er sicher war, dass sie uns nicht gefährlich werden konnten, sah er mich wieder an. „Während der Zeit, die Ihr bei mir verbracht habt, hat Euer Name an Berühmtheit gewonnen, Falcon.“

„Wie meint Ihr das?“

Er wog den Kopf. „Laut O'Hagan habt Ihr bereits vierundzwanzig Frauen das Leben genommen, Falcon. Im vergangenen Jahr ist eine Hetzjagd auf Euch ausgerufen worden und die Tatsache, dass man Euch noch immer nicht gefunden hat, lässt O'Hagan noch mehr wüten. Die Deo Volente wurde dadurch auf Euch aufmerksam, zudem sprach ich Domenico auf Euch an und so kamt Ihr hier her. Das ist alles.“

Ich starrte Nevar an, als hätte er den Verstand verloren. Leise flüsterte ich: „Aber... vierundzwanzig Frauen...?! Wieso...?! Wie...?!“

„Man behauptet, ihr wärt ein Wahnsinniger. Vergesst es einfach. Falcon, denkt dran:

Euer Name ist tot. Ihr seid tot. Macht Euch das endlich bewusst.“, erneut ging Nevar einfach weiter, ich folgte schweigend. Er hatte Recht, mein Name war gestorben, Sullivan O'Neil war gestorben. Was kümmerte es mich, was man von meiner alten Identität dachte? Doch dann wurde mir bewusst, dass ich für eben diese kämpfte. Ich kämpfte für Sullivan O'Neil. Ich wollte einen Ablassbrief, nicht für irgendjemanden, sondern für mich. Was brachte es mir, wieder ich sein zu dürfen, wenn ich solch eine Vergangenheit, solch eine erlogene Vergangenheit mit mir herum trug? Würde Domenico wirklich für solch jemanden eine Sündenvergebung aussprechen? Es erschien mir unglaubwürdig und falsch, auch wenn ich Nevar vertraute. Ich wollte ihm trauen, ich wollte ihm folgen. Doch Gespräch für Gespräch stieg in mir die Unsicherheit hoch. War ich mit Black an den falschen Mann geraten und tat es mit Nevar erneut? Hatte ich im letzten Jahr wirklich nichts dazu gelernt? Hätte ich mich niemals auf ihn einlassen sollen?

Nach einigen Minuten Nachdenkens brach ich es einfach ab, indem ich mich zwang, ihn zu fragen: „Ihr sagtet, Ihr seid Attentäter. Aber wieso kümmert Ihr Euch dann so um mich?“

Das brachte ihn zum Schmunzeln. Nevar hatte viel früher mit dieser Frage gerechnet und mir erschien vieles so, als hätte es bereits viel früher gesagt werden können. Ich hatte das Gefühl, die letzten Monate waren sinnlos an mir vorbei gezogen. Als wäre ich blind durch die Welt getaumelt und hatte viel, viel zu viel, verpasst.

„Weil ich für Euch gebürgt habe.“

„Ihr habt was?“, erstaunt sah ich ihn an. „Bei Domenico?“

„Richtig. Ich habe gesagt, dass Ihr intelligent seid und gewiss keine falsche Wahl. Als Zeichen, dass ich es ernst meinte, musste ich für Euch bürgen und Domenico versichern, dass es kein Fehler wäre, Euch in all diese Dinge einzuweihen.“

„Also habt Ihr Angst um Euren Kopf und kümmert Euch deswegen um mich.“, stellte ich leicht enttäuscht fest. Nevar schwieg und grinste nur. Seufzend sah ich ihn an. „Was kann denn großartig passieren, was Euch in Schwierigkeiten brächte?“

„Ihr könntet ein Samariter sein – oder werden.“

Schweigend sah ich an ihm vorbei in die Gasse, dann sah ich ihn wieder an. Ein leichtes Grinsen spielte sich um meine Lippen. „Wenn er Euch dafür bürgen lässt, dass ich ihm treu bleibe, hat er also Angst, dass ich mich den Samaritern anschließe. Das bedeutet, sie haben vielleicht Angebote die durchaus verlockend für mich sein könnten, richtig?“

Auch Nevar grinste, aber eher spöttisch. „Treibt keine Scherze mit mir, Falcon. Ihr habt keine Ahnung, worauf Ihr Euch einlasst.“

„Dann klärt mich bitte auf. Ich habe noch immer nicht ganz verstanden, wer oder was die berüchtigten Samariter sind.“

Nevar sah mich einige Sekunden an, ehe er nickte und mir mit einem Kopfnicken deutete, ihm zu folgen. Gehorsam ging ich neben ihm und wir passierten einige Gasthäuser und unbelebte Straßen. Seine Stimme war leise und flüsternd, dennoch verstand ich sie einwandfrei. Es wirkte fast, als wären wir in einer zweiten Welt, in der die gesagten Worte nur so dahin schwebten und kein anderer sie hören konnte.

„Die Samariter sind die momentan größten Feinde der katholischen Kirche. Auf sie wird eine größere Jagd gemacht, als auf Abtrünnige und Hexen. Sie gelten als die schlimmsten Ketzer der jetzigen Zeit, auch wenn niemand es laut ausspricht. Die meisten wissen nicht einmal, dass es die Samariter gibt. Man kennt sie nur als Propheten, Gottesflüsterer.

Sie lehnen zum Beispiel fünf Eurer Sakramente ab und behaupten, nicht nur geweihte Priester könnten Brot und Wein konsekrieren. Sie behaupten, jeder Getaufte wäre in der Lage, Brot und Wein zu segnen. Sie setzen sämtliche, katholische Mächte einfach herab, das gleiche gilt für den Papst persönlich. Und das für Domenico wahrscheinlich schlimmste:

Sie lehnen es ab, Maria und die Heiligen zu verehren. Sie behaupten, man würde damit Gott schmälern und ihm weniger Verehrung zuteil werden lassen. Sie bezeichnen es als unchristlich und sprechen sich auch öffentlich gegen das Zölibat der Geistlichen aus, eine der schlimmsten Äußerungen überhaupt.

Am Anfang nahm niemand sie ernst, aber sie werden immer mehr. Die Inquisition lässt sie auf Scheiterhaufen verbrennen und öffentlich hinrichten, in der Hoffnung, es würde die Menschen abschrecken, aber das passiert nicht. Das Volk fürchtet sich vor der Kirche und das Volk fürchtet sich vor dem Herrn, das ist wahr, allerdings gibt es immer wieder welche, die anders denken, anders sind. Menschen, wie wir, Falcon.“, Nevar warf mir einen kurzen Blick zu, dann verschwand sein Gesicht wieder in der Kapuze. „Gebildete Menschen, die sich mit den Lehren Eures Gottes befassen und vieles anzweifeln von dem, was die Inquisition tut. Sie hat seit Jahren hart damit zu kämpfen.“

Aber war es wirklich so dramatisch, das man Spione einsetzen musste? Wir hielten an, um eine Kutsche passieren zu lassen und ich sah zu, wie die vom Schnee feuchten Reifen Striche auf dem Boden hinterließen. Würde es nicht immer anders denkende, Rebellen geben? Der Kampf der Inquisition war endlos, solange Menschen denken konnten, so viel war klar.

Als wir den Tunnel zur Rum-Marie erreichten blieben wir stehen und aufmerksam sah ich dem Mann vor mir entgegen. Etwas beschäftigte mich, noch stärker, als zuvor.

„Nevar? Ihr sagtet, die Welt würde ihre Gottesfurcht verlieren. Ihr sagtet, ich solle mich von ihr lösen, um kein Sklave meiner Angst zu sein. Ist es nicht das, was Domenico verhindern will? Solche Lehren?“

Mein Gegenüber grinste leicht. Ich sah, wie er den linken Mundwinkeln etwas hoch hob und seinen oberen, auffällig weißen Schneidezahn freigab. Mehr von seinem Gesicht konnte ich aufgrund des Schattens nicht erkennen und für einen Moment wünschte ich mir, ihn doch zum Essen eingeladen zu haben.

„Ihr denkt zu viel, Falcon.“

„Das ist gut möglich.“, gab ich zu und nickte nachdenklich, dann sah ich ihn wieder an. „Aber es ist mir ernst. Ich möchte wissen, wo ich stehe. Ich habe nicht das Gefühl, dass Ihr wirklich unter Domenico steht und möchte nicht in einen Verrat geraten, der mit mir nichts zu tun hat. Ihr sagt, ich solle mich von meiner Gottesfurcht lösen, er sagt, ich solle dafür kämpfen, sie wieder zu verbreiten. Ihr versteht sicherlich meine Lage und gewiss würde ich Euch nicht verraten, solltet Ihr zu den Samaritern-...“

Sein Zischen unterbrach mich. Er hatte wieder seinen Zeigefinger erhoben, den kleinen Finger etwas ausgestreckt und die Hand leicht geöffnet. „Shht. Sprecht nicht weiter, ich weiß was Ihr meint, aber selbst dieser Gedanke könnte, laut, tödlich sein.“, dann ließ er seine Hand wieder im Umhang verschwinden. „Ihr solltet eines wissen, Falcon und Ihr wisst es sicherlich längst:

Ich teile nicht die Gedankengänge der Inquisition, nicht ihren Glauben und am wenigstens Ihre Sichtweisen. Ich bin gegen das Verbrennen von Hexen und Ketzern, so wie gegen die Reden der Priester, aber das ist richtig so und Domenico weiß davon. Ich habe ein Recht dazu, so zu denken und so lange ich es nicht laut tue, so wie die Samariter, lässt man mich gewähren.“

„Aber wieso?“, wollte ich wissen. „Ihr arbeitet für die Inquisition, gerade Ihr solltet doch christlich sein!“

Nevars Grinsen wurde zu einem Schmunzeln. „Ich arbeite nicht für die Inquisition, ich arbeite für die Deo Volente. Und so lange meine Dienste diese zufrieden stellen, wird niemand mir einen Strick um den Hals binden. Falcon, tut euer Bestes, dann könnt auch Ihr solch einen Stand erreichen. Das wollt Ihr doch oder nicht? Freiheit? Frei denken zu können und frei zu handeln? Das war Euer Wunsch, wenn ich mich recht entsinne. Ein freies Leben, aufgebaut auf religiösen Säulen.“, er klopfte mir auf die Schulter und sah mich an. Sein Blick zeigte mir, dass er es durchaus ernst meine und dass seine Worte in Ratschlag an mich sein sollten: „Ihr denkt sehr viel, das ist nun einmal so. Also denkt immer zweimal nach, ehe Ihr etwas tut. Auf bald.“, dann drehte er ab und ging.

Ich blieb zurück und sah ihm nach, nicht ganz wissend, was ich von seinem Ratschlag halten sollte. Wollte er mich nun zu Domenicos Seite ziehen, auf die der Samariter oder auf eine ganz andere, vielleicht mir unbekannte? Die Samariter versprachen das, was man Freiheit nannte, aber gewiss hatte auch die Inquisition viele gute Seiten. Ohne sie wäre Brehms wie Annonce, heruntergekommen und gottlos. War ich etwa Teil eines Machtkampfes geworden? War ich Teil einer Macht geworden, die Rebellen nieder strecken wollten und war ich selbst an diesem Vorhaben beteiligt? Wollte ich überhaupt helfen, das Volk zu unterdrücken, so, wie man mich jahrelang unterdrückt hatte? Nevar hatte Recht: Ich hatte mir ein christlichen Leben gewünscht, in Freiheit. Aber war ich wirklich zufrieden?

Oder wollte ich sämtliche Regeln brechen und damit eine neue Ordnung schaffen, gleichbedeutend mit Machtkämpfen und Chaos?

Ich wusste nicht, welche Seite mir nun am meisten entsprach und für welche ich mich am Ende entscheiden würde, aber eines wusste ich ganz genau:

Egal auf welcher Seite ich am Ende stand, es würde viel Kraft brauchen, dazu zu stehen und dabei zu bleiben.



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