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Fortissimo

von

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2. Satz: Largo

2. Satz: Largo

(breit, gedehnt, im langsamsten Zeitmaß)
 

Ryuichi stand vor der Glastür und schaute in den hell erleuchteten Eingangsbereich. Es war spät, weit nach Mitternacht, und niemand war da. Einen kurzen Moment blieb er stehen und wartete. Er wartete nur auf den Klang der Stille in der Dunkelheit. Leises Blätterrauschen war zu hören.

Endlich setzte er sich in Bewegung. Er schritt durch die Glastür, die sich automatisch öffnete. In der Empfangshalle stand ein Mann vom Personal, der den Blick vom Klemmbrett in seiner Hand hob, sich verbeugte und ihm einen schönen Abend wünschte. Ryuichi ging an ein paar Tischen vorbei, auf denen noch die Reste von kunstvoll angerichteten Speisen standen.

Er stieg in einen Fahrstuhl und betätigte einen Knopf. Kurz bevor sich die Türen jedoch schließen konnten, hielt eine Hand sie auf.

„Und ich dachte, das würdest du dir nicht trauen“, meinte Ryuichi mit belustigtem Gesichtsausdruck, „aber offensichtlich bist du mir doch gefolgt. Du bist ganz schön zäh, Tatsuha-kun.“

Dieser grinste überheblich und gesellte sich zu ihm. Beide lehnten sich an die Wand des Fahrstuhls, als sich die Türen wieder schlossen. Sie starrten an die Decke, an der ein großer, in Mosaiksteinen eingefasster Spiegel angebracht war. In einer der oberen Etagen stiegen sie aus. Rechts und links erstreckten sich lange Flure. Ryuichi ging nach links.

„Ist das nicht Wahnsinn, diese endlosen Gänge?“, rief er erfreut und beschleunigte seine Schritte.

„Ryuichi, warte!“ Tatsuha lief ihm hinterher, an etlichen Türen vorbei, nach rechts, wieder nach rechts.

„Weißt du, was ich glaube?“, fragte Ryuichi ein wenig außer Atem. „Die wollen das Hotel nur pompös aussehen lassen, aber eigentlich befinden sich hinter all diesen Türen gar keine Zimmer, sondern nur Flure, durch die man endlos geschickt wird.“

Endlich blieben die beiden Männer vor einer der Türen stehen.

„Bis hierher und keinen Schritt weiter“, sprach Ryuichi mit erhobenem Zeigefinger. „Der Herr darf Schneewittchen nur bis zur Tür geleiten.“

Perplex hob Tatsuha eine Augenbraue. Dann machte sich jedoch ein Lächeln auf seinem Gesicht bemerkbar. Er legte sanft die Hand unter Ryuichis Kinn und fragte:

„Ist sich Schneewittchen da sicher?“

„Natürlich. Von hier an passen die Zwerge auf.“ Ryuichi drückte Kumagoro gegen Tatsuhas Brustkorb, der daraufhin seufzend meinte:

„Das ist ein Hase.“

„Ein Zwergkaninchen“, berichtigte Ryuichi.

„Denkst du nicht auch, dass ich genauso gut auf dich aufpassen könnte?“ Tatsuha strich Ryuichis Kiefer entlang zu dessen Ohr und spielte mit seinen Ohrringen. Ryuichi grinste verlegen und suchte währenddessen mit der Schlüsselkarte nach dem Türschlitz.

„Du denkst wohl“, meinte er unschuldig, „es wäre einfach, sich andere Menschen gefügig zu machen, hm?“ Tatsuha hielt in der Bewegung inne. Rasch löste sich Ryuichi von ihm und öffnete mit einem Lachen die Tür. Doch er schaffte es nicht, sie schnell genug hinter sich zu schließen. Tatsuha hatte den Fuß dazwischen gestellt.

„Das denke ich nicht.“ Tatsuhas Stimme strahlte kühne Selbstsicherheit aus. „Ich weiß es.“

„Du willst dein Ziel aber doch nicht mit Gewalt erreichen, oder?“ Ryuichis Blick wurde ernst, das Lächeln allerdings schwand nicht von seinen Lippen. „Das wäre kein Sieg, auf den du stolz sein könntest, Kleiner.“

„Nenn mich nicht so.“

Beide Männer starrten einander freundlich in die Augen. Ein Kampf, den keiner in diesem Moment gewinnen konnte.

Dann trat Tatsuha einen Schritt zurück und fischte aus seiner Tasche ein Visitenkartenetui.

„Du hast gesagt, du wirst mich besuchen, bevor du zurückfliegst. Das betrachte ich als ein Versprechen. Halte dich daran.“ Damit gab er Ryuichi seine Karte und ging.
 

Hell. Dunkel. Knistern...

„Er sagte, das betrachte er als ein Versprechen.“

Hell. Knistern...

„Du sollst dich daran halten.“

Dunkel. Hell. Dunkel.

„Er wartet auf deinen Besuch.“

Ryuichi blickte in die Schwärze. Er spürte nicht, dass seine Augen schmerzten.

Hell.

Er schloss sie kurzzeitig, als die defekte Glühlampe wieder aufleuchtete und im nächsten Moment zu flackern begann.

„Von einem Nobelhotel hätte man eigentlich Besseres erwarten können.“

Rücklings lag er auf der Bettdecke. Er betrachtete sein Handgelenk, welches er schwankend in die Luft hielt, sodass es zur Decke zeigte. Mit der anderen Hand hatte er Kumagoro an seinen Körper gedrückt.

Knistern...

Dunkel.
 

„Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr.“ Tatsuha stand in der Eingangstür, sein geöffnetes Hemd entblößte seinen nackten Oberkörper.

„Bin ich zu früh?“, fragte Ryuichi. „Habe ich dich geweckt?“

„Nein, schon seit vier Uhr veranstalten diese vermaledeiten Vögel ein totales Spektakel, sodass ich nicht mehr schlafen konnte.“ Tatsuha ging einen Schritt zur Seite. „Komm rein.“

Neugierig trat Ryuichi in die Wohnung und schaute sich staunend um, als hätte er noch nie eine enge japanische Behausung gesehen. Das hier war für Tatsuha ohnehin nur eine Unterkunftsmöglichkeit, die er lediglich dann nutzte, wenn er glaubte, seinem Bruder bei irgendwelchen Angelegenheiten in Tokyo beistehen zu müssen. Andererseits war es auch ein Zufluchtsort vor dem mühseligen und langweiligen Priesteralltag, der in Kyoto auf ihn wartete.

Tatsuha blieb hinter seinem Besucher stehen und hob eine Hand. Er wollte das Haar des Sängers berühren, doch als Ryuichi zu sprechen ansetzte, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen, hielt er in der Bewegung inne.

„Du hasst es also, wenn die Vögel so früh zu singen anfangen. Toma hat mir erklärt, warum sie das tun. Heutzutage ist die Luft erfüllt vom Lärm der Straße, Motorengeräusche, die wir kaum mehr wahrnehmen. Vögel singen, um einander zu finden, um auf sich aufmerksam zu machen. Tagsüber hören sie sich gegenseitig nicht mehr, darum hat sich im Laufe der Zeit ihr Singen auf die Nacht und den frühen Morgen verschoben.“

„Hmm... stimmt schon.“ Tatsuha ließ die Hand wieder sinken.

„Weißt du“, fuhr Ryuichi fort, „ich kann das verstehen. Das ist für mich vielleicht auch der Grund, weshalb ich schlecht reden kann. Ich kann es nur hinaussingen, wenn es still und dunkel um mich herum ist. Wenn ich gehört werde, ohne daran denken zu müssen, dass ich allein sein will. Denn nur wenn ich singe, hören die Leute mir wirklich zu.“

Etwas Fremdes, aber dennoch von seiner Bühnenpräsenz unnahbar Vertrautes schwang in Ryuichis Worten mit. In diesem Moment drehte er sich herum und schenkte Tatsuha ein unbedarftes Grinsen.

„Warum hast du dann aufgehört?“, fragte dieser. „Wieso spielen Nettle Grasper nicht mehr?“

Übertriebene, fast aufgesetzte Verwunderung zeichnete sich in Ryuichis Augen ab.

„Kannst du dir das denn nicht denken?“

Tatsuha hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Allerdings wollte er seine Unkenntnis nicht offen zeigen und sagte deshalb nichts.

„Jedenfalls...“ Ryuichi sprach sehr langsam, während er zum Fenster ging. Er blieb stehen und schaute in den Morgen hinaus. „Ich wollte nur kurz vorbeikommen. Eigentlich muss ich gleich wieder los. Heute reise ich nämlich ab.“

Irritiert wollte Tatsuha diesem Bekenntnis etwas entgegensetzen. Er öffnete den Mund. Dann schloss er ihn wieder. Statt etwas zu erwidern, näherte er sich Ryuichi und fasste ihn bei der Schulter, um ihn zu sich herumzudrehen.

„Und wenn ich will, dass du bleibst?“

Tatsuha drückte ihn gegen das Fensterglas in dessen Rücken und umschlang den Körper des anderen Mannes mit seinen Armen. Ryuichi schaute verlegen zu ihm auf, als er die Hände auf Tatsuhas nackten Oberkörper legte, um ihn von sich zu schieben.

„Das würde erst einmal nichts ändern.“

„Erst einmal?“, wollte Tatsuha genauer wissen und strich durch Ryuichis Haar. Doch dieser entwand sich geschickt seinem Griff und war in Windeseile wieder an der Eingangstür.

„Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass nicht jeder Mensch so einfach zu manipulieren ist“, sagte Ryuichi lächelnd. „Ich muss zum Flughafen. Sorry, Tatsuha-kun.“

Die Tür schloss sich hinter ihm.

„Scheiße“, sagte Tatsuha und starrte auf seine leeren Hände.
 

In einer letzten Kurve fuhr die Maschine von der Rollbahn auf die Startbahn. Von da an nahm ihre Geschwindigkeit erheblich zu, bis sie sich schließlich von der Erde löste und in die Luft aufstieg. Ryuichi lugte durch das winzige Fenster auf die Tragfläche direkt darunter. Der Narita Airport und die umliegenden Häuser wurden beständig kleiner. Das Meer kam in Sicht.

„Like a drug of life“, sang Ryuichi flüsternd, um den Lärm des Flugzeugs zu ertragen, „we are fleeing to the end.“

Er ließ Japan hinter sich.

Kumagoro fragte:

„Fliehst du etwa?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sarizza
2010-09-18T14:29:44+00:00 18.09.2010 16:29
Schöne Story, Gefällt mir sehr. ^^ Hoffentlich geht die Gesichte irgendwann weiter.
Von: abgemeldet
2009-12-09T03:13:39+00:00 09.12.2009 04:13
Wowie, also ich bin echt total begeistert.
Nicht nur, dass du einen atemberaubend eindrucksvollen Schreibstil hast, du triffst die Charaktere auch so gut.
Besonders Ryuichi, ich hab glaub ich noch keine Gravi FF gelesen, wo er so gut getroffen war, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich bin dazu viel zu aufgekratzt xD.
Besonders diese Sequenzen, wo Ryu mit Kumagoro alleine ist, dieses elliptische Hell. Dunkel. Hell usw, das fand ich sehr geschmackvoll und gut gesetzt.
An deiner FF gibts gar nichts auszusetzen, ich freue mich wirklich sehr auf das nächste Kapitel mich hast du als Leserin schonmal gewonnen ^^v.

LG, Katze


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