#057 - Logik
Als Björn Meister voller Wut in sein Büro stürmen wollte, stellte er fest, dass der Aufzug nicht funktionierte. Er stampfte auf dem Boden auf, schlug auf die Anzeige ein und drückte den Rufknopf viele, viele Male, doch nichts von alldem half: Der Aufzug kam nicht.
"Ich könnte kotzen!", wetterte er so laut, dass die Empfangsdame auf ihn aufmerksam wurde.
"Warm könnten Sie denn kotzen?", fragte sie ihn mitfühlend.
Überrascht von dieser Aufmerksamkeit erzählte er ihr tatsächlich, was vorgefallen war.
"Angefangen hat es damit, dass der Toaster mein Brot zu Asche verbrannt hat, statt es nur zu bräunen", klagte er. "Dann passte meine Anzughose nicht mehr und meine Frau weigert sich zuzugeben, dass sie sie einfach zu heiß gewaschen hat - und nun funktioniert der Aufzug nicht mehr!"
"Das tut mir wirklich leid" sagte die Empfangsdame mitfühlend und er merkte, wie es ihm sofort besser ging.
Mit direkt aufgehellter Laune lief er die Treppe hinauf.
Oben angelangt musste er jedoch feststellen, dass sein Büro in ein anderes Stockwerk verlegt worden war. Als sich seine Wut wieder in ihm zu stauen begann, erinnerte er sich daran, wie gut es ihm getan hatte, sich Luft zu machen.
"Ich könnte kotzen!", rief er also, diesmal ein wenig nachdrücklicher.
"Aber warum könnten Sie denn kotzen?", fragte ihn ein junger Auszubildender.
"Zuerst hat mein Toaster mein Brot verbrannt, dann passte mein Anzug nicht mehr weil meine Frau ihn zu heiß gewaschen hat, dann funktionierte der Aufzug nicht mehr und ich musste laufen und nun bin ich auch noch im falschen Stockwerk, weil mein Büro verlegt wurde!", schimpfte Herr Meister.
"Das tut mir wirklich leid", sagte der Auszubildende mitfühlend und Herr Meister ging es gleich besser.
Als Herr Meister in seinem Büro ankam und sein Blick auf den Stapel Akten fiel, der auf seinem Tisch stand, war er nicht enttäuscht oder überrumpelt oder gar genervt, schließlich war das ja normal. Aber irgendwie hatte sich das Mitgefühl seiner Kollegen so gut angefühlt, dass er es unbedingt nochmal bekommen wollte. Also holte er tief Luft und rief: "Ich könnte kotzen!"
Zunächst dauerte es einen Moment und er dachte, er wäre nicht gehört worden, doch dann ging die Tür auf und seine Sekretärin steckte den Kopf herein.
"Warum könnten Sie denn kotzen?", fragte sie ihn.
"Zuerst ist mein Toaster kaputtgegangen", zählte Herr Meister auf, "dann hat meine Frau aus purer Rachsucht meine Anzughose enger genäht, dann konnte ich den Aufzug aufgrund von Wartungsfehlern nicht nutzen, dann bin ich im falschen Stockwerk gelandet weil jemand schlichtweg vergessen hat mich zu benachrichtigen und dann stapeln sich wieder so viele Akten auf meinem Tisch, wie ich sie niemals bewältigen können werde!"
"Das tut mir wirklich leid", sagte die Sekretärin mitfühlend, doch Herr Meister fühlte sich nicht besser, eher im Gegenteil; eine tiefe Unzufriedenheit nagte an ihm.
Also wartete er, bis seine Sekretärin verschwunden war, und verließ sein Büro wieder, um zum Kopierer zu gehen. Dort standen einige seiner Kollegen und er hielt sich gar nicht erst damit auf, zu einem der Apparate zu gehen. Er riss nur die Tür auf, baute sich vor ihnen auf und rief: "Ich könnte kotzen!"
"Warum könnten Sie kotzen?", fragten sie ihn.
"Zuerst ging mein Toaster in Flammen auf", begann er mit theatralischen Gesten, "dann zerriss meine Frau aus purer Bosheit meine beste und teuerste Anzughose, dann entkam ich nur knapp einem Aufzugsunglück, dann unterschlug mir mein ärgster Konkurrent wichtige betriebsinterne Informationen und dann stelle ich fest, dass ich die Arbeit einer kranken Kollegin noch zusätzlich zu meiner eigenen machen soll, die schon so viel zu viel ist!"
"Das tut uns wirklich leid", murmelten die Kollegen, aber Herr Meister hatte gar nicht abgewartet und war schon unterwegs zum neuen Praktikanten.
"Ich könnte kotzen!", rief er statt einer Begrüßung und knallte die Tür beim Öffnen mit Schwung an die Wand. Der Praktikant saß auf seinem Stuhl und schrieb unbeeindruckt an seinem Berichtsheft weiter.
"Ich könnte kotzen!", schrie Herr Meister, etwas lauter als zuvor. Doch der Praktikant reagierte noch immer nicht. Herr Meister fluchte, zeterte, jammerte und weinte, warf sich zu Boden und rannte im Kreis, doch nichts passierte. Der Praktikant schrieb weiter.
Erst, als Herr Meister schon aufgegeben hatte und überlegte, wie er möglichst würdevoll aus dem Zimmer entkommen würde, schlug der Praktikant das Buch zu und sah ihn lange an.
"Sie könnten also kotzen", hakte er nach.
"Richtig", sagte Herr Meister, das erste Mal an diesem Tag in normalem, wenn auch erwartungsvollem Tonfall, "ich könnte kotzen."
"Hm", machte der Praktikant und schaute nachdenklich, und dann nochmal: "Hm."
"Warum", fragte er nach einer Weile des Überlegens und kratzte sich an der Nase, "tun Sie es nicht einfach?"